Leseprobe Mord in Greenwood Hall

Kapitel 1

London 1837

Caroline erstarrte, als ihre Tante Lady Eleanor Greenwood den mit Dekorationen überfrachteten Salon von Nummer acht Half Moon Street abschätzig beäugte. Es war deutlich nach der üblichen Zeit für einen Besuch, aber ihre Tante scherte sich nicht um derartige Höflichkeiten, wenn sie es mit jemandem zu tun hatte, der in ihren Augen gesellschaftlich niedrigerer rangierte als sie selbst.

„Wirklich Caroline? Ein gemietetes Haus? Verfügt deine Arbeitgeberin nicht über ausreichend Mittel, um sich etwas Anständiges leisten zu können?“

„Ich bin mir recht sicher, dass sie genug besitzt, Ma’am“, erwiderte Caroline. „Sie hat sich nur noch nicht entschieden, ob sie über die laufende Saison hinaus in London bleiben möchte.“

„Und wenn sie beschließt, in den Norden zurückzukehren, hat sie dann vor, dich mit dorthin zu schleifen? Ich muss annehmen, dass sie verwitwet ist, denn kein Ehemann würde es erlauben, so viel Geld für Frivolitäten auszugeben.“ Tante Eleanor erschauderte, sodass die langen Federn an ihrer Haube zitterten. Sie hatte scharfe Gesichtszüge, eine spitze Nase und einen dauerhaft zusammengekniffenen Mund, welcher derzeit deutlich ihr Missfallen zum Ausdruck brachte. „Woher hat sie denn ihr Geld?“

„Das geht Sie wohl kaum etwas an, Ma’am.“ Caroline reckte trotzig ihr Kinn vor. „Mrs Frogerton ist sehr gütig zu mir und …“

„Aber für all das hier besteht doch überhaupt keine Notwendigkeit, liebe Nichte“, warf ihre Tante erneut ein. „Indem du ein Gehalt annimmst, erniedrigst du dich nur. Du weißt, dass ich dich jederzeit mit offenen Armen zurück in Greenwood Hall empfangen würde.“

Caroline machte einen Knicks. „Sie waren über die Jahre sehr großzügig zu meiner Schwester und mir, liebe Tante, aber ich befürchte, dass ich mich nicht länger auf Ihrer Großzügigkeit ausruhen kann.“

„Und doch macht es dir nichts aus, dass ich deine Schwester bei mir beherberge.“

„Ich werde Sie dieser Aufgabe entbinden, sobald ich dazu in der Lage bin.“ Caroline hielt dem abschätzigen Blick ihrer Tante stand.

„Mithilfe deines jetzigen Gehalts? Das bezweifle ich.“ Tante Eleanor seufzte. „Ich nehme an, du erwartest, irgendwann zu heiraten, und dass dein Ehemann bereit sein wird, deine Schwester bei sich aufzunehmen.“ Sie schien kurz nachzudenken. „Aber welcher Gentleman würde dich schon ehelichen? Schließlich hat der bedauernswerte Tod eures Vaters sowohl dich als auch deine Schwester nicht nur obdach- sondern auch mittellos zurückgelassen.“

„Ich habe in letzter Zeit nicht an eine Heirat gedacht, Ma’am“, versuchte Caroline ihrer Tante eilig zu versichern. „Ich will lediglich …“

„Nun, ich bin dennoch entschlossen, dich umzustimmen, liebe Nichte.“

Tante Eleanor spazierte daraufhin durch das Zimmer und blieb immer wieder kurz stehen, um beim Anblick jedes der bunten ägyptischen Dekorationsstücke, die derzeit in Mode waren, den Kopf zu schütteln. Mrs Frogerton hatte die Objekte als Einrichtung für das Haus selbst ausgesucht. Der Stil entsprach auch nicht Carolines Geschmack, aber es hatte ihr Freude bereitet, Mrs Frogerton dabei zu beobachten, wie sie beim Durchblättern der Zeichnungen in Ackermann’s Repository wiederholt entzückt geseufzt hatte.

Schließlich blieb Tante Eleanor vor dem in der Wand eingelassenen marmornen Kamin stehen und wandte sich zu Caroline um.

„Ich richte nächste Woche eine Feier zum siebzehnten Geburtstag deiner Cousine Mabel aus. Ich erwarte, dass du erscheinst.“

„Wo soll die Feier denn stattfinden?“, fragte Caroline. „Ich bin mir sicher, dass ich einen Abend freinehmen könnte, wenn es hier in London ist.“

„Nein, Mabel besteht darauf, dass alle in Greenwood Hall zu einer Feier im Haus zusammenkommen.“

Caroline bereitete sich innerlich auf den Zorn ihrer Tante vor. „Ich fürchte, dass ich in diesem Fall nicht kommen kann.“

„Sei nicht albern, meine Liebe. Ich bin mir sicher, dass es Mrs Frogerton nichts ausmachen wird.“

„Aber mir würde es etwas ausmachen“, sagte Caroline. „Ich bin angestellt worden, um ihr beizustehen und ihre Tochter Dorothy auf dem Weg zu ihrem gesellschaftlichen Debüt zu begleiten. Ich kann diese Aufgabe nicht genau zum Auftakt der Saison vernachlässigen.“

Das Lächeln auf Tante Eleanors Gesicht verblasste. „Wie ich sehe, bist du ganz und gar nicht entgegenkommend.“ Sie ließ den behandschuhten Finger über den Kaminsims gleiten wie eine Hausherrin, welche die Arbeit ihrer Putzfrau überprüfte. „Willst du deine Schwester etwa nicht sehen?“

Lag in Eleanors Worten eine versteckte Drohung? Es hätte Caroline nicht überrascht. Ihre Tante war ihrem kürzlich verstorbenen Vater ähnlicher, als den meisten bewusst war, und hasste es, ihren Willen nicht zu bekommen.

„Ich würde Susan wirklich gerne sehen, aber …“

Erneut fiel ihr ihre Tante ins Wort. „Was, wenn ich deine Arbeitgeberin ebenfalls einlüde, um dich zu begleiten?“

„Nach … Greenwood Hall?“

„Ja. Ich nehme an, ihre Tochter ist in etwa so alt wie Mabel. Wäre es da nicht in ihrem besten Interesse, wenn sie ein paar Bekanntschaften mit jungen Damen machen könnte, die ebenfalls vor ihrem gesellschaftlichen Debüt stehen?“

„Ich vermute schon.“ Caroline dachte angestrengt nach. „Aber ich werde mit Mrs Frogerton besprechen müssen, ob sie mitzukommen wünscht.“

Tante Eleanor winkte ab. „Sicherlich wird sie sich ob einer solchen Einladung geehrt fühlen. Ich meine, wer aus dem Ton könnte ihr sonst ein solches Debüt bescheren?“ Sie zupfte ihre Handschuhe zurecht und wandte sich zur Tür. „Ich reise morgen zur Mittagszeit Richtung Greenwood Hall ab. Lass mich bitte bis dahin wissen, wie du dich entschieden hast.“

„Hast du noch die genauen Einzelheiten zur Feier?“, fragte Caroline.

Ihre Tante öffnete ihr Retikül und zog eine cremefarbene Karte mit silberner Gravur hervor. „Hier steht alles Weitere. Hast du eine Feder?“

„Ja, natürlich.“ Caroline eilte hinüber zum Schreibtisch unter dem Fenster und suchte ihrer Tante eine angemessene Feder und ein Tintenfass aus. Sie wartete, bis das Kratzen der Feder verstummte und ihre Tante das Papier gelöscht hatte.

„Bitte sehr.“ Tante Eleanor streckte ihr die Karte entgegen.

„Vielen Dank.“ Abgelenkt warf Caroline warf einen Blick in Richtung Tür. „Bist du sicher, dass du nicht warten willst, während ich nachsehe, ob Mrs Frogerton wach ist, um dir direkt eine Antwort zu geben?“

„Dafür habe ich keine Zeit, liebe Nichte. Dein Onkel und ich werden bei Lord Antwerp zum Abendessen erwartet und ich muss mich noch umziehen.“ Eleanor eilte zur Tür. „Ich erwarte, bis morgen Mittag von dir zu hören.“

Caroline starrte noch eine Weile auf die nun geschlossene Tür. In ihren Fingern hielt sie das Büttenpapier der Einladung. Der Gedanke, ihre Schwester nach drei Monaten endlich wiederzusehen, war sehr verlockend. Allerdings zweifelte sie noch immer an den Motiven ihrer Tante. Wollte Eleanor während des Besuchs einen Keil zwischen sie und Mrs Frogerton treiben und diese davon überzeugen, Caroline zurückzulassen und allein nach London zurückzukehren? Es war nur allzu wahrscheinlich, dass ihre Tante keine Skrupel haben würde, eine Person von niedrigerem sozialen Rang zu demütigen. Sie war für ihre exorbitant hohen Ansprüche bekannt.

