Leseprobe Mord im Schloss

Kapitel 1

Paislee Shaw zuckte zusammen, als der Juke über einen großen Stein auf dem brachliegenden Acker holperte, der als Parkplatz für das jährliche Dudelsack-Event im Spätsommer auf Ramsey Castle fungierte.

„Mum!“, beschwerte sich Brody auf dem Rücksitz.

„Pass auf, Mädchen“, nörgelte Grandpa Angus auf der Beifahrerseite. „Einen abgebrochenen Zahn kann ich mir nicht leisten!“

„Entschuldige!“ Die Zähne ihres Großvaters waren alle noch echt und damit sein ganzer Stolz.

Das Armaturenbrett zeigte neun Uhr an und da der Wettbewerb erst mittags beginnen würde, stand nur ein weiteres Fahrzeug auf dem Parkplatz. Aus einem Van mit der Aufschrift CLAN MACTAVISH an der Seite kamen mehrere Musiker herausgeklettert, um Instrumente und ihre Ausrüstung auszuladen.

Sie, Grandpa, Brody und ihr Scottish Terrier Wallace waren früh dran, um die Dowager Countess Grant zu treffen, die Paislees Kaschmirstrickwaren in dem neuen Souvenirladen verkaufen wollte.

Nach dem Wettbewerb würde Lord Patrick Grant, der zu Recht überaus stolz auf seine Grillkünste war, für die zweihundert Leute eine Grillfeier ausrichten. Sein Grillfleisch war das Beste, was Paislee je gegessen hatte. Sie hatte die Veranstaltung ab und zu in ihrer Jugend besucht, aber weniger häufig, als Brody klein gewesen war. Jetzt, wo ihr Sohn älter war, hatte sie keine Angst mehr, dass er über das Feld rennen oder die Tribünen hinunterfallen könnte, und konnte sich etwas entspannen.

Paislee parkte und stellte den Motor ab. „Alle aussteigen und benehmt euch“, sagte sie. „Es ist wichtig, dass wir Shaws einen guten Eindruck machen.“

Sie beäugte Grandpa, der dazu neigte, sich davonzustehlen, dann Brody, der mit seinen zwölf Jahren ständig abgelenkt war, und schließlich begegnete sie Wallaces Blick aus seinen beinahe schwarzen Augen. Das Hündchen schnaubte. Von den Dreien war er der Bravste, obwohl eine Menge Training nötig gewesen war, um seine sture Terrier-Natur zu besiegen. Als sie sich an die Raufereien des letzten Jahres erinnerte, sagte sie zu Brody: „Nicht rangeln, nicht springen, nicht hauen.“

„Mum, nie darf ich Spaß haben“, sagte Brody. „Ich bin doch kein Baby!“ Er trug Jeans und Turnschuhe. Auf seinem T-Shirt war eine Comicfigur abgebildet; sein kastanienbraunes Haar war verwuschelt aber sauber, seine Hand ruhte auf Wallaces blauem Halsband.

„Ich werde extra dafür bezahlt, dein Leben zu ruinieren, wusstest du das nicht?“

Paislee hörte nur mit halbem Ohr zu, während sie die Schlüssel in ihre Handtasche fallen ließ.

„Er macht das schon“, verkündete Grandpa. „Du musst nicht so streng zu dem Burschen sein. So sind Jungs nun einmal.“

Paislee hörte auch ihm nur halb zu. Die beiden verbündeten sich manchmal gegen sie, also musste sie ein Machtwort sprechen. „Nehmt alles mit, was ihr braucht“, wies sie sie an, als sie aus dem Auto stieg.

Zuhause hatte sie das Sagen. Ja, sie durften ihre Meinung äußern, und das taten sie weiß Gott auch, aber sie hatte das letzte Wort. Schlafenszeit, Badezeit, Zähne putzen, Hausaufgaben und Haushalt. Wenn sie ihm auch nur den kleinen Finger reichte, wollte Brody die ganze Hand.

So war der Lauf der Dinge, versicherte ihr Fordythe Primarys Schulleiter, Hamish McCall, aber es blieb ein Streitpunkt zwischen ihnen, nun, wo Brody auf die weiterführende Schule ging.

Grandpas Launenhaftigkeit gehörte der Vergangenheit an, da er nun wusste, dass sein Sohn Craigh am Leben war und sich unter falschem Namen in Amerika aufhielt. Er kochte, was ihr eine Menge Zeit ersparte. Er war meinungsstark und seine Zeitung musste auf eine bestimmte Weise gefaltet sein, aber sie kamen recht gut miteinander aus. An vier Nachmittagen die Woche arbeitete er im Cashmere Crush, was ihm ein kleines Einkommen und ihr eine dringend benötigte Hilfskraft einbrachte.

So seltsam es auch war, Paislee hatte das Gefühl, dass ihre verstorbene Großmutter die Situation guthieß.

Früh am Morgen hatte es wie aus Eimern geschüttet, ein normales Ereignis im üppigen Nairn, aber nun war der Septemberhimmel klar. Nach dem Wolkenbruch roch die Luft frisch. Wallace rannte um den SUV und schnüffelte an der feuchten Erde.

„Brody, er muss angeleint sein. Wir wissen nicht, ob noch andere Hunde hier sind.“

„Mum, er hasst das.“

„Das war der Deal: Du lässt ihn angeleint, oder er bleibt zuhause. Du hast es versprochen. Das kannst du jetzt nicht mehr zurücknehmen.“

Brody stieß den Atem aus, befestigte jedoch die lederne Leine an Wallaces Halsband. Paislee hatte eine Aufgabe in dieser Welt, und die war es, einen anständigen jungen Mann großzuziehen. Alles andere in ihrem Leben war zweitrangig, seitdem sie sich dazu entschieden hatte, alleinerziehende Mutter zu werden.

„Danke.“ Brody reichte Paislee bis zur Schulter, aber Doc Whyte hatte prophezeit, dass Brody noch in die Höhe schießen würde, wie ihr Pa. Er und Grandpa hatten beide braune Augen, während ihre hellblau waren. Neben ihren roten Haaren hatten Brody und sie das gleiche, trotzig hervorstehende Kinn.

„Bitte“, murmelte Brody und ließ Wallace genug Leine, damit der mit dem Jungen im Schlepptau einem Vogel nachjagen konnte.

Warum um alles in der Welt hatte Brody jetzt schon Dreck an den Schuhen? Mist. Paislee wandte den Blick ab und öffnete den Kofferraum.

Ramsey Castle türmte sich zu ihrer Rechten auf. Dieses Bauwerk gab es seit 1820, nachdem das vorige Gebäude abgebrannt war. Um sicherzugehen, dass sich das nicht wiederholte, waren die Wände nun aus dickem Stein für die Ewigkeit gebaut. Es war imposant, ebenso die hohen Türen, die mit Eisen verstärkt waren, um jedem Feind standhalten zu können. Es sah mittelalterlich aus, wie eine richtige Burg.

„Kann ich dir helfen?“ Grandpa setzte seine blaue Schottenmütze in einem verwegenen Winkel auf sein silbergraues Haar.

„Ja, bitte!“ Paislee wählte eine Kiste mit Schals und gab sie ihm, wobei sie die zwei sperrigeren Boxen selbst übernahm.

Er pfiff und tat so, als ließe er die Schachtel fallen.

Paislee keuchte. „Grandpa!“ War sie zu schwer gewesen? „Lass mich das machen.“

„Mir geht’s gut.“ Grandpas Rücken versteifte sich, weil sie nicht begriff, dass er nur Spaß gemacht hatte. „War ein Scherz.“

„Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt!“ Paislee sammelte die anderen zwei Kisten zusammen und machte den Kofferraum zu. Ihre Ware bestand aus feinstem Kaschmir und sie aus dem Schlamm zu fischen war nicht ansatzweise amüsant nach all der Arbeit, die sie in jeden einzelnen Artikel gesteckt hatte. „Sollen wir zum Vordereingang gehen?“

„Ich sehe keinen anderen“, sagte Grandpa.

„Die Dowager Countess hat gesagt, ich soll auf dem Feld parken.“ Paislee balancierte beide Boxen und ihre Handtasche. Lady Shannon Leery hatte sich für Paislees maßgeschneiderte Strickkleidung und Accessoires eingesetzt und sie ihrer Freundin empfohlen. Das bot Paislee die einmalige Gelegenheit, ihre hochwertige Ware zur Schau zu stellen und zusätzliches Einkommen zu ihren Onlinebestellungen und ihrem Geschäft zu generieren.

„Es war nett von Shannon, mich mit der Dowager Countess in Kontakt zu bringen, nicht?“

„Ja. Lady Leery ist eine besondere Frau“, sagte Grandpa. Er kannte die Schönheit schon sein ganzes Leben lang und hatte höchste Achtung vor ihr.

Paislee sah ihren Großvater über die Kisten hinweg an und ihr Magen verkrampfte sich. „Was, wenn der Dowager Countess meine Sachen nicht gefallen?“ Sie hatten sich am Telefon auf ein paar Artikel für den Anfang geeinigt.

„Du bist ein wahres Naturtalent mit deinen Stricknadeln, Mädchen, also mach dir keine Sorgen.“ Grandpa zwinkerte ihr zu, wobei seine Brille auf seiner Nase nach unten rutschte.

„Ach, danke, Grandpa.“

Paislee hatte für den Tag auf dem Schlossgelände Stiefel angezogen, dazu mit Leggings anstelle ihrer Jeans, sowie einen dünnen, geblümten Pullover, den sie aus Merinowolle gestrickt hatte und der ihr bis zu den Oberschenkeln reichte. Lydia Barron-Smythe, ihre beste Freundin auf der ganzen Welt, hatte das Outfit vorgeschlagen.

Sie folgten einem Kiesweg zur Vorderseite des Schlosses. Sie war mehrere Male im Inneren gewesen, aber noch nicht, seit der Wintergarten zu einem Souvenirladen umgebaut worden war.

„Warst du schonmal hier?“, fragte sie ihren Großvater.

„Vor vielen, vielen Jahren“, sagte Grandpa. „Ich bin früher mit dem vorigen Grafen auf die Jagd gegangen, Dermot Grant.“

„Und jetzt ist Robert Grant der Earl of Lyon“, sagte Paislee. „Und Patrick ist für die Jagd zuständig. Die Dowager Countess hat angedeutet, dass die Männer von den Modernisierungen nicht gerade begeistert sind, aber sie wirkt, als hätte sie ihren eigenen Kopf. Etwas, das sie mit Shannon gemeinsam hat.“

Beiderseits des Kieswegs breitete sich ein Teppich aus grünem Gras aus. Paislee ging voran und blieb stehen, als sie sich den hohen Doppeltüren des Schlosses näherten. Davor waren keine Stufen. Holzfässer flossen über mit Spätsommerblumen in kräftigen Farben. Die Blüten milderten die Wirkung der mittelalterlichen Türen kein bisschen.

Wallace schnupperte an einer roten Geranie und schnappte nach einer Biene. Paislee bemerkte Matsch an Brodys Schuhen und fürchtete, dass er den Schmutz mit hineintragen würde. „Ich möchte, dass du hierbleibst, wenn wir reingehen. Versuch, den Hund von den Blumen fernzuhalten. Wir liefern den Kaschmir ab und sind dann sofort zurück.“

„Klar.“ Brody begutachtete die Eisenbeschläge auf den beiden hohen Holztüren wie ein Wissenschaftler. „Können wir auch solche Türen haben?“

„Ich glaube, die passen nicht zu unserem Haus“, sagte Paislee mit einem Lachen. Sie besaßen dank Gran ein älteres Einfamilienhaus, zweistöckig und mit einem Garten, in dem Wallace und Brody herumtoben konnten. Zwei Schlafzimmer und ein Badezimmer lagen oben; ein langes Schlafzimmer und ein Badezimmer im Erdgeschoss; dazu Wohnzimmer, Küche, und eine überdachte Terrasse.

