Leseprobe Der Tote im Sand

Prolog

Heute Abend würde Josef sich selbst auf die Lauer legen und es nicht länger dem unfähigen Jäger überlassen. Roland musste seinen Jagdschein im Lotto gewonnen haben. Zumindest glich seine Treffsicherheit der eines Blinden. Im Schießen war er zweifellos eine Niete.

Josef Palmer ging in die Hocke und betrachtete seinen Ackerboden, den die Wildschweine an dieser Stelle in eine Kraterlandschaft verwandelt hatten. Auf der feinen Schneeschicht führte eine Blutspur in den angrenzenden Wald. Der Idiot hatte nicht richtig gezielt. Die arme Sau hatte sich wahrscheinlich noch verletzt weggeschleppt.

Er rieb sich die schmerzenden Knie und stand auf. Die Kälte drang in seine alten Knochen, doch er fühlte sich hier draußen noch immer am wohlsten. Es war die Arbeit auf dem Feld und Hof, die ihn abhärtete. Andere bezogen in seinem Alter längst Rente. Für ihn gab es zu wenig, um es ausgeben und noch etwas erleben zu können. Und nur untätig herumzusitzen war ihm zu langweilig. Außerdem konnte er Hilde so aus dem Weg gehen. Ihre Ehe bestand mittlerweile über fünfzig Jahre und war kinderlos geblieben. Solange sie sich nur zu den Mahlzeiten sahen, kamen sie gut miteinander aus.

Das Fernglas hing an einem Riemen um seinen Hals. Er hob es vor die Augen und suchte das Winterweizenfeld nach weiteren Schäden ab. Wenn Roland die Wildschweine nicht in den Griff bekam, würde das Josefs Ernte erheblich beeinträchtigen.

Er fischte sein Telefon aus der Innentasche der dicken Daunenjacke und wählte Rolands Nummer. Allerdings meldete sich nach mehrmaligem Klingeln nur dessen Mailbox.

»Josef hier. Sieh zu, dass du den Wildtieren genügend Eicheln fütterst und sie sich nicht mehr auf meinem Feld bedienen. Und wenn du in Zukunft nicht besser triffst, zeige ich dich an. Das ist diesen Monat schon das zweite Mal, dass das Tier nur angeschossen wird und weiterläuft. Außerdem …«

Es piepte, bevor er aussprechen konnte. Josef knurrte, steckte das Telefon zurück in die Jackentasche und stapfte über den Acker zum Feldweg. Anhand der Reifenspuren war ihm klar, dass wieder einige Niederteerbacher sein Privatgelände unbefugt als Abkürzung genutzt hatten. Der Bauabschnitt der Bundesstraße sollte eigentlich bis Oktober fertiggestellt werden, aber es gab wohl einen Planungsfehler. Wahrscheinlich würde es ein ebenso langer Umbau werden wie der der Kölner U-Bahn. Waren denn da nur Idioten in der Verantwortung? Wegen der kalten Temperaturen tat sich auf der Baustelle derzeit gar nichts mehr. Die Fahrrinnen auf seinem Feldweg hingegen wurden immer tiefer.

So ging das nicht weiter. Und wenn er höchstpersönlich ins Rathaus spazierte. Bürgermeisterin Sabine Graefe musste ihm zumindest eine Entschädigung für seine Unannehmlichkeiten zahlen. Sein Privatweg war keine Zufahrt für Niederteerbach.

Er rieb mit dem Jackenärmel über seine tropfende Nase und ging zu seinem alten Jeep, den er neben dem Feldweg am Waldrand geparkt hatte. Gerade wollte er einsteigen, da sah er einen Lastwagen näherkommen.

»Das darf doch jetzt nicht wahr sein«, schimpfte er. »Jetzt fahren hier schon die Schwertonner durch.« Er schlug die Jeeptür wieder zu, stellte sich an den Wegrand und hob Einhalt gebietend die Hand. Doch der Fahrer beachtete ihn nicht und fuhr einfach weiter.