„Wer kam denn zu so später Stunde noch zu Besuch?“

Caroline sah auf und erblickte ihre Arbeitgeberin, die umringt von kläffenden Hunden ins Zimmer trat. Mrs Frogerton trug ein bunt bedrucktes Musselinkleid und eine verzierte Spitzenhaube. Ihr wunderschönes Fransenhalstuch aus Seide fiel bis auf den Teppich und wurde energisch von einem der Hunde attackiert. „Soll ich frischen Tee bringen lassen, Ma’am?“, fragte Caroline, während sie zu ihr hinübereilte, um das Halstuch zu retten. Dann begleitete sie ihre Arbeitgeberin zu deren Lieblingsplatz am Feuer.

„Ja, bitte. Und dann setzen Sie sich doch zu mir und erzählen mir von unserer Besucherin.“

Mrs Frogerton hatte einen starken nordenglischen Akzent und besaß, anders als ihre geringe Körpergröße und rundliche Statur vermuten ließen, die Lungen eines Kavallerieoffiziers. Durch diese Kombination konnte sie recht einschüchternd wirken. Doch unter ihrer lauten Art hatte Caroline eine herzliche Person mit einem ausgeprägten Sinn für Humor und einem scharfen Geist kennengelernt. Sie behandelte Caroline stets wie einen ihr gleichgestellten Menschen und nicht wie eine niedere Bedienstete, die man herumkommandieren konnte. Mrs Frogerton war immer bereit, auch anderen Meinungen Gehör zu schenken. Ihre Tochter Dorothy, offenbar mit deutlich zu viel Dünkel ihren Stand und ihren Reichtum betreffend aufgewachsen, gab sich fordernder und weit schwieriger zufriedenzustellen.

„Meine Tante, Lady Eleanor Greenwood, war zu Besuch“, sagte Caroline, als sie sich auf den Platz gegenüber ihrer Arbeitgeberin niederließ. „Sie … hat uns zu einer Hausfeier anlässlich des Geburtstags meiner Cousine Mabel eingeladen. Sie wird diesen Monat siebzehn.“

Sie reichte ihr die Einladung. Mrs Frogerton nahm sie mit ihrer behandschuhten Hand entgegen und setzte sich ihre Brille auf.

„Oh, gütiger Gott!“, kreischte sie und klang dabei wie ihr Papagei Horace, während sie ihrem Gesicht zeitgleich Luft zu fächelte. „Was für eine Ehre!“

„Die Feier wird auf dem Land stattfinden“, erinnerte sie Caroline. „Ich weiß, dass Sie Veranstaltungen in der Stadt bevorzugen.“

„Habe ich das Ihnen zu verdanken, Miss? Haben Sie Ihre Tante darum gebeten, uns einzuladen?“ Mrs Frogerton blickte mit einem Leuchten in ihren braunen Augen zu Caroline auf, sodass sie Caroline nicht zum ersten Mal an einen neugierigen Spatz erinnerte.

„Ich habe lediglich erklärt, dass ich nicht in der Lage sein würde, zu kommen, wenn es meiner Arbeitgeberin missfiel“, antwortete Caroline.

„Als ob ich Sie davon abhielte, hinauszugehen und sich zu amüsieren, meine Liebe“, erwiderte Mrs Frogerton mit einem freundlichen Zungenschnalzen. „Sie sind jetzt Teil meiner Familie, meine Liebe, vergessen Sie das nicht.“

„Dann wünschen Sie also, teilzunehmen?“, fragte Caroline hoffnungsvoll.

„Ich würde es mir nicht im Traum entgehen lassen!“ Ihre Arbeitgeberin deutete auf die Glocke. „Und jetzt sagen Sie Brendan, dass er den Tee vergessen und uns Sherry zum Anstoßen bringen soll.“

„Was feiern wir denn?“ Dorothy Frogerton betrat das Zimmer mit einem genervt wirkenden Stirnrunzeln. „Musst du so unangenehm laut sein, Mutter?“

„Wir sind zu Lady Eleanor Greenwoods Hausfeier auf Greenwood Hall in Norfolk eingeladen worden, Dotty!“

„Wieso sollte ich zu einer dummen Hausfeier mitten im Nirgendwo gehen wollen, wenn ich so kurz vor meinem Londoner Debüt stehe?“, wollte Dorothy wissen.

„Es wäre eine ausgezeichnete Gelegenheit, um einige der anderen jungen Damen kennenzulernen, die zeitgleich ihr Debüt geben“, bemerkte Caroline. „Und ich kann dir versichern, dass die Gäste meiner Tante allesamt höchsten Rang und Namen haben.“

„Ihre Tante?“ Dorothy wandte sich Caroline zu und starrte sie an. Plötzlich war sie sich ihres schlichten Kleides und ihrer streng zurückgebundenen Haare nur allzu bewusst. „Mit allem gebührenden Respekt, aber wenn sie ein derart geringes Vermögen besitzt, dass Sie selbst Geld verdienen müssen, bezweifle ich, dass sie über einen besonders hohen sozialen Status verfügt.“

„Sei nicht so unhöflich, Dot. Vielleicht hat Caroline sich freiwillig für dieses Dasein entschieden“, schaltete Mrs Frogerton sich ein. „Nicht alle wollen Zeit ihres Lebens von ihrer Familie abhängig sein.“

„Meine Tante hat mir angeboten, bei ihr zu wohnen, Miss Frogerton, aber ich habe abgelehnt.“ Caroline bemühte sich um eine ruhige Stimme. „Ich habe mich dazu entschieden, mir meinen eigenen Weg in der Welt zu suchen.“

„Dann sind Sie dumm“, sagte Dorothy rundheraus. „Frauen sind nicht dazu gemacht, für sich selbst sorgen zu müssen. Dafür brauchen sie einen Mann.“

„Was für ein Unfug“, fuhr Mrs Frogerton dazwischen. „Wer, glaubst du, hat das Geschäft deines Großvaters geführt, junge Dame? Wer ist jeden Abend im Büro geblieben, um sicherzustellen, dass jede Order perfekt war. Wer hat sich um die Buchführung gekümmert? Ich kann dir verraten, dass es nicht mein Vater war. Er war weniger als nutzlos, dieser alte Trunkenbold.“

Caroline war den lauten und offenen Meinungsaustausch, der bei den Frogertons üblich war, nicht gewohnt. Sie wünschte sich, unter einem der Stühle verschwinden zu können, bis sich der Sturm gelegt hatte.

„Sprich nicht über das Geschäft, Mutter!“, ermahnte sie Dorothy. „Du ruinierst noch meine Chance auf eine gute Partie, wenn die Leute glauben, dass mein Wohlstand erarbeitet ist.“

„Aber das ist er nun einmal, meine Liebe. Ich schäme mich nicht dafür und du solltest das auch nicht.“

Zur Abwechslung musste Caroline Dorothy recht geben. Obwohl die junge Miss Frogerton hübsch war und eine großzügige Mitgift versprach, war sie nur eine Generation davon entfernt, eine Neureiche zu sein. Selbstverständlich würde das jeden jungen Gentleman beeinflussen, der in Erwägung zog, sie zu heiraten.

Der junge irische Diener namens Brendan trat mit einem Tablett mit den Getränken auf dem Arm ins Zimmer. Er zögerte kurz an der Türschwelle, als er Mutter und Tochter erblickte, die sich wie zwei verbissene Ringkämpfer anstarrten.

„Sie können das Tablett hier abstellen“, murmelte Caroline ihm zu. „Vielen Dank.“

„Sehr wohl, Miss.“

Brendan verschwand eilig aus dem Zimmer und für einen Moment wünschte Caroline sich, es ihm gleichtun zu können. Sicherlich würde keine der Frogertons es bemerken, wenn sie kurz gehen und sich nach dem Abendessen zu erkundigen würde. Manchmal fühlte sie sich in dieser neuen und unsicheren Welt wie auf einer spiegelglatten Eisfläche.

Gerade als sie sich zur Tür wenden wollte, marschierte Dorothy auf sie zu. „Mutter sagt, dass ich mich dafür entschuldigen muss, Sie als dumm bezeichnet zu haben.“

„Vielen Dank“, sagte Caroline.

„Ich denke aber immer noch, dass Sie töricht gehandelt haben.“ Dorothy wickelte eine ihrer blonden Locken um den Finger und zog einen Schmollmund. Sie war ein erstaunlich hübsches Mädchen mit einem beachtlichen Vermögen, das sich im Ton gut machen würde, sofern sie ihre Wurzeln und ihre Meinungen für sich behielt. „Aber ich nehme an, dass es in Ihrem Alter ohnehin recht schwierig ist, noch einen Mann zu finden.“

„Stimmt“, erwiderte Caroline. Sie hatte keinerlei Interesse daran, Dorothy an den Erinnerungen an ihre erste, sehr erfolgreiche, Saison in London teilhaben zu lassen. Sie hatte damals nicht nur das Interesse eines Viscounts geweckt, sondern auch das des Sohnes eines Earls. Doch dieses Leben lag nun hinter ihr und sie wollte es nicht länger vermissen.

