Leseprobe Mörderische Schlagzeile

1

»Was ist denn das?« Mit der Kraft ihres gesamten Körpergewichts stemmte sich Mia gegen die klobige Eingangstür der Bibliothek von Pennygrave. Es konnte doch nicht sein, dass diese Ersatzmodelle sich derart schwer öffnen ließen. Nein, das wäre wirklich eine Zumutung. Blieb nur zu hoffen, dass die neuen Türen schnellstmöglich geliefert und eingebaut wurden. Bis gestern noch hatten wunderschöne und vor allem spielend leicht zu öffnende Exemplare aus Glas die Besucher der Bibliothek in Empfang genommen. Genau genommen exakt bis am späten Nachmittag, an welchem der neunundneunzigjährige Edward Mostly die gläsernen Flügeltüren für seine Garageneinfahrt gehalten und seinen alten Buick zielsicher im Eingangsbereich der Bibliothek eingeparkt hatte. Glücklicherweise war der alte Mann unverletzt geblieben, ganz im Gegensatz zu den vollkommen zersplitterten Türen, die notgedrungen durch Exemplare aus dem Bestand der örtlichen Schreinerei ersetzt worden waren. Es handelte sich um schwere dunkelbraune Holzungetüme, die sich nun mit ihrem ganzen Gewicht gegen Mias Eindringen wehrten. Lediglich einen winzigen Spalt breit bekam sie sie aufgeschoben, gerade so weit, dass sie ihre Fußspitze hindurchzwängen konnte.

»Was machst du denn da?«, ertönte plötzlich eine bekannte weibliche Stimme hinter ihr.

Auch ohne in das Gesicht der Kollegin zu blicken, konnte sich Mia deren belustigte Miene bestens vorstellen. »Sophie! Sehr gut, wenigstens auf deine Pünktlichkeit ist Verlass«, freute sich Mia. »Ich bekomme diese bescheuerten Türen nicht auf.« Zur optischen Beweisführung für ihre Aussage stemmte sie sich erneut kraftvoll gegen das Holz. »Entweder da klemmt ein Scharnier oder diese verdammten Dinger sind die schwersten Türen der Welt.«

Lady Sophie holte hörbar Luft. »Guten Morgen, liebe Mia. Ich hoffe, du hast gut geschlafen«, erinnerte sie die Freundin an die Regeln der Höflichkeit.

Unverzüglich ließ Mia von der Tür ab und drehte sich mit einem entschuldigenden Lächeln zu ihrer Kollegin um.

Mit ihrem maßgeschneiderten taubengrauen Kostüm und dem für sie so typischen strengen Dutt wirkte Lady Sophie Gellam wie eine Anstandsdame aus einem alten englischen Traditionsinternat, auch wenn sie es mit den guten Manieren in Wirklichkeit nicht immer so genau nahm.

»Bitte vielmals um Verzeihung«, entschuldigte sich Mia schnell und bemühte sich um ein unbeschwertes Lächeln. »Guten Morgen, meine liebe Sophie. Ich hoffe, du hast wunderbar geschlafen und über Nacht Superkräfte entwickelt, damit du diese Monstren hier im Nu und mit dem kleinen Finger öffnen kannst.«

»Na ja.« Die Adlige stemmte die Hände in die Hüften und reckte stolz das Kinn in die Höhe. Der Versuch, sich aufzuplustern scheiterte zugegeben ein wenig an ihrer zierlichen Statur. »Meinen kleinen Finger hatte ich mal gebrochen, den möchte ich nicht unbedingt riskieren. Aber ich versuche es gern auf deine Art.« Zielstrebig marschierte sie an Mia vorbei, die mit einer galanten Geste den Weg freimachte. Dann stemmte sie sich, wie Mia kurz zuvor, mit zusammengepressten Lippen gegen die Tür, bis ihr Gesicht rot anlief. »Nein.« Kopfschüttelnd unterbrach sie ihr Tun und schnappte nach Luft. »Nein … also, da stimmt was ganz und gar nicht.«

»Glaubst du, dass sich das Scharnier verklemmt hat?«

Lady Sophie runzelte die Stirn. »Nein, klemmen tut da nichts. Ich finde, es fühlt sich eher so an, als ob etwas auf der Innenseite läge, das die Tür blockiert. Bei deinem Glück eine Leiche …«

»Eine Leiche, bist du wahnsinnig?«

Die Ältere zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. »Wäre nicht die erste, oder?«

Erschrocken riss Mia die Augen auf. So unglaublich das klang: Lady Sophie hatte vollkommen recht. Mia war seit ihrer Ankunft in Pennygrave bereits über drei Leichen gestolpert. Nahezu im wahrsten Sinne des Wortes. Das ließ schon ein gewisses Talent für diese Art von Schreckenserlebnissen vermuten.

»Sollen wir lieber die Polizei rufen?«, fragte Mia beunruhigt.

»Ach was.« Mit energischem Schritt baute sich Lady Sophie wieder vor dem kleinen Spalt auf, den Mia zustande gebracht hatte. »Was soll denn die Polizei hier? Du weißt genau, dass wir viel besser ermitteln als die.«

Auch diese Aussage entsprach leider der Wahrheit.

Nun kniete sich Lady Sophie auf den Boden und versuchte, ihren Arm durch den Spalt zu schieben. »Was Kraft nicht vermag, muss Technik lösen«, presste sie angestrengt hervor. »Wäre doch gelacht, wenn wir hier nicht gleich drin wären … warte.«

Es war nicht zu sehen, was Lady Sophie mit ihrem Arm auf der anderen Seite der Tür veranstaltete, aber ihr Blick war hoch konzentriert und sie schien irgendetwas zu bewegen, denn mit einem Mal polterte es laut.

