Leseprobe My second first love

PROLOG

Ezra

Fünf Jahre zuvor

»Sorry, du willst, dass ich … was?«

Das Sofa gab ein wenig nach, als West sich recht ungalant neben mich fallen ließ und einen Arm auf die Rückenlehne direkt hinter mir platzierte. Plötzlich zog er mich an sich, sodass mein Arm unangenehm zwischen unseren Oberkörpern gefangen war. Schon nutzte er die Gelegenheit, um mir das schwere Textbuch aus der Hand zu reißen, an dem ich die letzten Stunden bereits mehr als einmal verzweifelt war.
Schließlich schob er ein loses Blatt als Lesezeichen zwischen die Seiten, bevor er es mit einem lauten Knall zuklappte und auf den Couchtisch warf. »Sam und Jake schmeißen ’ne Party und ich will, dass du mich begleitest.«

Ich konnte nur blinzeln, während ich zwischen West und dem Berg an Lehrmaterial auf dem Tisch vor mir hin und her sah. »Wie kommst du darauf, dass ich ausgerechnet jetzt auf eine Party gehen möchte?«, fragte ich trocken. »Hast du nicht gesehen, dass ich schon etwas Besseres vorhabe?« Jedenfalls versuchte ich, mir das selbst schönzureden.

West schnaubte nur. »Komm schon, Babe. Wir wissen beide, dass du die Ablenkung brauchen kannst. Es tut dir nicht gut, den ganzen Tag hier rumzuhängen und in Büchern zu blättern. Außerdem bestehen Jake und Sam darauf, dass ich dich mitbringe. Angeblich wissen sie schon nicht mehr, wie du aussiehst.« Er kickte seine langen Beine von sich, um sie auf dem halbhohen Holztisch zielsicher zwischen einem Anatomiebuch und meinen Semesternotizen zu platzieren. 

»Ihre Worte, nicht meine, aber hey! Ich mach mir Sorgen um dich. Okay, Ez? Wann hast du das letzte Mal etwas Richtiges gegessen oder mehr als zwei Stunden am Stück geschlafen?« Sein Blick glitt prüfend über mein Gesicht. Über die Augenringe, die zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich schon gen Erdmittelpunkt reichten. »Du brauchst ’ne Pause.«

Das dumpfe Pochen hinter meinen Schläfen hatte sich in den letzten Stunden in ein stetiges Dröhnen verwandelt. Als ich mich nach vorn beugte, um nach den Tabletten zu greifen, die ich vorsichtshalber in meiner unmittelbaren Nähe platziert hatte, zuckte ich zusammen. Die Muskeln in meinem Nacken, die unter meiner Position auf der Couch und meiner unvorteilhaften Haltung doch mehr gelitten hatten als angenommen, schickten kleine schmerzhafte Blitze meine Wirbelsäule hinab. Meine Hände zitterten, als ich es endlich geschafft hatte, zwei Tabletten aus der Verpackung zu pressen und mit einem Schluck Wasser hinunterzuspülen. Dann richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf West, der mich aus seinen graublauen Augen besorgt musterte.
»Ich weiß, dass das hier wichtig ist, okay? Immerhin ist das dein letztes Semester vorm Abschluss. Aber es ist auch wichtig, dass du Pausen machst und auf dich selbst achtest.«
Seine Hand legte sich auf meinen Oberschenkel und obwohl ich eine Jogginghose trug, spürte ich die Hitze seiner Haut auf meiner, als er begann, mit den Fingern kleine Kreise über den grauen Stoff zu zeichnen.
Wie jedes Mal, wenn er mich berührte, setzte mein Herz einen Schlag aus. Und obwohl ich mich darum bemühte, die abwertenden Worte meines Vaters und die Sichtweise, mit der ich aufgewachsen war, nicht zwischen uns kommen zu lassen, fiel es mir schwer. Auch nach beinahe einem ganzen Jahr seit meinem ersten Kuss mit West.

»Aber weil ich auch weiß, dass du so ziemlich alles andere vergisst, wenn du lernst, bin ich hier, um auf dich aufzupassen.« Er beugte sich noch weiter vor, legte seine freie Hand in meinen Nacken und fing an, mit den kurzen Haaren dort zu spielen. »Und jetzt sage ich, dass du auf die Party gehen sollst, um mit deinen Freunden Spaß zu haben, zu trinken und für ein paar Stunden nicht über …«, er senkte den Blick auf einen der losen Zettel, der ihm am nächsten war, »… Genetik nachzudenken. Du bist 22, Ez. So viel Freizeit wie jetzt hast du nie wieder. Hab Spaß auf Partys oder lass dich mit unseren Freunden zulaufen.« Er grinste schief und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf mich. »Jetzt, wo ich 21 bin, darf ich das nämlich auch. Legal jedenfalls.«

Ich hielt seinem Blick ein paar Sekunden entschlossen stand, bevor ich mich mit einem halbherzigen Seufzen geschlagen gab. »Okay, aber nur heute. Morgen muss ich mich wieder konzentrieren. Das hier ist wichtig für mich, West. Ich kann niemandem helfen, wenn ich das hier nicht richtig mache.«

»Ich weiß.« Damit beugte er sich vor, um mir einen sanften Kuss auf die Lippen zu drücken. »Morgen darfst du so lange lernen, wie du willst.« Abermals lagen seine Lippen auf meinen. »Aber nicht länger als acht Stunden insgesamt. Du brauchst Schlaf und etwas Richtiges zu essen, wenn du nicht …«
Weil ich wusste, dass er von nichts ablassen würde, sobald er es sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, war es diesmal ich, der ihn küsste, um ihn zum Verstummen zu bringen. Seine Hände glitten zu meinen Hüften, schoben sich unter den Stoff meines Pullovers und strichen über meine Haut, auf der sich prompt eine Gänsehaut ausbreitete. Überall dort, wo er mich berührte. Jeder Zentimeter meines Seins streckte sich ihm entgegen, ungeachtet dessen, dass ich die meiste Zeit über selbst nicht wusste, wie ich mit den Gefühlen zu ihm umgehen sollte. Seine Zunge glitt über meine Lippen und als er begann, behutsam an meiner Unterlippe zu knabbern, und ein zufriedenes Stöhnen ausstieß, presste ich meine flache Hand gegen seine harte Brust und nutzte seinen perplexen Gesichtsausdruck, um wieder etwas Abstand zwischen uns zu bringen.
»Du wolltest auf die Party, West«, erinnerte ich ihn lachend und wich einem weiteren Anschlag seiner Lippen in letzter Sekunde aus. »Wir haben keine Zeit rumzumachen, wenn du mich heute noch abfüllen willst.«
West zog die Stirn kraus. Im Versuch, beleidigt zu wirken, schob er seine Unterlippe in einem Schmollmund nach vorn. »Erstens habe ich nie etwas von dich abfüllen gesagt. Wir können auch ohne Alkohol Spaß haben. Und zweitens«, er hielt inne, um entschlossen die Arme vor seiner Brust zu verschränken. »Dafür sollte immer genug Zeit bleiben. Ich kann mich schon gar nicht mehr daran erinnern, wie sich deine Lippen anfühlen. Was soll ich sagen, wenn mich das jemand fragt, hmm? Sorry, keine Ahnung, wie es sich anfühlt, meinen Freund zu küssen. Das letzte Mal ist schon über 48 Stunden her? Die Leute werden denken, dass wir uns getrennt haben oder noch schlimmer, dass du mich hasst.«

