Leseprobe New York Grand Hotel

1

Evan

Zehn Jahre später

Wir brauchen dich hier, du bist der Einzige, der mit allen Abläufen vertraut ist.

Evan schüttelte ungläubig den Kopf, denn die verzweifelte Bitte seiner Mutter verfolgte ihn seit ihrem Telefonat am Morgen. Nicht nur, weil er in ihrer Stimme die nackte Angst gehört hatte, sondern weil es das erste Mal überhaupt gewesen war, dass sie ihn verzweifelt angefleht hatte. Evan lachte zynisch. Die Frau, der es vor zehn Jahren nicht schnell genug gegangen war, dass er das Gastgewerbe von der Pike auf lernte. Nicht etwa im Juwel bei seiner Familie, nein, in Europa. Fernab von seinem Elternhaus – und Brianna. Er war erst sechzehn gewesen, bis über beide Ohren verliebt und konnte kein einziges Wort Französisch, doch das hatte seine Mutter nicht interessiert.

Evan lief zum Fenster und sah nachdenklich hinaus. Dieser unerwartete Anruf war nicht nur zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt gekommen, er stellte auch sein Leben komplett auf den Kopf. Mittlerweile war er längst nicht mehr der verlorene Jugendliche, der kein Wort verstand, sondern einer der erfolgreichsten Geschäftsmänner in ganz Paris und er hatte hier alle Hände voll zu tun.

Sein Blick wanderte automatisch zum Wahrzeichen der Stadt, das sich goldleuchtend von der Dunkelheit absetzte, und zum ersten Mal seit einer langen Zeit gestattete sich Evan einen Gedanken an Brianna. Der Schmerz, den er viele Jahre verdrängt hatte, war verschwunden. Dennoch trug er es ihr bis heute nach, dass sie ihm nie geantwortet hatte. Keinen einzigen verdammten Brief, und er hatte in seinen Lehrjahren weiß Gott Besseres zu tun gehabt, als verliebte Briefe zu schreiben, auf die er nie eine Antwort bekam.

Evan ging gedanklich seine To-do-Liste durch. Den Hoteldirektor, der ihn während seiner Abwesenheit vertreten würde, hatte er bereits am Morgen instruiert. Ebenso seine Assistentin. Sie würde die geplanten Meetings alle absagen oder notfalls auf Videokonferenzen umleiten. Außerdem hatte sie versprochen, sich um Jean-Luc zu kümmern – ein Graupapagei, den ihm seine Freunde zum Einzug geschenkt hatten, obwohl Tiere im Hotel eigentlich nicht gestattet waren. Das war vor drei Jahren gewesen, kurz nachdem die Tinte auf dem Kaufvertrag für eine weitere Immobilie, die in den Besitz der Waynes überging, getrocknet war. Beinahe zur selben Zeit hatte er Vivien kennengelernt – seine heutige Verlobte. Mist, dann mussten sie wohl auch ihre Tortenverkostung verschieben, dies war ja leider nicht über Zoom möglich.

Der Flug war ebenfalls schon gebucht und sein Koffer gepackt. Dieser stand ohnehin immer bereit, da er oft spontan verreisen musste. Da er allerdings zu diesem Zeitpunkt nicht sagen konnte, wie lange sein Aufenthalt in New York dauern würde, war es wohl besser, etwas mehr einzupacken. Vor allem warme Kleidung, denn zu dieser Jahreszeit konnte es im Big Apple eisig werden. Was nicht nur an seiner Mutter lag, sondern vielmehr am kalten Wind, der durch die tiefen Häuserschluchten pfiff.

Augenblicklich verzog sich sein Mund zu einem Lächeln, als er sich an einen längst vergangenen Wintertag aus seiner Kindheit erinnerte. Sein Dad und er hatten vor den Toren des Juwels einen Schneemann gebaut und ihn gebührend verziert. Mit dem Frack, wie die Concierges sie trugen, und dem hochnäsigen Gesicht aus schwarzen Steinchen hatte er eine verblüffende Ähnlichkeit mit Hector gehabt. Doch diese Zeiten und die Schneeballschlachten vor den Drehtüren des Juwels waren längst vorbei und Evan fragte sich, wie schlecht es um seinen geliebten Vater wirklich stand. Noch im Sommer hatten sie einige Tage zusammen verbracht und Simon hatte keineswegs den Eindruck gemacht, dass es ihm gesundheitlich schlecht ginge. Im Gegenteil, er wirkte losgelöst und entspannt – fernab von New York. Vor allem ihre Spaziergänge am Abend entlang der Seine hatte er genossen, ebenso wie die Speisen und den hervorragenden Wein in dem kleinen Restaurant in der Avenue de Versailles. Er sah seinen alten Herrn förmlich vor sich, wie er sich nach dem Essen – in Butter pochierter Hummer mit Champignons und Sauce Bordelaise – glücklich den Bauch rieb. Seitdem gab es dieses Gericht auch regelmäßig an Ednas Küchentisch. Obwohl die Köchin mittlerweile im Ruhestand war, so ließ sie es sich nicht nehmen, Simon Wayne, wann immer es die Zeit zuließ, kulinarisch zu verwöhnen.

Bittersüße Erinnerungen mischten sich mit einem Gefühl von Hilflosigkeit, denn Evan wollte nicht glauben, dass sein Vater wirklich so krank war, dass selbst seine Mutter in Panik verfiel. Wahrscheinlich wurde ihr erst jetzt bewusst, was alles auf dem Spiel stand und was es bedeutete, wenn ihr Mann für längere Zeit oder gar für immer ausfiel. Evan schluckte, denn allein der Gedanke, dass sein Vater – einst unerschütterlich und tatkräftig – nun handlungsunfähig im Bett lag, schnürte ihm die Kehle zu.

Kündigte sich ein Schlaganfall überhaupt in irgendeiner Weise an? Er kam meist unerwartet, so wie jetzt bei seinem Dad. Vielleicht wurde seinem alten Herren auch so langsam alles zu viel. Er war ein Mann vom alten Schlag, für den ein Wort noch genauso viel zählte wie ein Vertrag und dem es manchmal schwerfiel, mit all den Neuerungen Schritt zu halten. Besonders im Hotelgewerbe hatte sich in den letzten Jahren so viel verändert, doch sein Dad hielt nach wie vor an den goldenen Zeiten und dem guten Namen des Juwels fest. Zwischen all den neuen Hotelketten, die wie Pilze aus dem Boden geschossen waren, musste sich ein Luxushotel mit altmodischem Charme und kauzigen Angestellten erst einmal behaupten. Aber war es nicht genau dieses Alleinstellungsmerkmal, das sie in New York einzigartig machte? Nein, sogar auf der ganzen Welt war das schlossähnliche Hotel mit seinen unzähligen Erkern und Türmchen direkt am Central Park bekannt.

Evan fuhr sich müde übers Gesicht, seine Gedanken wanderten zu den Aufgaben, die ihn im New Yorker Haus erwarten würden. Gegen das zwanzigstöckige Gebäude im französischen Renaissance-Stil mit seinen fünfhundert Zimmern war sein Balzac geradezu winzig, auch wenn es über hundert Zimmer zählte. Was Eleganz anging, stand es seinem großen Bruder jedoch in nichts nach. Das Herrenhaus im neoklassizistischen Stil lag nur wenige Gehminuten von der Champs Élysées und dem Triumphbogen entfernt und punktete mit seinem unvergleichlichen Pariser Charme, den die Touristen so sehr liebten.