Kein Schloss, aber perfekt für sie.

„Diese Eisenplatten haben wahrscheinlich die Rammböcke abgehalten.“ Grandpa hielt die Cashmere-Crush-Kiste in einem Arm und sah genauer hin. „Seht ihr diese Beule? Diese Türen könnten so einiges erlebt haben.“

„Rammböcke?“, fragte Brody und stellte sich neben Grandpa, um erneut hinzuschauen.

„Vielleicht eine Kanone oder zwei.“ Grandpa nickte. „Schlösser mussten dem Feind standhalten können. Eine Festung sein.“ Er schlug mit dem Eisentürklopfer auf die Metallplatte. Der Klang hallte wider.

„Das ist so cool“, schwärmte Brody. „Wir müssen den Grafen danach fragen.“

Robert Grant würde beim Dudelsackwettbewerb mitmachen, wie es die Mitglieder seiner Familie seit Jahrzehnten getan hatten, und anschließend zur Feier des Tages Essen und Trinken zur Verfügung stellen. Es würden insgesamt zwölf Bands für einen kleinen Geldgewinn gegeneinander antreten.

Die Eingangstür öffnete sich. Ein hübsches Mädchen in einer blauen Hausmädchenuniform zog sie weiter auf. „Willkommen auf Ramsey Castle!“

Hinter dem Hausmädchen stand die Dowager Countess Sorcha Grant, eine große Frau mit dunklen Haaren, grünen Augen und hageren, leicht geschminkten Gesichtszügen. Laut Paislees Onlinerecherchen war die DC dreiundsechzig. Obwohl Paislee bereits auf dem Schloss gewesen war, hatte sie nie offiziell die Familie kennengelernt.

Grandpa nahm seine Mütze ab. Er war sechsundsiebzig und sein Herz gehörte ihrer Großmutter, aber das hielt ihn nicht davon ab, die Dame zu würdigen.

„Paislee Shaw! Herein, herein. Cinda?“ Die Dowager Countess bedeutete dem Hausmädchen und einer weiteren Frau neben ihr, eine süße Blonde mit einer Stupsnase, ihr die Kisten abzunehmen.

Paislee ließ ihre Kiste los und wandte sich zu Brody, der an der Schwelle mit Wallace wartete. „Bleib hier in der Nähe – wir sind gleich zurück.“

„Nicht nötig“, sagte die Dowager Countess. „Jungen und Hunde sind auf diesem Schloss überaus willkommen. Ich habe zwei Söhne und eine Tochter – jetzt erwachsen, aber sie haben einmal ein neugeborenes Kalb hereingebracht, weil sie Angst hatten, dass ihm zu kalt wäre. Was für eine Schweinerei! Das Kalb hat überlebt und es war schön, wie sie sich gekümmert haben.“

Brody sah Paislee lächelnd mit einem Funkeln in den Augen an und nickte dann der Dowager Countess zu. Er trat seine Füße ab, bevor er hereinkam. „Danke schön!“

Die steinernen Flure des Schlosses waren mit dünnen Läufern bedeckt, die wahrscheinlich einfach zu waschen waren. Eine Kuh? Brody kam besser nicht auf dumme Gedanken!

„Ich bin Cinda Dorset.“ Die Blonde klopfte auf den Deckel der obersten Box. „Ich führe den Souvenirshop.“

Paislee befürchtete, einen Fehler gemacht zu haben, als sie alles zum Vordereingang gebracht hatte. „Gibt es noch einen anderen Eingang?“

„Das konnten Sie ja nicht wissen! Er ist hinter dem Gebäude auf der rechten Seite, wir haben gerade erst Kies für einen Parkplatz aufgeschüttet“, sagte die Dowager Countess. „Damit der Souvenirshop durch eine eigene Tür zugänglich ist.“

Die Frau ist sehr freundlich, dachte Paislee. Bodenständig. Wie Shannon Leery, auch wenn sich Shannon feiner kleidete und zwölf Jahre älter als die Dowager Countess war.

„Nicht schlimm“, sagte Cinda mit einem sonnigen Lächeln. „Wir nehmen den Weg durchs Schloss.“

Paislee fasste sich ans Herz, erleichtert, dass sie keinen Fauxpas begangen hatte, nachdem sie Brody und Grandpa dazu ermahnt hatte, sich zu benehmen. „Danke schön.“ Sie wies auf Grandpa. „Das ist Angus Shaw, mein Großvater, und mein Sohn, Brody.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen. Nennen Sie mich Sorcha“, sagte die Dowager Countess. „Und der Hund?“

„Wallace“, antwortete Brody.

Paislee war froh, dass Brody sie nicht Sorcha nannte, auch wenn sie ihnen die vertraulichere Anrede angeboten hatte.

Das Innere des Schlosses bestand aus Holz und Stein. Ein Kronleuchter an der Decke und zahlreiche elektrische Lampen sorgten für üppige Beleuchtung. Auf der rechten Seite gab es einen großen Kamin sowie eine verschlossene Tür. Am Ende des Raums führte eine breite Treppe in den ersten und zweiten Stock mit einer offenen Empore.

„Hier entlang“, sagte Sorcha. Sie wandte sich nach links und folgte einem schmalen Korridor. „Unten ist die Küche; nachdem das ursprüngliche Gebäude abgebrannt ist, wurde dieses hier aus Stein errichtet, der in der Nähe des Flusses abgebaut wurde. Hier auf der rechten Seite liegen mehrere öffentliche Räume – die Bibliothek, ein Büro und ein Salon. Alles ist in Gebrauch. Die Privatgemächer der Familie sind oben.“

Paislee spähte so diskret wie sie konnte in jedes Zimmer und war begeistert, wieviel Geschichte in diesem Gebäude steckte. Durch die extravagante Beleuchtung fühlte es sich lebendig und dynamisch an. Die Stromrechnung wollte sie aber nicht zahlen müssen.

Grandpa und Brody schritten vor ihr her und Wallace ging bei Fuß neben Brody – etwas Neues, das sie für Lydias Hochzeit vor ein paar Monaten mit dem Hundetrainer einstudiert hatten. Cinda lief neben ihr, während das Hausmädchen und Sorcha vorangingen.

Paislee bot an, ihr eine der Kisten abzunehmen, aber Cinda zuckte mit einem Augenzwinkern die Schultern. „Das geht schon“, sagte sie.

Der Korridor machte am Ende einen Knick nach rechts und sie durchquerten weiter das Gebäude, bis sie die andere Seite erreichten.

„Da sind wir!“ Die Dowager Countess öffnete eine weiß gestrichene Tür und sie traten ein. Die Glaswände des ehemaligen Wintergartens ließen Tageslicht herein, was die Laune an grauen Tagen etwas hob. Pflanzen drängten sich auf den vielen Regalen und eine Tür führte nach draußen zu einem runden Tisch mit Bänken; der Parkplatz bestand aus Kies, der so neu war, dass er funkelte. Dahinter lagen Felder, die noch abgeerntet werden mussten, eine Scheune und ein Gewächshaus.

„Sehr eindrucksvoll“, sagte Paislee.

Cinda stellte die Boxen auf einem langen Tresen ab. Das Hausmädchen tat es ihr gleich. „Wie Sie sehen können, haben wir sehr viel Platz. Wir wollen hausgemachte Marmeladen aus unseren Früchten verkaufen, Wurst von Lady Leery und Dörrfleisch aus unserem eigenen Wildbret. Patrick leitet das Projekt. Die Dowager Countess hat ein Buch voller Rezepte von den Vorfahren der Grants zusammengetragen, die auch heute noch gekocht werden.“

„Ein Kochbuch?“, fragte Grandpa interessiert.

„Ja.“ Sorcha nahm den Deckel einer Kiste ab und holte ein feines Kaschmirhalstuch mit dem roten, grünen, dunkelblauen und hellblauen Tartan der Grants heraus. „Oh! Das ist ja wundervoll.“

Grandpa stieß Paislee den Ellbogen in die Seite, als wollte er ausdrücken „Ich hab’s dir ja gesagt“. Die Bewunderung in Sorchas und Cindas Augen erwärmte Paislees Herz.

„Danke schön. Ich habe zwei Pullover, Halstücher und mehrere Schals mitgebracht.“

Paislee zeigte ihnen die Artikel und der weiche Kaschmir unter ihren Fingern bewies seine Qualität. Er war teuer, aber dem richtigen Käufer würde er es wert sein.

„Die werden sich wie von selbst verkaufen!“ Cinda hielt einen Schal hoch. „An mich als Erstes. Ich mag Kaschmir sehr gerne.“

„Das werden wir dann sehen“, sagte Sorcha mit einem weniger wohlwollenden Blick.

„Mum!“, rief eine weibliche Stimme ungeduldig. „Wo bist du?“ Die Tür ging vollständig auf und eine stämmige Frau mit den gleichen dunklen Haaren und grünen Augen wie Sorcha blieb wie angewurzelt stehen, als sie sah, dass ihre Mutter Besuch hatte. „Ups!“

Die Dowager Countess schnalzte mit der Zunge. „Hier bin ich, Lissia. Lissia, das sind Paislee, Angus, Brody und der Hund heißt Wallace. Sie ist die Strickerin, die wir beauftragt haben, um exquisite Ware anbieten zu können. Fühl mal diesen Kaschmir.“

Lissias Wangen erröteten leicht vor Scham. „Entschuldigung, dass ich hier wie ein Milchmädchen rumgeschrien habe. Hallo.“ Sie durchquerte den Raum, gekleidet in einen grauen Kilt mit einer weißen Bluse und einem dunkelblauen Jackett. Spielte sie auch in der Band?

„Siehst du?“ Cinda hielt den Schal an Lissias gerötete Wange. Sie trug den Geruch nach frischer Luft herein – Regen und Gras.

„Ooh!“, sagte Lissia. „Der ist schön. Und mit dem Grant-Tartan? Du hast Recht, Mum. Die werden sich ohne Probleme verkaufen. Das dürfte Robert nicht gefallen.“ Sie grinste bei der Vorstellung, ihrem großen Bruder eins auszuwischen.

Rivalität unter Geschwistern? Meinungsverschiedenheiten darüber, wie es mit dem Schloss weitergehen sollte?

Sorchas Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Lissia musste eine Verbündete sein. „Und wo warst du, mein Schatz?“

„Draußen. Ich habe gebetet, dass wir nicht wegen des Regens abbrechen müssen.“ Lissia krauste die Nase und erzählte Paislee und Grandpa: „Robert ist eingeschnappt, weil Jory mit Clan Cunningham letztes Jahr gewonnen hat. Das Einzige, was es für ihn wieder gutmachen würde, wäre, den Titel zurückzuerobern. Es spielt keine Rolle, dass wir auch in der Band sind – er nimmt es persönlich.“

„Robert ist der Graf“, sagte Cinda, als würde das alles entschuldigen.

„Clanstolz“, verkündete die Dowager Countess.