Man musste mir zugutehalten, dass ich wirklich alles versuchte, um nicht zu lachen, doch manchmal waren Wests Gedanken so absurd, dass ich einfach nicht anders konnte.
»Warum sollte das jemand fragen?«
West ließ die Schultern sinken. »Keine Ahnung, ich kann ja keine Gedanken lesen. Ich weiß nur, dass es etwas ist, was ich fragen würde.«

»Du bist wahrscheinlich die einzige Person auf diesem Planeten, die so etwas fragen und unbeschadet davonkommen würde.« Einfach, weil ihm niemand etwas nachtragen konnte, wenn West ein strahlendes Lächeln in die entsprechende Richtung schickte und selbst bei teilweise mehr als unangebrachten Fragen verdammt unschuldig und ehrlich interessiert wirkte. Er war ein verdammtes Enigma. Alles an ihm stand in einem scheinbaren Widerspruch und trotzdem war er das Beste, was mir seit meiner Zusage an der University of San Francisco passiert war. Verdammt perfekt und dennoch mein größtes Geheimnis. Vielleicht für immer.

 

 

West lehnte sich mit seinem gesamten Gewicht gegen mich, als wir Stunden später wieder durch unsere Wohnungstür traten. Die Tür fiel hinter uns ins Schloss, während ich versuchte, ihn aus der dicken Winterjacke und den Schuhen zu bekommen, ohne ihn zu sehr zu rütteln und schütteln. Als er allerdings seine Arme um meine Hüfte schlang, um sich noch fester an mich zu pressen, geriet ich ein wenig aus dem Gleichgewicht. 

Sein Herz donnerte gegen meines, als ich mich an der Wand abfing und er sein Gesicht in meine Halsbeuge vergrub. »Du riechst so gut, Baby.« Seine Stimme war nach dem langen Abend nicht viel mehr als ein heiseres Flüstern. »Hab ich dir das schon mal gesagt?«
Ich schüttelte den Kopf und verstärkte meinen Griff. »Zweimal in den letzten paar Stunden«, murmelte ich. »Aber darüber können wir uns auch später noch unterhalten, okay? Du musst jetzt wirklich ins Bett, sonst hast du nachher den Kater deines Lebens.«
West lehnte sich so weit zurück, dass er mir ins Gesicht sehen konnte, und nickte schließlich. »Okay.« 

Als er allerdings nicht auch nur den Ansatz machte, sich in den nächsten Minuten vom Fleck bewegen zu wollen, stieß ich belustigt die Luft aus. »Dazu müsstest du mich loslassen.« 

West murrte etwas, das ich nicht verstehen konnte, und strich ein letztes Mal mit den Lippen über meinen Kiefer, bevor er sich widerwillig von mir löste, um in die ungefähre Richtung unseres Schlafzimmers zu stolpern. Ich hatte gerade die Packung Aspirin vom Couchtisch gegriffen und ein Glas Wasser für West abgefüllt, als ich erneut seine schweren Schritte hinter mir hörte. Üblicherweise bewegte West sich trotz seiner Körpergröße so leichtfüßig wie eine Ballerina. In seinem angetrunkenen Zustand taumelte er nun allerdings ziemlich ungeschickt von einem Bein aufs andere. 

Schnell schob ich die Tabletten in meine Hosentasche und umfasste das Glas mit meiner linken Hand, um West zu helfen, bevor er sich tatsächlich ernsthaft verletzen konnte. »Was tust du hier?«, fragte ich leise, bevor ich seine Hand griff und ihn abermals sanft zurück in Richtung Schlafzimmer bugsierte. »Du solltest doch ins Bett gehen.«

Seine Finger glitten über meine Wange, bevor er ins Bett kletterte. »Ohne dich ist es hier so leer. Da kann ich nicht schlafen.«

In meiner Brust begann es zu flattern. »Ich war doch nur in der Küche.«

Er ließ den Kopf auf das Kissen sinken und seufzte leise. »Zu weit weg. Hab dich vermisst.«

»Wir waren den ganzen Abend zusammen, West«, erinnerte ich ihn und stellte das Glas auf den Nachttisch. Dann zog ich die Tabletten aus meiner Hosentasche, bevor ich mich langsam neben West auf die Matratze setzte. »Wie kannst du mich da vermissen?« Meine Finger glitten durch seine Haare. Er stöhnte leise und entspannte sich merklich, während ihm die Augen zufielen. Seine Muskeln lösten sich, während ich erst seinen Nacken und dann seine Schultern massierte.

»Ich vermisse dich immer. In jeder Sekunde, in der wir nicht zusammen sind«, flüsterte er so leise, dass ich ihn kaum verstand. Ich schluckte, bevor ich seinen Kopf so positionierte, dass ich meine Finger in die verspannte Muskulatur seiner Schultern pressen konnte. Verspannt, wie er war, würde er sonst nie einschlafen können.

»Ich dich auch.«

West stöhnte wieder leise, ließ den Kopf zur Seite fallen und vergrub die Hände in seinem Kopfkissen. Seine Stimme klang dumpf, als er sich auf den Bauch drehte, das Gesicht ins Kissen presste und mich mit heiserer Stimme darum bat, auch seinen Rücken zu massieren. Die vielen Muskelstränge in seinem Rücken zuckten unter meinen Händen, arbeiteten und entspannten sich schließlich wieder, als ich mit sanften Bewegungen die letzten Verspannungen aus der Muskulatur strich. Als ich die Stelle in Wests unterem Rücken erreichte, von der ich wusste, dass sie ihm seit einem kleineren Autounfall Probleme machte, verkrampfte er sich abermals. »Ez …«

Ich beugte mich vor und hauchte einen federleichten Kuss direkt auf seine Schulter. »Ich weiß, aber das hilft dir, okay? Nur noch ein paar Sekunden und du wirst heute Nacht schlafen wie ein Stein.«

Er war eine Sekunde still, dann: »Versprochen?«

»Versprochen.« Meine Finger glitten ein letztes Mal über die empfindliche Stelle an seinem Hals, von der ich wusste, dass sie ihn wahnsinnig machte, wenn ich ihn dort küsste, bevor ich mich wieder aufrichtete. »Dreh dich wieder um, West. Bei der Menge an Bier, die du getrunken hast, ist es sicherer, wenn du versuchst, auf der Seite zu schlafen.«
Er murmelte zwar etwas darüber, wie unfair ich war, von ihm zu verlangen, sich gerade jetzt zu bewegen, wo er so entspannt war, kam meiner Bitte dann aber doch nach. 