Zwischenzeitlich fühlte sich Evan sogar mehr französisch als amerikanisch. Die Zeiten, in denen er als Teenager fettige Burger mit Pommes verschlungen und Cola getrunken hatte, waren lange vorbei. Nicht dass ein gelegentlicher Burger in einem Diner keinen Genuss versprach – schnellen Genuss –, aber er liebte es noch mehr, sich beim Essen Zeit zu nehmen und mit allen Sinnen zu genießen. Vorzugsweise in einem der vielen Pariser Eckrestaurants mit Sonnenterrasse, in denen aufstrebende Sterneköche ihre Kreationen anboten.

Er würde sein Paris vermissen, auch wenn sein Aufenthalt in der Heimat nur von begrenzter Dauer wäre. Dennoch breitete sich allmählich eine Art Vorfreude in seinem Körper aus, als er nun an die bevorstehende Reise dachte. Zehn Jahre waren vergangen, seit er New York verlassen hatte. Die ersten davon geprägt von Liebeskummer und Heimweh. Doch sein Ehrgeiz und Stolz hatten diese Gefühle mit der Zeit beiseitegeschoben und aus ihm einen Mann gemacht, der den Geistern der Vergangenheit nicht nachtrauerte. Er war ein Wayne und würde irgendwann das Familienimperium fortführen – nur hoffte er, dass dieser Moment nicht schon jetzt gekommen war.

Evan lief zum Schreibtisch und holte das lederne Fotoalbum heraus, das Brianna ihm zum Abschied geschenkt hatte. Mit einem wehmütigen Lächeln schlug er die erste Seite auf und betrachtete das Gruppenfoto, das einige der Angestellten des Juwels zeigte. Wie viele davon wohl mittlerweile im Ruhestand waren? Allein auf diesem Foto waren mindestens zwanzig Personen zu sehen, die seit seiner Kindheit im Hotel gearbeitet und schon damals zu den Alten gehört hatten. Darunter ein Schnappschuss von Edna und Joseph. Sein Dad hatte ihm im Sommer erzählt, dass der Konditor wenige Monate zuvor in den wohlverdienten Ruhestand gegangen war. Evan konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen, denn Joseph war vom selben Schlag wie sein Dad und nicht dafür gemacht, nur herumzusitzen. Was Brianna anging, hatte er ehrlich gesagt keinen blassen Schimmer. Er konnte nicht einmal sagen, ob sich ihr Kindheitswunsch zwischenzeitlich erfüllt hatte und sie die erste weibliche Patissière des Juwels geworden war. Sein Dad hatte sie, nachdem Evan ihm sehr deutlich gesagt hatte, dass er nichts mehr von ihr wissen wollte, nie wieder erwähnt.

Und er hatte ihn nie wieder nach ihr gefragt. Dabei schien es, als wäre es erst gestern gewesen, dass sie ihm von ihren Träumen und ihrer Liebe für das Backen erzählt hatte.

Evan blätterte zum nächsten Bild, das die riesige Konditorei im Untergeschoss des Hotels zeigte. Das Foto war durch das Sprossenfenster aufgenommen worden, das die Konditorei vom Flur trennte. Er konnte nicht zählen, wie oft er sich die Nase an der Scheibe platt gedrückt hatte. Besonders zu Weihnachten war es dort zugegangen wie in einer Wichtelwerkstatt am Nordpol – und es hatte auch genauso ausgesehen. Lichterketten und Tannengirlanden verzierten die Türrahmen und Fenster, und die Mitarbeiter hatten ihre weißen Schürzen und Mützen traditionell gegen rot gemusterte Weihnachtsstoffe getauscht.

Evans Lächeln wurde breiter, denn erst jetzt entdeckte er sich selbst auf diesem lebhaften Foto, das mit seinen unzähligen Details und Aktionen stark an ein Wimmelbild erinnerte. Im Hintergrund war ein Teil der gemütlichen Küche zu sehen, und die Eckbank, auf der er einen großen Teil seiner Kindheit verbracht hatte. Ganz offensichtlich war es seine Legophase gewesen, wie er mit einem leisen Lachen feststellte, denn Han Solos Millennium Falcon war trotz des kleinen Bildausschnitts deutlich zu erkennen. Das Raumschiff nahm gut ein Viertel des Küchentisches ein; er hatte es fast genauso sehr geliebt wie die Weihnachtskekse und den Kakao mit Marshmallows, den Edna ihm in diesem Moment kredenzte.

Was war er nur für ein Glückspilz gewesen?

Unzählige Erinnerungen an seine Kindheit stürzten auf ihn ein und erfüllten sein Herz mit Wärme. Eine Wärme, die er die meiste Zeit über im Untergeschoss des Hotels gesucht hatte. Bei Menschen, die im Grunde nur für seine Eltern arbeiteten und sich sonst nicht weiter für ihn interessieren mussten. Aber das Gegenteil war der Fall gewesen. Sie hatten ihn in ihrer Mitte aufgenommen, als wäre er einer von ihnen.

Er konnte den würzigen Duft von Kakao und Zimt förmlich riechen, als er nun weitere Details aus dem Bild in sich aufnahm. Kein Wunder, dass er sich als kleiner Junge gern ins Souterrain des Luxushotels hinuntergeschlichen hatte. Hier war es gemütlich gewesen, besonders am großen Holzofen, in dem man die Brote und andere herzhafte Leckereien backte. Und obwohl es im Untergeschoss nie einen glamourösen Weihnachtsbaum mit kristallenen Kugeln gegeben hatte, konnte er hier den Zauber der Weihnacht förmlich spüren.

Evan schluckte fest, als er auf einem weiteren Bild seinen Dad und Joseph erkannte, wie sie in jungen Jahren Schach spielten. Die beiden saßen an einem Tisch im Aufenthaltsraum und ihre Gesichter leuchteten vor Freude. Auch wenn Evan bis jetzt stark geblieben war, konnte er die Tränen nunmehr nicht länger zurückhalten. Er würde alles dafür geben, dass sein Vater schnell wieder auf die Beine kam. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er während des unerwarteten Anrufs seiner Mutter nicht einmal imstande gewesen war, sie nach Einzelheiten zu fragen – vermutlich, weil er es einfach nicht wahrhaben wollte. Simon Wayne war schließlich ein Mann, der mit Herz und Verstand ein Millionenimperium führte und den nichts umhaute –, und solche Männer waren in New York rar gesät, erinnerte er sich erneut an Josephs damalige Worte.

Evan klappte das Album wieder zu und legte es in den Koffer. Die nächsten Seiten ließ er geflissentlich aus, denn bei seiner Heimkehr ging es nicht um Brianna. Wahrscheinlich war sie auch schon längst fort. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie immer noch in einer der winzigen Kellerwohnungen im Personalbereich lebte, in die kaum Tageslicht kam. Erst recht nicht, nachdem sie ihm offen gesagt hatte, was sie von der Entscheidung seiner Mutter hielt, und sich danach nicht mehr bei ihm gemeldet hatte.

Vermutlich war sie inzwischen längst verheiratet. Evan schnitt eine Grimasse, denn die Tatsache, dass sich seine Gedanken seit dem Morgen ständig um seine erste große Liebe drehten, ärgerte ihn. Zu viel Zeit allein mit seinen Gedanken tat ihm eindeutig nicht gut. Wie praktisch, dass er sich gleich mit einem Bewerber für die Stelle des neuen Sous Chef treffen würde. Ein kreatives Genie, wie seine Assistentin ihn genannt hatte. Okay, es war ihr Cousin zweiten Grades, was sollte sie auch sonst sagen?