Lissia wackelte mit dem Finger. „Der Grant Clan wird die Fans nicht enttäuschen.“

„Sie sind in der Band?“ Brody schob sich näher an Lissia heran. „Eine Dudelsackspielerin?“

„Nein.“ Lissia lächelte Brody an und schlug mit unsichtbaren Trommelstöcken auf den Tresen. „Ich spiele Trommel.“

Brody stieß zutiefst beeindruckt einen sehnsüchtigen Seufzer aus. „Das ist ja mega. Ich will auch Trommler werden!“

„Kannst du spielen? Ich war noch klein, als ich angefangen habe, stimmt’s, Mum?“, wandte sich Lissia an Sorcha, die nickte.

„Das warst du. Du bist in die Fußstapfen deines Pas getreten.“ Sorcha tätschelte Lissia die Schulter. „Er wäre stolz.“

„Brody möchte Fußballer werden.“ Wenn er ein Musikinstrument ausprobieren wollte, würde Paislee ihn unterstützen. Lieber die Trommel als einen Dudelsack, dachte sie. Die Musik war kein Problem, aber Dudelsäcke quietschten, wenn man es nicht richtig machte. So war es bei ihr gewesen und sie hatte es nie weiter verfolgt.

„Ich zeige es dir irgendwann einmal“, bot Lissia an. „Jetzt muss ich mit Robert das Timing des ersten Trommelwirbels besprechen. Robert würde sterben, wenn Jory und die Cunninghams zwei Jahre in Folge gewinnen. Wo ist er denn?“

„Robert ist im Musikraum“, sagte die Dowager Countess. „Ich dachte, ich führe die Shaws einmal herum, wenn wir hier fertig sind, falls du dann dazustoßen möchtest. Ist ein Kommissionsgeschäft okay für Sie, Paislee?“

Es war ein Risiko, die teuren Artikel ohne Bezahlung abzugeben, aber mit Aussicht auf eine neue Einnahmequelle war es das wert. „Ja.“

Lissia verließ den Raum zusammen mit dem Hausmädchen. Cinda zeigte Brody und Grandpa Spielzeug, Nippes und einen Kalender mit Fotos des Schlosses, die auch das Originalgebäude aus Holz zeigten, während Paislee den Papierkram für die Lagerung ihrer Artikel ausfüllte. Sie hörte, wie ihr Sohn Cinda nach den Rammböcken fragte.

Bald darauf richtete sich Sorcha auf. „Nun, ich glaube, das war’s. Wir werden beide von diesem Arrangement profitieren. Robert spricht nicht gerne über die nackte Tatsache, dass der Unterhalt eines Schlosses Geld erfordert, besonders, wenn wir mit der Zeit gehen müssen.“

„Shannon sagt das auch immer“, sagte Paislee.

„Sie ist eine gute Freundin und hat mir geholfen, meine Ideen zu verwirklichen, in größerem Rahmen als das Leery Estate natürlich.“ Sorcha umrundete den Tresen. „Möchten Sie das Gelände besichtigen?“

Paislee sah auf die Uhr – nicht einmal eine Stunde war vergangen. Eine private Führung der Dowager Countess würde sie nicht abschlagen. „Wenn es Ihnen keine Umstände macht?“

„Nicht doch. Cinda, könntest du die Ware mit Preisen versehen?“ Sorcha gab ihrer Angestellten in festem Ton Anweisungen.

„Ja. Hat mich sehr gefreut, Sie alle kennenzulernen!“ Cinda ging zum Tresen, während sie den Raum verließen.

Brody rannte mit Wallace nach draußen, als ob er jahrelang eingesperrt gewesen wäre. Paislee biss sich auf die Zunge, um sich davon abzuhalten, ihn zur Ruhe zu mahnen. Er war bislang sehr interessiert und artig gewesen. Hatte sie das seinem Geburtstag neulich zu verdanken?

Sorchas lange Beine kamen schnell voran. Sie trug ein rot-beige kariertes Hemd, das sie in ihre braune Hose gesteckt hatte. Ein schmaler brauner Gürtel ließ auf eine schlanke Taille schließen. „Sie können am Geruch erkennen, dass wir Kühe, Pferde und Schafe besitzen. Sehr viel Wild. Fische im Fluss. Die Bäume liefern uns Feuerholz. Wir versorgen uns fast vollständig selbst, bis auf den Strom. Robert bekommt jedes Mal einen hysterischen Anfall, wenn ich von Solarplatten anfange.“

Ein dunkelhaariger Mann raste auf einem Pferd an ihnen vorbei zur Scheune und außer Sicht, gefolgt von zwei Jagdhunden.

„Wer war das?“, fragte Brody. „Er ist so schnell! War das der Graf?“

„Nein. Mein anderer Sohn, der Zweitgeborene der Drei, Lord Patrick Grant.“ In Sorchas Stimme schwang Stolz mit. „Er hat für das Fleisch für das Grillen nachher gesorgt.“

„Spielt er auch in der Band?“, fragte Grandpa, dessen Mütze wieder auf seinem Kopf saß. Der Himmel war bewölkt und die Morgenluft kalt, aber zumindest regnete es nicht.

„Nein. Patrick ist kein Musiker – ich bin es auch nicht. Wir kümmern uns um andere Dinge, wie die Jagd und die Finanzen“, sagte Sorcha in neckendem Ton. „Wir alle kennen unsere Pflichten hier auf dem Schloss.“

Sorcha lief zum Gewächshaus und öffnete die Tür. Drinnen beugte sich ein Mann über eine Reihe grüner Pflanzen; sein Gesicht war wettergegerbt, als wäre er dauerhaft im Freien. Eine Strickmütze bedeckte sein schwarzes Haar, das leicht mit silbernen Strähnen durchzogen war.

„Finn MacDonald, Hausmeister und Gärtner.“ Sorcha trat über die Schwelle. Ihr Atem beschlug die Glasfenster des Gewächshauses.

„Hi!“, sagte Paislee.

Finn schaute hoch und neigte den Kopf. Vielleicht lächelte er, aber es war schwer zu sagen. „Hallo. Soll ich gehen …?“

„Das musst du nicht“, sagte Sorcha. „Ich führe die Shaws nur herum. Paislee wird uns regelmäßig besuchen, jetzt, wo ihre Ware im Souvenirladen verkauft wird. Stehen die Zuschauertribünen schon?“

„Ja.“ Finn schnitt ein grünes Blatt ab, steckte es ein und machte sich an die nächste Pflanze. „Die Jungs und ich haben uns heute Morgen darum gekümmert.“

„Es hat doch geschüttet!“, sagte Brody.

„Wenn ich jedes Mal wegen eines Regenschauers meine Arbeit unterbrechen müsste, würde ich nie etwas schaffen“, bemerkte Finn mit einem Funkeln in den Augen.

„Danke, Finn.“ Sorcha wandte sich um und winkte sie wieder nach draußen „Finn ist hier meine rechte Hand. Er kennt jeden einzelnen Grashalm. Patrick ist für das Vieh und die Pferde zuständig, während Robert sich um das Grundstück kümmert. Lissia und ich übernehmen das Haus, also die Küche und die Angestellten. Wir sind ein eingespieltes Team hier auf Ramsey Castle.“

Sie erwähnte Cinda mit keiner Silbe.

Sie verließen das Gewächshaus und Sorcha ging auf die Bäume zu: Immergrün, Fichten, Kastanien, Eichen. Paislee erkannte alles, bis auf etwas, das sehr hohem Bambus ähnelte.

„Was ist das?“, fragte Grandpa.

Sorcha folgte seinem ausgestreckten Finger. „Schilfrohr.“

„Hilfrohr?“, wiederholte Brody.

„Nein.“ Sorcha lachte gutmütig. „Es heißt Schilfrohr. Es wird seit den ersten Aufzeichnungen auf Ramsey Castle angebaut, um es in den Dudelsäcken zu verwenden.“

„Wofür?“, fragte Grandpa und kratzte seinen Bart.

„Die Rohrblätter. Ich spiele nicht“ – Sorcha hob die Hände – „aber Dermot, und jetzt auch Robert, beharren darauf, dass natürliche Rohrblätter den wärmsten Klang erzeugen.“ Sie hob flüchtig die Finger an die Lippen. „Ich klinke mich aus, wenn sie davon anfangen. Ich habe Robert gebeten, sie zusammen mit der Clangeschichte im Souvenirshop auszustellen. Er ist noch nicht überzeugt, aber er wird noch begreifen, dass uns jeder kleine Penny hilft.“

Paislee nickte; das verstand sie nur zu gut.

Sie erreichten den Waldrand, der von hohem Schilf und Kiefern gesäumt war. Das Gras bog sich unter ihren Füßen. Wildblumen wuchsen in pinken und gelben Büscheln. Moos bedeckte die Bäume.

Wallace kämpfte gegen die Leine in Brodys Hand an, um ein fettes rotes Eichhörnchen zu jagen, während er mit dem Schwanz wedelte wie ein Matador mit einem roten Tuch.

„Brody!“, warnte Paislee. Zu spät. Wallace befreite sich und bellte wild dem listigen Eichhörnchen hinterher.

Brody stürzte sich auf den Griff der Leine, verfehlte sie jedoch und folgte Wallace in den Wald. Er verschwand hinter den Bäumen. Paislees Puls hämmerte vor Adrenalin – sie hasste es, ihren Sohn und ihren Hund nicht im Blick zu haben.

„Warten Sie hier eine Sekunde.“ Sorcha schritt ihnen nach, während Paislee und Grandpa warteten. Die drei kamen nach einer kurzen Weile zurück, die sich wie ein ganzes Leben angefühlt hatte.

Sorcha hatte Wallaces Leine in der einen Hand, und die andere auf Brodys Schulter gelegt. „Diese Eichhörnchen sind ausgezeichnete Sammler“, sagte sie. „Sie holen sich Nüsse. Beeren. Pilze. Sogar die giftigen.“

„Sie könnten sterben, wenn sie sie essen!“, sagte Brody, die Augen kugelrund vor Sorge.

„Nein. Eichhörnchen können das Gift verdauen, aber es könnte deinen Hund krank machen.“ Sorcha gab Brody die Leine zurück. „Man muss einfach nur aufpassen.“

Wallace keuchte und senkte den Kopf, als Paislee ihn empört anstarrte. „Hat er etwas Giftiges gefressen?“ Sie hatte die Nummer ihrer Tierärztin, Dr. Kathleen McHenry, auf Kurzwahl eingespeichert.

Die schwarze Hundeschnauze war mit Dreck und Gras befleckt. Das Eichhörnchen quiekte schadenfroh aus der Baumkrone.

„Nein. Wallace hat nur an dem Baum gekratzt, um das Eichhörnchen zu erwischen. Machen wir eine Pause an der Scheune, damit Wallace etwas aus dem Trog trinken kann.“ Sorcha entfernte sich vom Wald.

„Danke“, sagte Paislee. „Brody hat auf einem Schulausflug etwas über Pilze gelernt, als er acht war. Weißt du noch?“

„Nicht wirklich“, sagte Brody. „Also fass ich einfach gar keine an. Igitt.“

„Finn sammelt sie und andere Kräuter“, sagte Sorcha. „Unser Koch zaubert einen göttlichen Brandy und eine Wildpilzsuppe, die auch im Kochbuch stehen wird. Vielleicht verkaufe ich in Zukunft auch etwas zu Essen.“

„Das klingt wunderbar“, sagte Paislee. „Pilzsuppe ist sehr lecker, aber am liebsten esse ich eine schottische Hühnersuppe, die meine Großmutter gekocht hat.“

„Ja?“ Sorcha steckte die Hand in die Hosentasche. „Dann würde ich sehr gerne die Rezepte mit Ihnen tauschen.“

„Sicher.“ Sie blieben an der Scheune stehen, wo Wallace so viel trank, wie er konnte. Dudelsäcke und Trommeln erklangen, als die Musiker sich für den Wettbewerb warmmachten.