»Zufrieden?«, grummelte er, schob die Hände unter seinen Kopf und musterte mich durch halb geschlossene Lider. 

Ich biss mir auf die Unterlippe, um mein Grinsen zu verstecken, und presste die Tabletten aus der Verpackung. »Fast.« Dann presste ich ihm eine der länglichen weißen Pillen gegen die Lippen und zog erwartungsvoll die Brauen in die Höhe.

West verzog zwar das Gesicht, schluckte die Tablette jedoch wortlos und richtete sich anschließend so weit auf, dass er alles mit Wasser nachspülen konnte. Den Kopf sicher zurück auf dem Kopfkissen, musterte er mich aufmerksam, obwohl ihm die Augen beinahe zufielen. »Danke.«
»Kein Problem, Baby.« Ich hauchte einen letzten Kuss auf seinen Haaransatz und zog ihm die Bettdecke bis zum Hals. »Jetzt versuch ein bisschen zu schlafen, okay? Ich pass auch auf, dass du die Nacht überstehst.«

West schnaubte unbeeindruckt und schloss flatternd die Augen. »Du bist wirklich so gar nicht witzig, Ez.«
»Darüber reden wir auch später, okay? Jetzt kannst du gar nicht richtig nachdenken oder mein schieres Talent für Komik beurteilen«, sagte ich in dem Versuch, ihn ein letztes Mal zum Lachen zu bringen. Als er nicht mehr reagierte, knipste ich die kleine Lampe auf seinem Nachttisch an und drehte mich gerade um, um das Zimmer zu verlassen, da schloss sich seine Hand um mein Handgelenk und brachte meine Bewegung für einen Augenblick zum Stillstand. Ich versuchte leise zu atmen und drehte den Kopf so weit, dass ich ihn ansehen konnte. »Alles okay?«
West nickte und zog die Nase hoch, als er seine Wange fester in das Kopfkissen presste. »Ich liebe dich.«

Dann ließ er mich wieder los, schob seine Hand erneut unter das Kissen und begann schon Sekunden später leise zu schnarchen. Ungeachtet dessen, dass er meine Welt nur Momente zuvor aus den Fugen gebracht hatte. 

Mein Herz begann zu rasen. und obwohl ich wusste, dass West mich höchstwahrscheinlich nicht mehr hören konnte, erwiderte ich sein Liebesgeständnis. Mit kratziger Stimme und gebrochenem Herzen. »Ich liebe dich auch, West.«

Obwohl ich wusste, dass ich ihn niemals so lieben könnte, wie er es verdient hatte, nie frei und unbekümmert seine Hand in der Öffentlichkeit halten oder ihn meiner Familie vorstellen würde. Und das hatte er nicht verdient. 

Also tat ich das einzig Richtige, obwohl es mir das Herz zerbrach: Ich beendete meine letzten Klausuren mit Bestnote, packte meine Sachen, suchte Streit, sagte Dinge, die ich wahrscheinlich mein Leben lang bereuen würde, und verschwand schließlich, als West einige Wochen später für ein paar Tage nach Hause fuhr, um seine Familie zu besuchen. Ließ die Erinnerungen an ihn und all das, was nie hätte sein können, zurück, während ich mich vollkommen darauf konzentrierte, etwas aus meinem Leben zu machen. Dort zu helfen, wo ich es tatsächlich konnte. 

Wenn ich doch den besten Menschen, den ich jemals kannte, verletzen musste, um ihn vor noch Schlimmerem zu schützen. Das Richtige zu tun, sollte sich nicht so verdammt beschissen anfühlen, aber manchmal ist das Leben eben wirklich ein verdammtes Arschloch.

KAPITEL 1

Westley

Um mich herum roch es nach Urin, Blut und nassen Hunden. Und während ich versuchte, den dunklen Husky im Käfig vor mir so weit zu beruhigen, dass ich keine Angst davor haben musste, dass sein kleines Herz versagte, dachte ich zurück an meinen besten Kuss. Nicht an meinen ersten oder letzten Kuss. Dem Besten. Mit Ezra. Dem Mann, der mir mein verdammtes Herz gebrochen hat. 

Schon in der Middle School wusste ich schnell, was mir gefiel. Nachdem ich sowohl Mädchen als auch Jungs geküsst hatte, kam ich zu dem Ergebnis, dass ich beide Geschlechter attraktiv fand. In meinen Augen waren Männer und Frauen gleichermaßen sexy. Solange ich die Person mochte, war es mir verdammt egal, was diese zwischen den Beinen hatte.
Doch der erste Kuss mit Ezra? Unbeschreiblich. Als hätte jemand ein Feuerwerk in meinem Körper gezündet. Sommergewitter, der Himmel über Amerika am vierten Juli – keiner der Vergleiche wäre diesem ersten Kuss zwischen uns gerecht geworden. Oder dem zweiten, dem dritten. Jedem, der danach kam. Und obwohl ich der erste Mann war, den Ezra jemals geküsst hatte, fühlte sich das zwischen uns verdammt richtig an. Nicht nur für mich. Auch für ihn. Da war ich mir sicher. Obwohl für ihn mit diesem ersten Kuss alles als Experiment angefangen hatte, konnte er schon bald nicht mehr genug bekommen. Von mir, unseren Küssen, den Blowjobs, sogar von den schläfrigen Gesprächen mitten in der Nacht.
Ich wusste, dass Ezra etwas für mich empfunden hatte. Umso verheerender war es für mein Herz gewesen, ihn sagen zu hören, dass er genau das nicht tat. Dass alles zwischen uns nur eine Phase war. Etwas, dem er mit der Zeit entwachsen war.