Evan schnappte sich sein Jackett, das er achtlos aufs Bett geschmissen hatte, und zog es über sein Businesshemd. Seit er CEO des Balzac war, trug er fast täglich Kleidung einer bestimmten italienischen Marke am Körper. Die Anzüge waren nicht nur bequem, sondern saßen auch wie angegossen, sodass er sich den persönlichen Gang zum Herrenausstatter sparen konnte. Wie sehr hatte er es als kleiner Junge und später als Teenager gehasst, wenn der hauseigene Schneider des Juwels sein Maßband gezückt hatte … Er wollte sich lieber nicht an das stundenlange Strammstehen auf einem Hocker und die darauffolgenden Anproben erinnern. Glücklicherweise konnte er mittlerweile selbst darüber entscheiden, ob er einen seriösen und respektablen Eindruck machte. Und das war in seinem dunklen italienischen Anzug zweifelsohne der Fall. Seine Freunde hatten ihn im Scherz sogar schon gefragt, ob er nicht als Mr. Millionaire auf der nächsten Fashion Week in Paris mitlaufen wollte.

„Armani“, krächzte Jean-Luc, als Evan zurück ins Wohnzimmer kam.

„Ja, ich hab’s kapiert“, erwiderte er unbeeindruckt und rollte mit den Augen. Evan hätte seinen Freund erwürgen können, dem es während einer seiner Geschäftsreisen gelungen war, seinem Haustier dieses Wort einzubläuen. Seitdem hörte er es jeden Tag, genau genommen jedes Mal, wenn er sich sein Jackett überzog. Wenn sich der Graupapagei einmal nicht meldete, wusste Evan, dass er etwas vergessen hatte.

„Bis später, Jean-Luc.“

„Armani!“, kam es prompt zurück.

Evan schnappte sich seine lederne Dokumentenmappe und sein Handy und verließ schließlich mit einem amüsierten Kopfschütteln das luxuriöse Appartement.

***

„Bonsoir, Monsieur Wayne“, begrüßte ihn einer der Kellner sichtlich überrascht, als er wenige Minuten später das Restaurant im Erdgeschoss betrat. „Sie haben noch einen Geschäftstermin?“

„Guten Abend, Pierre. Ja, da ich morgen kurzfristig verreisen muss.“

Der ältere Herr nickte, und Evan hätte seine rechte Hand darauf verwettet, dass seine Angestellten bereits von seiner bevorstehenden Reise wussten. Warum sollte es hier auch anders sein als im Juwel? Er war damals hautnah dabei gewesen, wenn sich die Zimmermädchen und Portiers über die neuesten Skandale ausgetauscht hatten. Zwar immer verhalten, aber als kleiner Junge war er oft unentdeckt geblieben und hatte seine feinen Antennen überall ausgefahren. Besonders über die schlüpfrigen Themen hatte er sich mehr als amüsiert.

„Dann wünsche ich Ihnen trotz allem eine angenehme Reise“, kam es vom Kellner zurück und sein mitfühlender Blick verriet ihm, dass er bereits bestens Bescheid wusste.

„Danke, Pierre.“

Evan nahm an einem der hinteren Tische Platz und lauschte für einige Momente dem Klavierspiel. Es war eine Darbietung von White Christmas. Gerade laut genug, um die Unterhaltungen der Gäste nicht zu stören. Dazu mischten sich Geschirrgeklapper und gelegentlich das Zischen der Espressomaschine. Selbst von hier aus hatte man einen Blick auf den Eiffelturm, auch wenn es nur das obere Drittel der Spitze war. Ein Anblick, der Evan nicht weiter faszinierte, im Gegensatz zum deckenhohen Weihnachtsbaum neben der kleinen Bühne. Wie in den zwei Jahren zuvor hatte man die kristallenen Kugeln und Zapfen aufgehängt, die auch die imposante Tanne in der Lobby des Juwels schmückten. Evan wusste bis heute nicht, wer es gewagt hatte, ein Dutzend der limitierten Schmuckstücke zu entwenden, um sie ihm einfach nach Paris zu schicken.

Sein Dad war es jedenfalls nicht gewesen. Und Brianna? Evan lachte sarkastisch auf. Die hatte ihm ja nicht einmal zurückgeschrieben.

2

Brianna

Brianna zog sich ihren knielangen Daunenmantel über und schlüpfte eilig in ihre Lammfellboots. Schon wieder hatte sie eine der Szenen aus Velvet derart gefangen genommen, dass sie völlig die Zeit vergaß. Nur dass sie im Gegensatz zu Edna, die ihr die Serie mit einem verheißungsvollen Blick empfohlen hatte, arbeiten musste. Die pensionierte Köchin war mit dem Liebesdrama um Ana, eine bescheidene Näherin, und Alberto, Erbe eines exklusiven Modehauses in Madrid, längst durch. Brianna dagegen kam nur am Abend vor ihrer Schicht dazu, die Geschichte zwischen den beiden weiter zu verfolgen. Am liebsten mit einem Becher Kaffee, um wach zu werden, denn ihr Arbeitstag begann zu einer Zeit, in der die halbe Stadt schon schlief.

Doch ihr Leben stand ohnehin auf dem Kopf. Ob mit nächtlichem Kaffee oder ohne. Sie hatte die beziehungsunfreundlichsten Arbeitszeiten, die man sich nur vorstellen konnte. Aber wer brauchte schon eine Beziehung, wenn es Netflix, Törtchen und Desserts gab?

Brianna schnappte sich ihre Handtasche und verließ die kleine Mietwohnung, die sich in einem Brownstone in der Upper West Side befand. Vorsichtig setzte sie auf der schneebedeckten Treppe einen Fuß vor den anderen, dabei hielt sie sich am gusseisernen Geländer fest. Immerhin war es nicht gefroren, sonst hätte sie bis zum Morgen hier festgeklebt, ohne dass es irgendjemand bemerkt hätte. Okay, nicht ganz. Spätestens gegen ein Uhr hätte sich eine ihrer Kolleginnen gewundert, wo sie steckte, schließlich kam die frisch gebackene Patissière des Juwels nie zu spät – genauso wenig wie ihr Großvater in fünfzig Arbeitsjahren keinen einzigen Tag zu spät gekommen war. Aber Joseph hatte es ja auch nie weit gehabt. Nur den Flur hinunter, immer der Nase nach.

Briannas Mund verzog sich zu einem liebevollen Lächeln, denn der pensionierte Konditormeister lebte noch heute dort, in seiner alten Wohnung im Untergeschoss des Hotels.

Brianna erreichte den Gehweg, auf dem sich ebenfalls wieder Schnee gesammelt hatte – wozu Schnee schaufeln, wenn sie kaum hinterherkamen? –, und stapfte vor zur Central Park West. Im Gegensatz zu ihrem Sträßchen, das fast im Dunkeln lag, leuchtete hier die Weihnachtsbeleuchtung auch nachts. Kein Wunder, die exklusiven Appartementhäuser, die sich hier aneinanderreihten, hatten schließlich ihren Preis. Sie wurden nicht nur rund um die Uhr bewacht, es gab auch einen Wäsche- und Parkservice. Selbst die Türen mussten die Mieter nicht selbst öffnen. Diese Aufgabe übernahm ein uniformierter Doorman, der sich dick eingemummelt unterhalb des Vordachs bereithielt. Es erinnerte an einen Pavillon aus Stoff und überspannte den Gehweg bis zur Straße hin.