Josef fluchte. Im ersten Moment war er zu aufgebracht und nicht geistesgegenwärtig genug, um sich das Kennzeichen zu merken. Der LKW bog auf die Niederteerbacher Straße ab und reihte sich dort in den zähflüssigen Verkehr ein. Was wollten nur alle in diesem verschlafenen Nest? Der Stau war Josefs Chance, doch noch das Nummernschild ablesen zu können.

Er hastete über sein Feld. Nur ein kleines Stück, bis zu der Böschung, an der die zweispurige Straße seitlich entlangführte. Der Laster musste hier vorbeikommen, eingegliedert zwischen den anderen Autos, die sich im Schritttempo Stück für Stück vorwärtsbewegten.

Josef hob das Fernglas wieder vor die Augen und blickte von dem schräg abfallenden Abhang auf die Straße hinab. Das Kennzeichen war noch von dem vorausfahrenden Fiat verdeckt, weshalb er vorerst den Lastwagenfahrer ins Visier nahm. Ein bärtiger, dicker Mann, der rauchte. Er hatte eine Fuhre Sand geladen. Der Wind fegte über die Oberfläche und trug Sandkörner fort. Dabei fiel Josef auf, dass etwas aus dem Haufen herausragte.

Er riss das Fernglas runter, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, und schaute dann wieder durch den Feldstecher. Das, was er dort herausragen sah, war ein Arm – die Haut voller Tätowierungen.

Er behielt seine Entdeckung im Auge, bis der Lastwagen unterhalb der Böschung genau an ihm vorbeirollte. Spätestens jetzt hatte er keinerlei Zweifel mehr. Das war keine Puppe.

Mit zittrigen Fingern zog er sein Handy hervor und wählte die Notrufnummer.

1. Kapitel

Sarahs Schrei hallte durch die gesamte Wohnung.

»Ist bei Ihnen gerade jemand gestorben?«, fragte Gabi am anderen Ende der Leitung.

Maike klemmte sich das Smartphone zwischen Ohr und Schulter, zog zwei Ordner aus einem Karton und trug sie zum Couchtisch.

»Bisher habe ich den Besuch meiner Nichte überlebt, aber die Frage ist, ob sie das auch tut.«

Gabi lachte. »Halten Sie durch. Morgen haben Sie ihre Freiheit zurück.«

»Tante Maike«, rief Sarah aus der Küche.

Maike ignorierte sie und seufzte. »Sobald ich meine Versetzungsverfügung gefunden habe, bringe ich sie mit zum Revier. Vor dreizehn Uhr werde ich es aber nicht schaffen. Mein Bruder, Zoe und die Zwillinge kommen heute aus Benin zurück. Sie landen in Frankfurt und steigen dann in den Zug nach Köln. Ich muss sie vom Hauptbahnhof abholen. Und … meine Nichte loswerden.« Sie klappte einen Ordner auf und blätterte durch die Seiten.

»Machen Sie sich damit keinen Stress«, sagte Gabi. »Bei ihrer Ankunft in Niederteerbach ging es ja auch gleich drunter und drüber. Aber Sie wissen ja: Nachdem das alte Archiv abgebrannt ist, hat Bürgermeisterin Graefe nur noch ein Thema: das digitale Archiv. Und da sollen vorher alle Akten vollständig und geprüft sein. Sie will Ihre Versetzungsverfügung noch vorher in der Personalakte abgeheftet wissen.«

Maikes Blick fiel auf die klägliche Miniatur des Weihnachtsbaumes, den sie nur für ihre Mutter und ihre Nichte Sarah angeschafft hatte, um zumindest ein wenig festliche Stimmung zu zaubern. Sie hatten ihn am Weihnachtsabend zusammen geschmückt, wobei er dabei schon gefühlt die Hälfte seiner Nadeln verloren hatte und die Last der Kugeln auch nur an äußerst ausgewählten Ästen stemmen konnte. Wenn es im Wohnzimmer ein Fenster gäbe, hätte sie die mickrige Tanne schon längst hinausgeschmissen. Allein die Gewissheit, dass sie die Nadeln danach in der gesamten Wohnung vom Boden auflesen musste, hatte sie bisher davon abgehalten, das Baumgerippe auch nur einen Zentimeter zu bewegen.