Sorry, Mann. Ich will dir wirklich nicht wehtun, aber das zwischen uns? Was auch immer das war? Ist doch nicht das Richtige für mich. Danke, dass du so cool warst und ich mit dir experimentieren konnte … aber ich steh doch nicht so sehr auf Schwänze, wie ich dachte.
Die Luft um mich herum war drückend und trotz der Unruhe, die im Gebäude herrschte, versuchte ich, dem kleinen Lebewesen vor mir die Zeit zu geben, die es brauchte. Dem Hund gut zureden und meine Nähe anbieten, mehr konnte ich ohnehin nicht tun. Jeder dieser Vierbeiner hatte es verdient, selbst zu entscheiden, wann der Zeitpunkt gekommen war, aus dem Käfig zu kommen. Nach all der Tortur, die sie für ein kleines bisschen Ruhm ertragen mussten, hatte niemand meines Teams das Recht dazu, die Hunde mit Gewalt aus ihren Zwingern zu zerren. Das würde nur noch mehr Schaden anrichten.
Ich streckte die Beine von mir, hob behutsam die Hand und legte sie gegen die dicken Gitterstäbe. Snow blieb zwar in seiner entgegengesetzten Ecke sitzen, streckte sich jedoch ein wenig nach vorn und begann vorsichtig zu schnüffeln. Ich stieß erleichtert die Luft aus. Fortschritt ist Fortschritt. Wie klein dieser auch sein mag.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich den großen Husky schließlich soweit beruhigt hatte, dass ich die Käfigtür öffnen und ihm das Halsband anlegen konnte. Um mich herum war es ruhiger geworden. Als ich mich umsah, bemerkte ich, dass meine Kolleginnen und Kollegen die meisten der Tiere bereits nach draußen gebracht hatten, um den ersten Transporter zu verladen.
Ich konnte nur hoffen, dass die Hunde ein besseres Zuhause finden würden. Nicht zu wissen, was aus den Tieren, die mein Team und ich gerettet hatten, geworden war, das war das Schlimmste an meinem Job. Nicht die Tatsache, dass ich mich mit menschengemachtem Elend oder der Ungerechtigkeit der Welt auseinandersetzen muss. Obwohl mich die schiere Grausamkeit der Menschen immer wieder aufs Neue trifft, ist es nicht das, was mir in meinem Beruf am schwersten fällt. Mich nachts wach hält und dazu bringt, noch härter zu arbeiten. Nein, das Schlimmste ist es nicht zu wissen, wie es weitergeht.
Sobald mein Team und ich den Einsatz beendet haben, ist die Arbeit für uns getan. Danach lag es an anderen fantastischen Menschen, die ihr Leben dem Guten verschrieben haben, um dafür zu kämpfen, dass es den Tieren besser geht. Ihre Aufgabe war es, denjenigen Lebewesen unter uns eine Stimme zu geben, die selbst keine hatten. Jedenfalls keine, die wir mit den eigenen Ohren hören könnten. 

Anfangs hatte ich noch versucht, über die von uns geretteten Tiere informiert zu bleiben, aber spätestens, nachdem ich zu oft realisieren musste, dass nicht jede Geschichte gut endet, musste ich damit aufhören. Ich war mir ziemlich sicher, dass es das Beste war, wenn ich nicht wusste, wie eine Geschichte weiter ging. Aber gleichzeitig hasste ich es auch.

 

 

Wir hatten gerade die letzte Hündin aus dem Gebäude geholt und sicher in einem der umgebauten Pferdetransporter verstaut, als ein dreckiger weißer Truck mit laut quietschenden Reifen vorfuhr und auf dem Schotter wenige Meter von uns entfernt zum Stehen kam.
Ich tauschte einen bedeutungsvollen Blick mit Ed, unserem mehr als zwei Meter großen Riesen mit Lederjacke und Motorradstiefeln. Dieser nickte einmal kurz, bevor er das Kreuz durchstreckte und mit großen Schritten zu unseren ungebetenen Gästen stapfte, die bereits laut zu randalieren begannen. Dann presste ich den Kiefer zusammen und befestigte gewissenhaft die letzten Schnallen, bevor ich mit wenigen Schritten die Fahrerkabine erreichte und auf die metallene Stufe stieg, um Stevie, unserem Allrad-Genie ins Gesicht sehen zu können.
»Hinten ist so weit alles startklar«, erklärte ich angespannt. »Aber wir haben wieder ungebetenen Besuch bekommen.«

Sie nickte und stieß ein lang gezogenes Seufzen aus. »War bei der Anzahl an Tieren auch zu erwarten. Ich wäre überrascht gewesen, wenn alles rund gelaufen wäre.«
Abermals nickte ich. »Unser Kontakt bei der Polizei ist bereits verständigt, aber bisher sieht es nicht so aus, als würde die eintreffen, bevor das zwischen Ed und den Arschlöchern eskaliert.« 

»Sieht nicht danach aus«, stimmte Stevie zu, die sich so weit zur Seite lehnte, dass sie bequem in den Seitenspiegel schauen konnte.
Ich drehte den Kopf. Noch schaffte Ed es, die beiden viel kleineren und weniger breit gebauten Männer in Schach zu halten, aber ich konnte und wollte ihn nicht viel länger mit den beiden Verbrechern allein lassen. Wir wussten nie, wie weit die Veranstalter solcher illegaler Hunderennen gehen würden, um ihre Tiere zurückzubekommen. Immerhin brachten riskante Wetten mit diesem leider immer noch viel zu verbreiteten Sport mitunter Gewinne in Millionenhöhe ein. Dass die Tiere jahrelang darunter litten und manchmal sogar während der Rennen tot umfielen, interessierte die wenigsten. Verdammte Vollidioten, allesamt.
»Soll ich ohne euch losfahren?«, fragte Stevie, als ich meine Aufmerksamkeit wieder auf sie richtete.
»Ja, sieh zu, dass du dich den anderen anschließt, die vorausgefahren sind. Wir sollten zusehen, dass wir so viel Strecke wie möglich zwischen die Hunde und die beiden bringen.« Ich hob den linken Arm und deutete vage in die entsprechende Richtung der beiden Männer. »Ich werde weder das Team noch die Tiere riskieren.«

Stevie presste die Lippen fest aufeinander und atmete einmal tief durch, bevor sie den Motor startete. Die Karosserie begann unter mir zu vibrieren und ich lächelte ihr ein letztes Mal aufmunternd zu, bevor ich mit der flachen Hand gegen das kalte Metall der Beifahrertür klopfte und schließlich von der Aufstiegshilfe stieg. Stevie sah ein letztes Mal aus dem Fenster zu mir und tippte sich gegen den imaginären Hut, bevor sie den richtigen Gang wählte und gemeinsam mit den geretteten Tieren davonfuhr.
Dann schloss ich für einen kurzen Moment die Augen und zählte innerlich von drei runter, bevor ich mit großen Schritten zu Ed eilte. Dieser hatte mittlerweile Müh und Not, die Männer ihm gegenüber zurückzuhalten. Und obwohl die beiden Kerle ihm ziemlich uncharmant jedes erdenkliche Schimpfwort an den Kopf warfen, blieb er ruhig. Der Mann war wirklich ein verdammter Heiliger. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so wirkte, konnte ich garantieren, dass Ed einer der besten Menschen war, die ich bisher kennenlernen durfte.
Als ich nur noch wenige Schritte entfernt war, setzte ich mein bestes Lächeln auf, mit dem ich es bisher geschafft hatte, noch jeden auf meine Seite zu bringen und spannte die Muskeln in meinem Oberkörper an, für die ich mindestens viermal die Woche ins Fitnessstudio ging. Für irgendetwas musste der ganze Schweiß immerhin gut sein.
»Meine Herren«, begann ich, als ich neben Ed trat und mich so ausrichtete, dass ich mich im unmittelbaren Blickfeld der beiden Männer befand, die aus der Nähe betrachtet dem Klischee des geldgeilen Arschloches, das über Leichen ging, um Profit zu machen, noch mehr entsprachen.
Zurück gegelte Haartolle, die die einsetzende Glatze kaschieren sollte? Check.
Weiße Hemden, die dem Helden in Highlander-Romanen ihren einzigartigen Charme verliehen, hier jedoch durch gelbe Schweißflecken das genaue Gegenteil erwirkten? Check.
Bluejeans, die im Schritt so eng anlagen, dass die Zeugungsfähigkeit sicherlich nicht mehr gegeben war? Doppel-Check.
»Wo liegt denn das Problem?«
Die beiden blinzelten mich für einen Augenblick vollkommen sprachlos an, dann lief der Kleinere der beiden knallrot an und begann wild mit den Armen herumzufuchteln. Ich trat vorsichtshalber einen Schritt zurück.

