Leseprobe Neuanfang auf Catalina Island

Kapitel 1

Schon wieder hatte er nicht durchgeschlafen. Ständig diese Albträume, die ihn meistens nach Anbruch der Morgendämmerung überfielen – an Schlaf war nicht mehr zu denken. Scott Blackwell hatte den Eindruck, dass seine Träume von Nacht zu Nacht düsterer wurden.

Schweißgebadet setzte er sich auf und rieb sich die müden Augen. Er nahm sein Handy vom Nachttisch und schaltete den Wecker aus, da er ihn wie so oft in letzter Zeit nicht benötigte. Er fühlte Bedauern: Eigentlich hätte er noch zwei Stunden schlafen können. Stunden, die sich spätestens am Nachmittag bemerkbar machen würden. Die bleierne Müdigkeit war zu einem ständigen Begleiter geworden.

Vor dem Schlafzimmerfenster erwachte der Tag. Am Horizont wurde der Himmel langsam heller, und zwischen den wenigen weißen Wolken warf die Sonne goldene Schatten auf das felsige Küstenparadies.

»Kannst du schon wieder nicht schlafen?«, murmelte eine Frauenstimme hinter seinem Rücken.

Scott wandte sich zu Virginia um, die noch im Bett lag und ihn mit zusammengekniffenen Augen schläfrig anblickte.

»Nein, ich …« Er verstummte.

»Plagen dich erneut diese schrecklichen Träume?«, wollte sie wissen und betrachtete ihn mitfühlend. Ihr schönes Gesicht, beschienen vom Sonnenlicht des anbrechenden Tages, wirkte bleich und makellos.

»Es ist kein Traum, Virginia«, stellte Scott richtig und zog sich ein schwarzes Poloshirt über, das über dem Stuhl am Sekretär hing. »Es ist eine Erinnerung.«

»Du solltest mit jemandem darüber sprechen«, riet Virginia.

»Es gibt ja kaum noch eine Nacht, in der du durchschläfst.

Und ständig diese Tabletten … Ich habe den Eindruck, die machen dich auf Dauer nur kränker. In Wahrheit helfen sie dir doch gar nicht.«

»Mach dir um mich keine Sorgen«, murmelte Scott abwehrend.

»Ich komme klar. Schlaf noch ein wenig.« Natürlich wusste er, dass er sich damit selbst etwas vormachte. Aber er hatte keine Lust, dieses Gespräch zu vertiefen.

Virginia zog die Bettdecke bis übers Kinn und vergrub sich im weichen Kissen. »Gut, dann bis gleich«, nuschelte sie und war auf der Stelle wieder eingeschlafen. Scott ahnte, dass sein gesundheitlicher Zustand Virginia im Grunde gleichgültig war. Auch er sah in ihr nicht mehr und nicht weniger als eine Bettgefährtin. Zudem bewunderte er ihren Fleiß und ihre hervorragende Arbeit für die Kanzlei – doch darüber hinaus hegten sie keine romantischen Gefühle füreinander, planten keine gemeinsame Zukunft. Es ging nur um Sex. Barfuß tapste Scott in sein Büro und zerrte die Schreibtischschublade heraus. Er griff nach der Tablettenpackung, ließ zwei Tabletten in seine Handfläche fallen und spülte sie in der Küche mit einem Glas Wasser hinunter. Wie immer würden sie kaum Wirkung zeigen. Die sich stetig wiederholenden Bilder, die sich in seinen Verstand gebrannt hatten und ihm den erholsamen Schlaf raubten, ließen sich nicht verdrängen. Bestenfalls sorgte das Beruhigungsmittel dafür, seinen Erregungszustand so weit herabzusenken, dass er die nächsten Stunden seiner Arbeit nachgehen konnte. Ich brauche etwas Stärkeres, dachte Scott, während er eine Tasse unter die Kaffeemaschine stellte. Virginia hatte recht. So konnte es nicht weitergehen. Er nahm sich fest vor, in den nächsten Tagen doch mal einen Arzt aufzusuchen, sobald dies sein prall gefüllter Terminkalender zuließ, denn in der Kanzlei wartete jede Menge Arbeit auf ihn. Die letzten Urlaubstage mit seinem Sohn waren sehr schön und erholsam gewesen, doch nun galt es an diesem Montagmorgen, sich wieder in die Arbeit zu stürzen. Er hatte bereits das Bild unbearbeiteter Akten vor Augen, die sich zu einem hohen Berg auf seinem Schreibtisch türmten. Eigentlich hatte Scott es sich nicht leisten können, der Kanzlei auch nur einen Tag den Rücken zuzudrehen, geschweige denn es sich mit seinen finanzkräftigsten Mandanten zu verscherzen. Letztere waren zwar bereit, jede noch so hohe Summe für ihre Verteidigung zu zahlen, aber im Umkehrschluss verlangten sie dafür eine Vierundzwanzigstunden-Rundumbetreuung.

Er seufzte innerlich und griff nach der Tasse. Mit dem Kaffee in der Hand machte er sich auf den Weg zum Briefkasten. Dennoch bereute Scott nichts. Allein um seines Sohnes Willen hatte er die Auszeit vom stressigen Büroalltag dringend nötig gehabt. Rickie und er hatten die gemeinsame Zeit gebraucht, Zeit, um sich von Neuem näherzukommen und Momente der Ausgelassenheit zu erleben, die sie sich dann in Erinnerung rufen konnten, wenn das schwarze Tuch der Traurigkeit mal wieder seinen Schatten über sie ausbreitete. Es war ihnen gelungen, die Gegenwart für einen Moment zu vergessen. Bei gemeinsamen Tauchgängen oder einem Ritt auf dem Rücken eines Pferdes am tropischen Strand entlang hatten sie viel Spaß gehabt. Scott hatte seinen Sohn lange nicht so ausgelassen erlebt, und selbst ihm war es gelungen, die Sorgen, die er sich um seinen Sohn und ihre Zukunft machte, für einige Tage zu vergessen.

Er holte die Tageszeitung herein, setzte sich an den Tisch, überflog kurz den Börsenbericht und das politische Tagesgeschehen. Als er später auf die Uhr sah, waren fast eineinhalb Stunden vergangen. Hastig trank er den kalten Kaffee aus, bevor er unter die Dusche stieg und das eiskalte Wasser seinen Rücken hinunterperlen ließ. Ein Badetuch um den Körper gelegt, trat er zurück in die Küche, wo Virginia, eine dampfende Tasse Cappuccino in der Hand, bereits auf ihn wartete.

»Ich komme heute etwas später in die Kanzlei«, erklärte sie. »Ich habe vorher noch einen Termin bei Gericht.«

»Lass dir nicht zu viel Zeit«, entgegnete Scott und lachte verlegen. »Du weißt doch, ohne dich bin ich aufgeschmissen.« Er gab ihr einen Kuss aufs Haar.

»Das stimmt wohl«, erwiderte sie schmunzelnd. Sie trug einen blütenweißen Morgenmantel, ihr blondes Haar war verwuschelt wie das einer wunderschönen Waldfee.

In diesem Moment betrat ein schlaksiger Junge, dessen viel zu großer Schlafanzug an seinem Leib schlotterte, den Raum. Er fuhr sich mit der Hand durch seine zerzauste dunkle Mähne, während sein scharfsinniger Blick zwischen Virginia und seinem Vater hin und her huschte, ehe er schließlich ein verschlafenes »Morgen« murmelte.

»Guten Morgen, Rickie«, begrüßte Scott seinen Sohn und strich ihm zärtlich über das Haar. »Hast du gut geschlafen?«

»Geht so.«

»Magst du dich schnell anziehen, dann fahren wir rüber zu Mona?«

Rickie nickte und gähnte. »Ich freue mich schon auf Mona, schließlich habe ich sie zwei Wochen nicht gesehen.«

Scott lächelte. Mona, eine freundliche alte Dame, führte ein gemütliches Café an der Avalon Bay. Mona war für Rickie die Großmutter, die er nicht hatte, und eine wichtige Vertrauensperson in seinem Leben. Es war längst zu einem Ritual geworden, dass Mona jeden Morgen ein Frühstück für sie zubereitete, bevor Scott und Rickie in den Tag starteten.

»Ich gebe Mona telefonisch Bescheid, dass wir kommen«, versprach Scott und schenkte zwei Gläser Orangensaft ein, bevor er seinem Sohn auf die riesige Terrasse ihrer Villa folgte, von der man einen wundervollen Blick auf das weite Meer werfen konnte. Das subtropische milde Klima bescherte ihnen auch heute warme Temperaturen. Beide setzten sich zu Virginia an den Tisch. Ein leichter Wind wehte, der ihre Haare zum Flattern brachte.