»Und?«, fragte Mia vorsichtig. »Liegt da einer?«

»Nö, leider nicht.«

»Sophie!«

»Entschuldigung. Ich dachte nur, wir hätten vielleicht einen neuen Mordfall.«

»Darüber würdest du dich echt freuen, oder?«

Statt einer Antwort grinste die alte Dame. Dann rollte sie kurz mit den Augen. »Ich glaube, das sind nur Bücher. Sie liegen auf einem Haufen, aber ich kann sie nacheinander herunterstoßen und wegschieben. So, das war’s.« Sie stand auf und warf sich erneut mit der Schulter voran gegen das Holz. »Komm, hilf mir mal.«

Gemeinsam stemmten sie sich mit aller Kraft ihrer schmalen Körper gegen die Tür und tatsächlich ließ diese sich endlich aufschieben. Wenig später standen sie im Eingangsbereich der Bibliothek und betrachteten ratlos den riesigen Bücherberg.

»Was ist denn hier passiert?«

Lady Sophie kicherte. »Das kann ich dir sagen, meine Beste. Deine tolle Idee mit dem Rückgabebriefkasten ist uns hiermit offiziell um die Ohren geflogen. Der Fangkorb ist übergequollen.«

Vor wenigen Wochen hatten sie auf Mias Wunsch hin einen Briefkasten mit Fangkorb in der Bibliothek installiert. Durch diesen konnten die Pennygraver Bürger ihre Leihmedien auch am Wochenende oder eben außerhalb der Öffnungszeiten einwerfen. Inzwischen war es schon eine Art montägliches Ritual geworden, die Woche mit dem Zurückbuchen der Medien aus dem Bücherbriefkasten einzuleiten. So viele Bücher waren allerdings noch nie auf einen Schlag zurückgegeben worden.

»Das ist ja unglaublich!« Noch immer bestaunte Mia den riesigen Berg der Geschichten aus Papier.

»Ja, unglaublich viel Arbeit. Ich brühe uns besser schnell einen Tee auf.«

»Den werden wir brauchen, danke.« Längst hatte Mia sich daran gewöhnt, dass die Engländer zu jeder Tages- und Nachtzeit Tee tranken und sich angepasst. Ein Stück weit, weil es dazugehörte und ein Stück weit, weil es ihr das Gefühl gab, dazuzugehören.

Während Lady Sophie in der kleinen Teeküche verschwand, machte sich Mia daran, die Bücher auf ihren Armen zu stapeln und zum Verleihtresen zu bringen, wo sie anschließend im Computersystem ausgebucht werden sollten. Mehr als zehnmal legte sie den Weg zurück, bevor endlich alle zurückgegebenen Medien auf dem Tresen lagen. Der Tee schien noch etwas zu brauchen und für gewöhnlich blieb Lady Sophie neben den Tassen stehen, um den perfekten Zeitpunkt abzupassen, das Sieb herauszunehmen. In dieser Sache war sie ebenso altmodisch wie perfektionistisch: Tee durfte grundsätzlich nur von Hand zubereitet werden und der exakte Zieh-Zeitpunkt wurde nach Augenmaß bestimmt, so, wie sie es vermutlich auf der Schule für höhere Töchter gelernt hatte. Dass Adlige wie Lady Sophie häufig ein paar extravagante Verhaltensweisen an den Tag legten, war nicht ungewöhnlich. Vielmehr hatte Mia überrascht, dass die seltsamsten Eigenarten Lady Sophies gewiss nicht ihrer adligen Herkunft, sondern ihrem extravaganten Charakter geschuldet waren. Dennoch hatte sie auch diesen schätzen und lieben gelernt.

»Ich fang schon mal an«, verkündete sie laut in Richtung Teeküche und nahm das erste Buch zur Hand. Kurz betrachtete sie den Einband und untersuchte ihn auf Flecken oder sonstige Beschädigungen. Es gehörte zum Qualitätsstandard der Bibliothek, dass jedes zurückgegebene Exemplar bezüglich seines Zustands begutachtet wurde. Im Regelfall gab es nur sehr selten etwas zu beanstanden – die Pennygraver Bürger gingen mit Büchern im Allgemeinen vorbildlich um.

Routiniert ließ Mia ihre Finger durch die Seiten gleiten, um auch hier auf Sicht irgendwelche Flecken oder Verunreinigungen, Risse oder Eselsohren erkennen zu können.

Nichts. Tadellos.

Schnell scannte sie den Barcode. Das Buch war von Melody Clearmont ausgeliehen worden. Mit einem Klick verbuchte sie es als in ordnungsgemäßem Zustand zurückgegeben und gab es zur weiteren Ausleihe frei. Ebenso verfuhr sie mit dem nächsten Buch. Auch beim dritten ließ sie die Blätter wie bei einem Daumenkino durch ihre Finger gleiten. Dabei kam ihr allerdings irgendetwas merkwürdig vor. Sie vermochte nicht sofort zu sagen, was es war, aber irgendetwas hatte ihr Auge wahrgenommen, das sie irritierte. Erneut blätterte sie und sah etwas genauer hin: keine Flecken, keine Risse, keine Eselsohren. Trotzdem. Irgendetwas stimmte nicht.