»Das Problem? Das verdammte Problem ist, dass ihr Penner eingebrochen seid und unser Eigentum entwendet habt.«
Sein Partner nickte zustimmend und verschränkte die Arme vor der Brust. Wahrscheinlich in der Hoffnung, uns damit Angst einzujagen oder so. Da sowohl Ed als auch ich jedoch bereits mit solch einem Verhalten vertraut waren, wussten wir längst damit umzugehen. Immerhin waren wir im Recht und sobald die Polizei eintreffen würde, würden auch Dumm und Dümmer das einsehen müssen.
Ich schüttelte den Kopf. »Diese 35 Hunde, die wir aus diesen absolut unmenschlichen Verhältnissen gerettet haben, sind das Eigentum von niemandem und ganz bestimmt nicht von Ihnen.« Aus dem Augenwinkel erkannte ich, wie Ed zustimmend nickte und sich abermals breiter hinstellte.
»Was zur Hölle soll das heißen?«, fragte der Sprecher der beiden angespannt.
Ich zuckte mit den Schultern. »Das war eigentlich ziemlich selbsterklärend, wie ich finde: Tiere in solchen Verhältnissen zu halten, ohne einen konsequenten Zugang zu Futter, Wasser oder Auslauf zu ermöglichen, ist inakzeptabel. Das wird in Ihrem Fall mit einer Strafanzeige geartete, die meiner Erfahrung nach mindestens eine hohe Geldstrafe und maximal eine Inhaftierung mit sich bringt.« 

Der höhnische Ausdruck, der daraufhin auf das Gesicht der beiden Männer trat, testete meine Selbstbeherrschung. Am liebsten hätte ich meine Faust zielgenau in die Gesichter der Männer versenkt. Aber das ging nicht. Natürlich nicht. Ich wollte eine Deeskalation, keine Eskalation.
Statt also etwas zu tun, das ich zweifellos unmittelbar bereuen würde, sobald die Polizei hier auftaucht, ballte ich die Hände zu Fäusten und erinnerte mich selbst an die zahlreichen Hunde, die wir gerettet hatten. Und an die Tatsache, dass die Anwälte unseres Vereins alles dafür tun würden, damit die Verantwortlichen ihre gerechte Strafe bekommen. Wie auch immer die in unserem korrupten Rechtssystem aussehen mag.
»Ihr beiden Kinder glaubt doch nicht wirklich, dass ihr oder eure verdammte Organisation etwas gegen uns ausrichten könnt, oder? Wir haben Anwälte. Gute Anwälte. Es wird also weder zu einer Geldstrafe noch einer Inhaftierung kommen. Das kann ich euch versprechen.« Seine Worte sollten einschüchtern. Und das hätten sie wahrscheinlich auch, wäre es das erste Mal gewesen, dass jemand mich oder mein Team für das, was wir taten, bedrohte. Aber das war es nicht. Nicht einmal annähernd. Weder diese Woche noch während der letzten fünf Jahre.
Mr. Big-Shot-Arschloch schien unser Schweigen falsch zu deuten, denn als er ein weiteres Mal zum Sprechen ansetzte, entschied er sich für eine andere Art der Erpressung. »Ich kann sehen, dass ihr zwei anständige Männer seid. Groß, stark und bestimmt mehr als beliebt bei den Frauen.« Er sah zwischen Ed und mir hin und her und begann vielsagend mit den Augenbrauen zu wackeln. »Und dabei möchten wir euch natürlich nicht in die Parade fahren, also …« Er legte eine Kunstpause ein, die so lange war, dass ich beinahe sehen konnte, wie die beiden Männer vor meinen Augen zu altern begannen.
Ed grunzte und ich zog eine Augenbraue in die Höhe. »Also?«
Diese Gespräche liefen in der Regel immer gleich ab: Sobald die Verantwortlichen festgestellt hatten, dass sie weder mit physischer noch mit psychischer Drohung weit bei uns kamen, versuchte sie entweder uns auf irgendeine Art und Weise zu bestechen oder das Weite zu suchen, bevor die Polizei auftauchen konnte. Egal, wie es auch zu Beginn aussehen mochte: Jedes dieser Gespräche endete entweder mit Bestechung oder Flucht.
»Also, was sagt ihr Jungs dazu, wenn wir jedem von euch, sagen wir … 10.000 Dollar geben, damit ihr Stillschweigen über unsere Geschäfte bewahrt?« Er lachte und offenbarte eine Reihe falscher Zähne. »Wäre das nicht was?«
Ich schnaubte und verschränkte kopfschüttelnd die Arme vor der Brust. »Nicht wirklich, nein.«

Sein Blick glitt neben mich. »Und was sagt du, Großer? 10.000 Mäuse haben oder nicht haben?«
Ed gab dem viel kleineren Mann nicht einmal die Genugtuung, dass er ihm ins Gesicht sah. Stattdessen schüttelte er bloß angewidert den Kopf, drehte sich zu mir und hob vielsagend sein Handy in die Höhe, auf dem der vertraute Name unseres Polizeikontaktes aufleuchtete. Ich nickte einmal und beobachtete für eine Sekunde, wie er sich einige Schritte von uns entfernte, bevor er das Gespräch annahm. 

Dann richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die beiden Männer mir gegenüber. »Ziemlich sicher, dass wir beide kein Interesse an dreckigem Schweigegeld haben. Aber trotzdem danke für das Angebot. Der Richter wird sich bestimmt freuen zu hören, wie ihr beide versucht habt, uns zu bestechen.«
»Jetzt hör mal zu, du verdammter Vollidiot!« Obwohl es der Kleine der beiden war, der mit gefährlich leiser Stimme zu mir sprach, war es sein stiller Partner, der plötzlich einen Satz nach vorn machte und mich am Kragen meines Shirts packte. Wir waren etwa gleich groß, sodass ich ihm direkt ins Gesicht sehen konnte. Ungeachtet dessen, dass er sich bisher verbal zurückgehalten hatte, erkannte ich an dem Blitzen in seinen Augen, dass meine Sticheleien auch ihn nicht kaltgelassen hatten.

»Du magst dich für irgendwas Besonderes halten mit deinem Aussehen und dem charmanten Lächeln, aber …«
Die roten und blauen Lichter, die keine Sekunde später die Dunkelheit um uns erhellten, brachten ihn zum Verstummen. Und als schwere Schritte auf dem Kies die Stille um uns herum durchbrachen, ließ er auch endlich von mir ab. 