»Freust du dich auf die Schule?«, erkundigte sich Scott, um ein Gespräch zu beginnen, und hoffte, dass sein Sohn heute Morgen etwas mitteilsamer war als sonst. Rickie redete nie besonders viel, hatte sich schon immer in sein Inneres verkrochen, machte vieles mit sich selbst aus. Er erinnerte ihn an eine rätselhafte, verschlossene Truhe, deren Inhalt niemand kannte. Doch im Laufe des vergangenen Jahres war er noch stiller geworden.

»Geht so«, erwiderte Rickie und blickte betreten auf seine Hände, die das Glas umfassten.

»Bis zum Schulwechsel im Sommer, bei dem du auf die Avalon Middle School wechselst, sind es ja nur noch ein paar Wochen«, tröstete Scott, der ganz genau wusste, dass sein Sohn sich auf der Elementary School nicht wohlfühlte, ja, sogar langweilte. Rickie war den anderen Mitschülern im Lernen des Stoffes weit voraus, gab sich aber dennoch keine Mühe, gute Noten zu schreiben. Aus diesem Grund hatte Scott einem Wechsel auf die höhere Schulform mitten in der Schulzeit nicht zugestimmt, obwohl die Klassenlehrerin eindringlich dazu geraten hatte. Scott wusste, dass der mangelnde Fleiß seines Sohnes nicht mit einem Schulwechsel allein zu lösen war. Die Probleme waren tieferer Natur. Scott war kein Psychologe, aber er glaubte zu wissen, welcher Kampf in Rickie tobte, und gerade deswegen baute er auf die Macht der Freundschaft. Aus eigener Erfahrung wusste Scott, wie wichtig es war, einen Freund an seiner Seite zu wissen. Wäre Ben, sein bester Freund und Partner in der Kanzlei, nicht gewesen, dann hätte es auch ihn früher oder später aus der Spur geworfen. Auch Rickie hatte einen besten Freund, Jimmy. Dieser würde nach den Sommerferien mit ihm auf die höhere Schule wechseln. Kontinuierliche Beziehungen, fand Scott, waren für Rickie im Moment wichtiger als Schulwissen zu speichern.

»Schreibt ihr nicht schon bald eine Mathearbeit?«, fragte er seinen Sohn.

Rickie schaute ihn misstrauisch an. Dann antwortete er: »Mach dir keine Sorgen, Dad. Ich schaff das schon.«

Scott ahnte, dass es ein schwieriges Unterfangen werden würde, an diesem Morgen mehr aus seinem Sohn herauszubekommen. Vielleicht war es vernünftiger, zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal nachzuhaken. Ihn plagte das schlechte Gewissen. Er sollte einfach mehr Zeit für seinen Sohn aufbringen.

Virginia, die bislang schweigsam neben ihnen gesessen und die Sonnenstrahlen auf ihren Wangen genossen hatte, erhob sich. »Ich sollte mich langsam fertig machen, ich muss bald los.« Sie lächelte Scott an. »Ich habe dir alle wichtigen Unterlagen, die du heute zuerst durchsehen solltest, auf deinen Schreibtisch gelegt. Ab mittags bin ich dann auch in der Kanzlei, und Ben kommt gegen zwei. Für fünfzehn Uhr haben wir ein Meeting anberaumt, dann machen wir die Übergabe der wichtigen Termine für die nächsten Wochen.«

Scott nickte. »Gut, danke. Wir sehen uns dann später.«

»Bis dann.« Virginia schwebte an ihnen vorbei.

Rickie erhob sich ebenfalls. Scott folgte seinem Sohn in die Küche, drückte auf den Kaffeeautomaten, ließ sich einen weiteren Espresso einlaufen und betrachtete seinen Sohn, der mit gesenktem Haupt seinen Orangensaft ausschlürfte, bevor er das Glas in die Spüle stellte. Das dunkle Haar fiel ihm in die Augen, als wollte er sich hinter den Strähnen vor den Blicken seiner Mitmenschen verstecken.

»Ich mag Virginia nicht«, murmelte Rickie. »Sie ist nicht meine Mutter.«

»Ich weiß«, erwiderte Scott und sah seufzend auf die Uhr. »Zieh dich an, mein Junge. Wir sollten allmählich zu Mona aufbrechen. Nachher schmeiß ich dich dann an der Schule raus.« Scott lief um die Kücheninsel herum und legte seinem Sohn eine Hand auf die Schulter. »Keine Angst, ich werde Virginia nicht heiraten«, sagte er aufmunternd. Aber Scott wusste, dass das das geringste der Probleme war, um die Rickie sich Sorgen machte.

***

Kate hielt für einen Augenblick inne und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht, die ihre Wangen liebkosten wie sanfte Wellen. Es war ein wunderschöner, wolkenloser Morgen. Vom Strand in der Ferne drangen die Schreie spielender Kinder durch die salzige Luft, und am Pier entluden die Männer ihre Fischerboote. Nicht mehr lange und die Tische im Café, in dem sie seit fast einer Woche arbeitete, würden sich mit Touristen füllen. Aber auch viele Einheimische zählten zu den Gästen, die immer wieder gern einkehrten. Mona, die Besitzerin dieses wundervollen kleinen Inselcafés mit dem Namen Lemon Pie, war bei den Besuchern des Piers sehr beliebt, weshalb schon am Vormittag selten ein Tisch frei blieb. Ihre selbst gebackenen Apple Pies mit Karamell waren bis über die Insel hinaus bekannt.

»Ist dir nicht gut, Liebes?«, erklang hinter ihr Monas empathische Stimme. »Benötigst du eine Pause?«

»Alles bestens, Mona, keine Sorge«, versicherte Kate und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, ehe sie tief durchatmete. »Mir ist bloß etwas schwindelig.«

»Macht die Hitze dir zu schaffen?«, fragte Mona beunruhigt.

»Nein, es ist … ich bin nur müde, das ist alles«, gestand Kate. Mit Schrecken erinnerte sie sich an die vergangene Nacht, in der sie schlaflos im Sessel gehockt und durch das Fenster aufs dunkle Meer hinausgestarrt hatte, aus Angst, die grauenhaften Erinnerungen an ihr bisheriges Leben würden sie heimsuchen, sobald sie sich ins Bett legte und einschlief. »Mach dir um mich keine Sorgen«, fügte Kate hinzu, bevor Mona sich nach einem Grund für ihre Schlaflosigkeit erkundigen konnte. »Es geht gleich wieder.«

»Trink einen Kaffee, dann wird es dir besser gehen«, schlug Mona vor und lief zurück ins Café, weil die Backofenuhr klingelte.

Kate schloss für einen Moment die Lider. Der Strand, die Menschen – alles flimmerte vor ihren Augen. Das Lachen der wenigen morgendlichen Gäste hallte wie durch einen dumpfen Schleier an ihre Ohren. Sie spürte Angstschweiß unter ihren Achseln. Alles wird gut, alles wird gut, murmelte sie in Gedanken. Dann öffnete sie ihre Lider, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und folgte Mona hinein. Sie trat hinter die Theke, um einen Cappuccino vorzubereiten und einen von den leckeren Brownies aus der Thekenauslage zu fischen, den ein Gast bestellt hatte. Die Kaffeemaschine dröhnte, als sie die italienischen Espressobohnen zermahlte.

Derweil vernahm Kate das Klappern von Geschirr aus der Küche, wie immer, wenn Mona ihre Pies aus dem Ofen holte.

»Wo ist Mona?«, fragte eine kindliche Stimme.

Kate schrak zusammen und blinzelte. Verwirrt starrte sie in das Gesicht eines Jungen, der sie herausfordernd ansah. Sie schätzte ihn auf neun, vielleicht zehn Jahre. Helle Sommersprossen sprenkelten sein blasses Gesicht, seine grünen Augen funkelten ungeduldig. Sie hatte ihn nicht kommen hören.

»Wo ist Mona?«, wiederholte der Junge seine Frage. Fordernd, fast schon ungehalten, als könnte er es nicht erwarten, Kates Chefin endlich gegenüberzutreten. »Wo ist sie? Wenn du etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hast, bekommst du Ärger mit meinem Vater. Der ist Rechtsanwalt, dann hast du nichts zu lachen.«

»Sie … äh …«, stammelte Kate perplex über so viel Unverfrorenheit und starrte den Jungen mit großen Augen an. Dieser junge Mann würde es im Leben mal zu etwas bringen, so viel stand fest, dachte sie belustigt.