Seufzend scannte Mia den Barcode. Vielleicht ging das Gefühl weg, wenn sie es ignorierte. Ganz offensichtlich war mit dem Buch alles in Ordnung.

Prüfend sah sie auf das Raster, das der Computerbildschirm präsentierte. Der Liebesroman Wir im Regen war vor drei Wochen von Leonie Kingston ausgeliehen worden. Mia kannte sie flüchtig. Sie war die rasende Reporterin von Pennygrave, eine taffe Frau, um keine gute Schlagzeile verlegen und penetrant genug, ihren Mitbürgern so lange und frech auf die Nerven zu gehen, bis sie die gewünschte Information erhielt. Sicherlich würde eine Frau, die sogar beruflich mit Texten zu tun hatte, ein Buch mit dem nötigen Respekt behandeln. Ihr Gefühl musste sie täuschen.

Seufzend klickte Mia den Roman als zurückgegeben an und gab ihn zur Ausleihe frei. Sie legte ihn zur Seite, doch das ungute Gefühl blieb.

»Tee ist fertig«, flötete Lady Sophie und stellte eine dampfende Tasse vor Mia ab.

»Super, vielen Dank.« Mia erkannte den Duft der Teesorte sofort: Bergamotte. Lady Sophie liebte Ausgefallenes. Passend zu einer Lady ihres Formats.

»Sag mal, könntest du dir bitte mal dieses Buch hier ansehen?« Mia nahm den beiseitegelegten Roman wieder zur Hand und streckte ihn der älteren Kollegin entgegen. »Ich kann nichts Fehlerhaftes daran erkennen. Aber mein Gefühl sagt mir, dass das Buch nicht in einem ordnungsgemäßen Zustand ist, verstehst du, was ich meine?«

Die achtundsechzigjährige Bibliothekarin schob ihre Brille auf die Nasenspitze und drehte das Buch leicht in ihren Händen. »Hm. Ich finde, es sieht in Ordnung aus.« Konzentriert schlug sie es auf und begann zu blättern. Dann zuckte sie und hielt kurz inne, als müsse sie nachdenken. Sie blätterte zurück und erneut vor. »Ha!«, rief sie laut. »Die dritte Seite fehlt.«

»Wie, die dritte Seite fehlt?«

»Na hier, schau doch!« Mit triumphierendem Gesichtsausdruck reichte Lady Sophie Mia das aufgeschlagene Buch. »Sieh her: Der Roman beginnt hier. Erste Seite der Geschichte, zweite Seite der Geschichte, Lücke. Das Blatt ist sauber herausgetrennt.«

»Das glaube ich ja wohl jetzt nicht.« Mit einer Mischung aus Verwunderung und Entsetzen betrachtete Mia die feine Risskante und fuhr sie mit dem Finger nach. »Warum reißt Miss Kingston denn eine Seite aus einem Buch?«

»Vielleicht war eine besonders schöne Liebesszene drauf, die sie gern behalten wollte.«

»Ich fasse es ja wohl nicht! So geht man doch nicht mit Büchern um. Schon gar nicht mit welchen, die einem nicht gehören. Also das werden wir so nicht zurücknehmen, das muss sie bezahlen. Oh nein. Ich habe es schon ausgebucht.«

»Warum das denn?«

»Weil ich dachte, mein Gefühl täuscht mich.«

»Hat dich dein Gefühl jemals getäuscht?«

Mia schüttelte den Kopf.

»Keine weiteren Fragen.«

»Und jetzt?«

Lady Sophie nahm einen Schluck von ihrem Tee. »Schau doch mal, ob sie noch mehr Bücher ausgeliehen hat. Vielleicht können wir da einen Riss in die Seite machen und behaupten, sie wäre es gewesen. Dann muss sie eben das bezahlen.«

»Sophie!« Mia fragte sich, wie oft sie den Namen der eleganten Lady schon in jenem empörten Tonfall ausgerufen hatte. Es mussten an die fünfzig Male sein.

Die Adlige reckte unschuldig die Hände in die Luft. »Ja, es wäre Betrug, aber es würde nur der Gerechtigkeit dienen. Der Zweck heiligt die Mittel.«

»Aber doch nicht bei solch einer Bagatelle.«

»Bücher zu massakrieren, ist ganz und gar keine Bagatelle.«

»Juristisch betrachtet mit Sicherheit.«

»Aber moralisch betrachtet nicht.« Lady Sophie verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust.

»Schon gut, schon gut, ich sehe nach, ob sie sonst noch was hat. Aber ich werde keinem Buch einen Riss zufügen, das kann ich dir gleich sagen.« Instinktiv wusste Mia, dass auch Lady Sophie dazu nicht in der Lage sein würde, wenn sie bereits jetzt so mit dem beschädigten Buch litt. Doch um des lieben Friedens willen konnte es nicht schaden, im System nachzusehen.