Brianna blieb für einen Moment stehen und betrachtete die funkelnden Lichterketten und roten Schleifen, die man am Dach befestigt hatte. Mit einem versonnenen Lächeln setzte sie ihren Weg fort, dann wanderte ihr Blick wie immer verstohlen nach oben zu dem hell erleuchteten Christbaum hinter dem Erkerfenster. Die Zeit schien plötzlich stillzustehen, als dicke Schneeflocken auf sie herabschwebten. Es war pure Magie oder wie Edna sagen würde: ein Zeichen des Himmels. Denn auch jetzt hatte Brianna das Gefühl, ihren Eltern ganz nahe zu sein. Eine Reihe solcher Zufälle und der Rückhalt im Juwel hatten ihr in den vergangenen Jahren geholfen, mit ihrem Verlust umzugehen.

Die Geräusche der Nacht drangen gedämpft zu ihr durch, einzig das Knirschen ihrer Stiefel auf Schnee war zu hören. Brianna passierte den Columbus Circle und da sah sie es schon von Weitem: hell erleuchtet und in goldenen Farben verströmte das Juwel seit jeher Luxus und Wärme. Die roten Teppiche, die am Boden auslagen und die Gäste zum Eingang führten, rundeten das Bild perfekt ab. Ebenso die Portiers mit ihren Zylindern und unverkennbaren Uniformen. Sie ähnelten mit ihren roten Jacken und goldenen Kordeln denen des weltbekannten Nussknackers aus Tschaikowskis Ballett.

Briannas Schritte wurden automatisch schneller, denn das Juwel zog sie wie schon als Kind magisch an. Es war der Zauber der weiten Welt, die Gäste, die hier ein und aus gingen, aber vor allem die Menschen, die hier arbeiteten. Es war, als würde sie heimkehren, was sie ja in gewisser Weise auch tat.

„Brianna, wir dachten schon, du hast verschlafen“, sagte der junge Portier gut gelaunt, als sie vor den Eingangsbereich trat.

„Ich doch nicht, Lucas. Ich konnte mich nur nicht von Velvet losreißen. Und tagsüber habe ich keine Zeit zum Fernsehen, da schlafe ich.“

Lucas schüttelte amüsiert den Kopf und Brianna wusste, dass er sie verstand. Ihm ging es während des Superbowls ähnlich. Wie gut, dass es während dieser Zeit im Pausenraum einen großen Fernseher gab, damit sich die sportbegeisterten Kollegen in ihren Pausen informieren konnten. Simon Wayne hatte diese Tradition eingeführt, denn egal ob Football, Baseball oder Fußball, in den USA oder auf der ganzen Welt … im Juwel gab es immer irgendeinen Fan, der hinter seinem Team stand. Als Kind war sie oft dabei gewesen und hatte die Giants lautstark unterstützt.

Heute jedoch konnte Brianna mit Bällen nichts mehr anfangen, außer sie waren aus fluffigem Gebäck oder steckten als Kugel auf einem Popsicle Stick. Am besten mit ganz viel Creme und Kokosraspeln umhüllt. So wie ihr aktuelles Meisterstück, das sie für den diesjährigen Winterball kreierte. Dana Carter hatte sie auf die Idee mit der selbst gemachten Kokoscreme gebracht. Die Dame gehörte nach wie vor zu den illustren Gästen des Juwels und besuchte mit ihrem zweiten Ehemann oft und gern das hauseigene Café im Erdgeschoss.

Als Brianna nun die Lobby passierte, weckten der Gedanke an Mrs. Carter und der Anblick des Christbaums schlagartig Erinnerungen an einen ganz bestimmten Abend vor vielen Jahren. Auch an diesem Tag hatte es so sehr geschneit, dass viele der Gäste sehr spät zum beliebtesten Ball des Jahres eingetroffen waren. Warum erinnerte sie sich ausgerechnet jetzt an diesen einschneidenden Tag in ihrem Leben? Der Tag, an dem Evan sie zum ersten Mal geküsst hatte. Ein Kribbeln durchfuhr ihren Körper, denn erst jetzt wurde ihr bewusst, dass seitdem genau zehn Jahre vergangen waren.

Zum Glück war Evan in letzter Sekunde zur Vernunft gekommen und sie hatten sich wie immer auf der Empore versteckt, um von dort aus alles zu verfolgen. Auch wenn Brianna nichts lieber getan hätte, als an einem der festlich gedeckten Tische zu sitzen, so gab es etwas, was ihr noch wichtiger war – ihren Grandpa nicht zu enttäuschen.

Heute brauchte sie sich nicht mehr zu verstecken. Im Gegenteil, sie hatte das Kommando in der Konditorei und trug die alleinige Verantwortung, dass sämtliche Kreationen in einem einwandfreien Zustand das Untergeschoss verließen. Dazu musste sie sich regelmäßig selbst einen Überblick während der Veranstaltungen verschaffen. Doch irgendetwas fehlte … es war diese verbotene Vorfreude, die sie damals schon Tage vor dem eigentlichen Event verspürt hatte. Die allgemeine Geschäftigkeit und Magie, die in der Luft lag … und Evans Freundschaft. Obwohl sie es niemals zugegeben hätte, war er derjenige gewesen, der jedes dieser Ereignisse zu etwas Besonderem gemacht hatte.

Brianna zog sich die Pudelmütze vom Kopf und nahm die Treppe, die direkt ins Untergeschoss führte. Da erst fiel ihr auf, dass sie mal wieder den Haupteingang benutzt hatte. Nicht dass es generell verboten war, dass die Angestellten denselben Eingang wie die Gäste wählten, aber es war schon fast ein unausgesprochenes Gesetz, die Seitenstraße zu nehmen, wenn man zum Dienst erschien. Was war heute nur mit ihr los? Erst ihr Fast-Zu-Spät-Kommen, dann die Erinnerungen an Evan und jetzt dieser Auftritt. Zum Glück hatte Hector nicht wieder wie ein Aasgeier vor der Rezeption gelauert. Je älter der Concierge wurde, desto mehr erinnerte er sie an den übereifrigen Pagen aus Kevin – Allein in New York. Nur dass ihm bis jetzt nie ein kleiner blonder Junge eine ordentliche Abreibung verpasst hatte – leider.

Brianna lief weiter und passierte die Tür, die das Treppenhaus vom Souterrain trennte. Ihre Verwirrtheit konnte nur an den schrecklichen Nachrichten liegen, die ihr in ihrer letzten Nachtschicht durch Zufall zu Ohren gekommen waren. Mister Wayne hatte während eines Meetings einen Schlaganfall erlitten. Die Tränen, die ihr plötzlich in die Augen schossen, bestätigten ihren Kummer.

Sie war heute Morgen einfach zu müde gewesen, um weiter darüber nachzudenken, doch jetzt wurde ihr die Tragweite all dessen erst richtig bewusst. Wer würde das Hotel leiten, wenn Simon – sie durfte ihn so nennen – für mehrere Wochen ausfiel? Oder sogar für immer? Brianna mochte sich gar nicht vorstellen, dass er nie wieder zu ihnen herunterkäme, um mit ihnen zu scherzen und um sich Feedback einzuholen.

Brianna erreichte die Wohnung ihres Grandpas, klopfte an und schloss dann kurzerhand mit ihrem eigenen Schlüssel auf.

Auch wenn es nach Mitternacht war, wusste sie, dass er es ihr übel nehmen würde, wenn sie ihm nicht wenigstens Hallo sagte.