Sorcha sah auf die Uhr. „Wir gehen besser zurück. Das Einstimmen beginnt um elf Uhr dreißig, der Wettbewerb um zwölf. Meri besteht darauf, dass ihr Zeitplan eingehalten wird.“

„Meri?“

„Meri McVie. Die Jurorin“, sagte Sorcha. „Sie ist die Nüchternheit in Person. Verstehen Sie mich nicht falsch“, erklärte die Dowager Countess, „Ich bewundere starke Frauen. Das muss man auch sein, um in dieser Welt Erfolg zu haben.“ Sie tippte sich auf ihre rosaroten Lippen. „Aber es spricht nichts gegen ein bisschen Lippenstift.“

Kapitel 2

Mehrere Melodien erklangen und brachen dann ab, während sich die Bands einspielten. Sorcha beschleunigte ihre Schritte und drängte sie weiter.

„Ich kriege keine einzige Note zustande, aber ich liebe es, ihnen zuzuhören.“ Ihre Lippen zuckten, als sie ihren Daumen und Zeigefinger zusammenpresste. „Möglicherweise habe ich eine kleine Wette auf meinen Favoriten gesetzt. Haben Sie einen, außer Clan Grant?“

„Clan Campbell“, sagte Paislee. „Unser Freund Jerry McFadden spielt Dudelsack, also feuere ich sie immer an. Sie waren letztes Jahr auf dem dritten Platz.“

„Es war ärgerlich, dass dieser Jory Baxter gewonnen hat.“ Sorcha schaute auf ihre Uhr. „Robert hat sich monatelang darüber echauffiert. Er hatte nicht damit gerechnet, den Titel an einen Newcomer zu verlieren. Wenn die Campbells gewonnen hätten, ja, dann hätte er es sich nicht so zu Herzen genommen.“

Die Spieler waren geschockt gewesen, als Clan Grant verloren hatte. Jerry hatte eine Woche über nichts anderes geredet; wie Jory einfach aus dem Nichts gekommen war, jung und talentiert. Ein Teil des Wettbewerbs erlaubte jeder Band, ihren besten Künstler für ein kleines Solo auszuwählen, und Robert hatte seinen Clan jahrelang zum Sieg geführt.

„Jerry hat erzählt, dass Jory neu in der Clan Cunningham Band war, ist das richtig?“, fragte Paislee.

„Ja“, sagte Sorcha. „Vor Jory Baxter hat Clan Cunningham nie zu den Favoriten gehört. Robert hat sich gefragt, ob Clyde Cunningham einen Betrüger eingeschleust hat, um zu gewinnen.“

„Warum?“, fragte Brody. „Warum einen Betrüger?“

„Jemanden, der sehr gut in seinem Fach ist“, erklärte Sorcha. „Der nur dafür angeheuert wird, um zu gewinnen.“

„Verstößt das gegen die Regeln?“, fragte Paislee.

„Nein.“ Sorcha zuckte die Schultern. „Es kam nur überraschend.“

„Muss man zu dem Clan gehören, um in der Band spielen zu dürfen?“, fragte Grandpa.

„Ich glaube, es wird dazu angeraten, aber ich weiß nicht, wie streng sich daran gehalten wird. Meri wüsste das“, sagte Sorcha. „Die Bandmitglieder von Clan Grant, außer Robert und Lissia, sind Landwirte oder Pächter auf den Ländereien von Ramsey Castle.“

„Also könnte ich nicht beim Clan Grant mitmachen, mit Lissia?“, fragte Brody niedergeschlagen.

Sorcha lachte. „Brody, mein Junge, für dich würden wir einen Weg finden. Um ehrlich zu sein, hat sich die gesamte Grant-Band die Finger wund geübt.“ Sie rieb sich die Hände. „Ich freue mich auf ihren wohlverdienten Sieg heute. Sie können ruhig schon gehen“ – sie wies auf die gestuften Tribünen, die aus Schutz vor dem Regen überdacht waren, und öffnete die Tür des Souvenirshops, wo Cinda auf sie wartete – „es gibt noch ein paar letzte Dinge, um die ich mich kümmern muss.“

„Vielen Dank für alles!“, sagte Paislee.

Die Shaws folgten den unmelodischen, sporadischen Klängen der Instrumente, die gestimmt wurden, zu einem gigantischen grünen Rasenstück auf der linken Seite des Schlosses. Brody und Grandpa liefen neben ihr. Wallace wusste, dass er mit seiner Jagd auf das Eichhörnchen unartig gewesen war, und zog nicht ein einziges Mal an der Leine in Brodys Hand.

Sie erreichten den Rand der Wiese und Paislee blieb staunend stehen, als sie die Explosion von bunten Farben sah. Die Sonne brach durch die Wolken und schien auf die Konstruktion aus Messing und Metall. Zwölf Bands würden gegeneinander antreten, mit jeweils zwischen acht und zehn Spielern, alle gekleidet in passende Kilts in einer Vielzahl von Tartans.

„Na, das ist doch was“, sagte Grandpa in erstauntem Ton.

„Es ist beeindruckend.“ Paislee lächelte ein paar bekannten Gesichtern zu. Dudelsackspieler, Trommler und die Dirigenten versammelten sich in Grüppchen. Jede Gruppe war hier, um ihr Bestes zu geben.

Drei Tribünen waren für die Zuschauer und die Bandmitglieder errichtet worden, die sich setzen und zuschauen würden, wenn sie nicht an der Reihe waren.

„Hey – da ist Jerry.“ Grandpa ging auf Jerry McFadden zu, ein Mitglied von Clan Campbell, der einen Kilt in grün, blau und schwarz zur Schau trug. Wenn Jerry nicht gerade ihre Wolle lieferte, rockte er den Dudelsack. Seine hellbraunen Haare hatten die gleiche Farbe wie sein dicker Schnäuzer.

Jerry sah sie und ließ seinen Dudelsack sinken. „Doch noch ein schöner Tag für den Wettbewerb“, sagte er, als sie näherkamen. „Bei dem Wolkenbruch heute Morgen habe ich mir ja ein kleines bisschen Sorgen gemacht.“

„Gottes Weg, die Kühe zu baden“, sagte Grandpa weise. „Inwiefern gehörst du zum Campbell Clan?“

Jerry stellte seinen Dudelsack vor seinen glänzenden schwarzen Schuhen ab. „Meine Mutter ist eine Cousine der Campbells. Wieso fragst du?“

„Sorcha hat uns erzählt, dass das in den Regeln steht“, sagte Grandpa.

„Sorcha also, ja?“, neckte Jerry.

Paislee lachte, als Grandpa rot anlief.

„Sie hat uns herumgeführt“, sagte Brody. „Mum verkauft ihren Kaschmir im Souvenirshop.“

„Na, das ist ja wirklich schön“, sagte Jerry.

„Ich hoffe, das heißt, dass ich bald mehr Kaschmir bestellen muss.“ Paislee lächelte. „Wir werden sehen. Aber heute geht es um was anderes – heute geht es um dich und den Wettbewerb. Was hast du für ein Gefühl?“

„Ein sehr gutes.“ Jerry beugte sich näher zu ihnen. „Wir haben ein neues Stück gelernt, mit dem uns der erste Platz garantiert ist. Ich wurde von meinen Kollegen als Solist für dieses Jahr gewählt.“

„Was ist mit den anderen Bands?“, fragte Grandpa. Er wies mit dem Kopf auf die Musiker um sie herum.

„Die Grants werden auch gut abschneiden, mit ihrer jahrelangen Übung, aber ich glaube Clan Cunningham ist etwas durch den Wind.“ Jerry nickte in Richtung der rechten Tribüne. „Jory Baxter und Clyde Cunningham haben sich wegen irgendetwas gestritten.“

„Wer ist Clyde?“, fragte Grandpa.

Brody wurde zur Seite gerissen, als Wallace einen anderen Hund sah – auch angeleint, dem Himmel sei Dank. Paislee legte Brody die Hand auf die Schulter und zog die Augenbrauen hoch.

„Clyde Cunningham ist der Pipe Major, also der Leiter der Band. Er dirigiert die Gruppe und hält das Tempo. Er ist dafür verantwortlich, das Programm bei den Juroren einzureichen und auch für die Zusammenarbeit der Band mit dem GHB – Great Highland Bagpipe – Competition Council.“ Jerry wies mit dem Kopf auf einen kleingewachsenen Mann mit kupferroten Haaren im Campbell-Tartan. „Das ist Mattias Campbell, unser Pipe Major. Hält uns bei der Stange. Auch wenn sie beim Wettbewerb kein Instrument spielen, sind sie ein entscheidender Teil der Aufführung.“

Brody konnte seine Ungeduld nicht verbergen, also tätschelte Paislee Jerrys Arm. „Viel Glück euch. Wo werdet ihr sitzen? Wir feuern euch an.“

„Auf der Tribüne hier hinter uns. Wenn du Lust hast, eine Wette abzugeben, ich glaube, wir haben gute Chancen auf den Sieg. Danke!“ Jerry hob seinen Dudelsack hoch und gesellte sich zu der Gruppe um Mattias.

Paislee und Brody gingen mit Wallace zu den Tribünen und ergatterten einen Platz am Ende der zweiten Reihe. Drei Tribünen mit genug Plätzen für zweihundert Leute umringten ein kreisrundes Feld.

„Kann ich spielen gehen, Mum?“ Brody zeigte auf eine Gruppe von anderen Kindern in seinem Alter, die einen Fußball auf dem brachliegenden Acker hin und her kickten, genau in ihrem Sichtfeld.

„Klar. Aber lass Wallace hier, bitte.“

Brody gab ihr widerwillig Wallaces Leine.

„Vielleicht kannst du ihn später wieder nehmen“, sagte Paislee.

„Na gut!“ Brody stob davon.

Wallace schnaubte, als sein Junge zu den anderen lief, und setzte sich mit dem Rücken den Bands zugedreht hin. Aus Protest? Paislee öffnete ihre Handtasche und wühlte nach einem Leckerli. „Bitte schön.“

Wallace schnappte sich den Keks, schluckte und nahm seine Wache wieder auf. Sie goss Wasser in einen Reisenapf und stellte ihn zusammen mit einem Kauspielzeug für den Hund ins Gras. Dann kehrte sie zu ihrem Platz neben Grandpa zurück, zufrieden, dass Wallace sie warnen würde, wenn Brody etwas passierte, und konzentrierte sich auf das kreisrunde Feld.

Um Punkt zwölf Uhr trat Preisrichterin Meri McVie in die Mitte. Sie hatte ein scharfgeschnittenes Gesicht, das dem eines Fuchses ähnelte, und natürliches orangerotes Haar, mit braunen Augen hinter einer silbernen Brille, die unverwandt auf die Zuschauer gerichtet waren. Eine weiße Bluse unter einem schwarzen Jackett, ein blauer und hellgrüner Kilt, und ein Abzeichen an einer Schärpe um ihren Hals verrieten ihre Position.