»Oha«, vermeldete Mia, als sie auf Leonie Kingstons Namen klickte. »Miss Kingston hatte neunundvierzig Bücher ausgeliehen.«

»Wie bitte? Neunundvierzig? Das ist doch nicht dein Ernst.« Mit wenigen Schritten trat Lady Sophie neben Mia und sah ebenfalls auf den Bildschirm. »Kein Mensch liest neunundvierzig Bücher in vier Wochen. Da ist irgendetwas faul, Mia.«

»Allerdings.«

»Was sind denn das für Bücher?«

Mia scrollte durch die Liste. Einige der Titel kannte sie nicht, andere sehr gut. »Romane. Krimis, Thriller, Liebesromane, Dramatisches. Da lässt sich kein Schema erkennen. Außer, dass kein einziges Fachbuch dabei ist.«

Während Mias Erläuterung marschierte Lady Sophie zielstrebig zu den Bücherstapeln auf dem Tresen und hob eines der Bücher in die Luft. »Diese hier zum Beispiel?«

»Du meinst, Leonie Kingston hat unseren Türstau verursacht?«

»Lass uns nachsehen. Gib mal den Titel ein: We between desire. Oh Gott, wie kitschig.«

»Moment.« Mit flinken Fingern tippte Mia den Titel in die Suchmaske. »Treffer. Ausgeliehen von Leonie Kingston. Rückgabe wäre … übernächste Woche.«

»Mia?«

»Ja?«

Mit nachdenklichem Blick hielt Lady Sophie das aufgeschlagene Buch in der Hand. »Hier fehlt auch die dritte Seite.«

»Nein.«

»Doch, wirklich. Sauber herausgetrennt, wie beim ersten Buch.«

»Das darf doch nicht wahr sein! Diese Bücherkillerin. Die spinnt wohl!«

»Okay, weiter. Hier haben wir: Healing with you.«

Wieder tippte Mia. »Treffer. Auch ausgeliehen von Miss Kingston.«

»Mia?«

»Nein, sag es nicht.«

»Doch. Auch hier fehlt die dritte Seite. Hier ist definitiv etwas faul. Die Sache stinkt zum Himmel.«

Kaum zu glauben, aber wie es schien, hatte diese verrückte alte Lady mal wieder den richtigen Riecher gehabt. Nun kam sie richtig in Fahrt. Sie nahm ein Buch nach dem anderen vom Stapel und diktierte Mia den jeweiligen Titel. Wie erwartet waren die meisten der Bücher von Leonie Kingston ausgeliehen worden. Dazwischen hatte sich immer mal wieder ein Exemplar eines anderen Bürgers verirrt, aber zusammengezählt waren alle neunundvierzig ausgeliehenen Bücher von der Journalistin zurückgegeben worden. Und bei jedem einzelnen fehlte die dritte Seite!

»Ich werde sie umbringen!« Wütend schlug Mia mit den flachen Händen auf die Tastatur und stand auf. »Ich gehe jetzt zu ihr und werde sie eigenhändig umbringen. Was fällt dieser Frau denn ein, unsere Bücher zu massakrieren. Die spinnt wohl! Sie wird uns nicht nur jedes einzelne ersetzen, sondern auch noch Buße tun, dafür werde ich sorgen.«

»Willst du dich nicht erst einmal beruhigen?«

Erstaunlich, dass ausgerechnet Lady Sophie die Vernünftige mimte, wo sie doch normalerweise unvernünftigere Verhaltensweisen an den Tag legte als zehn Mias auf einmal es vermocht hätten.

»Auf keinen Fall. Ich bin in der absolut perfekten Stimmung, diese Frau für ihr Handeln zur Verantwortung zu ziehen. Echt, Sophie, die tickt doch nicht mehr sauber.«

»Kindchen, Kindchen, ich glaube, ich habe dich noch nie so aufgebracht gesehen.«

»Ich mag es einfach nicht, wenn jemand sich an Unschuldigen vergreift. Und Bücher sind ja wohl der Inbegriff der Unschuld. Sie tun keinem was. Sie sind einzig und allein dazu da, uns Menschen gut zu unterhalten. Wenn jemand bedingungslose Liebe verdient hat, dann Bücher. Außerdem sind diese hier mir anvertraut. Ich bin für sie verantwortlich, solange ich diese Bibliothek leite. Und wenn jemand meint, er müsse meine Bücher angreifen, dann greift er mich an, verstehst du? Und deshalb werde ich diese Frau jetzt zur Verantwortung ziehen. Jetzt sofort!«

»Das verstehe ich natürlich. Aber weißt du überhaupt, wo sie wohnt?«

»Das haben wir gleich.« Suchend blickte Mia auf den Bildschirm und scrollte nach unten bis zu Leonie Kingstons Adresse. »Weiß ich. So, und jetzt entschuldige mich bitte, ich muss los. Kommst du hier allein zurecht?«

»Natürlich. Aber soll ich dich nicht lieber begleiten?«

»Nein, lass mal. Falls es zum Äußersten kommt, möchte ich lieber keine Zeugen.«

»Alles klar. Ich habe mein Handy im Blick, falls du mich brauchst.«

»Danke, Sophie. Du bist eine echte Freundin.«

 

Eine Viertelstunde später knallte Mia den Ring des Türklopfers ans Holz von Leonie Kingstons Cottagetür. Der Weg, den sie im wütenden Stechschritt von der Bibliothek bis hierher zurückgelegt hatte, hatte ihren Zorn keineswegs besänftigt. Im Gegenteil: Sie hatte sich noch mehr hineingesteigert. Offenbar umsonst, denn Leonie Kingston öffnete nicht. Vielleicht war sie unterwegs. Allerdings stand das Mountainbike, mit dem die Reporterin oft viel zu schnell durch die Straßen raste, noch im Vorgarten, bereit, für die nächste Schlagzeile gesattelt zu werden. Mia kannte dieses Rad besser, als ihr lieb war. Nicht nur einmal war sie im letzten Moment zur Seite gesprungen, während das neonorangefarbene Gefährt auf sie zugeschossen war. Wenigstens die Farbe hatte Miss Kingston auffällig gewählt.