In diesem Augenblick gesellte sich ein großer, schlanker Mann zu dem Jungen. Er war tadellos gekleidet und trug einen tiefschwarzen eleganten Anzug und eine dunkelrote Krawatte mit einer silbern funkelnden Krawattennadel.

»Drängle bitte nicht so, Rickie«, mahnte der Mann mit dunkler Stimme und sagte an Kate gewandt: »Sie müssen meinen Sohn entschuldigen. Er hat Mona seit zwei Wochen nicht mehr gesehen, und das grenzt an eine mittelschwere Katastrophe, wenn ich das so ausdrücken darf.« Ein breites Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und seine graublauen Augen blitzten sie freundlich an. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck, und ihr stockte der Atem. » … was machst du denn hier?« Seine Stimme war rau. Fassungslos sah er sie an.

Kates Blick zeigte nicht weniger Verwirrung, nur dass sie ihn mit offenem Mund anstarrte, während seiner verschlossen blieb.

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Schweigen, das Kate dazu nutzte, ihre Gedanken zu ordnen, die sich wie wild überschlugen. Und um ihre Stimme wiederzufinden, die sie hinterhältigerweise für wenige Sekunden schmählich im Stich ließ.

Das darf doch nicht wahr sein. Was zum Teufel macht Scott Blackwell hier? Der Mann, den sie nie in ihrem Leben wiedersehen wollte.

»Dasselbe könnte ich dich fragen«, entgegnete Kate, als sie sich wieder gefasst hatte, und versuchte sich an einem Lächeln, das ihr nicht richtig gelang. Sie ahnte, dass es eher so aussah, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen, aber das war jetzt nicht wichtig. Sie musste die Situation irgendwie überstehen, egal welche Anmut sie dabei ausstrahlte. Sie ließ den Atem entweichen, nahm all ihren Mut zusammen und fügte hinzu: »Ich dachte du lebst in L.A.« Herausfordernder als sie sich fühlte, sah sie zu ihm hoch.

Sein Blick bohrte sich in ihren. »So, dachtest du das?« Seine Miene zeigte keine Regung. »Und jetzt bist du enttäuscht, dass es scheinbar nicht so ist.« Er lächelte provokant.

Kate wandte den Blick ab. Verzweifelt versuchte sie, Ruhe zu bewahren. Kaum, dass sie sich ein paar Sekunden gegenüberstanden, brachte dieser Mann sie schon wieder zur Weißglut. Wie früher. Er hatte nichts von seiner Arroganz eingebüßt. Leider auch nichts von seiner Attraktivität, wie sie feststellen musste. Verstohlen ließ sie den Blick über seinen Körper wandern. Widerwillig musste sie zugeben: Scott sah beunruhigend gut aus. Er hatte damals schon umwerfend ausgesehen und jeder Frau den Kopf verdreht. Die breiten Schultern, der durchtrainierte Körper, dieses markante Gesicht, der Dreitagebart, der ihm einen Hauch Erotik verlieh, waren geballte Männlichkeit, der man sich nur schwer entziehen konnte.

Ihre Blicke trafen erneut aufeinander, und Kate spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

»Mit dir hätte ich hier am wenigsten gerechnet«, rutschte es ihr raus und sie konnte nicht verhindern, dass sie vorwurfsvoll klang.

»Dann ist mir die Überraschung ja gelungen«, antwortete Scott, und diesmal stahl sich ein kleines Lächeln auf sein Gesicht.

»Allerdings, der Schock sitzt tief«, sagte Kate schnippischer als beabsichtigt. Sie hatte sich schließlich nicht die vielen Kilometer quer durch Kalifornien nach Catalina Island aufgemacht, um dann hier auf der Insel in die nächste Katastrophe zu schlittern. Innerlich stöhnte sie auf.

Zum Glück trat in diesem Moment Mona, ein Geschirrtuch in der Hand, aus der Küche und rettete die angespannte Situation. »Na, wen höre ich denn da haltlose Drohungen aussprechen? Wenn das nicht mein geliebter Rickie ist!«, rief sie.

Das Gesicht des Jungen strahlte, als er die korpulente alte Frau im Türrahmen erblickte.

»Mona!«, stieß er freudig aus, lief um den Tresen herum und schmiss sich in ihre zur Begrüßung ausgebreiteten Arme.

»Na, das nenn ich eine stürmische Wiedersehensfreude«, sagte Mona lachend und drückte den Jungen an ihre Brust. »Schön, dich wiederzusehen, Rickie. Ich habe dich vermisst.« Liebevoll zerzauste sie ihm das Haar, als sie sich voneinander lösten.

»Die beiden sind ein Herz und eine Seele«, klärte Scott Kate auf, wobei er es vermied, sie anzusehen. Dabei huschte ein warmherziges Lächeln in sein Gesicht, was zweifellos nur Mona und Rickie galt.

»Ja, das ist nicht zu übersehen«, entgegnete Kate. Und noch etwas hatte sie wahrgenommen. Rickie war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.

Ihr Puls beschleunigte sich, als in ihrem Unterbewusstsein die Alarmglocken klingelten und ihr bewusst wurde, dass dieser Junge Scotts Sohn war. Der Grund, weswegen sie vor fünf Jahren in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus L.A. geflohen war. Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz und schmerzte tief in ihrem Herzen.

Sie beobachtete, wie Mona mit Rickie hinter der Theke hervorkam, um auch Scott herzlich zu begrüßen.

»Schön, euch beide wieder bei mir zu haben«, sagte Mona.

Scott lächelte und küsste sie auf die Wange. »Ja, das finde ich auch«, stimmte er ihr zu.

»Wie war es in der Karibik?«, wollte Mona wissen.

»Wunderschön und erholsam«, antwortete Scott. »Schade, dass du nicht mitkommen konntest. Es hätte dir dort bestimmt gefallen.«

»Ich bin zu alt für derlei Abenteuer«, wehrte Mona ab und schüttelte den Kopf. Dann nahm sie das Geschirrtuch, welches ihr um den Hals baumelte, und legte es auf den Tresen. »Außerdem muss ich hier die Stellung halten. Ein Café leitet sich schließlich nicht von allein.«

Scott nickte verständnisvoll und warf Kate einen düsteren Seitenblick zu. »Das stimmt wohl, aber wie ich sehe, bist du endlich meinem Rat gefolgt und hast dir jemanden für den Servicebereich gesucht, der dir unter die Arme greift«, bemerkte er und zwang sich zu einem lockeren Grinsen, doch Kate spürte, dass dahinter nicht Freude, sondern Ironie brodelte. Hasste er sie wirklich so sehr?

Unvermittelt klatschte Mona einmal kurz in die Hände. »Wie unhöflich von mir«, sagte sie und blinzelte erst Scott und dann Kate entschuldigend an. »Darf ich vorstellen.« Sie sah kurz zu Scott und zeigte dann auf Kate. »Das ist …«

»Kate Wellington«, beendete Scott den Satz für Mona und in seinen tiefblauen Augen blitzte etwas auf, das Kate nicht richtig deuten konnte.

»Oh«, sagte Mona gedehnt. Ihr Blick huschte fragend zwischen ihnen hin und her.

»Wir kennen uns von früher«, erklärte Scott. Er verzog kurz den Mund, »aber das ist lange her.« Dem Tonfall seiner Stimme war nicht zu entnehmen, ob er sich über diesen Umstand freute oder nicht.

Mona schaute ihn verblüfft an und man merkte, dass es hinter ihrer Stirn ratterte, aber sie überspielte das und plauderte munter weiter. »Dann ist die Wiedersehensfreude ja umso größer.« Sie lächelte die beiden nachsichtig an, schien zu spüren, dass zwischen ihnen Spannungen schwelten.

»Ja, ich kann mich kaum beherrschen«, murmelte Scott leise, aber Kate hatte ihn ganz genau gehört.

»Kate arbeitet erst seit einer Woche für mich«, verkündete Mona, »doch ich habe jetzt schon Angst vor dem Tag, an dem sie mir mitteilt, dass sie eine bessere Stelle finden wird.« Liebevoll zwinkerte sie Kate zu.

Scott kommentierte das nicht, stattdessen fischte er sich einen Muffin aus der Schale, die vor ihm auf dem Tresen stand, und biss herzhaft hinein.

»Wenn du Scott von früher kennst, dann weißt du ja sicher, dass er Anwalt und geschäftsführender Partner in einer großen Kanzlei hier auf der Insel ist. Wir haben uns bei der Nachlassregelung meines Mannes kennengelernt. Er war mir eine große Hilfe damals und wir sind Freunde geworden«, fügte Mona an Kate gewandt hinzu. Sie schlug Scott mit der flachen Hand auf die Finger. »Was aber nicht automatisch bedeutet, dass er mir meine Muffins unter der Nase wegfuttern darf«, sagte sie und blickte ihn gespielt entrüstet an. Dann nahm sie einen weiteren Muffin aus der Schale und reichte ihn Rickie. »Hier, was dein Vater darf, darfst du schon lange.« Sie grinste verschmitzt.