»Tantchen!«, schrie Sarah nun so laut, dass sie vermutlich im ganzen Haus zu hören war.

»Ich schau mal, was bei meiner Nichte schiefläuft. Bis später, Gabi.«

Sie legte auf und ging in die Küche, wo Sarah hinter dem Duschvorhang hervorlugte. Der kleine Raum war voller Dampf.

»Es kommt nur noch kaltes Wasser«, schimpfte sie, während der Schaum von den Haaren tropfte. Strähnen klebten ihr im Gesicht und Wassertropfen perlten über die Wangen.

Maike schmunzelte. »Kein Wunder, wenn du stundenlang unter der Dusche stehst. Weißt du eigentlich, wie schädlich das für die Haut ist? Deine Mutter sollte dir mal eine Wasserleiche zeigen.«

»Ich liege nicht im Wasser, ich stehe nur drunter. Hilf mir.«

Maike lehnte sich gegen die Anrichte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du musst warten, bis der Warmwasserspeicher neu aufgeheizt ist.« Sie blickte auf ihr Smartphone. »Allerdings läuft uns die Zeit davon. Wir müssen uns langsam sputen.« Sie füllte den Wasserkocher und schaltete ihn ein.

»Beeil dich.« Sarah zitterte und klapperte übertrieben mit den Zähnen. »Mir ist arschkalt. Außerdem hab ich das Shampoo jetzt auch in den Augen.« Sie kniff sie zusammen und quiekte. »Das brennt.«

Maike grinste. »Das wäre doch jetzt ein schönes Foto fürs Familienalbum. Oder bei Instagram?«

»Wehe. Wenn du das tust, bin ich nicht mehr deine Nichte.«

Maike grinste noch breiter. »Klingt verlockend.«

Sarah verzog den Mund. Ohne die Seife im Gesicht hätte sie wohl auch mit den Augen gerollt.

Als der Wasserkocher fertig war, mischte Maike heißes und kaltes Wasser in einem Limonadenkrug. Ein Arm preschte hinter dem Vorhang hervor. Sarah riss ihr den Krug aus der Hand, verschwand wieder aus ihrem Sichtfeld und widmete sich ihrem Schaum-Desaster.

Auf dem Weg ins Schlafzimmer tippte Maike auf ihrem Smartphone eine Nachricht, in der sie Zoe schon mal vorausahnend mitteilte, dass Sarah und sie nicht pünktlich am Hauptbahnhof eintreffen würden. Es war ein schöner Gedanke, dass Familie Schwäfel heimkehrte und wieder für sie greifbar war. Maike freute sich auf das gemeinsame Essen heute Abend.

Sie streifte ihre Jogginghose und das Shirt ab und schmiss die Sachen aufs Bett, auf dem die Katzen nebeneinander dösten. Crockett sah sie kurz aus halb geöffneten Augen an, drehte sich auf die andere Seite und schenkte ihr keine Beachtung mehr. Tubbs hingegen beobachtete sie dabei, wie sie einen schwarzen Slip und den passenden BH aus der Schublade ihres Schrankes kramte und die Unterwäsche anzog.

»Also für dein Alter hast du ja echt noch eine ansehnliche Figur, aber die könntest du wirklich reizvoller verpacken.«

Maike fuhr herum und sah Sarah zur halb geöffneten Tür hereinschauen. Sie trug ein Badetuch um den Körper geschlungen. Ihre feuchten braunen Haare fielen ihr weit über die Schultern.

»Was soll denn das heißen?«

Ihre Nichte quetschte sich in dem engen Schlafzimmer zwischen Tür und Schrank zu ihr durch und begann wie selbstverständlich in der noch offenen Schublade zu wühlen.