„Auch wenn Sie mit Ihrem dunklen Haar und den blauen Augen durchaus elegant aussehen.“ Dorothy war offenbar noch nicht fertig. „Mutter sagt, ich würde gut daran tun, von Ihnen zu lernen, wie ich mich richtig verhalte.“

„Ich meine, das ist einer der Gründe, warum sie mich eingestellt hat“, stimmte Caroline ihr zu. Allerdings hatte Dorothy in den letzten sechs Monaten nicht auch nur ein Wort ihrer Ratschläge beherzigt. „Ich habe von Geburt an in der gehobenen Gesellschaft gelebt und verstehe daher ihre Spielregeln.“

Sie wusste auch, wie schnell diese Art von Gesellschaft eine Person ausschließen würde, wenn man diese oder deren Familie für inakzeptabel hielt. Der Selbstmord ihres Vaters hatte das nur allzu deutlich gemacht.

„Denken Sie also, dass es eine gute Idee wäre, zu dieser Hausfeier zu gehen?“ Dorothy wandte sich, während sie sprach, halb zu ihrer Mutter, um diese am Gespräch zu beteiligen.

Caroline nahm das Tablett mit den Getränken und platzierte es auf dem Beistelltisch neben Mrs Frogerton.

„Ja, in der Tat. Meine Tante ist eine ausgezeichnete Gastgeberin. Es wird viele Gelegenheiten geben, um zu reiten, die Landluft zu genießen und das Dorf zu besuchen. Und der Ball anlässlich des Geburtstags meiner Cousine Mabel wird natürlich extravagant ausfallen.“

„Es wird einen Ball geben?“ Das weckte sofort Dorothys Interesse.

„Ja, Greenwood Hall verfügt über einen riesigen Ballsaal.“ Caroline erinnerte sich sehr gut daran, wie es war, dort zu tanzen. Die Aufregung vor jedem neuen Tanzpartner, die Freude über ein neues Ballkleid und die immer mitschwingende Aussicht, dass eines Abends – vielleicht an diesem Abend – der Mann ihrer Träume dort sein würde … „Sie könnten das Kleid anziehen, dass Madame Julie heute gebracht hat.“

„Oder ich könnte mir ein neues schneidern lassen.“ Dorothy sah ihre Mutter an. „Eines, das der Feier einer echten Lady angemessener ist.“

„Ich würde mir nicht die Mühe machen, zu schick aufzutreten“, sagte Caroline hastig. „Die Bälle auf dem Land sind weniger … prunkvoll und hervorzustechen wäre nicht wünschenswert.“

„Wieso denn das nicht?“ Dorothy runzelte die Stirn. „Ich würde lieber auffallen, als ignoriert zu werden.“

Caroline wandte sich verzweifelt an ihre Arbeitgeberin, die aufmerksam zuhörte und ihre Tochter mit einem leichten Lächeln betrachtete. Sie war noch immer relativ jung, denn sie hatte noch vor ihrem zwanzigsten Lebensjahr geheiratet und zwei Kinder bekommen.

„Das gerade gelieferte Ballkleid wird mehr als ausreichend sein für Ihre Tochter, Ma’am. Und, um ehrlich zu sein, fehlt uns auch die Zeit, um ein gänzlich neues Kleid nähen zu lassen.“

„So ist es.“ Mrs Frogerton erhob sich und eilte hinüber zu ihrem Schreibtisch. „Ich muss umgehend antworten und einen Diener mit dem Schreiben zu Lady Eleanor schicken.“

„Ich kann den Brief überstellen, wenn Sie das wünschen, Ma’am“, bot Caroline an. „Ich bin heute noch nicht draußen gewesen und sicherlich würde einer der Hunde einen Abendspaziergang genießen.“

„Ich habe nichts dagegen, dass Sie die Nachricht selbst überbringen, meine Liebe“, sagte Mrs Frogerton, „solange Sie vorher noch zu Abend essen.“

„Ja, natürlich, Ma’am.“ Caroline machte einen Knicks und wandte sich wieder zur Tür. Die beiden Damen ließ sie weiter den bevorstehenden Ausflug planen.

Später am Tag, als sie die Half Moon Street mit zwei leicht widerwilligen Hunden hinunterging, verspürte sie leichte Kopfschmerzen. Dorothys verbale Ausschreitungen einzudämmen, ohne dabei sie oder ihre Mutter zu beleidigen, war wohl nur mit den jahrelang erworbenen Fähigkeiten einer Diplomatin möglich – und leider war Caroline dieser Eigenschaften nicht mächtig, da sie nie damit gerechnet hatte, diese je zu benötigen. Außerdem war da noch der Umstand, dass Dorothy sie eindeutig als minderwertig betrachtete, was Caroline ahnen ließ, dass die junge Dame ihren Rat nie annehmen würde, ganz gleich wie gut er war.

Caroline seufzte, als sie die Treppen zum Eingang des Stadthauses ihrer Tante erklomm und die Glocke betätigte. Es dauerte eine Weile, bis ein älterer Butler ihr die Tür öffnete. Sein Lächeln, als er sie erkannte, wirkte wie Balsam für ihre geplagten Nerven. „Guten Abend, Mr Woodford.“

„Lady Caroline! Was für eine schöne Überraschung.“ Er hielt ihr die Tür auf. „Wollen Sie eintreten, Miss? Ihre Ladyschaft hat gar nicht erwähnt, dass Sie mit uns zurückreisen.“

„Das werde ich auch nicht.“ Caroline deutete auf die Hunde und reichte ihm die versiegelte Nachricht. „Ich bin nur hier, um das zu überbringen, bevor meine Tante abreist.“

„Ah, zu schade, Miss.“ Die Freude wich aus dem Gesicht des Butlers. „Wir alle vermissen Ihre Anwesenheit.“

„Ich vermisse Sie auch.“ Irgendwie gelang es Caroline, ein Lächeln aufzusetzen.

„Bitte richten Sie meiner Schwester aus, dass ich zu Mabels Geburtstagsfeier kommen werde.“

„Wir alle freuen uns schon darauf.“ Mr Woodford nahm den Brief entgegen. „Miss Susan wird hocherfreut sein.“

Caroline ging die Stufen wieder hinunter und blieb noch einmal stehen, um einen Blick zurück zum Haus zu werfen, in dem sie vor kurzem noch gewohnt hatte. Die Fenster waren erleuchtet, sodass sie ihre Tante in der ersten Etage sehen konnte, wie diese sich offenbar gerade zum Ausgehen fertig machte. Ihr Onkel befand sich vermutlich Pfeife rauchend in seinem Arbeitszimmer.

Wenn sie die Treppen wieder hinauflief, an die Tür klopfte und ihre Tante anbettelte, sie wieder aufzunehmen, würde ihr dieser Wunsch wahrscheinlich gewährt. Aber wo brächte sie das hin? Sie wäre auf ewig gefangen in einem Netz aus familiären Verpflichtungen und Dankbarkeit, aus dem sie vielleicht nie entkäme. Ihre Meinung, ihre Chancen, jeder Sinn ihrer Selbst wären für immer verloren.

Der Ausdruck des Schreckens im Gesicht ihres Vaters und die entsetzliche Enthüllung seines verschwundenen Vermögens und des gewaltigen Schuldenbergs hatten Caroline jeglichen Gefühls von Sicherheit beraubt. Ihrem Vater war es sogar gelungen, alle rechtlichen Konsequenzen zu übergehen, um und das gesamte Vermächtnis, das ihre Mutter ihr und ihrer Schwester Susan als spätere Mitgift hinterlassen hatte, zu plündern. Damit waren sie mittellos und der Gnade ihrer Verwandten ausgeliefert.

Ihre Tante erwartete ewige Dankbarkeit für ihre Großzügigkeit, aber Caroline vermochte nichts aufzubringen als langsam vor sich hin brodelnde Wut, die sich einfach nicht löschen ließ. Sie beugte sich hinunter, um die Leinen der Hunde zu entwirren und wandte dem Haus dabei wieder den Rücken zu. Alles und jeden, der ihr am Herzen lag, hatte sie verloren, mit Ausnahme von Susan. Und sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um dafür zu sorgen, dass ihre Schwester nie dasselbe Schicksal erleiden würde.

Kurz bevor sie den Platz hinter sich ließ, kam eine Kutsche vor der Tür zum Stehen. Caroline verweilte kurz und beobachtete wie ihre Tante und ihr Onkel zu ihrem Abendessen bei Lord Antwerp aufbrachen. Der älteste Sohn dieses Mannes hatte sie einst recht eifrig umworben. Jetzt, in dem schlichten Mantel, dem grauen Kleid und der unauffälligen Haube, hätte er sie vermutlich nicht einmal wahrgenommen. In ihrem Inneren fühlte es sich immer mehr so an, als verschwände das Mädchen, das sie einst gewesen war, vor ihren Augen und würde ersetzt durch … ja durch was eigentlich?