Ein liebevolles Lächeln huschte über ihr Gesicht, denn wie zu erwarten, war Joseph in seinem Lesesessel über einem Buch eingenickt. Ein Gefühl der Geborgenheit durchströmte Brianna, als sie sich in dem kleinen Raum umsah, in dem sich seit ihrer Kindheit nichts geändert hatte. Sogar der Geruch war derselbe. Selbst hier duftete es immerzu nach Backstube und Zimt. Und es waren dieselben praktischen Möbel, an denen der alte Herr so hing. Offensichtlich konnte er sich auch nicht von der alten Decke trennen, die jetzt über seinen Beinen lag und die Evan und sie früher immer mit zu ihren Streifzügen durchs Hotel mitgenommen hatten, um zu picknicken.

Ein leises Schmatzen holte sie ins Jahr 2023 zurück und sie sah, wie ihr Großvater müde die Augen aufschlug.

„Ist es schon so spät?“ Er sah sich verwirrt um.

„Ja, Grandpa, und höchste Zeit für dich, ins Bett zu gehen“, antwortete Brianna wie jeden Abend.

Joseph rappelte sich langsam auf und fuhr sich mit den schwieligen Händen übers Gesicht. „Und du willst wirklich nicht, dass ich euch wenigstens die ersten beiden Stunden in der Konditorei unterstütze?“

„Du bist im Ruhestand, schon vergessen?“ Brianna schüttelte schmunzelnd den Kopf. Auch wenn sich Josephs Körper trotz der arbeitsreichen Nachtschichten längst an den neuen Schlafrhythmus gewöhnt hatte, wusste sie, dass er in der Lage war, kurzfristig einzuspringen, wenn Not am Mann wäre.

Erst vor einigen Wochen hatte er sich wie eh und je seine Schürze umgebunden und mitgeholfen, weil einer der jungen Konditoren plötzlich ausgefallen war.

„Ich komme nach meiner Schicht vorbei, und dann frühstücken wir. Bis dahin will ich dich nicht da draußen sehen.“ Sie wollte es nur noch einmal gesagt haben, denn heute wirkte der ehemalige Konditormeister sehr mitgenommen. Vermutlich saß ihm die Angst um seinen langjährigen Freund und Arbeitgeber ebenfalls in den Knochen.

Joseph schnitt eine Grimasse und stand ächzend auf.

„Grandpa, Simon wird schon wieder“, fügte sie mit einem aufmunternden Lächeln hinzu und hoffte, dass sie recht behielt.

***

Wenige Augenblicke später verabschiedete sie sich und machte sich auf den Weg zur Konditorei. Ihr Team, das aus dreißig Personen und zwanzig verschiedenen Nationalitäten bestand, war vollzählig und bereit, loszulegen. Brianna befreite sich von ihrer Jacke, den Schuhen und ihrer Tasche und hängte alles in den Spind, der sich in einem abgetrennten Bereich befand. Früher hatte sie ihn nicht gebraucht, als sie ebenfalls hier gewohnt hatte. Inzwischen aber hortete sie darin mehrere Hosen und T-Shirts und auch einen kleinen Kosmetikbeutel, um sich frisch zu machen, falls sie während der Arbeitszeit nach oben musste.

Sie schlüpfte in ihre Crocs, band sich die Schürze um und setzte sich anschließend die Bäckermütze auf, ehe sie nach nebenan lief, um einen ersten Blick auf die Tafel zu werfen.

Natürlich stand der heutige Arbeitsplan schon seit Anfang der Woche fest, und bis auf einige Kleinigkeiten und Sonderbestellungen, die sich tagsüber ergaben, wusste sie bereits, welche Aufgaben in den nächsten Stunden auf sie zukamen.

Selbst die Reihenfolge zur Herstellung der Teige war genaustens geregelt. Ob süßer Hefeteig, Blätterteig, Biskuit, Mürbe- oder Rührteig, jeder im Team wusste genau Bescheid, was zu tun war.

Doch am meisten freute sich Brianna auf das Füllen und Dekorieren der Torten und feineren Gebäckstücke wie Macarons und Cupcakes. Hier konnte sie ihrer Kreativität freien Lauf lassen und kleine Kunstwerke erschaffen.

Sie entdeckte einen handgeschriebenen Zettel – der war neu – und augenblicklich verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln. Es handelte sich dabei um eine besondere Bestellung, die Mrs. Wayne höchstpersönlich aufgegeben hatte. Biskuittörtchen mit Zitronenfüllung, die ihr Mann so sehr liebte. Wenn sie ihren Teil zu seiner Genesung beitragen konnte, dann würde sie gleich die doppelte Menge davon zubereiten.

Mit einem zufriedenen Lächeln verfolgte sie anschließend, wie zwei ihrer Mitarbeiter bereits die große Knetmaschine befüllten, und Nat, ein junger Konditor aus Toronto, der erst seit Kurzem im Juwel arbeitete, den Inhalt des riesigen Kühlschranks inspizierte. Darin lagerten gut einhundert Liter Sahne, frische Eier und Früchte, die man zur Dekoration oder als Füllung benötigte. Nat war für die Herstellung der Desserts zuständig, die geschmacklich perfekt auf ihre Gebäckstücke abgestimmt waren und auch optisch mit ihnen harmonierten. Sie liebte die Zusammenarbeit mit den verschiedensten Chefs aus der Küche und der Konditorei und es war immer wieder eine Freude, die fertigen Kreationen später alle vereint auf einer der Etageren im Café zu bewundern. Aber es waren nicht nur Briannas Mürbeteigtörtchen mit Himbeeren und Nats Caramel Flan, die die Gäste zum Nachmittagstee ins Juwel lockten, sondern auch Emmas Mousse au Chocolat oder ihre außergewöhnlichen Pralinen.

Die Schweizerin war eine Koryphäe auf ihrem Gebiet und betrat in diesem Moment die Konditorei. Sie hatte bei den besten Chocolatiers in Paris und Brüssel gelernt und ein Händchen dafür, wenn es um die Festigkeit einer Ganache oder den Kakaoanteil in Briannas Torten ging. Außerdem war sie die Erfinderin der sogenannten Wayneschen Trüffel-Praline, die man letztes Jahr kurz vor Weihnachten im Hotel vorgestellt hatte. Inzwischen gab es sie sogar im Hotelshop zu kaufen. Jede Schokokugel mit einem verschnörkelten W aus Blattgold versehen, das weltbekannte Monogramm der Hoteldynastie. Aus den Resten der Schokolade, die zu schade für den Ausguss waren, bereitete Emma ihnen oft eine Tasse heiße Schokolade zu. Und an diesen Tagen spürten sie alle, von der Wäscherin bis zum Concierge, den Luxus, der sie tagein tagaus umgab.

Brianna gab Emma und Nat ein Zeichen, dass sie gleich so weit war, und klappte den Laptop auf, um kurz die Bestellliste zu checken. Orangen. Sie musste den Einkäufer noch fragen, ob sie morgen auch ganz sicher mit ihrer Bestellung rechnen konnte. Ein Obsthändler aus Hell’s Kitchen war ihr Mann, wenn es um die Beschaffung der saftigen Orangen aus Valencia ging. Soweit sie wusste, kamen diese jede Woche frisch im New Yorker Hafen an. Und etwas anderes als Lombardis Obst kam ihr nicht in die Konditorei. Schon in ihrer Kindheit hatte ihr Grandpa ihr eingetrichtert, dass an der Qualität der Zutaten alles hing. Umso wichtiger war es da, nichts dem Zufall zu überlassen, denn nicht nur sie benötigte die orangenen Früchtchen zur Dekoration einer gefüllten Spekulatiustorte – auch der Konditor und die Chocolatiere wollten etwas davon abhaben. Nats fruchtiges Parfait und die Orangenzesten auf Emmas weißen Pralinen würden wieder perfekt mit ihrer Torte harmonieren.