»Gehts noch?« Maike drängte sie zurück und schob das Fach zu. Allerdings hatte Sarah schon einen nachtblauen Spitzen-BH in der Hand und hielt diesen zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe.

»Du bist ja doch kein hoffnungsloser Fall«, sagte sie und zuckte mehrmals hintereinander mit den Augenbrauen.

Maike presste Luft in ihre Wangen und ließ sie dann geräuschvoll entweichen.

»Darf ich mir den mal ausleihen?«, fragte Sarah, ohne auf ihre offensichtliche Missbilligung einzugehen.

»Für eine Fünfzehnjährige ist der Push-up wohl nicht gerade ausgelegt«, entgegnete Maike. »Der passt dir auch sicherlich gar nicht.«

Sarah hielt ihn sich auf Brusthöhe vor das Badetuch. »Stimmt. Der wird mir eher zu klein sein.«

Maike riss die Augen auf. Sie suchte nach Worten, während Sarah ihr den BH über die Schulter legte und in den Flur verschwand.

Zuerst sah sie auf ihr Dekolleté, dann sagte sie sich mantraartig: »Nein, ich erwürge sie nicht. Nein, ich erwürge sie nicht.«

Nachdem sie sich eine blaue Jeans und einen grauen Rollkragenpullover angezogen hatte, fand sie Sarah im Wohnzimmer auf der Couch. Sie hielt sich einen Handspiegel vors Gesicht und zog sich mit einem Konturenstift die Lippen nach.

»Ist das jetzt dein Ernst?« Maike stemmte die Hände in die Hüften.

»Ich bin kein Kind mehr. Daran solltet ihr euch alle langsam mal gewöhnen.«

Sie wühlte in einem Täschchen, zog einen Eyeliner hervor und begann bei halb geöffnetem Auge über ihre Wimpern eine akkurate Linie zu zeichnen.

»Ich meine nicht deine Kriegsmalerei. Wir müssen los.«

»Aber später hab ich keine Zeit, mich zu schminken. Noah und ich treffen uns dann gleich auf der Eisbahn.«

»Hast du das schon mit deinen Eltern abgesprochen? Ihr habt euch über Weihnachten nicht gesehen. Sie wollen sicherlich erst mal Zeit mit dir verbringen.«

»Zum Abendbrot bin ich ja zu Hause.« Sarah sah mit einem verwegenen Wimpernschlag zu ihr auf. »Jetzt chill doch mal.«

»So, jetzt reicht’s.« Maike spürte, wie eine unbekannte Wut in ihr aufstieg. Ihre Nichte hatte in zwei Wochen gelernt, sie mit wenigen Worten in Rage zu versetzen. »In spätestens zehn Minuten sitzen wir im Auto. Du kannst es dir also aussuchen, ob du dir vorher noch etwas anziehen magst oder ob ich dich im Handtuch eingewickelt mit zum Hauptbahnhof schleife.«

Sarah hob das Kinn. »Das machst du eh nicht.«

Maike zuckte mit den Schultern. »Dann lass es drauf ankommen. Die Zeit läuft.« Sie ließ ihre Nichte allein im Wohnzimmer zurück, ging in die Küche und nippte an ihrem inzwischen kalten Kaffee.

Der Raum war noch immer voller Dunst, aber der Schneeregen, der gegen das Fenster trommelte, hielt sie davon ab, es zu öffnen. Sie wischte über die angelaufene Scheibe und spähte nach draußen. Der Himmel war heute genauso grau wie das Kopfsteinpflaster des Marktplatzes. Durch das trübe Tageslicht wirkte die alte Fassade des Rathauses noch trostloser.

Harald stemmte gerade den Fensterladen seiner Imbissbude nach oben. Ansonsten war keine Menschenseele zu sehen. Selbst von den Tachmoinern fehlte bei dem nasskalten Wetter jede Spur.

Sie stellte die leere Tasse ins Spülbecken. »Halbzeit«, rief sie in Richtung Wohnzimmer, fest entschlossen, ihre Drohung wahrzumachen.