Das war die Frage, die sie sich selbst noch immer nicht zu beantworten wusste. Sie setzte ihren Weg fort, als die Kutsche an ihr vorbeifuhr, ohne dass deren Insassen Notiz von ihr nahmen. Caroline wusste nur, dass sie noch weit entfernt war von der Vergebung, die sie für diejenigen fühlen sollte, die ihr übel mitgespielt hatten. Das Einzige, das sie weiter antrieb, war kalter, unnachgiebiger Stolz, der sich tief in ihre Seele gegraben hatte.

Diesen schätzte sie an sich selbst und nährte ihn. Und sie würde sich weiter ohne Reue oder Scham auf dieses Feuer in ihrem Inneren verlassen. Zumindest solange, bis sich herausstellte, dass die Welt doch kein so gnadenloser Ort war, wie sie ihn bisher erlebt hatte.

Kapitel 2

„Meine Güte!“, rief Mrs Frogerton aus, als die gemietete Kutsche vor dem Eingang von Greenwood Hall zum Stehen kam.

„Was für ein beeindruckendes Anwesen!“

Nachdem Carolines Mutter gestorben war und ihr Vater beständig versucht hatte, seine beiden Kinder in die Obhut verschiedener Verwandter zu geben, hatten sie so viel Zeit in Greenwood Hall verbracht, dass sich der Ort beinahe wie ihr Zuhause anfühlte. Den ersten Eindruck der beiden Damen Frogerton mitzuerleben, war sowohl unterhaltsam als auch aufschlussreich. Das mit Flintstein verkleidete Haus befand sich auf einer weitläufigen Ebene, die von mehreren natürlichen und künstlichen Kanälen umschlossen war. Im Umland waren nur wenige Bäume oder Hügel zu sehen, wodurch der graue Himmel wie eine gewaltige Decke wirkte, die sich über die zahlreichen Sträucher der Moorlandschaft gelegt hatte. Von der nahe gelegenen Nordsee wehte eine beständige kühle Brise um das alte Gemäuer.

„Es ist riesig“, flüsterte Dorothy und war damit zur Abwechslung leiser als ihre Mutter.

„Das Haupthaus wurde zu Zeiten der Tudors errichtet und die beiden Flügel aus Ziegelstein erst vor etwa hundert Jahren hinzugefügt“, erklärte Caroline, während sie darauf warteten, dass einer der Bediensteten aus dem Haus kam, um ihnen die Tür zu öffnen und aus der Kabine zu helfen. „Meine Tante beklagt sich oft über den komplizierten Grundriss, aber mein Onkel will nichts von einem Umbau hören. Seine Familie lebt hier seit dem Bürgerkrieg.“

„Wann war das?“, fragte Dorothy.

„Im siebzehnten Jahrhundert, glaube ich“, erwiderte Caroline, während sie das Fenster in der Tür öffnete und zum noch immer geschlossenen Haupteingang blickte.

„Es sieht den Angestellten meiner Tante gar nicht ähnlich, sich derart zu verspäten.“

Sie griff durchs Fenster zur Klinke und öffnete die Tür selbst. „Vielleicht sind sie überfordert, weil zu viele Gäste gleichzeitig angereist sind.“

Am Eingang angekommen, hob sie den massiven bronzenen Türklopfer und ließ ihn zweimal gegen die schwere Eichentür fallen. Wenig später vernahm sie aus dem Inneren Schritte. Eines der Hausmädchen öffnete ihnen schwer atmend.

„Oh! Sie sind es, Miss. Ich dachte, es wäre einer der wichtigen Gäste.“

„Guten Tag, Peggy.“ Caroline unterdrückte ein Lächeln und deutete in Richtung ihrer Mitreisenden.

„Könnten Sie einen der Bediensteten holen, um Mrs Frogertons Gepäck hereinzubringen? Und wo ist Mr Woodford?“

„Er ist gerade sehr beschäftigt, Miss, wegen der vielen Gäste, wissen Sie? Ihre Ladyschaft ist noch nicht heruntergekommen und zwei der Bediensteten sind krank …“

„Dann werden wir uns wohl selbst darum kümmern müssen.“ Caroline bedachte das Mädchen mit einem breiten Lächeln. „Wissen Sie, welche Zimmer für Mrs Frogerton und ihre Tochter vorgesehen sind?“

„Oh ja, Miss. Ich habe heute Morgen schon den Kamin gereinigt und frische Blumen bereitgestellt.“ Peggy senkte die Stimme. „Ihre Ladyschaft war sich nicht sicher, ob Ihre Herrin eine eigene Zofe hat, und hat mich angewiesen, falls nötig, einzuspringen.“

„Ausgezeichnet.“ Caroline wandte sich in Richtung der Kutsche um. Dorothy blickte sie mit ersten Anzeichen eines Schmollmundes durch die Tür hindurch an. „Brauchen Sie Hilfe beim Aussteigen, Miss Frogerton, oder reicht es, wenn ich Ihrer Mutter zur Hand gehe?“

Dorothy kletterte mit finsterer Miene aus der Kabine und richtete ihre Haube. „Ich wusste, dass es ein Fehler war.“

Caroline half Mrs Frogerton beim Aussteigen und führte sie zur Haustür. „Das ist Peggy. Sie wird uns zu unseren Zimmern begleiten.“

Mrs Frogerton schenkte dem Hausmädchen ein strahlendes Lächeln. „Was für ein hübsches Mädchen.“

„Vielen Dank, Madam.“ Peggy machte einen Knicks. „Wenn Sie mir bitte folgen würden.“

Dorothy und ihre Mutter blieben hinter der Türschwelle in der marmornen Eingangshalle stehen und bewunderten die prachtvolle Ausstattung. Die geschwungene Treppe hoch zur breiten Galerie war zu jeder Seite von drei Alkoven mit steinernen Statuen umrahmt.

„Oh, wie prachtvoll“, bemerkte Mrs Frogerton sichtlich beeindruckt. „Wie ein Palast.“

„Meine Tante und mein Onkel werden sich freuen, dass Sie so denken, Madam.“ Caroline führte ihre Arbeitgeberin zur Treppe. „Lord Greenwood hat in seiner Jugend im Rahmen seiner Kavaliersreise viele Orte auf der ganzen Welt besucht und einige Schätze mit nach Hause gebracht.“

Dorothy blickte mit offenem Mund nach oben zur hohen Kuppel, die im Stil der sixtinischen Kapelle bemalt war. Sie sagte zwar nichts, aber Caroline konnte deutlich erkennen, dass selbst sie beeindruckt war.

„Ihre Ladyschaft hat dafür gesorgt, dass Miss Frogerton und Mrs Frogerton benachbarte Zimmer erhalten. Es gibt auch eine Verbindungstür“, erklärte Peggy, als sie den oberen Treppenabsatz erreichten und sich nach links wandten.

Caroline war ein wenig erleichtert, dass ihre Tante die unerwünschten Gäste nicht auf dem Dachboden untergebracht, sondern ihnen ein paar ansehnliche Zimmer im ersten Stock zugewiesen hatte.

„Da sind wir, Madam.“ Peggy öffnete die Tür mit einer leichten Verbeugung und trat zur Seite. „Ihre Ladyschaft nennte diese Räume die Lilac Suite, auch wenn ich finde, dass sie eher blau sind.“ Sie deutete auf die Tür im Inneren. „Miss Frogertons Zimmer ist gleich nebenan.“

„Vielen Dank, Peggy.“ Caroline machte sich kurz einen Eindruck vom Zimmer und konnte dabei keinerlei Mängel feststellen.

Im Kamin brannte bereits ein Feuer, sodass es in dem Raum mit seiner hohen Stuckdecke und den feinen, seidenbehangenen Wänden wohlig warm war.

„Wünschen Sie, dass ich bleibe, und Ihnen dabei helfe, sich einzurichten, Madam?“, fragte Peggy an Mrs Frogerton gerichtet.

„Ich werde Mrs Frogerton zur Hand gehen“, sagte Caroline mit einem Lächeln. „Aber könnten Sie vielleicht eine Kanne Tee bringen? Ich nehme an, dass es noch mindestens zwei Stunden bis zum Abendessen dauern wird, oder?“

„So ist es, Miss. Lady Eleanor empfängt ihre versammelten Gäste üblicherweise um sechs Uhr im Salon.“

Caroline wartete, bis Peggy gegangen war, bevor sie durch die verbindende Ankleidekammer Dorothys Zimmer betrat.

„Sie haben eine schöne Aussicht auf den Park an der Rückseite des Hauses, Miss Frogerton.“ Caroline ging hinüber zu dem hohen Schiebefenster und richtete die schweren Damastvorhänge. „Sobald Peggy den Tee bringt, werde ich sie herschicken, um Ihnen beim Auspacken zu helfen.“

„Vielen Dank.“ Zur Abwechslung vergaß Dorothy ihren überheblichen Unterton, während sie durch das Zimmer schritt und die Finger über die Wandbehänge und die Möbel streifen ließ. „Ich muss gestehen, dass ich nicht erwartet hatte, dass Sie so herrschaftliche Verwandtschaft haben.“

„Das Leben ist voller Überraschungen, nicht wahr?“, sagte Caroline mit sanfter Stimme. „Vielleicht sollte man deshalb nicht auf Grund von Äußerlichkeiten urteilen.“

Sie kehrte zu Mrs Frogerton zurück, die es sich bereits in einem Sessel am Feuer gemütlich gemacht hatte und lautstark die Abwesenheit ihrer Hunde beklagte. Mit einem Klopfen kündigte sich Peggy mit dem Teetablett an.