»Beeindruckend«, brachte Kate hervor, die den Bruchteil einer Sekunde Scotts Blick suchte. Wobei sie mehr den Mann meinte, dessen Wirkung immer noch dafür sorgte, dass ihr Herz ins Stolpern geriet, als dessen beruflichen Werdegang. Aber das behielt sie besser für sich. Mit einem Seufzen riss sie sich von seinem Anblick los und biss ebenfalls in einen Muffin, um sich abzulenken.

»Na, na, übertreib mal nicht, Mona«, sagte Scott. »Stell mich nicht auf einen so hohen Sockel, sonst falle ich da ganz schnell runter.« Er lächelte Mona gütig an, dann wanderte sein Blick zu Kate und der Ausdruck in seinen Augen wurde wieder dunkler.

Kate schluckte nervös. Zum Glück ergriff in diesem Moment Rickie das Wort. Kate hätte nicht gewusst, wie lange sie Scotts durchdringendem Blick noch standhielt. Zu viele Gefühle, die sie für immer begraben geglaubt hatte, versuchten an die Oberfläche zu kommen. Sie stand kurz vor einem Ohnmachtsanfall.

»Darf ich heute Abend zu dir kommen?«, fragte Rickie hoffnungsvoll und sah bettelnd zu Mona. »Dad sagt, dass er heute lange in der Kanzlei arbeiten muss.«

»Das stimmt«, bestätigte Scott. »Im Büro gibt es eine Menge aufzuarbeiten.«

Mona nickte herzlich. »Natürlich kannst du vorbeikommen, Rickie«, sagte sie fröhlich, drückte ihn erneut an sich und flüsterte ihm leise ins Ohr: »Ich habe uns bereits selbst gemachtes Stracciatella-Eis ins Gefrierfach gelegt.«

»Das mit den großen Schokostücken drin?« Rickies Augen leuchteten, und er leckte sich mit der Zunge über die Lippen.

»Vielen Dank, du bist die Beste«, sagte Scott. Liebevoll strich er Mona über die Schulter. »Ich wüsste nicht, wie ich ohne dich zurechtkommen sollte.

»Das mache ich doch gern«, beteuerte Mona, bevor sie hinzufügte: »Willst du später nicht auch dazustoßen? Wir müssen doch unser Wiedersehen feiern. Ich koche uns etwas Leckeres, und ihr könnt mir von eurem Urlaub erzählen.«

»Ja, das wäre großartig, Dad«, jauchzte Rickie. »Wir müssen Mona doch auch noch die vielen Fotos zeigen, die wir gemacht haben.« Sein Blick war flehend. »Bitte, Dad.«

Scotts Blick wanderte einen Moment zu Kate und er sah sie auf diese ganz besondere Weise an, wie der junge Mann von damals, in dessen tiefblaue Augen sie sich hoffnungslos verliebt hatte. Wusste oder ahnte er, dass sie später auch dabei sein würde? Ihr stockte der Atem, und sie versuchte, sich ihren Gefühlsaufruhr nicht anmerken zu lassen.

Scott wandte sich wieder seinem Sohn zu. »Na schön, überredet.« Er lächelte sanft. »Ich versuche, mich aus der Kanzlei so schnell abzuseilen, wie ich kann«, versprach er.

Kate musterte Scott gedankenvoll. Trotz seiner Liebe, die er für seinen Sohn empfand und die man auf den ersten Blick in seinen Augen lesen konnte, überschattete etwas Dunkles, Schicksalhaftes, vielleicht auch Trauriges seine Gesichtszüge, und das hatte ganz sicher nichts mit ihrem Wiedersehen zu tun. Er ist nicht glücklich, dachte Kate und versuchte mit aller Macht, das Gefühl der Anziehungskraft zu unterdrücken, das dieser Mann erneut auf sie ausübte.

Scott sah auf seine Uhr. »So spät schon«, murmelte er. Er stibitzte einen weiteren Muffin, bevor er sich zum Gehen wandte. »Rickie, wir müssen uns beeilen, wenn du noch pünktlich zum Unterricht erscheinen willst.«

»Oh … dann müsst ihr das Frühstück diesmal in der Pause essen«, meinte Mona, schnappte sich die vorbereiteten Sandwiches vom Teller und lief schnurstracks in die Küche, um sie in einer Dose zu verstauen.

Scott nickte Kate mit einem intensiven Blick zum Abschied kurz zu, bevor er seine Sonnenbrille aufsetzte.

Kate lief ein Schauer über den Rücken.

Kapitel 2

In der Kanzlei herrschte wie immer hektische Betriebsamkeit. Sekretärinnen schleppten Berge von Akten von Tisch zu Tisch, von Büro zu Büro, Anwälte eilten, das Handy ans Ohr gepresst, durch die langen Korridore. Dennoch begrüßten alle Kollegen Scott herzlich, kaum dass er den Eingangsbereich des zweistöckigen Gebäudes im Art-Déco-Stil betreten hatte, in dem die Kanzlei Blackwell & Sunders untergebracht war. Und tatsächlich kam in ihm Freude auf, wieder hier zu sein.

Scotts Büro befand sich im hinteren Flügel der Kanzlei – nahe den Konferenzräumen. Er öffnete die Tür, legte seine Laptoptasche auf den Schreibtisch und verharrte einen Moment vor dem bodentiefen Fenster. Dort atmete er tief durch und ließ das Panorama auf sich wirken. Ihm bot sich eine beeindruckende Sicht auf den Pazifischen Ozean, in dessen Wellen die Sonne tanzte. Ein weißes Segelboot glitt wie ein Schwan über das Gewässer. Der freie Blick auf den kleinen Hafen war traumhaft. Das Bild der vielen weißen Yachten und Boote auf dem tiefblauen, kristallklaren Wasser und der im Wind wogenden Palmen beruhigte ihn. Heute war das Wetter so schön, dass man am Horizont die Hochhäuser von L.A. erahnen konnte. Man war der Großstadt so nahe und doch so fern.

Er erinnerte sich noch genau an jenen Moment vor zwei Jahren, als Ben und er zusammen mit dem Immobilienmakler diese Räume das erste Mal betreten hatten. Der Blick auf den Pazifik und seine raue Küstenlandschaft hatten ihn sofort gefangen genommen. Sie hatten den richtigen Platz für den neuen Standort ihrer Kanzlei gefunden. Abseits des Alltagstrubels von Los Angeles und nahe bei seinem Sohn.

Unmittelbar nach seinem Abschluss in Harvard hatten Scott und sein bis heute bester Freund Ben Sunders das große Glück gehabt, in einer großen Kanzlei in L.A unterzukommen. Irgendwann hatten sie genug Praxiserfahrung gesammelt und den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt.

Dennoch hatten sie in den Anfangsjahren ums nackte Überleben gekämpft. Kein Wunder. Sie waren jung, unerfahren und vielleicht sogar naiv gewesen. Hatten Mandanten vertreten, bei denen von Beginn an klar gewesen war, dass sie nie mehr als ein paar Dollar für ihre Tätigkeit abrechnen konnten. Dennoch hatten sie niemals aufgegeben. Letztendlich hatten sie es ihrem Ehrgeiz und ihrer Entschlossenheit zu verdanken, dass sie knapp fünf Jahre nach der Gründung belohnt worden waren, als es um das Mandat einer großen Sammelklage gegangen war. Der gewonnene Prozess brachte der Kanzlei Millionen ein. Fortan bauten sie die Kanzlei aus, stellten die besten Anwälte ein und investierten eine Menge Geld in Werbeanzeigen und Fernsehspots, um über die Grenzen Kaliforniens hinaus bekannt zu werden. Die Kanzleikassen klingelten und sie hatten sich an der Spitze etabliert.

Ja, sie hatten es geschafft, dachte Scott, aber glücklich fühlte er sich deswegen nicht. Fahrig fuhr er sich mit der Hand durch die Haare. Denn genau so, wie er sich jedes Detail aus den Anfängen ihrer Kanzleigründung in Erinnerung rufen konnte, erinnerte er sich noch an den Tag, an dem Kate ihn verlassen hatte.