Meri blies in ihre Pfeife, um die Aufmerksamkeit aller auf sich zu lenken, aber die Teilnehmer waren bereits startklar. Alle Clans hatten sich versammelt. Die Campbells saßen in den ersten beiden Reihen unter Paislee und Grandpa, zusammen mit Clan Buchan, Clan Lincoln und Clan MacTavish.

Gegenüber von Paislee nahm Clan Grant zwei ganze Reihen ein und über ihnen saßen Sorcha und Cinda. Sorcha hatte sich umgezogen und trug nun einen Blazer im Grant-Tartan und eine dunkelblaue Hose. Clan Douglas, Clan Sinclair und Clan McKinley warteten auf ihren Einsatz. Auf der dritten Tribüne saßen Clan Cunningham, Clan Cameron, Clan Graham und Clan Fraser.

„Hallo!“, sagte Meri mit einer klaren Stimme. „Willkommen zum diesjährigen Ramsey Castle Wettbewerb!“

Applaus ertönte.

Die Kinder drängten sich um die Tribünen, um den Anfang mitzubekommen. Paislee gab Brody seine Wasserflasche und bot ihm einen Müsliriegel an, den er ablehnte.

„Lassen Sie mich die Regeln durchgehen.“ Meri las aus einem Klemmbrett in ihrer Hand vor. „Jede Band wird für fünfzehn Minuten oder weniger spielen, aber nicht mehr. Die Lieder müssen dem Programm entsprechen, das der Jury ausgehändigt wurde, also Connor Amington und mir.“ Der zweite Juror war mit seinen siebzig Jahren älter als die fünfzigjährige Meri, und seine Jacke ließ sich vor seinem Bauch nicht vollständig zuknöpfen. „Wenn sie nicht übereinstimmen, wird das Team disqualifiziert.“

Auf den Bänken konnte man Gemurmel hören.

„Der Gewinner des letzten Jahres wird als Letztes auftreten. Clan Grant wird als Vorletztes performen, und Clan Campbell als Drittletztes.“ Meri hob ihr spitzes Kinn und ließ das Klemmbrett sinken. „Dieses Jahr sitze ich zum zehnten Mal in der Jury. Jedes Jahr übertrifft Ihr Talent alle Erwartungen. Es ist mein Privileg, die erste unserer zwölf Bands anzukündigen: Clan MacTavish!“

Das Publikum applaudierte laut, während Meri mit kerzengerader Haltung vom Gras zum Rand des Kreises ging. Connor hielt ebenfalls ein Klemmbrett in der Hand. Die Preisrichter liefen umher und machten sich zahlreiche Notizen, während die Band spielte. Die MacTavish-Kilts waren rot, himmelblau und schwarz, die Hemden weiß und die Jacken blau. Sie waren eine neuere Band und fingen daher an.

Clan Fraser spielte als Nächstes. Die Kilts der Band waren türkis, rot und grau und sie trugen eine graue Jacke über einem weißen Hemd. Wahrscheinlich musste jedes Outfit maßgeschneidert sein und Paislee wollte sich gerne genauer anschauen, wie die Ärmel für Bewegungsfreiheit an der Trommel oder am Dudelsack sorgten. Die horizontalen und vertikalen Muster erlaubten eine Vielzahl an Möglichkeiten, den Tartan zu gestalten.

Der Unterschied zwischen einem Karomuster und einem Tartan bestand in dem sich wiederholenden, regelmäßigen Muster im Stoff, das zu einem speziellen Clan gehörte, während Karomuster jegliche Größe und Farbe haben konnten.

Schließlich war Clan Campbell an der Reihe: Jerrys Team. Bis jetzt hatte Meri keinen Regelverstoß verkündet, aber Paislee würde es so oder so nicht merken. Alle hatten wundervoll gespielt, fand sie, und ihre Hände waren wund von ihrem enthusiastischen Applaus.

In den letzten vier Stunden war Brody für einen Schluck Wasser oder einen Snack vorbeigekommen, war aber zum größten Teil bei seinen neuen Freunden geblieben. Sie bewunderte ihn dafür, dass er so einfach Anschluss finden konnte. Sie war immer schüchtern gewesen.

Grandpa trank sein Wasser aus. „Ich hätte meinen Flachmann mitnehmen sollen“, sagte er und schmatzte. „Du hast nicht zufällig irgendetwas in deiner Handtasche versteckt?“

„Ich habe keinen Whisky dabei, Grandpa. Da liegst du richtig.“ Paislee hatte nichts gegen einen gelegentlichen Schluck, aber sie war kein großer Alkoholfan. Ihr Laster war Schokolade.

„Deine Handtasche ist groß genug für ein ganzes Fass“, kommentierte er.

Sie warf Grandpa einen Blick zu und schaute dann zurück zum Feld. Ihre Tasche war groß, geräumig und perfekt geeignet für alles, was man für einen Ausflug brauchte. „Ich habe noch eine Wasserflasche, wenn du möchtest.“

„Nein, danke. Ich warte auf das gute Zeug.“ Grandpa kratzte sein bärtiges Kinn. „Es wird doch welches geben, oder?“

„Getränke werden nachher mit dem Grillfleisch serviert, ja.“ In den vorigen Jahren waren Sitzgelegenheiten neben mehreren großen Grills aufgestellt worden. Es gab Bier- und Whiskyfässer, Tee und Kaffee, und natürlich Kisten von Irn Bru, Schottlands beliebtestem Softdrink.

„Auf einem Schloss hätte ich auch nichts Geringeres erwartet“, sagte Grandpa.

„Hast du mal Dudelsack gespielt, Grandpa?“

„Ein klein wenig.“ Er fasste sich an die Krempe seiner Schottenmütze. „Genug, um es besser den Profis zu überlassen.“

„Jerry hat ihn als GHB bezeichnet.“

„Ja.“ Grandpa zeigte auf Jerry, als er mit seinen Bandmitgliedern auf dem Feld seine Position einnahm. „Die Great Highland Bagpipe. In dem ledernen Sack wird die Luft gesammelt, und es gibt zwei Tenorbordune – die kürzeren Pfeifen dort – und die Große über Jerrys Schulter wird Bassbordun genannt.“

„Ich sehe die Rohrblätter nicht, von denen Sorcha gesprochen hat“, sagte Paislee.

„Oh, das kannst du auch nicht“, sagte Grandpa. „Sie sind im Inneren des Instruments.“

„Ich musste in der Grundschule Blockflöte lernen und Brody auch. In der ersten Klasse.“ Paislee sah Grandpa lächelnd an, als sie sich an den fürchterlichen Lärm erinnerte, den ihr Sohn veranstaltet hatte, und sie selbst war nicht besser gewesen. „Du hattest Glück, dass du damals nicht bei uns warst. Das war vielleicht ein Krach.“

Grandpa lachte. „Glaubst du, er will wirklich Trommel spielen lernen?“

„Ich bete, dass er es vergisst, wenn er nächstes Wochenende Fußball spielt“, sagte Paislee.

„So ist der Lauf der Dinge“, stimmte Grandpa ihr zu. „Jungen sind sehr sprunghaft.“

„Psst! Sie fangen an.“ Zu Paislees Freude stand Jerry nah genug, dass sie ihm beim Spielen zuschauen konnte. Sie war stolz auf ihn, dass er für das Solo ausgewählt worden war.

Clan Campbell hatte zehn Mitglieder: vier Trommler und sechs Dudelsackspieler, mit dem Pipe Major, Mattias Campbell. Jerrys Solo war umwerfend. Seine Atemzüge, wie er den Luftsack hielt, die goldenen Verzierungen auf den Pfeifen … er webte einen Zauber aus der Musik, der sie zutiefst bewegte.

Jemand – nicht Jerry – traf den falschen Ton, aber erholte sich rasch. Bei dieser starken Konkurrenz hatte es nur wenige Fehler gegeben, sogar bei den weniger erfahrenen Bands.

Als es vorbei war, stampften die Leute auf der Bank mit den Füßen und bejubelten den Auftritt der Campbells.

„Das war großartig!“ Paislees Herz raste vor Aufregung.

„Schwer zu glauben, dass so ein sperriges Instrument so schöne Klänge erzeugen kann.“ Grandpa zog bewundernd den Hut – besser gesagt, die Schottenmütze. „In den richtigen Händen zumindest. Ich bin froh, dass ich diesen Traum aufgegeben habe.“

Clan Campbell verließ unter begeistertem Applaus das Feld.

Als Nächstes kam Clan Grant. Acht Musiker in ihrer Gruppe, mit Robert an der Spitze. Lissia hielt die Marschtrommel genau so stolz wie ihr Bruder die Great Highland Bagpipe.

Die Dowager Countess, die auf der Tribüne gegenüber saß, stand auf und klatschte.

Robert Grant, mit jeder Faser seines Körpers der Earl of Lyon, verbeugte sich in ihre Richtung. „Dieses Set ist unserer Mutter gewidmet, der Dowager Countess Sorcha Grant, unserer größten Unterstützung.“

Sorcha Grant verbeugte sich ebenso. „Vielen Dank für die Widmung, meine Lieben.“ Sie ließ den Blick durch die Menge schweifen, als ob sie nach jemandem Ausschau hielt … Patrick? Er war nicht da, um den Moment mitzuerleben.

Finn McDonald sah von der Seite aus zu und starrte mit verschränkten Armen die lärmende Meute um Jory Baxters Team finster an. Clan Cunninghams Fans skandierten Jorys Namen, obwohl die Grants auf dem Platz standen.

Cinda, die neben Sorcha saß, trug solidarisch die Farben der Grants mit einer leuchtend roten Bluse mit grünen, dunkelblauen und hellblauen Akzenten. Sie schaute ebenfalls immer wieder zu Jorys Gruppe hinüber. Würde sie dem Clan Grant treu bleiben, oder stand sie auf der Seite des anderen Teams?

Paislee erinnerte sich nicht an Jory Baxters Sieg im letzten Jahr, also war sie froh, dass sie einfach unvoreingenommen die Musik genießen konnte. Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Rasen, als der Dirigent des Clan Grant die Hand hob.

Die acht Bandmitglieder reckten synchron die Brust und strafften die Schultern.

Sie trugen weiße Hemden unter taillierten dunkelblauen Jacken, rote, grüne, dunkelblaue und hellblaue Kilts, dunkelblaue Socken und Schuhe. Die Luft blieb unter dem bedeckten Himmel kühl – immer noch kein Regen, ein kleines Wunder, wenn man bedachte, wie der Tag begonnen hatte.

Paislee rutschte auf dem Sitz nach vorne, die Hände auf ihren Knien.

Der Auftritt der Grants klang himmlisch. Lissia war meisterhaft mit ihren Trommelschlägen, von weich bis laut, drängend bis lässig. Ihre Ahornschlägel erzeugten einen schmissigen Klang. Oh, und wie Robert spielte, als er die Führung übernahm und jeden wissen ließ, als er auf Jory und Jorys Team zutrat, dass er hier war, um zu gewinnen. Um seine Krone zurückzuerobern.

Wie könnte Jory Robert besiegen, der heute wie von den Engeln gesegnet spielte? Als es vorbei war, war Paislee so überwältigt, dass sie eine Träne von ihrer Wange wischen musste, bevor sie aufsprang und applaudierte, bis ihr die Hände wehtaten.

„Das war wunderschön. So wunderschön“, sagte sie.

Grandpa klatschte laut und stampfte anerkennend mit den Füßen. „Sie müssen gewinnen. Wie könnte das noch irgendwer übertreffen? Kein einziger verflixter Fehler im ganzen Set.“

Sie sahen die Preisrichter an, die etwas auf ihre Klemmbretter schrieben. Waren sie auch so hingerissen?