Auf dem kleinen Küchentisch lag noch die staatsanwaltliche Anklageschrift im Fall Julia Stoffels. Das Gerichtsverfahren gegen Angelika und Manfred Walterscheid war eingeleitet. Sobald der Termin feststand, würde sie die Vorladung zur Aussage bekommen. Beinahe fünfzehn Jahre hatten die Niederteerbacher angenommen, das Mädchen sei nach Indien ausgewandert. Sie hatten es glauben wollen, da es die einfachste Erklärung für das spurlose Verschwinden der Abiturientin gewesen war und sie auf diese Weise kein Verbrechen in Betracht ziehen mussten.

Maike wünschte, bei Billie gäbe es auch einen Anhaltspunkt, an den Zoe und sie sich klammern könnten, um die Erinnerung an die schicksalhafte Nacht, in der ihre Freundin verschwand, erträglicher zu machen. Im neuen Jahr musste sie sich unbedingt mehr mit dem Fall von Billie beschäftigen.

Sie rieb sich die Schläfen, stieß sich von der Anrichte ab und begab sich erneut in den Kampf mit ihrer Nichte. Die Schlacht für Billie würde sie ebenfalls nicht aufgeben.

Sarah stand angezogen neben ihrer gepackten Tasche im Flur und schlüpfte gerade in ihre Winterstiefel.

»Na also, geht doch«, sagte Maike, was Sarah mit einem mürrischen Grollen kommentierte.

Sie selbst streifte ihre knöchelhohen Doc Martens über, hüllte sich in den gefütterten Parka, und griff nach ihrer bunten Ohrenklappenmütze.

»Ist es dir nicht peinlich, mit diesem hässlichen Ding auf dem Kopf herumzulaufen?«, fragte Sarah und schulterte ihre Tasche.

Maike verließ vor ihr die Wohnung. »Erstens ist das Geschmackssache und zweitens bin ich selbstbewusst genug, um das zu tragen, was mir gefällt, und mich nicht darum zu kümmern, was andere darüber denken.«

Es war unmöglich, geräuschlos durch das Treppenhaus zu kommen. Die alten Holzstufen knarrten bei jedem Schritt, und im Erdgeschoss quietschte die Eingangstür, ehe sie laut scheppernd hinter ihnen ins Schloss fiel. Spätestens in diesem Moment wussten alle Bewohner, dass Maike das Haus verlassen hatte. Und als sie zum oberen Stockwerk hinaufblickte, gaffte ihr Vermieter Landgraf wie zur Bestätigung aus seinem Fenster.

Der Schneeregen hatte inzwischen nachgelassen, aber die feuchte Kälte ließ sie frösteln. Sarah gab ihr durch ein übertriebenes Keuchen zu verstehen, wie schwer ihre Tasche war, woraufhin Maike ihr mit einem Schulterzucken signalisierte, dass sie nach diesem Morgen nicht ihre Gepäckträgerin spielen würde.

Sie überquerten den Marktplatz, vorbei an Harrys Fressoase, der ihnen freundlich zuwinkte. Gabis Mann konnte nicht einmal dieses Mistwetter die gute Laune vermiesen. Für die Bäckerei Strietzel blieb heute keine Zeit. Dafür würde sie sich morgen eine Extraportion Marzipankekse gönnen, wenn sie ihre morgendliche Routine wieder ohne Sarah frei ausleben konnte.

Den braunen Nissan Cube hatte sie wie immer auf einem der Revierparkplätze am Rathaus geparkt. Lukas war bereits auf Streife, denn der zweite Stellplatz der Polizeidienststelle, wo normalerweise der Passat stand, war leer. Den Twizy hatten sie in irgendeiner Garage in den Winterschlaf versetzt und Maike hoffte, dass er nie mehr daraus erwachte.

»Du hast keine Sitzheizung, oder?«, fragte Sarah und glitt auf den Beifahrersitz.

Maike schüttelte den Kopf, startete den Motor, stellte die Lüftung auf volle Stärke und kümmerte sich mit einem Schaber um die vereisten Autoscheiben.