Er versteifte sich. Der Schmerz saß immer noch tief. Es war seitdem kein Tag vergangen, an dem er nicht an Kate gedacht hatte. Und jetzt hatte sie plötzlich vor ihm gestanden – die große und einzige Liebe seines Lebens. Doch sie hatte ihn verlassen. Von heute auf morgen. Ohne ein Wort des Abschieds, hatte sie sich aus seinem Leben geschlichen, wie eine Diebin in der Nacht. Ihm nicht die geringste Chance gegeben, sich zu erklären. Kate hatte ihn zurückgelassen, mit den unausgesprochenen Worten, die tief in seinem Herzen für sie brodelten und die er ihr nie hatte anvertrauen können. Wie tief die Liebe war, die er für sie empfand, dass sie die Frau war, mit der er sein ganzes Leben verbringen wollte. Dass er nur mit ihr glücklich werden konnte. Sie hatte es nie erfahren.

Es war alles anders gekommen.

Bis er sich von dem Schmerz der Leere, die sie hinterlassen hatte, erholt hatte, waren Monate vergangen. Nur langsam hatte er sich an ein Leben ohne sie gewöhnt. Lara, die Mutter seines Sohnes hatte ihn getröstet. Sein Sohn hatte ihn getröstet. Aber tief in seinem Inneren hatte er Kate nicht vergessen können.

Und nun war Kate wieder da. Katapultierte all seinen Schmerz und die unstillbare Sehnsucht wieder hoch.

»Willkommen zurück, Mr Blackwell«, begrüßte ihn Scotts Sekretärin Brenda, die unerwartet im Türrahmen erschien und seine Gedanken unterbrach. »Hatten Sie einen erholsamen Urlaub?«

»In der Tat«, bestätigte Scott, fuhr sich erneut mit der Hand durchs Haar, sammelte sich kurz und lächelte Brenda an. »Bitte bringen Sie mich so schnell wie möglich auf den neuesten Stand«, bat er und sah kurz die Post durch, bevor er an seinem penibel aufgeräumten Schreibtisch Platz nahm, die Hände auf der Tischplatte abgestützt und gefaltet.

Seine Sekretärin reichte ihm einen Zettel. »Ich habe alle wichtigen Gesprächstermine für heute aufgeschrieben. Ihre Fälle und Mandanten hat während Ihrer Abwesenheit Mr Sunders übernommen. Soviel ich weiß, hat es keine Zwischenfälle oder gar Probleme gegeben.«

»Sehr erfreulich.« Scott atmete erleichtert aus.

Brenda überreichte ihm einen weiteren Zettel, auf dem einige Telefonnummern und die dazugehörigen Kurznotizen standen. »Ich empfehle Ihnen, diese Nummern zuerst zu kontaktieren. Einige Gespräche werden nicht länger warten können«, erläuterte sie.

»Gut. Ich werde mir die Notizen ansehen. Ich bitte darum, in den nächsten zwei Stunden nicht gestört zu werden.«

»Wie Sie wünschen, Mr Blackwell.«

»Sonst noch etwas Wichtiges?«, wollte Scott wissen.

Die Sekretärin nickte. »Mr Sunders bat darum, dass Sie schon mal einen Blick in diese Unterlagen werfen, bevor Sie zum Meeting erscheinen.« Sie deutete auf eine Akte, welche der Kanzleischriftzug zierte und die bereits auf Scotts Schreibtisch lag.

»Worum handelt es sich?«, erkundigte sich Scott, noch bevor er die erste Seite aufgeschlagen hatte.

»Mr Sunders’ Einschätzung nach um eine äußerst profitable Sammelklage. Ein neues Medikament, das schon eine Weile auf dem Markt ist, verursacht offenbar Nebenwirkungen, die über die normalen Begleiterscheinungen hinausgehen. Bisher weiß kaum jemand davon, weshalb Sie schleunigst eine Entscheidung treffen sollten.«

»Ich werde mir das heute noch ansehen.« Scott nickte. Er griff nach dem Telefon, um die ersten frühmorgendlichen Telefonate zu führen. »Danke, Brenda«, sagte er an seine Sekretärin gewandt, die unter seinem Blick leicht errötete und dann mit grazilem Gang und einem ausfallenden Hüftschwung aus seinem Büro flanierte.

***

Jake drehte den Zündschlüssel und der Motor verstummte rasselnd. Bevor er ausstieg, leerte er die Bierdose bis auf den letzten Tropfen und tätschelte seine 38er, die neben ihm auf dem Beifahrersitz lag. Jake hasste Waffen. Und liebte sie zugleich. Sie machten ihm Angst, schließlich konnte eine Mündung jederzeit auch auf seinen eigenen Schädel gerichtet werden – auf der anderen Seite versprach ihre tödliche Intensität ihm Mut, verlieh ihm Kraft, die er an manchen Tagen dringend benötigte. An Tagen, an denen er sich schwach und unbedeutend fühlte, wie ein Häufchen Elend. An Tagen wie diesem.

Er versteckte die Pistole in seinem Handschuhfach, dann stieg er aus, blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht an, das ihn augenblicklich blendete.

Er verabscheute die Sonne. Hell und störrisch war sie, genoss es, sein Fleisch zu brutzeln, seine Gedanken zu lähmen, ihm den Schweiß aus sämtlichen Poren zu treiben.

Jake spuckte aus, lief um das Auto herum zur Benzinzapfsäule und schraubte den Tankdeckel ab. Ständig vergaß er zu tanken, sodass seine kleine verbeulte Schrottkarre meist mit dem letzten Tropfen Treibstoff über den Highway jagte. Zum Glück war ihm aufgefallen, dass die Anzeigenadel fast am unteren Ende angelangt war, weshalb er es gerade noch rechtzeitig bis zur nächsten Tankstelle geschafft hatte. Eine, die Cash annahm und bei der man erst nach dem Tanken bezahlte und nicht den Full Service, wie es noch an manchen Tankstellen in L.A. üblich war. Er wollte schließlich unerkannt bleiben. Während der Tank gierig und dröhnend das Benzin aus dem Schlauch schluckte, tastete Jake in seiner Lederjacke nach seinem Portemonnaie. Verflucht! Er musste es schon wieder vergessen haben!

Egal, dachte er sich. Nur Idioten bezahlten eine überteuerte Spritrechnung. Sobald die überhaupt merkten, was los war, wäre er schon über alle Berge. Auf Nimmerwiedersehen!

Er grinste.

»Na, satt, du blöde Schrottkiste?«, nuschelte Jake, als das Dröhnen der Zapfsäule verstummte. Er zog den Schlauch aus dem Tank und hängte ihn zurück, lief um das Auto herum auf die Fahrerseite und öffnete die Tür. Jetzt schnell weg von hier.

In diesem Augenblick bemerkte er den pechschwarzen Pick-up, der hinter ihm zum Stehen kam. Die Scheiben waren verdunkelt, der Lack schlammbespritzt.

»Scheiße«, entfuhr es Jake in einem kläglichen Laut. Er erkannte das Fahrzeug. Wusste genau, welche Männer in dem Wagen saßen. Es war kein Zufall, dass sie ihn hier aufgespürt hatten. Waren sie ihm den ganzen Weg gefolgt? Vermutlich.

Hastig stieg Jake in sein Auto, zog die Tür hinter sich zu und versuchte den Zündschlüssel einzustecken. In der Aufregung glitt er ihm aus der Hand und landete im Fußbereich.

»Nicht so eilig«, dröhnte eine Stimme. Autotüren schlugen auf, Schritte näherten sich, und die Fahrertür an Jakes Auto wurde aufgerissen.

Jake schluckte wie ein Fisch auf dem Trockenen, als ihm direkt vor seinen Augen ein weiterer Pick-up den Weg versperrte.

»Verdammte Scheiße!«, fluchte Jake und schlug auf das Lenkrad.

In diesem Augenblick fiel ihm wieder der Revolver ein. Doch bevor er nach dem Handschuhfach tasten konnte, packte ihn eine raue, grobe Hand am Arm und zog Jake mit einem kräftigen Ruck aus dem Wagen.

Er schlug um sich, wehrte sich nach Leibeskräften, strampelte mit den Beinen.

»Jetzt halt endlich still, Bürschchen!«, sagte eine derbe Männerstimme, kratzig wie ein Reibeisen.

»Was wollt ihr von mir?«, kreischte Jake und bereute, die Pistole nicht an sich genommen zu haben.

Der Mann, der Jake gepackt hatte, presste ihn nun mit dem Rücken gegen den Kotflügel des Autos, so fest, dass es ihm die Luft zum Atmen raubte und er schon fürchtete, alle seine Knochen würden brechen.

Weitere Schritte näherten sich. Schwere, entschlossene Schritte. Wie viele Männer waren es? Fünf? Sechs?