Ich atmete einmal tief durch und zog den Stoff meines Shirts zurecht. Dann, gerade, als ich aus dem Augenwinkel sah, wie Zuri sich uns näherte, richtete ich mich ein letztes Mal an das gesprächige Arschloch vor mir: »Tut mir leid, dass ich mir den Rest deines Liebesgeständnisses nicht mehr anhören konnte, aber aus uns wäre ohnehin nie etwas geworden.« Ich hob einen Mundwinkel in die Höhe. »Ich steh ohnehin mehr auf Menschen, die sich auch für etwas anderes interessieren als sie selbst. Mehr Gutmensch und weniger Narzisst.« 

Seine Nasenlöcher bebten unter seiner unterdrückten Wut und weil ich ganz offenbar nicht wusste, wann es Zeit war aufzuhören, schob ich noch hinterher: »Du siehst also, es liegt an mir und nicht an dir.«
Dann machte ich einen großen Schritt zurück und ließ Zuri ihre Arbeit machen. Die Polizistin belehrte die beiden Männer, die nicht einmal mehr versuchten zu fliehen, über ihre Rechte, bevor sie ihre Handschellen zückte und die beiden Verbrecher auf die Rückbank des Polizeiautos verfrachtete. 

»Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du am besten die Klappe halten solltest, West?«, fragte sie mich anschließend und musterte mich mit vorwurfsvollem Blick. 

Ich verzog das Gesicht und drehte meine Cap so, dass der Schirm nach hinten zeigte. »Ich weiß, ich weiß. Ich kann nie wissen, wann die Situation doch eskalieren könnte.«
Zuri nickte und ich seufzte. »Aber jedes Mal, wenn ich höre, wie solche Vollidioten wie die beiden«, ich hob den Arm und deutete zur Rückbank des Autos, von der uns zwei zusammengekniffene Augenpaare angespannt beobachteten, »denken, dass Tierquälerei mit irgendeiner verdammten Summe Geld aus der Welt geschafft werden kann, dann … verliere ich einfach die Kontrolle.« Ich fuhr mir mit der flachen Hand über das Gesicht. »Nächstes Mal versuche ich mich zurückzuhalten.«
Zuri betrachtete mich einen Augenblick vollkommen regungslos, bevor sie die Schultern sinken ließ und den Kopf schüttelte, sodass ihre kurzen schwarzen Haare über die hohen Wangenknochen glitten. »Ich versteh’ dich, West. Wirklich. Aber irgendwann wird einer dieser Vollidioten die Kontrolle verlieren und ich möchte wirklich nicht, dass du oder jemand aus deinem Team verletzt wird.« Sie betrachtete mich mit einem letzten vielsagenden Blick, bevor sie kehrtmachte und zu Ed und ihrem Partner Patrick lief, die wahrscheinlich gerade den genauen Tathergang durchsprachen. 

Ich verzog das Gesicht, senkte den Blick und kickte halbherzig einen der größeren Steine von mir. Er hüpfte ein paar Mal, bevor er unweit von mir wieder zum Liegen kam. »Das hätte besser laufen können.«

KAPITEL 2

Ezra

Es fühlt sich verdammt beschissen an, zu sehen, wie der eigene Traum in Flammen aufgeht. Auch wenn es nur ein metaphorisches Feuer war, das lediglich ich sehen konnte. Ich dachte, es wäre eine sichere Sache gewesen, eine Tierklinik in einer Kleinstadt zu eröffnen. Immerhin brauchten die Leute dort immer jemanden, der ihre Tiere behandelte. Und nachdem der letzte Tierarzt sich in eine Großstadt abgesetzt hatte, erschien mir Arcadia Bay als passende Gelegenheit, um mir meinen Traum der eigenen Praxis zu erfüllen. Dass mich diese Entscheidung jedoch an den Rand der Insolvenz treiben würde, hätte ich mir nicht im Traum vorstellen können. Mein Verlust war so hoch, da halfen auch keine positiven Gedanken mehr. 

Ich hatte mich längst damit abgefunden, dass Fertignudeln und Tütensuppen – die Kombination, aus der ich mich die letzten paar Wochen ernährt hatte – alles ist, was ich in nächster Zeit essen werde. Es sei denn, ich plane, über die kommenden Wintermonate die Heizung auszuschalten, um Geld einzusparen. Da ich allerdings ziemlich an meinen Gliedmaßen hing, kam es wohl auf die Pulvernahrung zurück. Auch wenn diese in etwa so viel wichtige Nährstoffe enthielt wie der erste Schnee, der sich seit Beginn der Woche über die eisige Landschaft von Arcadia Bay gelegt hatte. 

Ich ließ mich seufzend auf den Stuhl hinter meinem Schreibtisch fallen und vergrub die Finger in meinen kurzen Haaren, während mich die vielen roten Zahlen vom Bildschirm meines Computers aus höhnisch anfunkelten. Wenn sich in den nächsten Tagen nicht etwas grundlegend ändern sollte, musste ich ernsthaft über meine Zukunftspläne nachdenken. 

Sollte ich bleiben und hoffen, dass meine Investition sich letztendlich doch lohnen würden? Oder sollte ich mein letztes Geld zusammenkratzen und nach Hause zurückkehren, solange ich mir noch die Umzugshelfer leisten konnte? 

Bei der Unvorhersehbarkeit meiner Selbstständigkeit, der Unberechenbarkeit der Landschaft Alaskas und den Differenzen, die zwischen mir und den Einwohnern von Arcadia Bay herrschten, konnte ich nicht einmal sagen, wie lange mein Geld noch reichen würde. Vier Wochen? Oder fünf? Sechs oder sieben, wenn ich nur noch kalt duschen und das elektrische Licht durch Kerzen ersetzen würde? 

Gott, manchmal war es verdammt schwer, erwachsen zu sein und eigene Entscheidungen treffen zu müssen. Aber ich konnte nicht alles aufgeben und nach Hause zurückkehren. Noch nicht. Immerhin hielt mich dort genauso wenig wie hier. Alles, was mich in Kalifornien erwartete, waren Erinnerungen an bessere Zeiten und die stechenden Fragen nach Dingen, die einst hätten sein können. 

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als die Glocke über der Eingangstür zu meiner Praxis zu klingeln begann und Heather, meine Sprechstundenhilfe seit der ersten Stunde, über die Schwelle trat. Dick eingemummelt in ihrer grellgelben Jacke und ebenso knalligen Stiefeln bildete sie einen starken Kontrast zu dem sterilen Weiß der Wände um uns herum. 

»Gott, ich hab mein Leben lang in Alaska gelebt und trotzdem denke ich jeden Winter aufs Neue: Das war’s. Jetzt ist es endgültig vorbei mit mir.« Sie trat sich den Schnee von den Füßen und lächelte in meine Richtung, während sie begann, sich den grob gestrickten Schal vom Hals zu wickeln. Als sie es endlich geschafft hatte, sich aus ihrem selbst gemachten Gefängnis zu befreien, standen ihre tiefroten Locken zu Berge. 