Zwei Minuten später nahm sie hinter dem Lenkrad Platz, hauchte auf ihre Hände und rieb sie aneinander. Ihre Wangen klebten von der Gesichtscreme, die ihr Sarah unter den Weihnachtsbaum gelegt hatte und die straffe Haut durch hochwertige Anti-Aging-Wirkstoffe versprach. Sie verzog den Mund, schaltete in den ersten Gang und fuhr los. Die Tube würde sie heute Abend in die Tonne werfen.

Kurz huschte ihr Blick zum Armaturenbrett, in dessen Ablage der Umschlag mit dem Weihnachtsgeschenk für Zoe lag. Ein Wochenend- Mädels-Trip nach Hamburg inklusive Konzertkarten. Und zufälligerweise im März, am Datum ihres vierzigsten Geburtstages. Sie schmunzelte süffisant vor sich hin. Die Party, die Zoe für sie vorgesehen hatte, würde so was von ausfallen. Die Fluchtmaßnahme war eingeleitet.

Während sie die kopfsteingepflasterte Seitenstraße hinter sich brachten, glich die Fahrt einer Rutschpartie. Maike atmete auf, als sie auf die asphaltierte Landstraße bog und beschleunigen konnte. Auf der Gegenfahrbahn staute sich der Verkehr, und sie hoffte, dass sich das bis zu ihrer Rückfahrt entspannt haben würde. Bis nach Köln würden sie bei diesem Wetter schon länger als die übliche halbe Stunde brauchen.

Sarah schaltete das Radio ein, zappte durch die Sender und hielt bei einem Song von Metallica inne. Sie lächelten sich an und wippten mit den Köpfen im Takt der Musik, bis Maikes Smartphone in der Armaturenhalterung klingelte und das leuchtende Display Lukas’ Anruf verkündete.

»Ich komme heute erst zum Spätdienst«, sagte sie, nachdem sie das Radio leiser gestellt und die Freisprechanlage betätigt hatte.

»Frau Pech, o Gott, bin ich froh, dass ich Sie erreiche. Sie müssen herkommen. Ich brauche Sie. Es gibt eine Leiche.« Die Sätze sprudelten ohne Punkt und Komma aus ihm heraus.

»Ganz ruhig, Lukas. Wenn Sie so schnell sprechen, verstehe ich kein Wort.«

»Der alte Palmer hat angerufen und einen Leichenfund gemeldet«, berichtete er genauso hastig weiter. Er schnappte hörbar nach Luft.

»Ein Leichenfund muss noch lange nicht mit einem Verbrechen zusammenhängen«, erwiderte sie. »Fahren Sie hin und verschaffen Sie sich erst einmal einen Überblick.«

»Ich bin schon da. Hab mich genau an die empfohlene Vorgehensweise gehalten und den Lastwagen gestoppt. Der steht jetzt in Niederteerbach und bringt gerade den Verkehr zum Erliegen. Aber ich kann ihn nicht weiterfahren lassen. Hier liegt ganz bestimmt ein Verbrechen vor, oder wie erklären Sie sich, dass auf einer Sandfuhre eine Leiche durch die Gegend gefahren wird? Der Rettungsdienst ist kurz nach mir eingetroffen, und der Notarzt hat allein beim Anblick des Mannes nur abgewunken.«

Maike fuhr rechts ran und schaltete die Warnblinker ein. »Vielleicht ein Betrunkener, der es sich dort gemütlich gemacht hat und erfroren ist?«

»Der Tote ist nackt und weist sichtbare Verletzungen auf. Das ist ein Fall für die Kripo – ein Fall für Sie.«

Maike starrte das Smartphone an und blickte dann zu Sarah. »Schreib deinen Eltern eine Nachricht, dass wir nicht zum Hauptbahnhof kommen können und sie sich ein Taxi nehmen sollen.«

Sie wendete das Auto, um nach Niederteerbach zurückzufahren.