Nachdem Caroline den Tee eingeschenkt und sich mit Peggy über das Auspacken des Gepäcks abgestimmt hatte, wandte sich Caroline wieder ihrer Arbeitgeberin zu.

„Madam, würden Sie mich wohl für eine Stunde entschuldigen? Meine Schwester lebt hier bei meiner Tante und ich würde sie gerne sehen.“

„Dann nichts wie hin, meine Liebe, und lassen Sie sich Zeit.“ Mrs Frogerton entließ sie mit einem Wink ihrer Hand. „Ich trinke meinen Tee, mache ein kleines Nickerchen und bin dann rechtzeitig zum Essen wieder vollkommen erholt.“

Peggy zwinkerte Caroline zu. „Ich werde mich um sie kümmern, Miss, machen Sie sich keine Sorgen. Miss Susan kann es kaum erwarten, Sie wiederzusehen. Sie freut sich schon den ganzen Tag darauf.“

Sofort nachdem sie die Türschwelle überquert hatte, raffte Caroline ihre Röcke und eilte die zwei Treppen hinauf, die in die geräumige Kinderstube unter dem Dachboden führten. Sie öffnete leise die Tür und beobachtete einen Moment lang die friedliche Szene, ohne bemerkt zu werden.

Lady Eleanor hatte schon immer Straßenkinder und Waisen in ihre Obhut genommen, da sie der Überzeugung war, das christliche Nächstenliebe zuhause beginnen sollte. Nachdem Carolines Vater seine Frau verloren hatte, nahm Eleanor die Kinder ihres Bruders klaglos auf und zog sie zusammen mit den eigenen Kindern groß. Bis zu dessen Tod hatten sie zwischendurch immer wieder kurzzeitig bei ihrem Vater gelebt, allerdings war das Leben dort weniger behütet gewesen. Einmal hatte Caroline einen verzweifelten Brief an ihre Tante geschrieben, nachdem ihr Vater sie irgendwo in der Nähe von Calais in einem Wirtshaus zurückgelassen und versäumt hatte, sie von dort wieder abzuholen.

Trotz ihrer derzeit angespannten Beziehung zu Eleanor rief sich Caroline in Erinnerung, dass es vieles gab, für das sie ihr dankbar sein sollte. Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Kinder im Zimmer, die gerade konzentriert mit Bauklötzen spielten. Das Alter der Kinder reichte von fünf bis ungefähr sechzehn Jahren. Ihre Schwester Susan befand sich mitten in der Gruppe und sah wie gebannt dabei zu, während einer der kleinen Jungen einen weiteren Holzklotz auf den bereits schwankenden Turm legte. Er brach mit einem befriedigenden Rumpeln und den Jubelrufen der Kinder zusammen.

„Sehr gut, William!“, rief Susan. „So einen hohen haben wir noch nie geschafft.“

Caroline vernahm hinter sich ein tiefes Glucksen und drehte sich um. George, der jüngste Sohn ihrer Tante, war offenbar rechtzeitig eingetroffen, um ebenfalls den Spaß im Zimmer beobachten zu können. Er trug einen Mantel mit eher konservativem Schnitt und darunter eine braune Weste. Der hohe Hemdkragen machte es ihm offenkundig schwer, den Kopf zu drehen.

„George.“ Sie lächelte zu ihm auf.

„Caroline! Ich habe eigentlich nach Harry und Mabel gesucht. Wusstest du, dass Mabel darauf bestanden hat, dass Mutter all ihre liebsten ‚Straßen- und Waisenkinder’ zur Geburtstagsfeier einlädt?“

„Bisher nicht, aber das klingt sehr nach Mabel.“

„Mabel war schon immer das Herz der Familie“, sagte George und blickte hinüber zu den Kindern, die jetzt die verstreuten Holzklötze unter den wachsamen Augen von Mrs Whittle und den anderen Kindermädchen aufsammelten. „Sie meinte, dass alle, die ihr am Herzen liegen, zur Feier kommen müssten, weil sie sonst das Gefühl hätte, dass jemand fehlte.“

„Und deine Mutter war einverstanden?“

Die Entscheidung ihrer Tante, die Frogertons einzuladen, ergab jetzt deutlich mehr Sinn. Vermutlich betrachtete sie sie im Rang nur wenig höhergestellt, als den Rest von Mabels unerwünschten Gästen.

„Ich glaube, sie freut sich so sehr auf das anstehende Debüt ihrer letzten Tochter, dass sie alles getan hätte, um Mabel zur Kooperation zu bewegen.“ George gluckste fröhlich. „Und Mabel verstand es schon immer, Papa um ihren kleinen Finger zu wickeln, daher hatte auch er nichts dagegen.“

„Wie ist es in Cambridge?“, wechselte Caroline das Thema.

„Furchtbar.“ Er verzog das Gesicht. „Erzähl es nicht Mama, aber ich konnte nur zur Feier anreisen, weil ich vorübergehend suspendiert wurde.“ Er grinste. „Sie wird wohl nie einen Vikar aus mir machen.“

„Sie wird es aber weiterhin versuchen, sofern dir nicht selbst eine Alternative einfällt“, sagte Caroline. Sie war sich recht sicher, dass der unbekümmerte und eher faule George sofort nachgeben würde, sobald seine Mutter damit drohte, sein großzügiges Taschengeld einzubehalten. Er hielt sich zwar selbst für einen echten Städter, aber er verfügte weder über die finanziellen Mittel noch den Ruf, um sich selbst über die Runden zu bringen. Er musste entweder eine gute Partie finden oder sich mit seinem Schicksal abfinden und der Vikar in der Familie werden.

Während sie über seine Zukunftsaussichten nachdachte, rügte Caroline sich in Gedanken für ihre harte Einschätzung seines Charakters und seiner Möglichkeiten. War sie eifersüchtig darüber, dass er ein freizügiges und erfülltes Leben vor sich hatte, egal was er tat? George war immer freundlich zu ihr gewesen und darüber hinaus eine gute Seele. Hatte sie ihre derzeitige Lage in einen herzlosen Drachen verwandelt?

„Es ist schön dich zu sehen, Cousinchen.“ George bedachte sie mit einem breiten Lächeln. „Mutter sagt, du hast eine Arbeitsstelle bei einer reichen Witwe aus dem Norden gefunden. Du solltest mich ihr vorstellen.“

„Du solltest eher daran interessiert sein, ihre einzige Tochter Dorothy Frogerton kennenzulernen, denn sie wird schon bald ihr Glück auf dem Heiratsmarkt suchen“, erwiderte Caroline. „Sie ist … wirklich ein Original.“

George runzelte die Stirn und senkte die Stimme. „Weiß sie denn, wie man sich in gehobener Gesellschaft zu benehmen hat?“

„Das wirst du heute Abend selbst herausfinden können, George, denn sowohl sie als auch ihre Mutter sind unter Mabels Gästen.“

„Sie sind hier?“ Georges Augenbrauen hoben sich blitzartig. „Ich muss gestehen, dass ich ein wenig überrascht bin, da Mutter regelmäßig erklärt, dass sie deiner Dienste nicht würdig seien.“

„Das hat sie erwähnt“, bestätigte Caroline. „Wird Nick auch zur Feier kommen?“

Der älteste Sohn und Erbe ihres Onkels ließ sich nur selten zuhause blicken und bevorzugte es, sich zusammen mit seinen Kumpanen die Zeit mit Trinkgelagen und Glücksspiel in London zu vertreiben.

„Er sagte, er würde kommen, aber du kennst ja Nick. Auf ihn ist überhaupt kein Verlass. Er und Vater liegen wieder im Streit wegen seiner ‚Nichtsnutzigkeit und seinem umtriebigen Verhalten’. Wirklich ironisch, das von einem Mann zu hören, der früher selbst keine ganz weiße Weste besaß, was seinen Ruf beim anderen Geschlecht betraf.“ Er hielt kurz inne. „Ich muss es wohl nicht sagen, aber sprich das Thema bitte nicht vor Mama an.“ George blickte an ihr vorbei und lächelte. „Aber jetzt muss ich deiner Schwester gestatten, deine volle Aufmerksamkeit zu beanspruchen. Ich sehe euch dann beim Abendessen.“

Susan warf sich in Carolines Arme.

„Peggy sagte, dass du hier bist, aber ich habe ihr nicht ganz glauben wollen!“

Caroline blickte hinunter in das lächelnde Gesicht ihrer jüngeren Schwester. Mit ihrem blonden Haar und den braunen Augen sah sie ihrer verstorbenen Mutter Jane erstaunlich ähnlich. Caroline umarmte sie kräftig.