Es dauerte einige Momente, bis sich die Menge beruhigte, und schließlich musste Meri sie mit ihrer Pfeife zum Schweigen bringen.

„Und das war Clan Grant! Robert Grant, Lissia Grant, und die Mitarbeiter von Ramsey Castle”, verkündete Meri. Sie hielt ihr Klemmbrett an die Brust gedrückt, wie um ihre Notizen vor neugierigen Blicken zu verbergen.

„Gut gemacht!“, lobte Connor, der andere Juror, während die Grants erhobenen Hauptes vom Rasen zur Tribüne gingen.

Sorcha hauchte den Grants von der obersten Reihe einen Kuss zu.

Paislee spähte über die Schulter. Wallace passte immer noch auf Brody auf, während er mit seinen neuen Freunden Fußball spielte – alles in Ordnung.

Sie drehte sich wieder zum Feld um. Die High Fives und Jubelrufe verklangen langsam, als alle wieder ihre Plätze einnahmen.

Jory Baxter und sein Team, Clan Cunningham, waren an der Reihe. Clyde Cunningham war der Pipe Major. Er hatte braune Haare und trug sie vorne lang und hinten kurz. Paislee schätzte ihn auf Anfang Vierzig.

Paislee war sich absolut sicher, dass Jory und sein Team unmöglich übertrumpfen konnten, was sie gerade gehört hatten.

Es dauerte eine Weile, bis die Spieler von Clan Cunningham ihre Positionen gefunden hatten. Sie fragte sich, ob die vorigen Auftritte sie nervös gemacht hatten, oder ob es sie nicht kümmerte. Die Spannung stieg.

Jerry und die Campbells saßen in den ersten zwei Reihen bei den anderen Clans. Sie hörte sie murmeln, dass es unmöglich sein würde, Robert zu besiegen, und sicherlich würden die Campbells auf dem zweiten Platz landen.

Endlich stand Clan Cunningham in Formation. Sie waren genauso beeindruckend wie es die Bands vor ihnen gewesen waren. Ihre Kilts waren schwarz und rot mit dünnen weißen Streifen; dazu trugen sie schwarze Socken und Schuhe, sowie schwarze Hemden. Die schwarzen Jacken waren tailliert geschnitten.

Die zehn Mitglieder der Gruppe teilten sich genau in fünf Trommler und fünf Dudelsackspieler auf, mit Jory an der Spitze. Zwei der Marschtrommler waren Frauen. Hübsche Mädchen, schlank aber stark. Es gab eine große Trommel und zwei mittelgroße Trommeln, die Tenortrommeln genannt wurden, wie Grandpa erzählte.

Clyde drehte sich zu ihnen und hob dramatisch seinen Tambourstab in die Höhe.

Vereinzeltes Gejohle wehte zum Feld herüber.

Jory Baxter hatte lautstarke Anhänger im Publikum, obwohl die Veranstaltung auf Grant-Boden stattfand; Schotten verteidigten ihr Recht auf eine eigene Meinung aufs Schärfste, Gutsherr oder nicht. Man musste sich seinen Respekt erst verdienen.

Spannung hing schwer in der Luft, wie ein Sommergewitter kurz bevor der Regen fiel.

Jory hatte mit seinem Solo im Vorjahr Robert vom Thron gestoßen und Clan Cunningham den Sieg gebracht. Der Geldgewinn war rein symbolisch, aber das Recht, mit dem ersten Platz zu prahlen, war heiß begehrt. Sorcha hatte gesagt, dass es um den Clanstolz ging.

Robert war ein gutaussehender Mann von vierzig Jahren und Jory erst dreißig. Roberts Stil war klassisch, dunkelhaarig und glatt rasiert. Jory hatte rabenschwarze Augen und schwarze, schulterlange Locken, die er mit einem ledernen Haargummi zurückgebunden hatte. Sein Profil war sinnlich, seine Hände, die den Dudelsack griffen, ganz ruhig.

Paislee sah mit trockener Kehle zu, wie Jory das Mundstück der Pfeife an seine vollen Lippen führte. Wie die Muskeln in seinen Armen zuckten, als er den schwarzen Luftsack so sinnlich wie eine Geliebte an sich drückte, während seine Finger die Spielpfeife umschmeichelten. Silber blitzte an den Bordunen auf. Paislee schluckte und fächelte sich Luft zu.

Die anderen in seiner Gruppe warteten darauf, dass er anfing, statt wie sonst zu Beginn üblich die Trommler, und dann wurde die Band eins. Wie die anderen Clans zeigten sie pures Talent, ein Meisterwerk.

Der Zauber verflog, als Paislee Lissia und Robert sah, die unterhalb von Sorcha saßen. Lissia starrte Jory finster an, aber Roberts Miene blieb gleichgültig. Der arrogante Schlossherr stand über dem Pöbel.

Cinda schaute immer wieder zu Robert, dann zu Jory und Cunninghams Musikern. Wen feuerte sie an?

Das Lied endete. Das Publikum explodierte förmlich, aber es war noch nicht ganz vorbei. Sie mussten noch einen letzten Song spielen. Das würde Jorys Solo sein. Jory sah mit einem abschätzigen Schmunzeln zu Robert, Lissia und Sorcha.

Dann atmete er ein und legte die Lippen an das Mundstück. Mit geschlossenen Augen blies er in die Pfeife.

Und dann … nahm sein Gesicht einen dunklen, rotvioletten Ton an. Er fiel zu Boden, wobei er gegen die anderen Musiker stieß. Sie brachen alarmiert ab – das gehörte nicht zur Aufführung. Sollten sie weitermachen? Die Trommlerinnen verlangsamten ihre Schläge auf die runden Felle.

Jory schlingerte und seine Lider schlossen sich flatternd, als er auf dem Rücken landete.

Das sperrige Musikinstrument fiel mit einem Scheppern zu Boden, wobei die Pfeifen gegeneinanderstießen. Sein Kilt rutschte bis zur Hüfte hoch.

Es stimmte, dass Männer nichts darunter trugen, und Jory entblößte sich kurz vor dem Publikum, bevor der Tartan auf seinen muskulösen Oberschenkeln zum Liegen kam.

Sein Dudelsack gab ein schreckliches Quietschen von sich, das sich mit dem Schrei von Cinda Dorset vermischte.

Kapitel 3

Jerry, in der ersten Reihe vor Paislee, sprang auf Jory zu. Grandpa umklammerte seine Knie mit den Händen. Paislee blickte hinter sich, um sicherzugehen, dass mit Brody alles in Ordnung war. Wallace jaulte, als wüsste er, dass gerade etwas passiert war, hielt seinen Blick aber auf seinen Jungen gerichtet.

Brody ging es gut, die Kinder hatten nichts von dem Tumult mitbekommen.

Jerry kniete sich neben Jory und zog diskret den Saum von seinem Kilt über dessen Knie. Die grünen, blauen und schwarzen Campbell Kilts und die rotschwarzen Kilts der gegnerischen Cunninghams überlappten sich auf dem Rasen.

Grandpa stand unter dem Dach auf, die Hände in die Hüften gestemmt. Er lehnte sich vor, wie um besser sehen zu können, und Paislee hatte Angst, dass er fallen könnte.

Jory, der ausgestreckt auf dem Rücken lag, holte zitternd Luft. Jerry hob Jorys Kinn. Was konnte dazu führen, dass ein junger Mann in der Blüte seines Lebens einfach so ohnmächtig wurde? Ein Schlaganfall? Herzinfarkt? Luftmangel durch den Dudelsack?

Jory regte sich mit einem Stöhnen, sagte aber nichts.

Jerry erhob sich und stieß aus Versehen mit dem Zeh gegen Jorys Dudelsack, als er zurücktrat. Das Instrument kreischte wie eine wütende Katze. Jerry hob ihn auf und betrachtete ihn verwirrt. Die brünette Trommlerin stieß auf dem Weg zu Jory mit Jerry zusammen und er ließ den Dudelsack erneut fallen.

„Entschuldigung“, sagte Jerry. Er legte das Instrument zur Seite auf die Bank.

„Was ist mit Jory?“, fragte die junge Frau. Mit der Plastikhalterung ihrer Trommel kam sie nur schwer an Jerry vorbei und konnte sich nicht hinknien.

Paislee holte ihr Handy raus. „Ich rufe den Notarzt.“ Niemand widersprach, und sie wählte die 999, gab die Adresse an und erklärte, dass Jory während eines Dudelsackkonzerts auf Ramsey Castle zusammengebrochen war.

Leute drängten sich um Jory, um herauszufinden, was passiert war, aber Meri blies in ihre Pfeife und befahl ihnen, zurückzutreten.

„Ein Krankenwagen ist auf dem Weg“, rief Paislee ihr zu.

„Gut.“ Meri beugte sich vor und fasste an Jorys Handgelenk und dann an seinen Hals und nickte Jerry zu.

Paislee ließ erleichtert die Schultern sinken. Jory war am Leben und war wahrscheinlich nur aus Luftmangel ohnmächtig geworden. Es brauchte Können, um den Dudelsack zu meistern.

Er hatte letztes Jahr gewonnen und schien zu wissen, was er tat, also war nicht anzunehmen, dass er nicht wusste, wie man richtig atmete. Allerdings war er jung und hatte sich vielleicht zu sehr gefordert.

Warum wachte er dann nicht auf?

Robert kletterte die Metalltribüne herunter auf den Rasen. Das war nicht mehr der arrogante Graf, der mit seinem Clan Dudelsack spielte, sondern ein Mann, der sich Sorgen um seinen Bandkollegen machte. Er ignorierte Meris Anweisungen und blieb neben Jory stehen.

„Was ist passiert?“, wollte Robert wissen.

„Ich weiß es nicht“, sagte Jerry. „Er hat gespielt und ist dann einfach umgekippt.“

„So hat es auf mich auch gewirkt“, sagte Meri. „Bitte treten Sie zurück und lassen Sie Jory ein bisschen Platz.“

„Wo ist Clyde?“, fragte Jerry. „Sein Champion liegt am Boden.“

Paislee ließ den Blick durch die Menschenmenge schweifen und sah Clyde am Telefon, wie er mit jemandem stritt und wild gestikulierte.

„Unfassbar!“ Die blonde Trommlerin blickte finster zu Clyde hinüber, der nichts davon mitbekam und immer noch telefonierte.

Meri schaute mit schmalem Blick zu dem Dirigenten. Clyde verhielt sich äußerst merkwürdig. Jerry hatte schnell reagiert, als er Jorys Dudelsack auf die Bank gelegt hatte, wo er nicht zertreten werden würde.

Lissia verließ ohne ihre Trommel und den Haltegurt ihren Posten auf der Tribüne, gefolgt von Sorcha und Cinda, die sich mit Mattias Campbell unterhielten. Lissia hingegen bahnte sich den Weg zu Jerry mit einem sorgenvollen Ausdruck in ihren grünen Augen.

„Hey, Jer“, sagte Lissia. „Was ist mit Jory passiert?“

Jerry zuckte besorgt die Schultern. „Ich habe keine Ahnung.“

Es war klar, dass die beiden sich kannten, denn die Pipe Bands waren trotz des Wettbewerbs eine Gemeinschaft. Lissia schaute immer wieder zu Jory und in ihrem Blick lag mehr Gefühl, als ihr älterer Bruder zeigte. Möglicherweise hatte sie als Tochter der Gräfin mehr Spielraum, um Emotionen zu zeigen?