»Ich kann nur hoffen, dass ich eine coole Statue abgebe, wenn ich an der Stelle festfriere. Das ist alles, was ich mir von dieser Situation wünschen könnte. Immerhin soll meine Familie etwas Schönes haben, womit sie mir gedenken können.«
Ich schnaubte belustigt. »Ob du erfrierst, hängt weniger mit den Minusgraden draußen, sondern vielmehr mit der eigenen Körpertemperatur zusammen.« Ich schmunzelte. »Und so dick, wie du eingepackt bist, glaube ich nicht, dass du da Gefahr läufst, dich plötzlich in eine Eisstatue zu verwandeln.« 

Heather verdrehte die Augen und hängte ihre Jacke an die Garderobe, bevor sie hinter den Tresen lief und ihren Computer einschaltete. »Irgendwie schade. Es wäre schon cool gewesen, etwas so … Spezielles zurückzulassen, meinst du nicht?«
»Ich bin mir sicher, dass deine Familie es vorzieht, dich lebendig bei sich zu haben.«
»Ach, Jacke wie Hose. Ich jedenfalls hätte es cool gefunden. Nicht, dass ich langfristig etwas davon hätte … aber Heather auf Eis hat schon irgendwie was.«
»Klingt nach irgendeiner merkwürdigen Spezialität, die du im Restaurant bestellen kannst«, überlegte ich und lehnte mich in meinem Stuhl zurück. »Und letztendlich erhältst du dann irgendetwas Unförmiges, das nach Schaum und Wolken schmecken soll. Wie auch immer das schmecken soll.«
Heather kicherte. »Ich liebe es, dass dich selbst meine merkwürdigsten Aussagen kalt lassen. Das war nicht bei vielen Leuten so, die ich getroffen habe. Nicht einmal die Menschen hier verstehen mich und meinen Humor.« 

Ich konnte nur den Kopf schütteln, während ich Heather dabei zusah, wie sie ihren Arbeitsplatz so anrichtete, wie sie es am liebsten hatte. Den Stiftebecher links vom Computer, die Maus genau zehn Zentimeter von der Tastatur entfernt und zwei große Wasserflaschen, die im exakten neunzig Grad Winkel zueinanderstanden. Heather einzustellen, war eine spontane Entscheidung gewesen. Irgendwie übereifrig meinerseits. Doch obwohl wir erst seit ungefähr vier Monaten zusammen arbeiteten, würde ich alles tun, um sie weiter beschäftigen zu können. Da spielte es auch keine Rolle, dass ich sie erst seit meiner Ankunft in Alaska vor sechs Monaten kannte.

»Es mag zwar unglaublich arrogant klingen, aber ich hab das Gefühl, dass du und ich hier die einzigen Menschen sind, die wissen, was wirklich witzig ist.«
Ich stieß ein Lachen aus und streckte die Beine von mir. »Jedenfalls bist du die Einzige, die mich hier auch nur ansatzweise zu mögen scheint. Irgendeinen Grund muss das ja haben und unser Humor erscheint mir dabei genauso gut wie alles andere.«
Heather ließ sich auf ihren Stuhl plumpsen und rutschte so nahe an den Schreibtisch, dass ich Angst hatte, sie würde mit dem Material verschmelzen. So lange, bis nur noch ihr Kopf aus dem Holz herausragte. »Du sagst es, mein Freund. Du sagst es.«
Dann klickte sie ein paar Mal mit der Maus und schlug mehrfach auf die Tasten ein, bevor sie sie sich schließlich mit den Ellenbogen auf der Tischplatte abstützte und die heutigen Einträge im Kalender zu studieren begann. 

Ich kannte jedes Wort auswendig. Es gab immerhin nur drei Termine. 

Mrs. Foster, die jede Woche mit ihrer vierzehnjährigen Katze Tabby herkam, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war, um anschließend eine Tasse Tee mit mir zu trinken und Geschichten von ihrem verstorbenen Mann zu erzählen, an den ich sie erinnerte. 

Ellen, die ihre Mutter endlich dazu hatte überreden können, einen Hamster zu kaufen und nun panische Angst davor hatte, etwas falsch zu machen. 

Und der alte Hank, der mich in seinem gesamten Auftreten so sehr an Carl Fredricksen aus Disney Pixars Oben erinnerte, dass es beinahe beängstigend war. Die Tatsache, dass er statt eines hellen Labradors einen selbst für die Rasse recht klein geratenen Dackel namens Nemo hatte, beruhigte mich nur geringfügig. Cooler Typ, aber jedes Mal, wenn er hier auftauchte, rechnete ich damit, dass sein Hund zu sprechen anfängt oder meine gesamte Praxis von Hunderten bunten Ballons in die Luft gehoben wird. 

Nichts, worüber ich nachgedacht hätte, bevor ich Heather kennengelernt hatte. Nach den vier Monaten, die wir mittlerweile zusammen arbeiteten, konnte ich jedoch an nichts anderes mehr denken. Immerhin konnte ich mich so wenigstens zeitweise von den Dingen ablenken, über die ich keinesfalls nachdenken wollte. Wie ihn.

 

 

Als ich durch die Tür ins Innere trat, war die Bar praktisch menschenleer. Gut, so musste ich wenigstens nicht durchgehend versuchen, die wertenden Blicke der Einwohner zu ignorieren. Jedes Mal aufs Neue stellte ich fest, dass alteingesessene Kleinstadtmenschen das unglaubliche Talent besaßen, Hinzugezogene gerade so sehr zu beachten, dass es unangenehm wurde. 

Jacob, einer der beiden Barkeeper, der mich verglichen mit den anderen Stammgästen der Bar relativ freundlich, wenn nicht vollkommen neutral behandelte, sah von den Zapfhähnen auf und schickte ein freundliches Lächeln in meine Richtung. 

Ich hob die Hand zum Gruß und umrundete einige der Tische, um zur Theke zu gelangen. 

»Hey, Mann. Was kann ich dir bringen?« Er schob einem älteren Herren über die Theke das frisch gezapfte Bier entgegen und drehte sich zu mir.
»Cider. Am liebsten den vom letzten Mal. Aber wenn ihr den nicht mehr habt, dann bin ich auch nicht wählerisch. Danke.« 

Jacob nickte, holte eine Flasche unter der Theke hervor und schob mir anschließend die geöffnete Flasche Cider entgegen. Ich hob kurz die Mundwinkel an, ehe ich ihm das Geld für das Bier und etwas Trinkgeld überreichte und zielsicher einen leeren Tisch ganz in der hinteren Ecke ansteuerte. 

In der halben Stunde, die ich brauchte, um mein Bier zu trinken, füllte sich die Bar merklich. Und als ich mich anschließend durch die anderen Gäste herumwinden musste, um zur Tür zu gelangen, war ich froh, als ich endlich die Türklinke in der Hand hatte. Dort nickte ich den Jungs und Mädels hinter der Bar ein letztes Mal zu, bevor ich die Tür aufstieß und in die eisige Kälte hinaustrat. 