„Ich bin hier – leibhaftig sozusagen. Und ich freue mich, dich endlich wiederzusehen.“ Sie nahm ihre Schwester an der Hand und führte sie in einen ruhigeren Bereich der Kinderstube. „Ist es dir gut ergangen?“

Sie setzte sich auf einen der niedrigen Stühle und Susan tat es ihr gleich. Mit sechzehn Jahren war ihre Schwester fast zehn Jahre jünger als sie. Sie war eine große Überraschung für ihre Eltern gewesen, die kaum genug Zeit miteinander verbracht hatten, um ein weiteres Kind zeugen zu können. Damals hatte es Gerüchte gegeben, dass ihre Mutter untreu gewesen sei, jedoch ohne jegliche Beweise. Ihren Vater hatte es ohnehin nicht gekümmert. Er hatte sich lediglich darüber beklagt, dass er für den Unterhalt seiner beiden Kinder aufkommen musste.

„Ja, Tante Eleanor erlaubt mir, mit den jüngeren Kindern zu helfen. Sie sagt, ich verfüge über genug Energie und Enthusiasmus, um einmal eine Gouvernante zu werden, wenn ich das wünsche.“

Obwohl Caroline freundlich lächelte, fasste sie innerlich den Beschluss, dafür zu sorgen, dass Susan nichts dergleichen würde tun müssen, wenn sie erst volljährig war.

„Du bist in jedem Fall geduldig genug.“ Caroline senkte die Stimme. „Wie ist es dir wirklich ergangen? Hat unsere Tante ihren Ärger über meine neue Stelle außerhalb ihres Hauses an dir ausgelassen?“

Susans Lächeln verblasste. „Ich glaube, sie hat erwartet, dass du bleiben und dich für sie um die Kinder kümmern würdest. In letzter Zeit hat sie Schwierigkeiten im Umgang mit ihnen und wird schnell wütend, wenn sie nicht hören wollen.“

„Das habe ich mir schon gedacht. Vermutlich bereitet sie dich deshalb darauf vor, später die Aufgabe zu übernehmen – wahrscheinlich ohne Bezahlung oder irgendwelche Zukunftsaussichten.“ Caroline schüttelte den Kopf. „Genau das ist der Grund, warum ich mich dazu entschieden habe, nicht zu bleiben.“

„Tante Eleanor war immer sehr großzügig zu uns.“

Caroline entging der ängstliche Unterton in Susans Stimme nicht. Nach den unsteten Verhältnissen in ihrer Kindheit verstand sie nur zu gut, dass Susan sich nirgends wirklich sicher fühlte. Im Gegensatz zu Caroline hatte Susan sich immer nach Sicherheit gesehnt und Greenwood Hall war seit ihrer Geburt die meiste Zeit ihr Zuhause gewesen.

„Ich war überrascht, dass Mabel sich dazu entschieden hat, ihren Geburtstag hier zu feiern.“ Caroline bemerkte erleichtert, dass ihre Schwester sich bei dem Themenwechsel sichtlich entspannte. „Sie wirkte auf mich nie wie jemand, der auf diese Art die Aufmerksamkeit der Leute auf sich ziehen möchte.“

„Sie hat erst zugestimmt, nachdem Tante Eleanor ihr versprochen hatte, dass sie einladen könnte, wen immer sie wollte.“ Susan lächelte. „Und du kennst Mabel. Sie steht mit jedem in Kontakt, der auch nur ein einziges Mal einen Fuß in dieses Haus gesetzt hat. Und das gilt ganz besonders für diejenigen, die Zeit in unserer Kinderstube verbracht haben. Sie meinte, dass sie es so denkwürdig und persönlich wie möglich machen wollte, wenn sie schon feiern musste.“

„Das ist schön für sie“, sagte Caroline gerade als die Uhr in der Kinderstube zur vollen Stunde schlug und die Kindermädchen ihre Schützlinge versammelten. „Kommst du heute Abend zum Abendessen nach unten?“

„Nein, ich habe Mabel versprochen, dass ich sie vertreten werde und allen eine Gutenachtgeschichte vorlese.“ Susan stand auf. „Das könnte eine Weile dauern.“

Amüsiert wanderte Carolines Blick zum anderen Ende der Kinderstube, wo sie sechs Kinder zählte. „Das sehe ich. Falls du Zeit hast, komm doch bitte in den Salon, wenn alle erst einmal schlafen, damit ich dich meiner Arbeitgeberin vorstellen kann.“

„Mrs Frogerton ist wirklich auch hier?“, fragte Susan, während sie in Richtung der lebhaften Gruppe gingen. „Ich war mir auch da nicht ganz sicher, ob ich das glauben sollte, als Peggy mir davon erzählte.“

„Mrs Frogerton ist zusammen mit ihrer Tochter Dorothy hier“, sagte Caroline. „Und jetzt muss ich gehen und nach unserer Tante suchen. Ich war überrascht, als ich hörte, dass sie noch nicht unten war, um die Gäste zu begrüßen. Das sieht ihr gar nicht ähnlich.“

„Heute Morgen plagten sie Kopfschmerzen. Vielleicht liegt sie noch im Bett.“ Susan verzog das Gesicht. „In letzter Zeit geht es ihr nicht so gut.“

Caroline widersprach nicht, auch wenn ihre Tante völlig gesund ausgesehen hatte, als sie vor weniger als einer Woche in der Half Moon Street aufgetaucht war, um Caroline zum Erscheinen auf der Feier zu verpflichten.

„Dann werde ich mal nachsehen, ob sie sich inzwischen genug erholt hat, um Besucher zu empfangen.“ Caroline wandte sich zur Tür. „Und vergiss nicht, heute Abend zu mir zu kommen.“

„In Ordnung.“ Susan hatte ihre Aufmerksamkeit schon wieder auf die Kinder gerichtet, die sich für ein mittägliches Glas Milch am Tisch versammelten. „Ich muss los. Hetty ist nicht besonders gut darin, die Kleinen zum Austrinken zu animieren.“

Caroline verließ die Kinderstube und ging über die Hintertreppe nach unten. Sie war sich nicht sicher, ob sie sich mittlerweile einfach nur daran gewöhnt hatte, dass im Haus von Mrs Frogerton alles nagelneu war, aber Greenwood Hall wirkte im Vergleich trist und benötigte dringend Dekoration. Die Tapeten schälten sich ab, die Sockelleisten waren abgenutzt und die meisten Vorhänge mussten gründlich abgestaubt werden. Das gelbstichige Licht, das von den Sümpfen und Wasserstraßen durch die salzverkrusteten Fenster einfiel, war ebenfalls nicht besonders förderlich.

Sie fand sich auf dem Treppenabsatz gegenüber den Gemächern ihres Onkels und ihrer Tante wieder. Schon als sie sich der Tür näherte, vernahm sie den Klang erhobener Stimmen, sodass sie innehielt. Nachdem das Stimmengewirr verstummt war, zählte sie bis hundert und klopfte schließlich an die Tür.

„Herein?“

Sie trat ein und fand ihre Tante allein auf einem Stuhl am Kamin sitzend vor. Von der Person, mit der sich Eleanor gestritten hatte, war keine Spur zu sehen, auch wenn Caroline annahm, dass es sich um ihren Onkel gehandelt hatte. Die Ehe der beiden war immer eher von Pflichten und Bequemlichkeit als von Liebe geprägt gewesen und beide waren sieziemlich dickköpfig. Die Vorhänge waren halb geschlossen und Eleanor noch nicht angezogen, was ihr gar nicht ähnlich sah.

„Caroline.“

„Tante.“ Caroline schloss die Tür und ging zu Eleanor hinüber, um ihr einen Kuss auf die abgewandte Wange zu geben. „Ich habe gehört, dass es dir nicht gut geht.“

„Ich habe leichte Kopfschmerzen. Was bedauerlich ist, denn heute und morgen treffen unsere Gäste ein.“ Sie griff nach Carolines Hand. „Ich erwarte, dass du mich notfalls vertrittst.“

„Was ist mit Eliza?“, fragte Caroline behutsam. „Als deine älteste und verheiratete Tochter ist sie deine logische Vertreterin in allen Familienangelegenheiten.“

„Sie versucht, schwanger zu werden“, sagte Eleanor unverblümt. „Und sie ist nicht sonderlich erfolgreich damit, weswegen sie sich im Moment nicht besonders gut fühlt. Ich habe ihr gesagt, dass es alles eine Frage der Einstellung ist, aber sie ist etwas willensschwach.“

Eliza war alles andere als schwach. Sie hatte Carolines Kindheit mit ihrer Tyrannei und ihrer herrschsüchtigen Art zur Hölle gemacht. Eliza hatte es immer genossen, über alle zu bestimmen. Wenn sie also behauptete, sie sei zu krank, um an ihrer Mutter statt als Gastgeberin zu fungieren, dann tendierte Caroline dazu, ihr zu glauben. Jedoch würde sie es sicher nicht gerne sehen, wenn Caroline ihren rechtmäßigen Platz einnähme.