Endlich hörte Paislee Sirenen. Das genügte, um Brody zu alarmieren, und er kam zu ihr, Grandpa und Wallace auf die Tribüne gerannt, wo er neben den Sitzen stehenblieb. Sie wollte unbedingt wissen, ob es Jory wieder besser gehen würde.

„Grandpa, bitte schau nach, was dort los ist“, sagte Paislee und schickte Angus ins Getümmel, trotz Meris Bitte an alle, sitzen zu bleiben und Ruhe zu bewahren. Ruhig bleiben war unmöglich angesichts der Tatsache, dass der Champion des Vorjahres in Ohnmacht gefallen war.

„Mache ich. Bin gleich zurück.“ Grandpa rückte seine Mütze zurecht und stieg die Reihen erstaunlich behände für einen sechsundsiebzigjährigen Mann hinab.

Der Krankenwagen hielt und hinterließ Spurrillen auf dem makellosen Rasen. Jerry, Robert, Sorcha, Cinda und Lissia warteten am Rand des Kreises. Grandpa stand neben Meri und Connor. Patrick kam von seinen Jagdhunden gefolgt auf dem Pferd angeritten und sprang voller Anmut und Kraft herunter.

„Was ist hier los?“, wollte er wissen.

„Wo warst du?“, fragte Sorcha leise. „Ich habe dich gebeten, unsere Band zu unterstützen, während sie spielt.“

„Das habe ich nie gesagt. Ich helfe mit dem Wild“, entgegnete Patrick. Er bahnte sich den Weg zu dem Halbkreis um die Sanitäter und Jory, während das Team Jory auf eine Trage hob. „Was is’ los?“

„Jory ist ohnmächtig geworden.“ Cinda stellte sich dicht neben Patrick und legte vertraulich ihre Hand auf seinen Arm. „Bevor sie zu Ende gespielt hatten“.

Patrick schnaubte, schaute seine Mutter an und schüttelte Cinda ab. „Ohnmächtig geworden? Toller Champion“, sagte er. „Naja. Schätze dann haben die Grants gewonnen, was?“

Meri und Connor wirkten beide entsetzt über Patrick Grants grausamen Kommentar.

Lissia scharrte mit dem Fuß durchs Gras, als ob sie sich am liebsten in Luft auflösen würde. „Idiot.“

Patrick plusterte sich bei der Bemerkung seiner Schwester vor Wut auf. Cinda starrte Lissia böse an. Lissia schien sich um Cindas Meinung genauso wenig zu scheren, wie Sorcha es getan hatte.

Robert verschränkte die Hände und biss die Zähne zusammen. „Was geschieht jetzt?“ Der Graf wandte sich zuerst an Meri, dann an Connor. „Eine Wiederholung?“

Meri stieß den Atem aus und beriet sich dann mit Connor. Sie unterhielten sich noch immer im Flüsterton, als die Sanitäter Jory in den Krankenwagen beförderten.

Die Trommlerinnen von Clan Cunningham, die ihre Haltegurte mittlerweile abgelegt hatten, boten an, zum Krankenhaus mitzufahren.

Die Brünette warf Clyde einen stechenden Blick voller Ablehnung zu und sagte dann zu Meri: „Jory ist mit Cass und mir hergekommen, also begleiten wir ihn. Jorys Gesundheit ist wichtiger als der Wettbewerb.“

Cass, die blonde Trommlerin, stimmte ihr zu und wischte sich die Tränen aus den Augen.

„Natürlich“, sagte Meri sofort, „Jorys Gesundheit ist das Wichtigste. Sind Sie denn in der Lage zu fahren?“

„Mir geht’s gut“, sagte die Brünette und wischte sich die Wangen. „Beeilen wir uns, Cass.“

Der Rest von Clan Cunningham schien sich eher für den Wettkampf zu interessieren als für Jorys Zustand. Clyde hatte endlich aufgelegt. Was war da los gewesen? Was war dem Mann wichtiger als der Zusammenbruch seines besten Dudelsackspielers?

Paislee konnte von ihrem Platz in den gestaffelten Reihen aus alles von oben beobachten. Die Brünette rief Clyde zu: „Wir rufen dich an, sobald wir etwas Neues wissen. Kannst du bitte dein Handy weglegen? So was Ekelhaftes!“

Clydes Kehle und seine Stirn färbten sich dunkelrosa, als er von seinen Bandkollegen zur Rede gestellt wurde. „Ja. Danke.“

„Du wirst woanders mitfahren müssen“, sagte Cass. „Könntest du unsere Trommeln einladen?“

„Ja.“ Clyde kam zu ihnen herüber. „Es tut mir leid. Jory geht’s bestimmt gut. Ich fahre mit unserer Ausrüstung bei Ewan im Van mit.“

Paislee, die alles mitangehört hatte, überlegte, ob sie sie auf Jorys Dudelsack aufmerksam machen sollte, aber sie hatten sich bereits weggedreht. Clyde ging mit den Frauen zum Parkplatz auf dem Acker. Jerry hatte den Dudelsack davor bewahrt, zertrampelt zu werden, und würde ihn ohne Zweifel zurückgeben, wenn sich die Dinge beruhigt hatten. Paislee suchte die Menschenmenge nach Jerrys vertrautem Gesicht ab, sah ihn aber nicht.

Der Krankenwagen fuhr mit Blaulicht und Sirene davon und unter den Leuten auf dem Rasen machte sich unbehagliche Stille breit.

Robert Grant, wieder ganz in seiner Rolle als Earl of Lyon, steckte zwei Finger in den Mund und pfiff. Das durchdringende Geräusch zog alle Aufmerksamkeit auf sich.

Meri trat näher zu Robert und spähte zu ihm hoch; ihr karottenrotes Haar lag auf einer Seite flach an ihrem Kopf, als hätte sie es wieder und wieder plattgedrückt „Das ist mir noch nie bei einem Wettbewerb passiert.“ Sie überflog ihr Regelwerk. „Hier steht eindeutig, dass das Team verliert, wenn es die Aufführung nicht zu Ende bringen kann.“

Keuchen und Buhrufe schallten über den Rasen.

Robert hob die Hand, um die Menge zum Schweigen zu bringen. Nachdem er einen Moment darüber nachgedacht hatte, sagte er: „Ich wäre bereit, noch innerhalb dieses Monats eine Revanche für die besten drei Teams anzubieten, sobald Jory wieder bei voller Gesundheit ist.“

Lissia und Patrick setzten beide die gleiche säuerliche Miene auf. Einige der anderen Teilnehmer beschwerten sich, dass das nicht fair sei. Alle zwölf Bands sollten auftreten dürfen, wenn sie den Wettbewerb nachholen würden, nicht nur die drei besten aus dem Vorjahr.

„Nehmt einfach den Sieg an“, sagte eine Frau vom Clan MacTavish. „So sind die Regeln.“

Manche ihrer Bandkollegen protestierten. Die Reaktionen waren gemischt und Paislee tat Meri leid, die einfach nur das Richtige tun wollte.

Robert schüttelte den Kopf. „Mein Clan und ich fänden es nicht richtig, unter solchen Umständen einen so wichtigen Titel zu gewinnen.“

Lissia biss die Zähne zusammen, widersprach ihm aber nicht. Anscheinend sprach für Lissia nichts dagegen, den Sieg anzunehmen, aber Paislee konnte ebenfalls verstehen, dass Robert als Graf allen gegenüber fair sein wollte.

„Und wer hat gesagt, dass ihr gewinnt?“, forderte Mattias Cambell ihn heraus. Paislee gefiel sein Mumm.

„Wir haben die Punkte noch nicht zusammengezählt“, sagte Meri. „Dieses Jahr war es ein sehr enges Rennen. Wir werden das GHB Council befragen, was wir tun können.“

„Was denken Sie, Connor?“, fragte Robert.

„Der Rat wird es dann genehmigen müssen, ja, aber lassen wir die Leute erst einmal abstimmen, ob die Wiederholung stattfinden soll“, verkündete Connor in einem Ton, der andeutete, dass die Situation äußerst ungewöhnlich war.

Grandpa beobachtete das Geschehen und strich nachdenklich seinen Bart glatt. Warum sollte es ihn kümmern, ob es eine Wiederholung gab oder ob die Grants gewannen? Es sei denn, er hatte einen Weg gefunden, eine kleine Wette abzugeben?

Jerry hatte gemeint, dass sie gute Anwärter für den Sieg wären.

Paislee wettete nicht. Sie hatte nichts dagegen, aber sie hatte selten genug Bares dafür übrig, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Gran darauf herabgeschaut hätte.

Meri wippte auf den Fersen nach hinten und nickte Connor zu. „Wenn sich die Clans in Gruppen versammeln, können wir besser die Stimmen zählen.“

Im Handumdrehen standen sie in Grüppchen von acht oder zehn Leuten zusammen, bis auf den Cunningham Clan, dem drei seiner Mitglieder fehlten.

Meri fragte: „Clan MacTavish – heben Sie die Hände, wenn Sie einer Wiederholung zustimmen.“

Ihr Pipe Major trat vor. „Wir finden, dass alle zwölf Teams eine zweite Chance bekommen sollten.“

Applaus ertönte von der Mehrheit der Clans.

Meri und Connor berieten sich.

Meri kehrte zurück. „In Ordnung. Alle zwölf Clans, der Fairness halber.“

Robert verzog das Gesicht – zweifellos sah er die hohen Ausgaben für Essen und Getränke vor sich, die auf ihn zukamen, wenn er so bald wieder der Gastgeber wäre. Würde er es bereuen, den Sieger, wer auch immer das gewesen wäre, nicht durch Aufgabe gewinnen zu lassen? Wie sehr glaubte er daran, die Campbells besiegen zu können?

Der Pipe Major von Clan MacTavish hob den Tambourstab. „Ja. Wir werden da sein.“

Als Clan Campbell und Clan Grant an der Reihe waren, ihre Stimme abzugeben, war bereits klar, dass der gesamte Wettbewerb neu abgehalten werden würde, wenn das Komitee es genehmigte.

Sorcha, Robert, Lissia und Patrick hatten sich unterhalten und nun trat Robert mit locker herabhängenden Armen vor.

„Lasst uns die Feierlichkeiten heute Abend genießen“, sagte Robert gnädig. „Statt eines Gewinnerteams werden wir heute unser aller Talent feiern. Mein Bruder Patrick hat zusammen mit unserem Koch Grillfleisch vorbereitet, das eines Königs würdig ist. Wild, Steak und natürlich Whisky!“

Das bekam den bisher größten Applaus.

„Und was ist mit Jory?“, fragte Jerry mit hochgezogenen Brauen. Irgendwann im Laufe der Diskussion hatte er sich hingesetzt. Er schien nicht so gewillt wie die anderen lockerzulassen, wahrscheinlich weil er als Erstes an Jorys Seite geeilt war. Paislee wusste aus eigener Erfahrung, was das mit einem machte.

„Wir werden als Erstes auf Jory und seine Gesundheit anstoßen“, sagte Robert in aalglattem Ton. „Gehen wir zur Rückseite des Schlosses – folgen Sie einfach dem Geruch von gegrilltem Fleisch!“

Finn McDonald und die Dowager Countess gingen voran. Patrick reichte Cinda die Zügel seines Pferds und gesellte sich zu Lissia und den anderen Bandmitgliedern von Clan Grant. Cinda sah ihm mit leuchtenden Augen hinterher.