Jake wagte nicht, darüber nachzudenken, was sie mit ihm anstellen würden.

Der Mann beugte sich über ihn und kam ganz dicht an sein rechtes Ohr. Jake spürte seinen Atem, der an seinem Trommelfell kitzelte und vibrierte. Ein fauliger Geruch nach ungeputzten Zähnen, Nikotin und Alkohol stieg ihm in die Nase – er hätte fast gewürgt, obwohl er selbst vermutlich kaum besser roch.

»Du schuldest uns etwas, Arschloch«, zischte der Mann und drückte Jake noch entschlossener gegen die Karosserie. Der Knopf seiner Jeans schabte am Lack – ein Kreischen erklang, als würde jemand mit den Fingernägeln über eine Kreidetafel kratzen.

»Hast du das etwa vergessen, Arschloch?«

»Nein«, wimmerte Jake, schloss für einen Moment die Augen und betete, heil aus der Sache rauszukommen.

***

Knapp drei Stunden später legte Scott erstmals den Hörer auf die Gabel, um zu verschnaufen. Die Akten, ordentlich sortiert, türmten sich zu allen Seiten. Er raufte sich das Haar. Die Arbeit stieg ihm zu Kopf, er erstickte an den unzähligen Unterlagen, die noch bearbeitet werden mussten. Früher hatte es ihm nie etwas ausgemacht, mehr als fünfzehn Stunden am Tag zu schuften. Er hatte sogar innerliche Befriedigung erlangt durch jeden Fall, den er erfolgreich zum Abschluss gebracht hatte – doch das hatte sich schlagartig verändert. Er hatte sich verändert. Nichts war mehr so, wie es mal gewesen war.

Mit einem Taschentuch wischte er sich den Schweiß aus dem Nacken, klappte die Akte mit der Sammelklage auf und überflog die Unterlagen. Drei Todesfälle waren zu betrauern. Drei Frauen, die das Medikament wegen eines grippalen Infektes verschrieben bekommen hatten, waren angeblich daran verstorben. Bei allen drei Frauen war es nach der Einnahme des Medikamentes zu plötzlich auftretenden inneren Blutungen und raschem Sinken der Sauerstoffsättigung gekommen. Die Laboranalysen der Blutproben sprachen für einen toxischen Befund.

Scott war kein Mediziner, aber er wusste, dass es schwierig werden würde – wenn nicht fast unmöglich – dem Pharmaunternehmen daraus einen Strick zu drehen. Die Aufgabe ihrer Kanzlei bestand darin, die Kläger, in diesem Falle die drei Ehemänner, davon zu überzeugen, das Vergleichsangebot des Pharmaunternehmens anzunehmen, auch wenn es ihnen den geliebten Menschen nicht mehr zurückbrachte.

Scott konnte ihre Trauer und Wut nachfühlen. Der Verlust eines geliebten Menschen war schwer zu bezwingen, und es tat gut, wenn man glaubte, einen Schuldigen gefunden zu haben, den man für den Kummer in seinem Leben verantwortlich machen konnte.

Wie jedes Mal traf ihn der Gedanke an seine eigene Schuld mitten ins Herz. Abermals tauchten die Bilder vor seinem geistigen Auge auf, die Bilder, welche ihm den Schlaf raubten, die ihn immer wieder unangekündigt heimsuchten wie ein ungebetener Gast. Egal wie oft er sie fortschickte, sie kamen ständig zurück und klopften an seine Tür. Und jetzt war auch noch Kate wiederaufgetaucht. Schlimmer hätte es nicht kommen können.

Scott schloss für einen Augenblick die Augen. Sein Leben war ein Scherbenhaufen, begriff er. Ein Kartenhaus, das in sich zusammengefallen war.

Kapitel 3

Nach Einbruch der Dunkelheit lag stets eine beruhigende Stille über der Avalon Bay. Tagsüber erfüllten Geschrei, Trubel und Hektik die salzige Luft, die nach Meer und Sand schmeckte. Doch kaum legte sich die Dämmerung über den Abend, kehrte eine fast friedvolle Ruhe ein, die Kate jedes Mal aufs Neue sehr genoss.

Möwen pickten Essenreste vom Boden – Pommes und Brotkrümel –, Liebespaare schlenderten Hand in Hand über die Stege, betrachteten den leuchtenden Himmel, an dem die Sterne wertvoll wie Juwelen blinkten – der Mond lächelte schief.

Während Kate sich in dem gemütlichen Korbsessel zurücklehnte, schloss sie für einen Moment die Augen, vernahm das Rauschen der Wellen und dachte einen Moment lang an gar nichts. Ihr Kopf war wie leergefegt. Scott war wieder in ihr Leben getreten, und der Schock über ihr unerwartetes Wiedersehen saß tief. Der Gedanke an ihn hatte sie den ganzen Tag nicht losgelassen. Zumal ihr keine Verschnaufpause blieb. Schon in wenigen Minuten würde sie ihn ein zweites Mal innerhalb von wenigen Stunden sehen. Sie hatte sich immer vor diesem Moment gefürchtet, diesem Mann wieder gegenüberzustehen, und ihn im Unterbewusstsein dennoch herbeigesehnt. Es hatte nur einen Blickkontakt zwischen ihnen gebraucht, und die Gefühle für Scott, die nach wie vor in ihr schwelten, waren mit einem Schlag wieder entflammt, wollten nicht auf die Einwände ihres Unterbewusstseins hören, drohten sie zu ersticken, sie erneut zu berauschen.

Sie schluckte schwer. Warum musste dieser Mann gerade jetzt wieder in ihr Leben treten, da sie eigentlich ganz andere Probleme zu bewältigen hatte?

Das Poltern von Monas Schritten auf dem Holzboden holte sie aus ihrem Dämmerzustand zurück. Sie öffnete die Augen, als die alte Dame sich ihr näherte und sich neben sie auf einen freien Platz plumpsen ließ.

»Was für ein anstrengender Tag!«, sagte Mona erschöpft seufzend. »Ich habe das Gefühl, dass Jahr für Jahr immer mehr Touristen auf die Insel kommen.«

»Ja, heute war ganz schön viel los«, stimmte Kate ihr zu.

»Ich könnte verstehen, wenn du jetzt kündigen möchtest«, witzelte Mona.

»Mach dir keine Sorgen. So schnell wirst du mich nicht los. Ich bin froh, hier sein zu dürfen.« Kate winkte lachend ab. Dass sie nach der Begegnung mit Scott heute Morgen für einen Moment ernsthaft überlegt hatte, ihre Koffer zu packen und zu verschwinden, behielt sie besser für sich. Wo sollte sie auch hin? Sie war froh bei Mona eine vorläufige Unterkunft gefunden zu haben.

»Du leistest hervorragende Arbeit«, behauptete Mona.

»Danke.« Kate errötete über dieses Lob.

»Ehrlich gesagt ist es mir ein Rätsel, wie ich die Arbeit die ganzen letzten Monate ohne dich bewältigt habe. Ich bin allmählich wohl doch zu alt«, meinte Mona, die mit ihren über sechzig Jahren immer noch vor Energie strotzte. Ploppend öffnete sie den Korken einer Weinflasche, die sie zusammen mit zwei Gläsern aus der Küche mitgebracht hatte, und schenkte ihnen großzügig ein.

»Den haben wir uns verdient.« Sie schmunzelte und reichte Kate ein Glas.

Kate nahm einen Schluck. Der Alkohol lag angenehm und vollmundig auf ihrer Zunge. Es war, als könnte sie den Sommer schmecken, denn genau daran erinnerte sie das Aroma des Weines.

»Mein verstorbener Mann hat guten Wein geliebt«, erklärte Mona, während sie selbst an ihrem Glas nippte, dessen Flüssigkeit im Abendlicht hellrot schimmerte wie ein geschliffener Rubin. »Mein Schwiegervater hat einen eigenen Weinberg besessen.« Sie deutete auf die halb volle Flasche. »Dieser Wein stammt aus jener Zeit.«

»Er ist köstlich«, lobte Kate und nahm einen weiteren Schluck. Schließlich musste sie sich an den Gedanken gewöhnen, Scott gleich wieder gegenüberzustehen. Das konnte man im benebelten Zustand besser verkraften.

»Ja, das ist er in der Tat«, stimmte Mona ihr zu. »Manche Menschen verstehen ihr Handwerk.«

Mona hatte den Tisch für vier gedeckt. Rickie war bereits vor einer Stunde aus der Schule gekommen, hatte seine Hausaufgaben erledigt und war nun zum Parkplatz gelaufen, um seinen Vater abzuholen, der jeden Augenblick zu ihnen stoßen wollte.