Erneut hämmerte Mia den Türklopfer gegen das Holz. Auf keinen Fall würde sie unverrichteter Dinge wieder abziehen. Ihr Gefühl sagte ihr, dass Miss Kingston hier war und erst vorhin hatte Lady Sophie ihr vorgeworfen, ihrem Bauchgefühl nicht vertraut zu haben.

Ein drittes Mal malträtierte sie den Türklopfer. Im Haus blieb es still. Stellte sich wohl tot, die Bücher massakrierende Reporterin. Vielleicht hatte sie Mia kommen sehen und anhand von deren Gesichtsausdruck eine Vorahnung, was ihr bei einem Aufeinandertreffen blühen würde. Allein der Gedanke entfachte Mias Wut aufs Neue. Schnaubend ließ sie die Tür hinter sich und marschierte schnurstracks durch die Büsche in den Garten. Wehe, wenn sich Miss Kingston gemütlich im Liegestuhl auf der Terrasse fläzte und sich sonnte. Sie sollte mal lieber beten, dass ihr gleich eine gute Erklärung dafür einfiel, warum sie aus neunundvierzig Bibliotheksbüchern die dritte Seite herausgerissen hatte.

Vor Wut vollkommen enthemmt stampfte Mia hinter das kleine Cottage, wo sie den Garten vermutete. Tatsächlich präsentierte sich ihrem Auge ein wunderhübsch hergerichteter Garten mit einer für diese Gegend eher untypisch modernen Terrasse aus Holz. Und auf dieser lag Leonie Kingston. Nicht auf dem Liegestuhl, sondern mitten auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten und eigenartig verdrehten Gliedmaßen.

»Nicht schon wieder«, murmelte Mia gerade noch, während die Welt sich um sie herum zu drehen begann und schließlich in einem ihr nur allzu bekannten schwarzen Loch versank.

2

»Theresa?«

Schnell schloss Theresa Morten die Schublade, zog ihre Hand zurück und führte sie zu der kleinen Spange in ihrem Haar.

»Ach hier bist du.«

Sie hasste diesen Blick. Den Blick, mit dem er sie nicht nur ansah, sondern geradezu in sie hinein. Es war nicht der Blick des Ehemannes, der sie liebte, sondern der Blick des Pfarrers, der sich um sein Schäfchen sorgte. In ihrem Inneren bildete sich eine dünne Eisschicht.

»Diese blöde Spange ist kaputt«, murmelte sie leise und nestelte an dem zierlichen Haarschmuck herum, der vollkommen in Ordnung war. »Ich werde nachher kurz zu Macey gehen und mir eine neue kaufen.«

»Tu das, Liebes. Ich wollte dir nur kurz Bescheid geben, dass ich in die Kirche gehe, um meine Predigt zu schreiben. Nicht dass du mich suchst. Irgendwie kann ich mich dort besser auf das Wesentliche konzentrieren.«

»Wovon soll sie denn handeln?«

»Die Predigt? Von der menschlichen Gier. Die Todsünden sind mal wieder dran. Aber irgendwie will mir nichts einfallen, was alt genug ist, dass die Menschen es annehmen und gleichzeitig neu genug, dass es sie interessiert.«

»Dir wird schon was einfallen. Deine Predigten sind immer gut.«

»Lieb, dass du das sagst.« Er trat zu ihr, löste die Spange aus ihrem Haar und legte sie in ihre Hand. »Hat sich bestimmt nur verhakt. Du siehst auch ohne schön aus.« Er küsste sie auf die Stirn. »Bis später, mein Schatz.«

»Kann ich zum Abendessen mit dir rechnen?«

»Natürlich. Falls ich die Zeit vergesse, hol mich bitte.«

Theresa lachte auf. Es wäre nicht das erste Mal, dass Martin über die Arbeit an einer Predigt die Zeit vergaß.

»Bis später. Und viel Spaß beim Schreiben.«

Kaum dass er zur Tür hinaus war, rannte Theresa zum Fenster und wartete, bis sie seine Gestalt den Weg zur Kirche hinübergehen sah. Dann ging sie zurück zu der kleinen Kommode, öffnete die Schublade, nahm einen weißen Beutel heraus und versteckte ihn unter ihrer Bluse. Eiligen Schrittes hastete sie hinaus auf den Friedhof. Ganz hinten, dort, wo die Gräber der Selbstmörder lagen, war der perfekte Platz. Sie grub in der harten Erde, bis ihre Fingerkuppen schmerzten. Dann legte sie den Beutel hinein, atmete einmal tief durch und bedeckte ihn mit der Erde, so lange, bis mit bloßem Auge nichts Auffälliges mehr das Versteck verriet.

3

Als Mia die Augen wieder aufschlug, sah sie direkt in die grünsten grünen Augen der Welt, welche sie besorgt musterten.

»Inspector Mellony«, stammelte sie und richtete sich auf. Sofort war ihr klar, was passiert sein musste. Diese unglückliche Szenerie schien sich zu wiederholen wie in einer bescheuerten Zeitschleife. »Miss Kingston ist tot und ich bin bei ihrem Anblick in Ohnmacht gefallen, richtig?«

»Das ist anzunehmen.« Inspector Mellony reichte ihr die Hand. »Können Sie aufstehen?«

»Ich denke schon.« Auch dieses Gefühl kannte sie: diese puddingweichen, kribbelnden Beine, deren Zustand sie ihrer Ohnmacht oder der Anwesenheit des Inspectors nicht genau zuzuordnen vermochte.