Brianna klappte den Laptop zu, denn alles war vorhanden. Jetzt konnte sie sich endlich ihrer Lieblingsbeschäftigung widmen – dem Backen – das neben ihren administrativen Aufgaben wie den Bestellungen und der Produktions- und Personalplanung leider oft viel zu kurz kam. Aber sie hatte es ja so gewollt. Sie hatte für ihren Traum gekämpft und war zur ersten Chef-Patissière aufgestiegen. Ihr Grandpa hatte bei ihrer Ehrung vor der Konditoren-Innung Rotz und Wasser geheult, und auch Edna und Mr. Wayne höchstpersönlich waren dabei gewesen, als man ihr die Urkunde mit Auszeichnung überreicht hatte.

Ihr Blick wanderte zur Wand neben dem Sprossenfenster, an der bereits zahlreiche Auszeichnungen der bisherigen Bäcker und Konditoren ausgestellt waren. Zum Teil leicht vergilbt und mit altmodischer Schrift – weswegen ihre Urkunde sofort aus der Menge herausstach. Was nicht zuletzt an dem schicken Bilderrahmen lag, den ihr Grandpa eigens dafür besorgt hatte. Was hatte er vor einem Jahr für ein Aufheben veranstaltet. Als handelte es sich um die Freilegung eines Sterns am Walk of Fame. An diesem Tag hatte sie sich geschworen – mehr als zuvor –, dass sie ihn niemals enttäuschen würde. Genauso wie sie sich selbst das Versprechen abgerungen hatte, Hector mit Höflichkeit und Respekt zu begegnen. Mittlerweile war er nicht mehr so schlimm wie damals, aber sie traute dem rabenartigen Concierge bis heute nicht über den Weg. Und von einem freundschaftlichen, kollegialen Miteinander waren sie meilenweit entfernt – wahrscheinlich weil er in ihr immer noch die Enkelin des alten Konditors sah, die sich von ihm nie hatte einschüchtern lassen.

3

Evan

Evan passierte die riesige Ankunftshalle des JFK, und mit jedem weiteren Schritt Richtung Glasfassade, die ihn von den Taxis und der Stadt trennte, wurde ihm schwerer ums Herz. Er war wieder hier … und dann ausgerechnet zur Weihnachtszeit. In der Stadt, in der er geboren und aufgewachsen war.

Starker Schneefall hatte eingesetzt und er konnte nur erahnen, was sich auf der Straße vor der Ankunftshalle abspielte. Die kleinen Fahrzeuge vom Räumdienst fuhren mit ihren blinkenden Lichtern hin und her, wie zuvor auch auf der Landebahn, und Evan war mehr als erleichtert, dass er endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Ihre Maschine war eine der Letzten gewesen, die eine Starterlaubnis erhalten hatte, bevor man sämtliche Flüge ab Paris vorsorglich gecancelt hatte.

Er erreichte den Ausgang und winkte das nächste Taxi heran. Ein Mann mittleren Alters stieg aus, schnappte sich Evans Koffer und lud ihn in den Kofferraum, während Evan auf dem Rücksitz Platz nahm. Wie immer hatte er seine Umhängetasche dabei, die er nun neben sich auf dem Sitz ablegte. Auch wenn er hier in New York sicher alle Hände voll zu tun hätte, konnte er die Leitung des Balzac nicht gänzlich seinem Direktor überlassen. Vor allem nicht die Meetings mit den Investoren. Evan warf einen Blick auf die Uhr. Bereits in vier Stunden startete die erste Videokonferenz, die er auf keinen Fall verpassen durfte.

Nachdem Evan dem Fahrer sein Ziel genannt hatte, verließen sie das weitläufige Areal des Flughafens und steuerten auf die Weltmetropole zu.

Beim Anblick der Skyline, der sie sich nun näherten, schnürte es Evan die Kehle zu. Wie hatte er sich nur einreden können, dass Paris so viel schöner war?

In der Ferne erkannte er die Spitze des Chrysler Buildings, die sich schwach vom verschneiten Himmel abhob. Er hatte dieses Gebäude schon geliebt, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Und auch jetzt zog ihn der Wolkenkratzer im Art-déco-Stil mit seiner pyramidenförmigen Turmkrone und den Verzierungen an der Fassade, die Adlerköpfen und Wasserspeiern nachempfunden waren, wie magisch an.

Sofort musste er an den Kampf zwischen Spiderman und dem Grünen Kobold denken, die sich in einem der Filme auf dem schlossähnlichen Dach des nahe gelegenen Windsor Towers bekämpft hatten.

Sie erreichten den Queens Midtown Tunnel, der unter dem East River hindurchführte und die Stadtteile Queens und Manhattan miteinander verband. Für einige Minuten deutete nichts auf das Schneegestöber hin, das weit über ihnen tobte. Doch kaum, dass sie die Oberfläche und Midtown erreichten, fühlte sich Evan wie in einer anderen Welt.

Es hätte nicht mehr viel gefehlt und er hätte vor Staunen die Scheibe heruntergelassen. Er fühlte sich fast ein bisschen wie der kleine Kevin, der ins vorweihnachtliche New York kam.

Evan nahm jedes winzige Detail in sich auf, als würde er seinen Geburtsort heute zum ersten Mal sehen. Im Schritttempo tuckerten sie weiter über die 5th Avenue, auf der sich einige der bekanntesten Attraktionen aneinanderreihten.

Die St. Patrick’s Cathedral, Geschäfte namhafter Designer und natürlich der weltbekannte Juwelier Tiffany & Co. Evan wandte den Kopf erwartungsvoll nach links und erhaschte vom Taxi aus einen kurzen Blick auf das Rockefeller Center und den geschmückten Weihnachtsbaum. Überall wimmelte es von Passanten, trotz des Schneefalls und der klirrenden Kälte. Das Taxi passierte den Trump Tower und das Gebäude, in dem sich einst New Yorks bekanntester Spielzeugladen befunden hatte – das FAO Schwarz. Ein wahres Kinderparadies, das sofort Erinnerungen an ferngesteuerte Autos und Spielkonsolen in Evan weckte. Er musste zugeben, dass es ihm damals an keinerlei Schnickschnack gefehlt hatte. Außer an wahren Freunden, die er an der Privatschule in Morningside Heights – bis auf Brad – vergeblich gesucht hatte. Und dann war plötzlich Brianna in sein Leben getreten.

Mit einem wehmütigen Lächeln erinnerte er sich an ihre erste Begegnung in der Konditorei. Er hatte sich bei Edna seine tägliche Portion heiße Schokolade abholen wollen, und da hatte sie gesessen, auf seiner Eckbank. Ziemlich scheu und verloren, weil sie nicht verstanden hatte, warum sie auf einmal bei ihrem Grandpa leben sollte.

Von diesem Tag an hatten sie keinen einzigen ohne einander verbracht. Bis er New York verlassen hatte, um in Paris seine Ausbildung anzutreten.

Die Stimme des Fahrers holte Evan aus seinen Erinnerungen. Sie hatten ihr Ziel erreicht, er war endlich wieder daheim. Auch wenn es ihm peinlich war und er hoffte, dass der Fahrer es nicht bemerkte, füllten sich seine Augen mit Tränen, als er nun einen ersten Blick auf das Imperium seiner Eltern warf.