Wiederholt schielte Kate den Weg zum Pier hinunter. Sie war nervös, hatte Herzklopfen und schweißnasse Hände bei dem Gedanken, Scott in wenigen Minuten erneut in die Augen zu sehen.

»Wie lange kennt ihr euch schon, Scott und du?«, wollte Mona wissen, die Kates Nervosität offenbar bemerkt hatte.

Kate überlegte eine Weile, ob sie Mona die ganze Geschichte erzählen sollte. Entschied sich dann aber dagegen. Sie war einfach noch nicht bereit dazu, sich der Vergangenheit zu stellen.

Sie räusperte sich, bevor sie leise sagte: »Wir haben uns damals in L.A. auf einer Party kennengelernt. Scott war der beste Freund von Ben Sunders und ich eine Freundin einer Freundin von Ben.« Kate lächelte verlegen. »Wie das so ist auf den Studentenpartys«, fuhr sie fort. »Jeder bringt einen guten Bekannten mit und plötzlich trifft man auf viele nette Menschen, die sich ansonsten nie über den Weg gelaufen wären.« Sie bekam eine Gänsehaut, und der erneute Gedanke an Scott lähmte für eine Sekunde ihren Verstand. Eigentlich wollte sie nichts mehr, als sich wieder in seinen tiefblauen Augen zu verlieren und seine Küsse auf ihrem Körper zu spüren. Aber sie wusste, dass das nie wieder passieren würde. Sie hatte diesem Mann das Herz gebrochen. Das würde er ihr nie verzeihen.

»Oh! Demzufolge kennt ihr euch schon ein paar Jährchen.« Mona hob erstaunt die Augenbrauen und schien kurz nachzurechnen.

»Zehn Jahre«, nahm Kate ihr die Antwort vorweg. »Wir kennen uns seit zehn Jahren, wobei wir die letzten fünf davon so gut wie gar keinen Kontakt hatten.« Aber jede einzelne Sekunde habe ich an Scott gedacht, fügte sie in Gedanken hinzu. Ihr Blick wurde traurig.

Mona nickte. »Verstehe, dann hast du sicher auch Rickie und Lara kennengelernt?«, hakte sie nach.

»Nein!« Schneller als beabsichtigt schüttelte Kate den Kopf und lief rot an. »Was ich meine … ich bin den beiden nur ganz kurz begegnet.« Sie schluckte, weil sie spürte, wie ihre Kehle eng wurde. »Sie traten in Scotts Leben, als ich gerade im Begriff war, L.A den Rücken zu kehren«, korrigierte sie sich. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe sie nur einmal kurz gesehen. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, sie kennenzulernen.« Sie seufzte und wandte den Blick ab. Die Erinnerungen an Scott und den Tag ihrer Trennung schmerzten sie. Mühsam schluckte sie die aufsteigenden Tränen hinunter.

»Verstehe.« Mona nickte und warf Kate einen verständnisvollen Blick zu. Man merkte, dass es hinter ihrer Stirn ratterte und die Informationen, die Kate ihr geliefert hatte, weitere Fragen aufwarfen. Es würde sicher nicht lange dauern, bis sie eins und eins zusammenzählte. Aber Kate hatte jetzt nicht die Nerven, um einem weiteren Verhör standzuhalten. Zum Glück war Mona empathisch genug nicht weiter nachzubohren.

»Rickie macht eine schwere Zeit durch«, sagte Mona stattdessen, und Kate war ihr dankbar dafür. »Ich glaube, er versucht herauszufinden, wer er eigentlich ist. Er hat seinen Platz in der Welt noch nicht gefunden. Ich helfe ihm dabei, so gut es geht. Er ist wirklich ein lieber Bursche, manchmal etwas stürmisch und frech, aber im Grunde hat der Junge einen weichen Kern und ein gutes Herz. Hast du Familie?«, wollte sie wissen.

Betreten sah Kate in das Glas in ihrer Hand, das sie hin und her schwenkte, sodass der Wein sich am Rand brach wie das Wasser an der Klippe. »Nein, auf mich wartet niemand«, antwortete sie nach einer Weile.

»So eine junge und kluge Frau geht ganz alleine durchs Leben?« Mona schien verwundert und Kate überlegte erneut, wie viel sie ihr erzählen konnte. Die beiden kannten sich schließlich nicht länger als eine Woche und noch konnte Kate keineswegs sicher sein, ob sie ihr vertrauen durfte.

Mona hatte keinen Augenblick gezögert, Kate einzustellen.

Sie hatte bis jetzt keine unangenehmen Fragen gestellt, wollte nicht wissen, woher sie kam, wohin sie wollte. War nur ihrem Bauchgefühl gefolgt und hatte ihr vertraut. Dennoch ahnte Kate, dass sie sich früher oder später erklären musste, aber momentan war sie noch nicht bereit dazu. »Ich brauchte eine Veränderung«, erklärte Kate schnell, denn sie spürte Verzweiflung in sich aufkeimen und hatte Angst, dass die sich in ihrer Miene widerspiegelte. »Manchmal sehnt man sich nach einem neuen Leben«, sagte sie deswegen bemüht lapidar.

»Das verstehe ich.«

»Wirklich?« Jetzt war Kate verwundert.

»Gewiss, Kate, gewiss. Du bist gerade mal neunundzwanzig Jahre, jung und schön. In deinem Alter möchte man sich ausprobieren, Wagnisse eingehen, den Kopf verlieren … Ist es nicht so?« Monas Blick ging verträumt ins Leere, als würde sie über ihre eigene vergangene Jugendzeit nachdenken.

Dankbar für die Vorlage nickte sie. »Ja, genau so ist es.«

Kate, die dieses Gespräch über sich selbst nur ungern fortsetzen wollte, fiel ein Stein vom Herzen, als plötzlich zwei Gestalten aus der Dunkelheit vor ihnen auftauchten.

Eine von ihnen erkannte sie gleich als Scotts Sohn Rickie, die andere, eine junge, attraktive Blondine, deren High Heels über den Holzboden klackten, hatte Kate nie zuvor gesehen.

***

Jake wusste, wie man mit solchen Typen fertigwurde, aber sie hatten ihn überrumpelt – und sie waren in der Überzahl. »Glaubst du etwa, uns zum Narren halten zu können?«, schrie ihm der Mann ins Ohr.

»Ganz bestimmt nicht«, brachte Jake heraus und schnappte nach Luft. »Wirklich, ich …«

»Ja, was denn?« Einer der Typen stieß ihm einen Ellbogen in die Rippen.

»Ich … ich besorge euch die Kohle! Versprochen!«

»Soll das etwa heißen, du hast sie noch nicht?«

»Doch, aber … ich …« Du verfluchter Narr, tadelte Jake sich selbst. »Ich … brauche mehr Zeit!« Er presste die Lippen aufeinander, seine Nasenflügel bebten.

»Du hattest nun wirklich genug Zeit, unsere Geduld ist am Ende.« Der Mann zog eine fiese Grimasse.

»Nur noch ein paar Tage«, flehte Jake.

»Willst du mich verarschen?«, fragte der Mann.

»Nein. Nein, natürlich nicht.« Jake schüttelte den Kopf.

»Wir verhandeln nicht, niemals!«, erklärte der Mann. »Schreib dir das gefälligst hinter die Ohren!«

Versehentlich biss Jake sich auf die Zunge. Der Geschmack von Metall füllte seinen Mund.

»Bitte … noch zwei Tage, zwei … zwei lächerliche Tage …«, flehte er erneut, seine Stimme überschlug sich. Alles drehte sich. Er kniff die Augen zusammen, bemüht, der Benommenheit zu entkommen, die ihn überkam. Er schwitzte wie ein Schwein auf der Schlachtbank und hatte längst aufgehört, sich zu widersetzen.

»Du bist ein jämmerlicher Schlappschwanz«, entgegnete der Mann hinter ihm, und zu Jakes Verblüffung löste sich der Griff. Endlich konnte er wieder frei atmen, gierig sog er die frische Luft ein.

»Das ist deine letzte Chance«, zischte die Stimme hinter ihm. »Gnade dir Gott, wenn du die Kohle bis dahin nicht aufgetrieben hast.«

»Das werde ich …«, stammelte Jake geistesabwesend. »Ganz bestimmt …« Seine Beine gaben nach und er sank zu Boden. Der Asphalt war aufgeheizt, sodass er sich fast die Finger verbrannte. Er zuckte zusammen.

Die Männer entfernten sich. Türen knallten, als sie in ihre Wagen einstiegen, Motoren heulten auf.