»Was machen Sie denn überhaupt hier?« Mia runzelte die Stirn. »Ich habe Miss Kingston doch gerade erst gefunden. Woher wussten Sie …?«

»Ein Fußgänger hat uns alarmiert, weil er eine Frau schreien gehört und anschließend zwei Frauenleichen auf der Terrasse von Miss Kingston gesehen hat. Ich muss zugeben, ich bin überaus froh darüber, Sie in lebendigem Zustand vorzufinden.«

»Weil Sie dann weniger Arbeit haben oder weil Sie mich so gern mögen?«

Anstelle einer Antwort errötete der Inspector leicht und zuckte verlegen mit den Schultern.

Mia grinste. »Verzeihung, ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen. Vergessen Sie es einfach. Lassen Sie uns lieber Miss Kingston mal genauer ansehen.«

Blitzartig ergriff Inspector Mellony Mias Ärmel und zog sie daran zurück. »Das überlassen wir mal schön Doc Kenzo, wenn er denn die Güte hat, uns mit seiner Anwesenheit zu beehren.«

»Die habe ich, Mellony, die habe ich«, ertönte die durchdringende Stimme des Arztes, der in Pennygrave für alles zuständig zu sein schien, was auch nur im Entferntesten mit Medizin zu tun hatte. Er kümmerte sich sowohl um verletzte als auch um tote Menschen, führte Obduktionen durch und Mia war sich nicht einmal sicher, ob er nicht nebenbei noch ein paar Hunde und Katzen kastrierte. Auf Wunsch der Halter selbstverständlich, nicht zu seinem persönlichen Vergnügen. Wobei der Arzt meist einen derart morbiden Humor an den Tag legte, dass man sich da nicht so sicher sein konnte.

»Welch eine Freude, Sie wiederzusehen, Miss Midway«, begrüßte der Mediziner Mia freundlich. »Na, wenn Sie schon an dem Fall dran sind, dann wird er ja rucki zucki gelöst sein.«

»Wie meinen?« Inspector Mellony kniff die Augenbrauen zusammen.

»Ich meine, wenn Miss Midway ermittelt, dann wird die Lösung des Falls ja nicht lange auf sich warten lassen.«

Auf der Nasenwurzel des Inspectors bildete sich eine steile Zornesfalte. »Erstens, verehrter Doc Kenzo, gibt es überhaupt keinen Fall. Zumindest nicht, soweit ich die Lage hier beurteilen kann. Und zweitens ermittelt Miss Midway nicht. Das werde ich dieses Mal zu verhindern wissen.«

Mia schluckte. Warum war Inspector Mellony auf einmal so feindselig? Es war noch nicht lange her, dass er sich bei ihr dafür bedankt hatte, dass sie maßgeblich zur Lösung eines Mordfalls beigetragen hatte.

»Miss Midway«, wandte sich der Inspector nun an sie. »Ich schätze Ihren Spürsinn, das wissen Sie. Aber ich möchte nicht, dass Sie sich noch einmal in Gefahr bringen. Schlimm genug, dass Sie schon wieder in der Nähe einer Leiche auftauchen.« Er runzelte die Stirn. »Was machen Sie überhaupt hier?«

Hilflos zuckte Mia mit den Schultern. »Ich wollte mit Miss Kingston sprechen.«

»Warum?«

»Es gibt ein Problem mit ein paar Büchern, die sie in der Bücherei zurückgegeben hat.«

»Oh. Das tut mir leid.«

»Ja, mir auch. Sie hat bei allen Büchern die dritte Seite herausgerissen. Ich wollte sie fragen, was das soll und sie dazu auffordern, die Bücher auf eigene Kosten zu ersetzen.«

»Das wird wohl nicht mehr möglich sein.«

»Das sehe ich auch so«, ertönte Doc Kenzos Stimme, der sich bereits über die leblose Miss Kingston gebeugt hatte. »Die gute Frau ist mausetot. Wenn ich ihre Flugbahn berechnen müsste, würde ich sagen, sie ist aus diesem Fenster dort gestürzt.« Er deutete nach oben. Mia und der Inspector folgten seiner Geste und sahen das offene Fenster im Dachgiebel des steinernen Cottages.

»Diese Höhe soll für einen tödlichen Sturz genügen?« Fassungslos riss Mia die Augen auf. »Ich hätte vermutet, da bricht man sich allenfalls ein paar Knochen.«

»Kommt ganz darauf an, wie man fällt«, erklärte Doc Kenzo nüchtern und hob den Kopf von Miss Kingston etwas an, um ihren Hals abzutasten. Dann nicke er. »Wie ich vermutet hatte. Sie hat sich das Genick gebrochen und vermutlich ist ihr Inneres Matsch.«

»Oh Gott, wie furchtbar.« Entsetzt schlug sich Mia die Hände vor den Mund.

»Nein, da hat sie noch Glück gehabt. Es war ein rascher Tod. Und wir hatten auch Glück. Können Sie sich vorstellen, wie eine Leiche aussieht, deren Schädel beim Sturz …«

»Danke, das möchten weder Miss Midway noch ich uns vorstellen«, unterbrach Inspector Mellony gerade noch rechtzeitig, bevor Mias Gehirn Bilder erzeugte, die sie ihr Leben lang nicht mehr loswerden würde. Sie fühlte sich auch so schon schrecklich. Noch vor wenigen Minuten war sie so wütend auf Leonie Kingston gewesen, dass sie offene Morddrohungen gegen sie ausgestoßen hatte. Glücklicherweise nur in Anwesenheit von Lady Sophie und die hatte sie hoffentlich nicht ernst genommen.