„Vielleicht solltest du die Feier verschieben?“, schlug Caroline vor. „Ich könnte jedem der geladenen Gäste einen Brief schreiben und …“

„Nein“, sagte Eleanor mit Nachdruck. „Morgen wird es mir besser gehen und ich werde nichts absagen. Mabel würde mir das nie verzeihen.“

„Dann sollte ich dich wohl lieber zur Erholung allein lassen“, meinte Caroline. „Ich werde mich mit Mr Woodford besprechen und dafür sorgen, dass alle Gäste anwesend und versorgt sind.“

„Danke“, honorierte Eleanor Carolines Wohlwollen mit einem steifen Nicken. „Ich war mir nicht sicher, ob ich zu Mabels Geburtstag eine so ungewöhnliche Feier in unseren Hallen ausrichten sollte. Doch Mabel hat sich an ihren Vater gewandt und er hat darauf bestanden, dass ich ihren Wünschen nachkomme, einschließlich dieser absurden Gästeliste. Ich weiß nicht, wie ich es ertragen soll, dass Stallburschen und Peers gemeinsam an einer Tafel speisen.“

„Vielleicht werden sie die zwanglose Atmosphäre genießen“, erwiderte Caroline. Wie sie vorhin gehört hatte, schienen ihre Tante und ihr Onkel noch immer über die Angelegenheit im Streit zu liegen.

„Das bezweifle ich ernsthaft.“ Eleanor schniefte. „Welche Gemeinsamkeiten sollen diese Gäste denn schon haben?“

„Die aufrichtige Wertschätzung für Mabel?“

Eleanor verzog das Gesicht. „Ich schätze, ja.“

„Ich bin überrascht, dass mein Onkel einverstanden ist, einen solchen Ball auszurichten“, sagte Caroline, während sie das Tablett, das neben ihrer Tante stand, hochhob. „Aber ich bin mir sicher, dass eine so namhafte Gastgeberin, wie du es bist, einen solchen Abend mit Bravour meistern wird. Soll ich frischen Kamillentee für dich hochbringen lassen?“

„Das wäre sehr liebenswürdig von dir, liebe Nichte.“

Caroline hielt an der Tür inne. „Dir ist doch klar, dass ich mit meiner Arbeitgeberin hier bin, Tante?“

„Ja, und?“

„Jegliche Hilfe, die ich dir anbieten kann, muss erst von ihr gebilligt werden.“

„Mach dich nicht lächerlich“, blaffte Tante Eleanor sie an. „Sie wird doch sicherlich verstehen, dass die Bedürfnisse dieser Familie Vorrang vor ihren eigenen unbedeutenden Belangen haben?“

Mrs Frogerton wäre wahrscheinlich die Erste, die ihrer Tante beipflichten würde, aber Caroline hatte keineswegs vor, das anzumerken. Es bereitete ihr eine gewisse diebische Freude, ihre Tante daran zu erinnern, dass Carolines Zeit nicht mehr ihr gehörte.

„Ich werde sie auf jeden Fall über die Angelegenheit unterrichten.“

Caroline machte einen Knicks und verließ das Zimmer. Mit dem Tablett in der Hand begab sie sich in die Küche und verbrachte einige Zeit damit, die Bediensteten zu begrüßen, von denen sie die meisten seit ihrer Kindheit kannte. Insgeheim war sie erleichtert, dass niemand Anstalten machte, sie wegen ihres veränderten gesellschaftlichen Status‘ anders zu behandeln. Sie war sich sicher, dass sie bei ihrer Rückkehr nach London genau damit zu rechnen hatte. Angestellte Gesellschafterinnen und unverheiratete Tanten wurden nur selten respektiert oder überhaupt beachtet.

„Wo ist Mr Woodford?“, fragte Caroline, als das Dienstmädchen ihrer Tante ein neues Tablett mit Kamillentee für ihre Arbeitgeberin vorbereitete.

„Ich weiß es nicht, Miss.“ Ruth Maddox, die Köchin, runzelte die Stirn. „Wenn ich es mir recht überlege, habe ich ihn den ganzen Morgen noch nicht gesehen.“

„Geht es ihm nicht gut?“ Caroline schaute zu den beiden Dienern hinüber, die am Tisch saßen. „Hat jemand nach ihm geschaut?“

„Er ist nicht in seinen Zimmern, Miss“, meldete sich Joshua, der ältere der beiden, zu Wort.

„Wo steckt er dann?“ Caroline runzelte die Stirn. „Ist er zum Frühstück erschienen?“

„Ja, Miss.“ Ruth nickte. „Ich habe ihm selbst das Frühstück serviert. Er sagte, seine Gicht mache ihm zu schaffen, aber ich habe mir nicht viel dabei gedacht, denn er beklagt sich sehr gern.“

„Ist er ins Dorf oder zum Gutshof gegangen?“

„Ich hoffe nicht, denn es sieht nach Regen aus“, antwortete Ruth. „Seine Schwester lebt aber noch im Dorf. Ich glaube, er hat vor, bei ihr zu wohnen, wenn er im Ruhestand ist.“

Joshua räusperte sich. „Er hat heute Morgen kurz nach dem Frühstück eine Nachricht erhalten, Miss. Vielleicht hat sie ihn darum gebeten, sie zu besuchen?“

„Das wäre möglich“, sagte Caroline nachdenklich. „Miss Woodford ist recht gebrechlich. Ich frage mich, ob ich noch genügend Zeit habe, dorthin zu gehen und nachzusehen, ob alles in Ordnung ist.“

„Nicht bei diesem Wetter, Miss. Außerdem kommen doch heute die Gäste für die Feier an.“ Ruth wandte sich wieder ihrem Brotteig zu. „Ich nehme an, dass Lady Eleanor, während sie krank im Bett liegt, auf Sie angewiesen sein wird.“

„Ich fürchte auch“, seufzte Caroline. „Auch wenn ich nicht mehr Teil ihres Haushalts bin, erwartet sie immer noch, dass ich die Familie vertrete. Ich halte es für keine gute Idee, eine Feier auszurichten, wenn sowohl der Butler als auch die Dame des Hauses verhindert sind.“

Keiner der Bediensteten antwortete ihr, was durchaus nachvollziehbar war, da sie als Angestellte des Hauses keineswegs die Personen kritisieren wollten, die derzeit ihren Lohn zahlten. Caroline wandte sich zur Tür.

„Könnten Sie trotzdem jemanden ins Dorf schicken, sollten Sie Zeit haben, Mrs Maddox?“

„Ich bezweifle, dass das der Fall sein wird, wenn ich mit dem Abendessen beschäftigt bin, Miss. Aber sobald Nathaniel auftaucht, um die Feuerstellen zu versorgen, und falls es aufhört zu regnen, werde ich ihn auf jeden Fall vorbeischicken.“

„Danke.“

Caroline war sich bewusst, dass sie viel verlangte. Ihre Tante war nie die Art von Arbeitgeberin gewesen, die eine umfangreiche Belegschaft unterhielt. Sie hatte sich oft auf Familienmitglieder und ihre Pflegekinder verlassen, um ihr Personal zu ergänzen. Ohne Mr Woodford am Ruder stand der Erfolg der Feier zunehmend auf dem Spiel.

Sie ging die Treppe hinauf und betrat Mrs Frogertons Zimmer, wo sie ihre Arbeitgeberin friedlich in ihrem Bett schlafend vorfand. Die Spitzenhaube hing schief über einem Auge. Auch aus Dorothys Zimmer vernahm sie keine Geräusche. Caroline überließ die beiden ihren Träumen und suchte ihren Onkel Nicholas in seinem Arbeitszimmer auf.

Nachdem sie an die Tür geklopft hatte und in sein Allerheiligstes vorgelassen worden war, fand sie ihn an seinem Schreibtisch sitzend vor, wo er einige Eintragungen in sein Jagdbuch vornahm. Er war ein passionierter Jäger und bezahlte seinen Wildhüter sehr gut dafür, dass er den Bestand an Moor- und Rebhühnern sowie die für seine Jagdgesellschaften erforderlichen Waldgebiete pflegte. Caroline war sich recht sicher, dass die Ställe und Zwinger in einem viel besseren Zustand waren als das Anwesen.