Meine Jacke bildete eine ziemlich schlechte Barriere gegen die Kälte, da hatte auch die Wärme des Alkohols in meinen Adern nichts mehr ausrichten können. Wieso verdammt noch mal dachte ich, dass es eine gute Idee war, nach Alaska zu ziehen? Noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich so viel verdammten Schnee gesehen. Aber es war mir auch noch nie so leicht gefallen, einfach zu atmen. Die Distanz, die ich nach Jahren der harten Arbeit und des Zähne Zusammenbeißens endlich zwischen mich und San Francisco bringen konnte, hatte mir gutgetan. Und obwohl ich wusste, dass ich letztendlich nur vor den Dingen davonlief, die mir eine Scheißangst einjagten, fühlte ich mich freier. Leichter. Irgendwie mehr ich selbst. Also beschloss ich zu kämpfen. Für die Akzeptanz der Einwohner von Arcadia Bay, die Tiere, meine Praxis und nicht zuletzt meine Zukunft. 

Die eisige Nachtluft brannte in meinen Lungen, während ich die verlassenen Bürgersteige entlang lief. Vereinzelte Lichter erhellten die Fenster der Häuser rechts und links von mir, und während ich dem Summen der solarbetriebenen Straßenlaternen über meinem Kopf lauschte, stopfte ich die Hände tiefer in meine Jackentaschen. 

Ein Poster einer Start-up-Datingseite flatterte im Wind und erregte meine Aufmerksamkeit. Obwohl ich vor allem in der Lokalzeitung viel Gutes über das neue Tinder gehört hatte, schien der Slogan mich beinahe zu verhöhnen. Heute ist der erste Tag deines neuen Lebens. Ich schnaubte. Mittlerweile fühlte es sich eher so an, als würde mir das Leben jeden Tag einen Fausthieb direkt in die Magengrube geben. Aber ich war stark, hatte gelernt, meine Gefühle zu lenken. Also würde ich auch damit klarkommen. Das musste ich einfach. 

Ich konnte nicht zurück nach San Francisco; nicht, wenn ich dort mit jedem Schritt aus der Haustür an Dinge erinnert werden würde, die ich nicht vergessen konnte, so sehr ich es auch versucht hatte. Alles erinnerte mich an ihn. Der Klang seines Lachens, das Gefühl von seiner Haut auf meiner, das Leuchten in seinen Augen, nachdem wir – Fuck!
Um mich selbst davon abzuhalten, an längst vergangene Zeiten zurückzudenken, ballte ich die Hände zu Fäusten und beschleunigte meine Schritte.

Als ich endlich die steinerne Treppe zu meiner Wohnung hinaufstieg, die praktischerweise direkt über der Praxis lag, dröhnte mir der Kopf und meine Haut fühlte sich klamm an. 

Die Tür fiel hinter mir ins Schloss. Noch bevor ich mir überlegen konnte, wie ich heute die Stille um mich herum vertreiben sollte, klingelte mein Handy. Gerade dabei, mir die Schuhe von den Füßen zu kicken, hielt ich inne, atmete einmal tief durch und nahm stattdessen den Anruf entgegen. »Ezra Foster, Arcadia Bay Distrikttierarzt.«
»Hi, ich bin’s … West, Westley … Scott.« 
Ich erstarrte. West? Hasste mein Körper mich mittlerweile so sehr, dass er mich halluzinieren ließ? Mit einem Schlag verließ jeglicher Sauerstoff meine Lungen. Das passiert nicht wirklich. Augenblicklich begannen Erinnerungen an ihn sich hinter meinem inneren Auge abzuspielen. Szenisch mit dem lauten Pochen meines Herzens und dem stetigen Rauschen des Blutes in meinen Adern untermalt wie in einer beschissenen Liebeskomödie. Wests graublaue Augen, die irgendwie immer geleuchtet haben, wenn ich ihn angesehen habe. Das kurze rotbräunliche Haar, das kantige Gesicht, in dem selbst zu den unmöglichsten Uhrzeiten immer ein fröhliches Lächeln zu sehen gewesen war und das Grübchen auf seiner linken Wange, das mich jedes Mal beinahe wahnsinnig gemacht hatte, wenn er auf den Knien vor mir war und …
Nein. Wie kann es sein, dass mein Körper nach Jahren der Funkstille noch immer so auf ihn reagiert? 

»Ez? Bist du noch dran?« Seine Stimme klang nach all den Jahren noch immer gleich. Tief, rau und so verdammt wie zu Hause. 

Mein Nacken begann zu kribbeln und während ich versuchte, die Ruhe zu bewahren, pochte mein Herz wieder und wieder gegen meinen Brustkorb. Ich konnte nicht atmen. Geschweige denn reden. Also nickte ich. Wie ein verdammter Vollidiot. Ich tastete haltsuchend neben mich um meine Finger um das Erstbeste zu schließen, das ich blind ertasten konnte. Die Streben des Heizkörpers an der Wand. Die Hitze versengte meine eiskalten Finger, aber mehr als ein dumpfes Pochen nahm ich davon nicht wahr. 

»Ich weiß. Ich bin wahrscheinlich der Letzte, von dem du jemals wieder etwas hören willst, aber ich brauche deine Hilfe.« Er schluckte. »Deine professionelle Hilfe.«
Ich räusperte mich. »Wobei?«
»Es geht um ein ziemlich großes Rudel Huskys, das mein Team und ich von der Rennbahn gerettet haben. Die Tiere, die auffällig körperlich gelitten haben, konnten wir bereits in einigen Praxen unterbringen, aber …«, er stockte und als er weitersprach, klang seine Stimme heiser. »Die, die psychisch misshandelt wurden und sich jetzt teilweise ängstlich oder aggressiv zeigen … bei deren Erstvermittlung gibt es Probleme.«
Ich blinzelte und fuhr mir mit der Hand über das Gesicht. »Lass mich raten. Genau um diese Tiere soll ich mich kümmern?«
West seufzte. »Ich weiß, dass das alles andere als ideal ist und wenn es im ganzen Land auch nur einen anderen Tierarzt gäbe, dem ich das zutrauen würde, hätte ich dich in Ruhe gelassen. Aber, Ez, diese Hunde haben Grausames durchgemacht und du bist der Beste im Umgang mit traumatisierten Tieren.« 

Ich konnte nur den Kopf schütteln, während ich versuchte, zu verstehen, was da gerade geschah. 

»Ich hätte dich wirklich nicht angerufen, wenn es eine andere Möglichkeit geben würde«, fügte Wes leise hinzu.
Fuck, fuck, fuck, fuck. Ich schloss die Augen und ließ den Kopf gegen die Tür sinken. »Wie viele Hunde sind es?«
»Sieben. Drei Rüden und vier Weibchen.«
Und einfach so zerbrach meine perfekt konzipierte Scheinwelt.