»Bitte entschuldigen Sie mich kurz, ich möchte mir den Raum, der zu diesem Fenster gehört, mal genauer ansehen.«

»Eine hervorragende Idee«, stimmte Mia zu, froh darüber, endlich etwas tun zu können. Geschäftigkeit würde verhindern, dass ihre Gedanken sich verselbstständigten.

Mellony, der sich bereits in Bewegung gesetzt hatte, stoppte so abrupt, dass Mia gegen seinen Rücken prallte. Irritiert drehte er sich um und sah sie unverwandt an. »Sie haben mich missverstanden, Verehrteste. Ich werde mir den Raum genauer ansehen. Sie warten selbstverständlich hier.«

In Sekundenschnelle zog Mia einen perfekten Schmollmund. »Ach kommen Sie schon, jetzt seien Sie doch nicht so«, bettelte sie. »Schließlich habe ich Miss Kingston gefunden. Und vielleicht fällt mir wieder etwas auf, was Sie auf den ersten Blick übersehen.«

Der Inspector zog pikiert die Nase kraus. Natürlich wusste er, dass Mia bereits in zwei Mordfällen relevante Details aufgefallen waren, die er und Constable Angel übersehen hatten. Trotzdem war es wohl kaum ratsam, ihm diese Tatsache unter die gerümpfte Nase zu reiben.

Schnell lenkte Mia ein: »Ich meine, es ist das Haus einer alleinstehenden Frau, kennen Sie sich mit so etwas überhaupt genügend aus, um beurteilen zu können, ob etwas ungewöhnlich ist?«

Inspector Mellony betrachtete Mia mit gerunzelter Stirn. War ihm aufgefallen, dass sie schlichtweg irgendetwas faselte, um ihn dazu zu überreden, sie mitgehen zu lassen?

Er blieb eine Antwort schuldig, drehte sich nur wieder um und marschierte in Richtung der Haustür. Mia deutete sein Schweigen großzügig als Erlaubnis und trabte ihm mit einem kleinen Abstand hinterher. Erst an der Haustür schloss sie vorsichtig zu ihm auf und war froh, dass er sie nicht zurückwies.

»Wie bekommen wir denn jetzt die Tür auf?«, fragte sie ratlos.

Der Inspector drehte sich zu ihr um und grinste. »Schon erledigt.« Mit erwartungsvollem Blick stieß er die Tür auf.

»Aber, wie haben Sie …?«

»Polizeigeheimnis.« Schon trat er ein. Ein kurzer Blick der Orientierung schien ihm zu genügen, dann marschierte er zielstrebig los. Mit schnurgeraden Schritten durchmaß er den Flur und verschwand hinter einer Durchgangstür.

Neugierig sah sich Mia um. Das Innere des Cottages als chaotisch zu bezeichnen, wäre noch geschmeichelt. Überall standen und lagen Dinge herum. Viele Dinge. Und alles durcheinander: Bücher, Schuhe, Jacken, Fotos, Handtaschen, Nippes und schrille Kunst übertrumpften sich gegenseitig darin, die Aufmerksamkeit des Betrachters zu erregen.

»Kommen Sie, Miss Midway?«

»Ich komme.«

Schade. Sie hätte sich gerne ein bisschen intensiver umgesehen. Andererseits handelte es sich um die Privatsphäre von Miss Kingston und auch wenn es diese nun nicht mehr stören würde, war es nicht richtig, als Außenstehende einfach darin herumzuwühlen.

Widerwillig riss sie sich von dem faszinierenden Chaos los und folgte Mellonys Stimme. Schnell fand sie die Treppe und kurz darauf auch den Inspector, der in einem kleinen Giebelzimmer stand und nachdenklich seine grünen Augen über Möbel und Gegenstände wandern ließ. Sein Blick nahm jeden Zentimeter des Raumes auf. Was hätte Mia dafür gegeben, seine Gedanken lesen zu können.

»Ich denke, der Fall ist klar.« Mellony deutete auf einen Eimer, der auf dem Fensterbrett des offenen Fensters stand. »Offenbar wollte Miss Kingston das Fenster putzen und ist dabei hinausgefallen. Ein klassischer häuslicher Unfall.«

»Oder jemand hat sie hinausgestoßen.«

»Miss Midway, ich warne Sie.«

»Wieso? Könnte doch sein.«

Inspector Mellony trat ans Fenster und beugte sich ein wenig hinaus.

»Nur zur Sicherheit: Sie wollen die Szene jetzt nicht nachstellen, oder?« Mia grinste.

»Nichts läge mir ferner«, brummte Mellony. Dann beugte er sich noch ein wenig weiter hinaus, klammerte sich aber mit der einen Hand so fest an den Fensterrahmen, als habe er Angst, Mia könnte tatsächlich versuchen, ihn hinauszustoßen. »Doc Kenzo?«

»Ja?«, hörte Mia die Stimme des Mediziners von draußen.