Ihm schien, als wäre die Zeit stehen geblieben, denn bis auf die riesigen Tannenkränze, die über dem Eingang prangten, hatte sich kaum etwas verändert.

Er bezahlte, stieg aus und schnappte sich seinen Koffer, den der Fahrer auf dem roten Teppich abgestellt hatte. Er konnte nicht sagen, wie lange er vor der messingfarbenen Drehtür gestanden hatte, bis er schließlich einen Fuß vor den anderen setzte und das Hotel am Central Park betrat.

Ob man mich überhaupt noch erkennt?, schoss es Evan amüsiert durch den Kopf. Sofort wurde er von einem der Concierges begrüßt, der sich nach einem kurzen Blick auf den Neuankömmling überrascht die Hand auf den Mund schlug.

„Mr. Evan Wayne?“

Evan runzelte die Stirn, dann erkannte er endlich den Mann, der in den letzten Jahren deutlich gealtert war.

„Winston! Ich freue mich, Sie wiederzusehen.“ Für einen Moment vergaß Evan, dass er als alleiniger Erbe auf einen gewissen Verhaltenskodex achten musste, und schloss den Mann im Frack herzlich in seine Arme. Wenn er sich recht erinnerte, hatte Edna damals einen Narren an dem britischen Concierge gefressen. Er war also einer von den Guten, wie Brianna und er diejenigen Angestellten des Hotels nannten, die sie nicht verpetzt und Spaß verstanden hatten. Bis auf eine Handvoll waren sie in der Überzahl gewesen.

„Ich bin so froh, dass Sie gekommen sind.“ Der Mann schnitt eine bedauernswerte Grimasse. „Wir sind alle untröstlich. Es ist schlimm, was mit Ihrem Vater geschehen ist.“

Evan nickte nur, denn er wusste nicht genau, was ihn erwartete. War sein Vater womöglich zum Pflegefall geworden? Sein Puls begann zu rasen, denn er hatte den Gedanken bis jetzt weit von sich geschoben.

„Ich nehme an, dass meine Eltern oben sind?“, fragte Evan etwas stumpfsinnig. Seine Mutter hatte zumindest nichts von einem Krankenhaus erwähnt, und er war sich sicher, dass sie keine Kosten und Mühen gescheut hätte, um ihrem Mann selbst im Hotel ein voll ausgestattetes Krankenzimmer samt Ärzten und Pflegern einzurichten.

„Jawohl, Mr. Wayne. Dort fühlt sich Ihr Vater am wohlsten.“

Evan schenkte Winston ein freundliches Lächeln, ehe er den Griff seines Trolleys umfasste und sich gedankenverloren auf den Weg zum Aufzug machte. Dabei entgingen ihm die Blicke der Angestellten, die den verlorenen Sohn des Juwels mit einer Mischung aus Faszination und Mitleid betrachteten.

Zum Glück kannte ihn der Liftboy nicht, denn Evan wollte nur eins: so schnell wie möglich ins oberste Stockwerk, um seinen Dad endlich in die Arme zu schließen. Er verließ den Aufzug über die achtzehnte Etage und wechselte in den Privataufzug, der sich nur per Fingerscan öffnen ließ. Das überraschte Luftschnappen des Liftboys, der bis an den Rand seiner Mütze rot anlief, brachte ihn zum Schmunzeln.

Es war immer wieder interessant zu beobachten, wie unterschiedlich die Menschen auf ihn reagierten. Selbst in Paris war das Juwel bekannt und Evan verzichtete oft darauf, seinen richtigen Namen zu verwenden, wenn es nicht unbedingt sein musste. Eine Zeit lang, während seiner Ausbildung am Internat, hatte er sich sogar ein Pseudonym zugelegt, um nicht aufzufallen. Er wollte keine Sonderbehandlung, nur weil er Evan Wayne und alleiniger Erbe des weltbekannten Juwels war. Es hatte ihn einen ganzen Nachmittag gekostet, die goldenen Lettern an seinen Koffern und Reisetaschen abzukratzen, und alles, was mit einem Monogramm versehen war, zu entsorgen. Die Zeiten, in denen er Poloshirts und Pullis mit aufgestickten Buchstaben getragen hatte, waren schon lange vorbei. In Paris war er einfach nur Evan aus New York gewesen. Ein junger Mann, der große Ziele verfolgte und endlich Freunde gefunden hatte, die keinen Wert auf Luxus legten. Unwillkürlich musste er an Jean-Luc denken. Was sein Papagei in diesem Moment wohl wieder ausheckte?

Ein leises Pling signalisierte ihm, dass er das zwanzigste Stockwerk erreicht hatte, und Evan stieg aus. Nun trennte ihn nur noch der sechsstellige Zugangscode vom Appartement seiner Eltern. Evan tippte die ihm vertraute Nummer ein, wie zu erwarten hatte sich diese seit seiner Kindheit nicht verändert. Mit einem Klick öffnete sich die schwere Panzertür, die mit mehreren Bolzen ausgestattet war, und Evan stand plötzlich mitten im Wohnzimmer seines Elternhauses.

Er stellte seinen Koffer und die Umhängetasche ab und sah sich um. Wie sehr hatte er diesen Ausblick vermisst.

Von hier aus hatte man eine unglaubliche Sicht auf den Central Park und die Gebäude auf der Upper West Side mit überwältigender Architektur. Evan erkannte das Dakota, einst John Lennons Bleibe, und das San Remo, ein berühmtes Luxus-Appartementhaus mit zwei majestätischen Türmen. Doch das Juwel, das mit seinen vielen Erkern und den darauf sitzenden Dächern einem Schloss im französischen Renaissance-Stil nachempfunden war, wirkte mindestens genauso imposant.

„Patricia, bist du es?“ Auf einmal erklang die Stimme seines Vaters, die aus dem Schlafzimmer seiner Eltern kam. Tränen schossen ihm in die Augen, als wäre ein innerer Wall gebrochen. Mit aller Kraft kämpfte er um seine Beherrschung und gegen die Angst an, seinen Vater schwach und hilflos zu sehen.

Evan räusperte sich, um seine Stimme wiederzufinden, ehe er antwortete. „Ich bin’s, Dad … Evan“, fügte er überflüssigerweise hinzu, denn außer seiner Mutter und ihm kamen, soviel er wusste, keine weiteren Personen hier rein. Außer die Putzkolonne, aber es war noch nicht Freitag.

Evan durchschritt eilig das Wohnzimmer, als keine Antwort kam. Hatte es seinem Dad etwa die Sprache verschlagen? Oder wusste er womöglich nicht einmal von seinem Besuch?

Als er das Schlafzimmer betrat, fiel ihm ein großer Stein vom Herzen. Entgegen seiner Befürchtung saß sein Dad aufrecht im Bett und lächelte ihn überrascht an.

„Dad, du hast mir einen Riesenschrecken eingejagt!“, presste er hervor, ehe er seinem Vater erleichtert um den Hals fiel.

„Ich freue mich, dich zu sehen, Evan. Aber du kommst extra aus Paris?“ Er schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Ihr tut ja fast so, als hätte mein letztes Stündlein geschlagen.“

„Mom hat mich gestern früh angerufen. Sie war völlig fertig.“ Evan setzte sich auf die Bettkante und musterte seinen Dad eingehend. „Wie geht es dir wirklich? Bitte sei ehrlich.“

„Eine leichte Lähmung, die sich mit der Zeit wieder zurückbilden sollte, aber sonst werde ich keine bleibenden Schäden behalten. Einen Wayne haut so schnell nichts um.“

Mit großen Augen verfolgte Evan, wie sein Vater kurz darauf mehrere Akten unter der Bettdecke hervorholte und diese schnell in der Nachttischschublade verschwinden ließ. „Ich dachte schon, deine Mutter wäre zurück.“

„Also, ich weiß wirklich nicht, ob das so gut ist. Du solltest dich schonen, Dad. Mit einem Schlaganfall ist nicht zu spaßen.“

Evan stand wieder auf.