Wimmernd sah Jake sich um. Passanten hatten sich zu ihm umgewendet. Sie hatten das Spektakel aus sicherer Entfernung beobachtet, ohne dass ihm jemand zu Hilfe gekommen war. Jake konnte es ihnen nicht verdenken. Er selbst hätte sich diesen Schlägern auch nicht entgegengestellt.

Angeekelt leckte er sich über die Lippen, schmeckte das Blut auf seiner Zunge. Noch immer schlug ihm das Herz bis zum Hals, nach wie vor spürte er den immensen Druck, mit dem er gegen den Kotflügel gepresst worden war. Dieses beängstigende Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, schimpfte Jake, kam zitternd auf die Beine und kämpfte sich in den Wagen. Auf der Stelle griff er nach seiner Pistole im Handschuhfach, das kühle Metall half ihm, sich wieder zu fangen.

Ich werde dich nie wieder zurücklassen, Baby, versprach er, als er den Motor startete und mit quietschenden Reifen davonraste.

***

Mona erhob sich, als Rickie und die blonde Frau näher kamen, und nickte der Blondine zur Begrüßung verhalten zu.

»Ist Scott nicht hier?«, fragte die Blondine, ohne Kate eines Blickes zu würdigen.

»Nein, aber er müsste bald kommen. Möchtest du vielleicht hier auf ihn warten?«, schlug Mona vor. »Wir wollen zusammen Abendessen, du bist herzlich eingeladen.«

»Nein, danke«, sagte die Frau und schob ihr langes Haar mit einer Handbewegung zurück, nachdem sie einen geringschätzigen Blick über den Tisch geworfen hatte, auf dem bereits Suppenteller und Baguette bereitstanden. Offensichtlich war die Mahlzeit nicht nach ihrem Geschmack. »Ich habe noch eine Verabredung und sehe Scott ja dann später zu Hause. Bis später, Rickie«, sagte sie, ehe sie eilig wieder verschwand, als hätte sie Angst, doch noch an den Tisch gebeten zu werden.

Kate sah ihr mit gerunzelter Stirn hinterher. Seltsamer Auftritt, dachte sie.

»Ihr Name ist Virginia«, klärte Mona Kate auf, nachdem sie Rickie zum Händewaschen ins Café geschickt hatte.

»Scotts Freundin?«, erkundigte sie sich und hoffte, nicht allzu neugierig zu klingen.

Mona schüttelte den Kopf. »Virginia ist Anwältin und arbeitet in Scotts Kanzlei.« Sie zog die Stirn kraus und fügte hinzu: »Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie ihn nur benutzt. Für ihre Karriere, für Geld und Ruhm. Ich weiß nicht, irgendwie konnte ich sie noch nie leiden. Sie ist sehr von sich selbst überzeugt und manchmal geradezu schnippisch.«

Kate nahm das unkommentiert zur Kenntnis. Sie wollte sich nicht einmischen. Sie kannte diese Frau nicht und verbat sich aus diesem Grund, sich ein voreingenommenes Urteil über sie zu bilden. Aber dass Virginia außergewöhnlich hübsch war, war Kates neugierigen Blicken nicht entgangen, und sie zwang sich, keinen Neid aufkommen zu lassen. Im Vergleich zu ihr fühlte sie sich unscheinbarer als ein Mauerblümchen. Ohne dass sie es wollte, keimte Eifersucht in ihr auf, auf die Frau, die offensichtlich mehr mit Scott verband, als es nach außen den Anschein hatte. Warum sollte die Blondine sonst zu Hause auf ihn warten?

Kate atmete einmal tief durch, als ihr bewusst wurde, dass sie sich mehr Gedanken um Scott und sein Leben machte, als ihr guttat. Mach dich nicht lächerlich, Kate, wies sie sich in Gedanken zurecht. Scott konnte schließlich zusammen sein, mit wem er wollte.

»Oh«, hörte sie Mona plötzlich rufen, als ein leises Zischen aus der Küche drang. »Ich glaube, da kocht was über.« Mona stützte sich an der Tischplatte ab, um aufzustehen, aber Kate kam ihr zuvor.

»Bleib sitzen!«, bat Kate und drückte sie sanft in den Sessel zurück. Stattdessen sprang sie auf. »Ich mach das schon.«

Sie lief in die Küche, kramte einen Kochhandschuh aus der Schublade und nahm die würzig duftende Tomatensuppe vom Herd. Anschließend trug sie den Topf nach draußen und wäre fast mit Scott zusammengestoßen, der in diesem Moment ihren Weg kreuzte.

Blitzschnell hielt er Kate mit beiden Händen an den Schultern fest, damit sie nicht nach vorne stolperte. Seiner schnellen Reaktion war es zu verdanken, dass sich der Inhalt des Topfes nicht über die gesamte Veranda ergoss.

Scotts Mundwinkel verzogen sich zu einem überheblichen Grinsen. »Da bin ich ja im richtigen Moment gekommen«, sagte er trocken und schaute ihr tief in die Augen.

Abrupt blieb Kate stehen und spürte Hitze, wo seine Finger sie berührt hatten. Er roch frisch geduscht. Ein würziger Duft von Moschus stieg ihr in die Nase. Für einen Moment vergaß sie, wo sie sich befand. Verdammt, dieser Mann brachte sie immer noch völlig aus dem Konzept!

»Entschuldigung«, stammelte sie, als sie sich wieder gefasst hatte, schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln und konnte nicht verhindern, dass ihr die Röte ins Gesicht stieg.

»Darf ich?« Scott nahm ihr den Topf ab und stellte ihn auf den Tisch. Und sollte er überrascht sein, sie hier zu sehen, ließ er sich nichts anmerken. »Das riecht ja göttlich«, sagte er, beugte sich über den Topf und fächelte sich mit der Hand den aufsteigenden Duft unter die Nase, bevor er sich auf einen freien Stuhl zu ihnen an den Tisch setzte. Er zwinkerte Mona belustigt zu. »Mit der Suppe hast du dich mal wieder selbst übertroffen.« Dann glitt sein Blick zu Kate und seine tiefblauen Augen schienen sie zu durchbohren. Hastig senkte sie den Blick und griff nach dem Suppenlöffel.

Rickie kam aus der Küche geflitzt, nahm das abgebrochene Stück Baguette, welches Mona ihm entgegenstreckte, und setzte sich seinem Vater gegenüber. »Da bist du ja endlich, Dad«, sagte er vorwurfsvoll. »Ich musste mich schon mit Virginia rumquälen, als ich auf dem Parkplatz vergebens auf dich gewartet habe.«

»Virginia war hier?« Scott zog die Augenbrauen hoch.

Kate verteilte die Suppe auf die tiefen Teller und setzte sich anschließend auch an den Tisch. Der Geruch nach frischer Tomate war so intensiv, dass ihr das Wasser im Mund zusammenlief.

»Ja, vor ein paar Minuten erst. Du hättest ihr eigentlich noch begegnen müssen«, bestätigte Mona Rickies vorlaute Bemerkung, während sie eine Handvoll frischer Basilikumblätter verteilte, um die Suppe appetitlich anzurichten.

Scott schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe sie nicht gesehen. Virginia hat wahrscheinlich den Weg zum Strand gewählt. Aber da sie sich nicht auf meinem Handy gemeldet hat, kann es so wichtig nicht gewesen sein«, vermutete er laut und goss sich ein Glas Wein ein.

»Virginia erzählt nie wichtige Dinge. Sie redet immer nur über Mode und ihre langweiligen Freundinnen«, bemerkte Rickie. Seine Stimme hatte einen bitteren Beiklang.

»Sei nicht so unhöflich«, sagte Scott und sah seinen Sohn tadelnd an. »Virginia ist eine gebildete und nette Frau. Sie tut dir nichts, und du hast keinen Grund, abwertend über sie zu reden.«

Rickie zog einen Schmollmund. Man sah, dass ihm eine Antwort auf der Zunge lag, aber er schien sich dazu entschieden zu haben, sie herunterzuschlucken. Stattdessen fing er an die Suppe zu schlürfen.

»Ja, lasst uns anfangen, die Suppe wird sonst kalt«, sagte Mona und zündete den Docht einer Kerze an, deren Flamme aufgeregt im Wind zuckte. »Lasst es euch schmecken.«

»Guten Appetit«, erwiderten Kate und Scott wie aus einem Mund. Sie sahen sich an und in Scotts Miene erschien ein Schmunzeln, das aber gleich wieder verschwand.

Erneut spürte Kate diese Unsicherheit, doch diesmal war sie ihr nicht unangenehm. Sie fühlte ein Kribbeln, das sich bis in den Bauch ausbreitete.