»Sagen Sie, können Sie an Miss Kingston irgendetwas entdecken, das auf Fremdverschulden hindeutet?«

Es blieb einige Sekunden still. Dann rief Doc Kenzos Stimme: »Nicht direkt. An ihren Rippen sind ein paar blaue Flecken. Die können aber durchaus vom Sturz kommen. Vermutlich gebrochen.«

»Sonst nichts? Anzeichen für einen Streit? Kratz-, Bissspuren oder Ähnliches?«

»Nein. Nichts.«

In Mellonys Augen glänzte Erleichterung, als er sich wieder zu Mia umwandte. »Sehen Sie? Kein Anlass, einen Mord zu vermuten.«

»Da bin ich, Sir. Ich bin so schnell gekommen, wie ich …« Sergeant Angela Angel stürmte in den Raum und verstummte im selben Augenblick, in dem sie Mias Anwesenheit gewahr wurde. Ihr enthusiastisches Lächeln gefror zu einem schmalen Schlitz. »Was macht die denn hier? Arbeitet sie jetzt etwa für uns?«

»Ich arbeite für gar niemanden«, antwortete Mia an Mellonys statt. »Ich habe die Leiche gefunden.«

»Ach, welch Überraschung.«

Der schnippische Unterton überraschte nicht. Sergeant Angela Angel hatte noch nie einen Hehl aus ihrer Abneigung gegen Mia gemacht. Eine Antipathie, die lediglich auf dem guten Verhältnis zwischen Mia und dem Inspector gründete.

»Und weil sie die Leiche gefunden hat, darf sie jetzt im Haus auf Spurensuche gehen oder wie soll ich das verstehen?« Wieder war die Frage an Inspector Mellony gerichtet.

Der seufzte. »Nein, natürlich darf sie das nicht. Ich war zugegebenermaßen etwas nachlässig mit den Regeln. Miss Midway, ich muss Sie bitten, das Haus zu verlassen.«

»Was? Warum denn auf einmal?«

»Weil es Zivilisten nicht gestattet ist, sich während der Ermittlungen an einem Tatort aufzuhalten.«

»Tatort? Dann glauben Sie also doch, dass …«

»Ich korrigiere mich: Unfallort.«

»Pah«, schnaubte Mia. Was sollte sie dazu auch noch sagen? Während Sergeant Angel grinsend die Hände vor der Brust verschränkte und schadenfroh auf Mias Abgang wartete, verzog Mellony zerknirscht das Gesicht. Aber das half ihm jetzt auch nicht mehr. Was für ein Weichei. Sergeant Angel war ihm untergeben, er hätte sich ihr gegenüber wenigstens für Mia einsetzen können, Regeln hin oder her. Mia warf dem Inspector einen zornigen Blick zu und verließ wie befohlen den Raum.

Wieder im Freien marschierte sie zielstrebig zurück zur Terrasse und stellte sich neben Doc Kenzo. Am liebsten hätte sie genau dabei zugesehen, wie er Miss Kingston untersuchte, aber sie hatte Angst, dass sie wieder ohnmächtig werden würde, also wandte sie der am Boden Liegenden den Rücken zu und starrte in die Hecke.

»Hat er Sie rausgeschmissen?«, fragte Kenzo direkt.

»Hat er.«

»Ihretwegen?«

»Allerdings.«

»Machen Sie sich nichts draus«, sagte Doc Kenzo leise. »Der Inspector mag Sie. Sehr sogar. Das sieht ein Blinder mit Krückstock. Aber er weiß auch, dass die gute Angela hoffnungslos in ihn verliebt ist. Seit Jahren schon. Er möchte ihre Gefühle nicht verletzen, darum geht es. Er ist nur ein guter Mensch, weiter nichts.«

Doc Kenzo so ernsthaft? So … nett? Das waren ja ganz neue Töne.

»Sie können sich jetzt übrigens wieder umdrehen, Miss Kingston ist gut betucht

Aha, da war er wieder ganz der Alte. Mia drehte sich um. Doc Kenzo war aufgestanden und lächelte sie an. Hinter ihm lag noch immer die verblichene Leonie Kingston auf dem Boden, inzwischen aber respektvoll mit einem grauen Tuch bedeckt. In diesem Moment traten zwei Männer in schwarzen Anzügen hinzu. Wo kamen die denn auf einmal her? Sie legten Miss Kingston auf eine Trage und nahmen sie mit. Mit einem Mal sah die Terrasse aus, als ob nie etwas geschehen wäre. Irgendwie traurig, dass ein Menschenleben einfach so davongetragen werden konnte, ohne dass die Welt auch nur für einen Moment stehenblieb.

»So, wir wären nun auch fertig.« Der Inspector trat mit Angela Angel hinzu.

Doc Kenzo nahm seine Tasche und winkte Mia leicht. »Ich empfehle mich.«

»Sie sind ja immer noch da.« Der missmutige Blick, den Sergeant Angel Mia zuwarf, sprach Bände.

Zu allem Überfluss unterstützte der Inspector seine Untergebene erneut: »Sergeant Angel hat recht, Miss Midway, Sie sollten jetzt auch gehen. Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen?«

»Nein, nein«, entgegnete Mia schnell. »Es wird mir guttun, mir ein wenig die Füße zu vertreten. Das macht den Kopf frei.«

»Gut. Dann bis bald, Miss Midway. Es hat mich sehr gefreut, Sie wiederzusehen. Auch wenn die Umstände, wie so oft, leider höchst unerfreulich waren.«

»Mich ebenfalls.« Sie bemühte sich um ein freundliches Lächeln. Sergeant Angel verdrehte die Augen. Sollte sie doch. Blöde Kuh.

»Also dann …« Schnellen Schrittes ging Mia los. Je eher sie aus dem Sichtfeld der Polizei und diese von Miss Kingstons Grundstück verschwand, desto besser.