„Mach dir um mich keine Sorgen“, erwiderte der ältere Herr mit einem lapidaren Winken. „Viel wichtiger ist die Frage, wie lange du in New York bleiben kannst? Wäre es nicht schön, wenn wir alle zusammen Weihnachten feiern?“ Sein Vater sah ihn erwartungsvoll an.

Wie hätte er ihm unter diesen Umständen auch nur einen Wunsch abschlagen können? Evan würde bleiben, solange es nötig war, und dafür sorgen, dass sich sein Vater keine weiteren Akten mehr aufs Zimmer bringen ließ. Von dem Laptop, den er erst jetzt halb versteckt hinter einem Kissen entdeckte, mal ganz zu schweigen. Wie war es dem alten Schlitzohr gelungen, all diese Dinge an den Sicherheitsschleusen vorbeizuschmuggeln, wenn er selbst im Bett lag? Vielleicht lag es am Jetlag oder der Müdigkeit, aber Evan kam beim besten Willen nicht darauf.

„Deine Mom müsste auch bald zurück sein. Sie steckt mal wieder mitten in den Vorbereitungen für den Winterball.“

Der Winterball. Erneut tauchte Brianna vor seinem geistigen Auge auf, nur jetzt mit ihrem Kleid und dem funkelnden Diadem. Verdammt … seit er gelandet war, stürzten die Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit unvermittelt auf ihn ein.

„Evan, da gibt es noch etwas, was ich dir erzählen sollte.“ Simon Wayne machte eine kurze Pause und sah seinen Sohn abwartend an. „Ich weiß, du wolltest nichts mehr davon hören, und bis jetzt habe ich deinen Wunsch respektiert, aber …“

Irgendetwas in Simons Stimme verursachte Evan plötzlich ein unangenehmes Kribbeln in der Magengegend.

„Vielleicht nimmst du lieber Platz.“ Der ältere Herr zeigte auf einen großen Polstersessel, der sich direkt vor dem bodentiefen Panoramafenster befand. Evan tat wie geheißen, als ihn eine unheilvolle Vorahnung beschlich.

„Brianna hat das Juwel nie verlassen. Es kann also gut sein, dass ihr euch irgendwo über den Weg lauft.“

Evans Herz setzte für einen Schlag aus. Gleichzeitig war da dieses klitzekleine Gefühl von Freude, dass ihre Liebe zum Hotel größer gewesen war, als ihr Groll gegen ihn und seine Abreise.

„Sie arbeitet in der Konditorei?“

„Natürlich in der Konditorei.“ Simon lachte herzhaft. „Sie ist die neue Chef-Patissière.“ Der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Evan stand auf und sah aus dem Fenster. Er musste diese Neuigkeit erst einmal verdauen. Für einige Augenblicke beobachtete er die Schlittschuhläufer am Wollman Rink, die dort ihre Kreise zogen. Es hatte etwas Beruhigendes, ihnen dabei zuzusehen, während dicke Schneeflocken hinter der Scheibe hinab schwebten. Wie hatte er nur glauben können, dass sich ihre Wege für immer trennen würden? Es war schon damals ihr Traum gewesen, Konditorin zu werden – allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass sie im Juwel bleiben würde.

Gerade als Evan seinen Dad fragen wollte, warum er ihm nie etwas von Brianna erzählt hatte, fuhr Simon fort. „Ich wollte dich nicht noch mehr aufwühlen, nachdem du mir erzählt hattest, dass ihr keinen Kontakt mehr habt.“

Auch wenn die Erklärung seines Vaters logisch klang, fühlte er sich hintergangen. Verdammt, er war kein Teenager mehr, sondern ein erwachsener Mann. Er war durchaus in der Lage, mit seinen Gefühlen umzugehen.

„Simon, ich bin zurück.“ Die Stimme seiner Mutter, die in diesem Moment die Wohnung betrat, durchschnitt die Stille. Man hörte Absätze auf Parkett, dann betrat Patricia Wayne das Schlafzimmer. Der überraschte und gleichzeitig schockierte Ausdruck auf ihrem Gesicht irritierte ihn.

„Evan! Du bist schon hier?“ Keine Umarmung, kein Kuss.

Evan wusste nicht, was er von ihrer Reaktion halten sollte. Sie war es doch gewesen, die ihn erst gestern um Hilfe gebeten hatte. Aber jetzt wirkte sie alles andere als erfreut.

„Wo ist Vivien?“ Seine Mutter, die weiterhin in ihrem Pelzmantel steckte, sah sich nervös um.

Erkundigte sie sich gerade allen Ernstes nach seiner Verlobten?

„Nicht hier?“, erwiderte Evan mit gedehnter Stimme.

„Aber du kannst nicht alles stehen und liegen lassen. Ihr habt in Paris alle Hände voll zu tun.“

„Mom, du hast mich gestern angerufen … und die Verkostung der Hochzeitstorte kriegt Vivien auch gut allein hin.“

Gerade jetzt konnte er sich weitaus Wichtigeres vorstellen, als sich durch verschiedene Biskuitteige und Cremefüllungen zu kosten. Außerdem hatte die Französin das Kommando schon ab dem Moment übernommen, als er ihr auf der Dachterrasse des Balzac einen Diamantring an den Finger gesteckt hatte.

„Simon, sag endlich was.“ Hilfe suchend sah seine Mutter zu ihrem Mann, der in diesem Moment auf dem Handy herumtippte. Ganz offensichtlich hatte er ihre Ablenkung genutzt, um schnell eine E-Mail zu beantworten.

„Ja, ich finde auch, dass sie das gut allein hinbekommt“, erwiderte ihr Mann gedankenverloren. „Frauen wollen dabei keine Einmischung.“

Sie schenkte ihm einen missbilligenden Blick, ehe sie sich wieder an ihren Sohn wandte. „Die Wohnung im zehnten Stock ist gerade frei. Wir werden dich dort unterbringen, solange du hier bist.“

„Okay, dann schnapp ich mir gleich mal meinen Koffer und richte mich ein“, entgegnete Evan so neutral wie möglich, auch wenn es inzwischen in ihm brodelte. Was bildete sich seine Mutter nur ein? Zwar war sie schon immer versnobt gewesen, doch diese Seite an ihr war ihm neu. Wäre er nicht wegen seines Vaters angereist, hätte er am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht. Aber so schnell ließ er sich nicht abspeisen, immerhin ging es hier um die Gesundheit seines Dads.

Mit den Worten „Dann sehen wir uns später zum Abendessen“, verließ Evan das Schlafzimmer und schnappte sich sein Gepäck. Schon wieder betrat er den Aufzug, wo ihn der Liftboy nun noch zuvorkommender behandelte als zuvor, und fuhr bis zur Hälfte des Wolkenkratzers hinab, wo sich weitere private Räumlichkeiten der Waynes befanden. Appartements, die nur für persönliche Gäste der Familie reserviert waren. Geschäftsfreunde oder Bekannte. So weit war es also nun gekommen, dass er sich in seinem einstigen Zuhause, in dem er jeden Winkel besser kannte als irgendwer sonst, wie ein Fremder fühlte.