„Ah! Caroline, meine Liebe. Hast du deine alberne Idee vom eigenen Geldverdienen aufgegeben und bist endlich wieder nach Hause gekommen?“ Er lachte herzhaft. „Eleanor wird sich freuen!“

„Ich bin nur zu Mabels Geburtstagsfeier hier, Onkel. Es war nett von Ihnen ihr diese etwas unorthodoxe Feier zu erlauben.“

„Sie ist mein jüngstes Kind. Ich wollte sie nicht enttäuschen.“ Er spielte mit den Schreibfedern auf seinem Schreibtisch. „Ich habe Eleanor auch daran erinnert, dass ein Ball hier viel günstiger ist als eine große Veranstaltung in der Stadt.“

„Sie haben nicht vor, einen in London zu veranstalten?“

„Als Gegenleistung dafür, dass wir dieses Fest ausrichten, hat Mabel einem viel kleineren Empfang zugestimmt, wenn wir in der Stadt sind.“

„Das ist sehr vernünftig und entspricht viel eher ihrem Geschmack“, stimmte ihm Caroline zu. „Ich habe trotzdem die Absicht, nach dem Ball mit Mrs Frogerton nach London zurückzukehren, Sir. Vielleicht kann ich an Mabels Feier dort teilnehmen.“ Caroline machte einen Knicks. „Es ist schön, Sie zu sehen, Onkel.“

„Ich hatte vergessen, dass die von deiner Tante erwähnte neureiche Dame beschloss, dich zu begleiten.“ Er runzelte die Stirn. „Sie ist wohl kaum unsere Art von Umgang, Caroline.“

„Sie ist sehr freundlich zu mir, Sir“, sagte Caroline ruhig. „Vielleicht werden Sie Ihre Meinung ändern, wenn Sie sie heute Abend beim Essen kennenlernen.“

„Das wage ich zu bezweifeln. Sie stammt doch aus dem Norden, nicht wahr?“

„Ja, aus der Gegend um Bradford. Ihre Familie besitzt dort einige Geschäftsanteile, darunter Textilfabriken und mindestens zwei Töpfereien.“

„Sie ist also wohlhabend, hat aber keine Klasse.“ Er nickte, als hätte er bereits beschlossen, sie nicht zu mögen. „Und sie versucht, ihre Tochter einem armen Gentleman aus dem Ton unterzuschieben.“

„Miss Frogerton ist sehr hübsch und verfügt über eine beträchtliche Mitgift.“

„Kaufmannsgeld.“ Er rümpfte die Nase. „Das würde ich nicht in meiner Familie haben wollen.“

„Bei allem gebührenden Respekt, aber ich bezweifle, dass Miss Frogerton an Nicholas oder George Interesse hätte. Sie hat mindestens einen Herzog im Sinn, wenn nicht gar einen Kronprinzen.“

„Die Königsfamilie könnte das Geld sicher gut gebrauchen“, erwiderte ihr Onkel. „Sie geben ein schändliches Beispiel für das ganze Land ab.“

„Hoffentlich wird unsere neue Königin es besser machen, Onkel.“

„Diese Göre? Das bezweifle ich. Sie ist von Ausländern umgeben und schenkt diesem Narren Lord Melbourne Gehör.“

Da sie wusste, dass ihr Onkel seine Abneigung gegen die Hannoveraner gerne ausgiebig ausführte, knickste Caroline erneut und zog sich in Richtung Tür zurück. Sie hatte ihre Pflicht erfüllt, sich vergewissert, dass jeder in ihrer Familie gegrüßt und gebührend gewürdigt worden war, und konnte sich nun ihrer Arbeitgeberin zuwenden.

„Caroline?“

Sie blieb an der Tür stehen und blickte über ihre Schulter. „Ja?“

„Ich bin froh, dich zu sehen, meine Liebe. Deiner Tante geht es in letzter Zeit nicht besonders gut.“ Er zögerte. „Sie war nicht begeistert, diese Zusammenkunft hier zu veranstalten, und würde deine Hilfe sicher zu schätzen wissen.“

„Ich werde mein Bestes tun, um sie zu unterstützen, Onkel“, erwiderte Caroline. Sie fragte sich, ob ihr Onkel und ihre Tante sich vorhin deshalb gestritten hatten. „Das habe ich ihr ohnehin bereits versprochen.“

„Braves Mädchen.“ Er bedachte sie mit einem kräftigen Nicken. „Und jetzt ab mit dir.“

Als Caroline sich durch die Haupthalle zur Treppe bewegte, kam einer der Bediensteten mit einer Truhe durch die Vordertür, gefolgt von einem weiteren. Offenbar hatte es inzwischen zu regnen begonnen, denn die blaue Uniform der Diener war mit dunklen Sprenkeln übersät. Angesichts der Abwesenheit ihrer Tante beschloss Caroline, zu bleiben, um die verspäteten Ankömmlinge zu begrüßen.

„Kommen Sie, meine Lieben. Bringen wir Sie aus diesem scheußlichen Wetter ins Haus.“

Mit einem Lächeln trat Caroline auf die beiden Frauen zu, die unter einem großen Regenschirm Schutz suchten.

„Guten Tag und willkommen auf Greenwood Hall.“ Caroline stockte der Atem, als eine dritte Gestalt hinter den Frauen eintrat und die Tür mit einem Knall hinter sich schloss.

Er blickte sie geradewegs an und wandte dann gezielt die Augen ab, um seine Begleiterinnen anzusehen.

„Hast du alle deine Taschen, Nora? Vielleicht sollte ich noch einmal zur Kutsche gehen und mich dessen selbst vergewissern.“

„Ich bin mir recht sicher, dass ich nichts vergessen habe, Onkel Francis.“ Die junge Frau sprach leicht gehaucht. „Nicht wahr, Mama?“

„Ich denke nicht. Du bist doch für gewöhnlich sehr gut organisiert.“ Die ältere Frau hob ihren Schleier, trat auf Caroline zu und blieb dann mit entsetztem Blick stehen. „Gütiger Gott.“

„Guten Tag, Lady Helen. Meine Tante ist gerade verhindert, hat mich jedoch gebeten, an ihrer Stelle die Gäste zu begrüßen.“ Caroline machte einen Knicks. „Und das muss Nora sein, die gekommen ist, um mit Mabel zu feiern.“

„Ich … habe nicht erwartet, Sie hier zu sehen.“

Das Gleiche könnte ich von Ihnen sagen, dachte Caroline, während sie sich verzweifelt bemühte, die Fassung zu bewahren. Sie und Helen hatten sich früher so nahegestanden wie Schwestern. „Soll ich Sie nach oben zu Ihren Zimmern bringen, damit Sie sich vor dem Abendessen ausruhen können?“

Sie wandte sich der Treppe zu und ignorierte den Mann, der bei der Tür stehen blieb und sie behandelte, als ob sie nicht existierte. Warum auch sollte er sie jetzt überhaupt noch zur Kenntnis nehmen? Er hatte seine Entscheidung getroffen und sie war ein Niemand für ihn - vielleicht sogar noch weniger, nachdem sie so tief gesunken war.

„Lady Helen?“ Sie deutete in Richtung des Treppenabsatzes. „Wenn Sie mir folgen möchten, werde ich veranlassen, dass Ihr Gepäck sofort nach oben gebracht wird.“

Zu ihrer Erleichterung setzten sich die Gäste endlich in Bewegung und folgten ihr. Im Geiste ging sie die Liste der Zimmer durch, die Peggy ihr gegeben hatte, um sich zu erinnern, wo die einzelnen Gäste untergebracht sein würden. Warum war ihr nicht aufgefallen, dass sich Helen unter den Gästen befand? Weil sie den Namen ihrer Tochter nicht mit dem ihres Onkels in Verbindung gebracht hatte und Caroline auch nicht erwartet hatte, dass er seine Nichte zu einer derartigen Feier begleiten würde.

Sie öffnete die Tür zu ihren Gemächern und war froh zu sehen, dass das Feuer bereits prasselte und frische Blumen aus dem Gewächshaus auf der Kommode platziert waren. Ihre Tante war zwar unpässlich, aber ihre Bediensteten befolgten noch immer ihre genauen und detaillierten Anweisungen.

„Das Abendessen wird um sechs Uhr serviert.“ Caroline trat einen Schritt zurück, um die Damen ins Zimmer zu lassen. „Ich schicke Ihr Dienstmädchen hoch, sobald es eintrifft.“

„Danke“, sagte Lady Helen und wandte sich von Caroline ab. „Komm, meine Liebe. Holen wir dich aus diesem nassen Mantel heraus.“

Caroline schloss die Tür hinter sich und stieß beinahe mit Lord Francis Chatham zusammen, der ihnen die Treppe hinauf gefolgt war. Sie hielt ihren Blick auf seine auf Hochglanz polierten Stiefel gerichtet.

„Sie haben das Zimmer nebenan, Sir.“

„Danke.“ Er warf ihr etwas zu und sie fing es instinktiv auf. „Geben Sie das bitte dem Diener, der die Taschen hochbringt.“

Noch bevor sie daran dachte, die Faust zu öffnen, um die sechs Pence in Augenschein zu nehmen, die er ihr so beiläufig zugeworfen hatte, war er auch schon in seinem Zimmer verschwunden und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Sie rang nach Luft, während die Wut in ihr aufstieg. Wie konnte er es wagen, sie wie eine Bedienstete zu behandeln? Am liebsten wäre sie in sein Zimmer gestürmt und hätte ihm die Münze in die Nase gestopft oder an einen ähnlich schmerzhaften Ort.

Als sie einen Schritt auf die Tür zutrat, erstarb ihre Wut so plötzlich, wie sie aufgekommen war. Sie war eine Dienerin. Die Tatsache, dass sie einmal Lord Francis Chathams Verlobte gewesen war, war offenbar etwas, das man am besten vergaß.