Paislee, Brody, Wallace und Grandpa bildeten die Nachhut, da sie sich vom Gedränge fernhalten wollten. Als sie zu der Bank sah, wo Jerry gesessen hatte, bemerkte sie, dass dessen Dudelsack, ebenso wie der von Jory, verschwunden war.

„Grandpa, hast du gesehen, was mit Jorys Dudelsack passiert ist?“

„Nein. Nicht, nachdem Jerry ihn zur Seite gelegt hat“, sagte Grandpa.

Sie hoffte, dass er nicht verlorengegangen war. Er war nicht nur kostspielig, sondern auch ein persönlicher Gegenstand, der perfekt an Jory angepasst war. So persönlich wie ihre Lieblingsstricknadeln, aber um einiges teurer.

Vom Grillgeruch knurrte ihr Magen. Meistens aß sie lieber Fisch und Gemüse als Rindfleisch, ab und zu gönnte sie es sich aber. Es hatte etwas Primitives, Fleisch über einem Feuer zuzubereiten.

Sie folgten den letzten Bandmitgliedern zu einem großen überdachten Sitzbereich, der sich perfekt für Partys im Freien eignete. Es passten problemlos zweihundert Leute oder mehr an die Holztische. Daneben standen hohe Serviertische mit Platten voller Essen und Alkoholfässer.

Brody wies auf seine Freunde, die alle zusammen an einem Tisch saßen. „Darf ich mit ihnen essen, Mum?“

Paislee besah sich die Situation; ein paar andere Eltern behielten die Kinder nebenbei im Auge. „Darfst du. Benimm dich. Ich passe für dich auf Wallace auf.“

„Warum kann er nicht mit?“

„Erst, nachdem du aufgegessen hast. Wallace ist auf einer speziellen Diät, die nicht durch fettiges Fleisch ruiniert werden darf.“ Es war schlimm genug, dass der Terrier besser als jeder Staubsauger alle Krümel unterm Tisch wegputzte.

„Der Hund ist auf Diät“, schnaubte Grandpa. „An einem kräftigen Tierknochen ist nichts auszusetzen. Das ist gut für ihn.“

„Sie können splittern und sich in seinem Hals verfangen“, warnte Paislee.

Brody machte ein finsteres Gesicht, nickte aber dann und lief zu seinen Freunden. Wallace winselte. Paislee tätschelte dem Hündchen den Kopf. „Ich gebe dir auf jeden Fall ein paar Stückchen mageres Wild ab.“

Wallace legte sich mit einem Winseln auf die Steinplatten des Essbereichs.

„Das kann ich dir nicht übelnehmen, mein Kleiner“, sagte Grandpa. Er sah Paislee an. „Du machst den Hund noch zu einer Memme.“

„Ich halte den Hund gesund“, konterte Paislee. Sie schielte zur Schlange vor den Servierwagen. „Warum gehst du nicht als Erster, Grandpa? Ich kann hier warten. Außer du möchtest, dass ich für uns beide einen Teller hole?“

„Ich bin kein Kind, das du verhätscheln musst, Mädchen.“ Grandpa rückte seine Mütze auf seinem silbergrauen Haupt zurecht. „Soll ich dir einen Teller mitbringen? Vielleicht mit etwas Weichem, zum Beispiel Haferschleim?“

Oh! Das hatte sie davon, dass sie nur nett sein wollte. Paislee atmete aus. „Nein, danke.“

Grandpa kehrte mit einem vollbeladenen Pappteller voller Fleisch zurück, kein einziges Stückchen Gemüse in Sicht. Er setzte sich ihr gegenüber, schmatzte mit den Lippen, und wartete nur darauf, dass sie etwas sagte.

Sie hielt den Mund. „Kannst du auf Wallace aufpassen?“

„Sicher.“ Die Hundeleine war um die Holzbank geknotet und der Hund sah ihr schmollend zu.

„Danke.“ Paislee stellte sich in die Schlange und es sah aus, als wären die riesigen Platten mit gegrilltem Rindfleisch oder Wild nicht einmal angerührt worden.

Sie wählte mehrere Rippchen und dann ein paar magere Stücke ohne Knochen für Wallace aus. Als Nächstes nahm sie sich Bratkartoffeln, Pilze und Mais, einen frischen Salat mit Tomaten und Kräutern und als Letztes ein Bannockbrot. Sie nahm zwei mit, damit Grandpa das Fett seiner Beute mit dem Fladenbrot aufsaugen konnte.

Auf dem Weg zurück zum Tisch sah sie, wie Brody und eine Gruppe von Kindern sich Witze erzählten, während sie aßen. Es machte sie glücklich, Teil dieser Gemeinschaft zu sein, wie er es auch war.

Als sie zurückkam, bemerkte Paislee, dass sich eine Frau vom Clan MacTavish mit zwei Gläsern Whisky für Paislee und Grandpa zu ihnen gesetzt hatte.

„Wie nett!“ Paislee setzte sich Grandpa gegenüber. Clan MacTavish nahm den Rest des Tisches ein. Die meisten Instrumente waren an der hinteren vergitterten Trennwand abgestellt worden. Für Dudelsäcke gab es unterschiedliche Koffer, von hart bis weich, ebenso für die Trommeln.

„Gerne“, sagte die Dame neben Paislee. „Ich bin Nettie. Danke, dass wir hier sitzen dürfen!“

Ihre Augen hatten exakt den gleichen himmelblauen Ton wie ihre Jacke und ihre gestylten Haare fielen in einem weichen Braun bis zu ihrem Kinn.

„Paislee. Freut mich.“ Paislee reichte Grandpa ein Bannockbrot. Er nahm es mit einem Grinsen entgegen, jetzt schon gutgelaunt dank des Whiskys und der Gesellschaft.

Sie biss in das zarte Fleisch, wobei sie Wallaces Blick auf sich spürte, als hätte er in seinem ganzen Leben noch nichts gegessen. Sie zerkleinerte die abgekühlten mageren Stücke und legte sie auf einen zweiten Teller, den sie extra dafür mitgenommen hatte.

„Langsam! Probier es erst!“, sagte sie. Wallace wartete, bis sie ihre Hände weggenommen hatte, und stützte sich dann auf das Fleisch. Es war in Sekundenschnelle verschlungen und er bettelte winselnd nach mehr.

„Er hat keinen einzigen Bissen ausgekostet“, lachte Grandpa.

„Wirklich nicht. Ich habe Glück, dass meine Finger noch dran sind.“ Als sie den niedlichen Hund gekauft hatte, um die Leere zu füllen, die Grans Tod hinterlassen hatte, hatte er ihr Herz mit seinen dunklen Augen und seinem glatten, drahtigen Fell erobert. Das Temperament des Terriers hatte sie nicht gekümmert. Wie auch viele menschliche Schotten war der Scottish Terrier leidenschaftlich, treu, willensstark und liebevoll. Dr. Kathleen McHenry, die Tierärztin, hatte einen Hundetrainer vorgeschlagen, als Wallace in der ersten Woche in die Tierklinik musste, weil er Socken gefressen hatte.

Jetzt, sechs Jahre später, war Wallace viel besser erzogen als viele andere Hunde und das schrieb sie Dr. McHenry zu. Die Lebenserwartung der Rasse betrug zwölf bis fünfzehn Jahre, solange er keine weitere Kleidung fraß. Sie hatten ihn auf eine besondere Diät gesetzt, damit er nicht zunahm, was seinen kurzen Beinen schaden würde. Wallace war ein zutiefst geliebtes Mitglied ihrer Familie.

„Noch einen Whisky?“, fragte Nettie Grandpa und Paislee. „Ich hole mir noch etwas. Ich fahre nicht und der Graf stellt ihn selbst her. Den kriegt man nirgendwo sonst.“

„Für mich nicht“, sagte Paislee. Sie war so mit Essen beschäftigt gewesen, dass sie ihren Drink kaum angerührt hatte. „Aber danke.“

„Ich helfe dir“, sagte Grandpa und stand auf.

„Du bist ein Schatz“, sagte Nettie.

Ihr Großvater errötete.

Paislee verbarg ihr Lächeln hinter einem Stück gebratenem Pilz. Die Kräuter wurden sowohl im Wald als auch im Gewächshaus angebaut. Eines Tages, wenn sie einmal nicht so viel zu tun hatte, könnte sie vielleicht im Garten ein paar Kübel mit Gemüse aufstellen.

Als Grandpa zurückkam, nahm sich Paislee noch einen kleinen Nachschlag von dem gebratenen Gemüse und noch ein Bannockbrot und ließ den Blick auf der Suche nach Brody über die Tische schweifen.

Ah, er hatte aufgegessen und er und die anderen Kinder spielten an der Scheune mit einem Ball.

Es war gut, dass er Spaß hatte und selbstständig war. Es schmerzte sie ein kleines bisschen, als sie erkannte, dass er sich von ihr abnabelte. So sollte es auch sein. Er war jetzt zwölf und nächstes Jahr würde er ein Teenager sein. Ihr wurde weh ums Herz. Die Zeit anzuhalten war so unmöglich, wie Regen in einem Sieb aufzufangen.

Paislee drehte sich mit dem Teller in der Hand um. Da waren Lissia und Cinda, die sich darüber unterhielten, wie Patrick sich mit dem Grillfleisch übertroffen hatte. Cindas Augen funkelten, als sie Patrick beobachtete. Am anderen Ende des langen Tisches diskutierten Sorcha und Robert hitzig miteinander.

Die Mitglieder des Clan Cunningham saßen an einem eigenen Tisch, und ihr Dirigent sah immer wieder auf sein Handy. Clyde wartete zweifellos auf Neuigkeiten von Jory. Machte er sich endlich auch Sorgen? Sie hatte keine hohe Meinung von dem Pipe Major.

Paislee sah auf ihre Armbanduhr. Es war sieben Uhr abends. Es waren drei Stunden vergangen, seitdem Jory auf dem Rasen zusammengebrochen war.

Jerry und die anderen Mitglieder des Campbell Clans waren weniger fröhlich als der Rest. Hatten sie das Gefühl, heute verloren zu haben, indem sie nicht auf den Sieg durch Aufgabe beharrt hatten?

Jerry sah sie und winkte ihr ohne sein übliches Lächeln zu, während er sich sein Essen schmecken ließ.

Sie wollte ihn schon fragen, was los war, entschied sich aber dann dagegen. Umgeben von der Konkurrenz war das nicht der richtige Ort für eine private Unterhaltung. Sie vertraute ihm, dass er sich um Jorys Dudelsack kümmern würde, da er sich der Bedeutung des Instruments bewusst war, obwohl sie Konkurrenten waren.

Clydes Handy klingelte und der Dirigent hob mit einem lauten „Hallo?“ ab.

Clyde wurde leichenblass. Seine nächsten Worte waren gemurmelt, als er die Stirn runzelte und Nachfragen stellte. „Geht es dir gut?“

Clyde schluckte schwer und sprang auf den Tisch, die Knie unter seinem rot-schwarzen Kilt entblößt. Mit einem wütenden Tritt fegte er die Teller seines Teams zu Boden. Sein halblanges Haar fiel ihm über die Augen.

„Was ist los?“, fragte sein Basstrommler. Der große Mann blickte finster auf das Grillfleisch auf seinem Hemd hinab und wischte es dann weg. „Ich hoffe, du hast einen guten Grund dafür.“

„Jory Baxter ist tot.“ Clyde zeigte voller Zorn auf Robert. „Sie sind uns eine Erklärung schuldig.“