Leseprobe Mitbewohner küsst man doch

Kapitel 1

Von viel Chaos und noch mehr Liebe

„Ich kann das nicht, Josephin. Es ist zu kompliziert, es … es funktioniert einfach nicht!“ Die dunklen Schatten unter Leonards Augen trugen nur ansatzweise nach außen, wie müde er tatsächlich war. Ich musste es wissen, denn ich war mit ziemlicher Sicherheit mindestens doppelt so müde. Das dunkle Haar länger als gewöhnlich, unrasiert, mit Flecken auf dem weißem Shirt und leiser Verzweiflung im Blick sah mein Ehemann mich an.

„Entspann dich, Leonard. Es ist doch nur ein Wickelbody.“ Ich verdrehte die Augen, reichte ihm das Baby, das gerade getrunken hatte, und beugte mich über das andere Baby, um dessen rosa Wickelbody richtig anzulegen. „Baby A hat noch kein Bäuerchen gemacht“, fiel mir ein. „Meine Güte, das kommt doch nicht über den Kopf. Armes Baby B!“ Ich musste lachen.

„Warum ändert man überhaupt Bodys? Ist doch Blödsinn“, fragte Leonard zu seiner Verteidigung und tätschelte Baby A den Rücken, bis dieses leise aufgestoßen hatte. „Ich mag das normale Konzept. Kopf rein, Arme rein, unten zuknöpfen und gut.“ Kopfschüttelnd bettete er das kleine Mädchen, das er auf dem Arm trug, neben dessen Zwillingsschwester und drückte mir einen Kuss auf die Wange. „Kaum zu glauben, dass die beiden schon sechs Wochen alt sind.“

„Hmm“, machte ich zustimmend, ein Paar Söckchen aus der Wickelkommode kramend.

„Wir müssen echt allmählich damit aufhören, sie Baby A und Baby B zu nennen“, merkte Leonard an.

Ich nickte.

„Ja, unbedingt. Nachher denken sie noch, sie heißen so“, stimmte ich ihm zu.

Irgendwie hatte es sich, angefangen mit einem Scherz im Kreißsaal, einfach so bei uns eingebürgert. Selbstverständlich hatten die beiden auch richtige Namen. Ella Mary und Mina Elaine. Sie waren die ungeplante doppelte Überraschung, die unsere Familie gute eineinhalb Jahre nach Jacksons Geburt komplett gemacht hatte. Manchmal konnte ich selbst noch nicht so richtig glauben, dass ausgerechnet ich, die immer geplant hatte, exakt zwei Kinder – idealerweise einen Jungen und ein Mädchen, versteht sich – zu bekommen, nun fünf hatte. Vier leibliche und meine inzwischen achtjährige Bonustochter Maddie, die mein Mann Leonard mit in die Beziehung gebracht hatte.

In unserer Patchworkfamilie war es laut, oftmals chaotisch und ziemlich verrückt. Mein Streben nach Perfektion und durchorganisierten Tagen war auf unserem Weg irgendwo zwischen Windeln wechseln, Elternabenden, Lunchboxen und durchwachten Nächten auf der Strecke geblieben – was nicht hieß, dass ich mich nicht hin und wieder äußerst stark danach sehnte. Ich mochte Ordnung. Ich mochte Sauberkeit, hübsch arrangierte Dekoration und Kalender, in denen alle Termine fein säuberlich in schnörkeliger Schrift eingetragen waren. In meinem neuen Alltag jedoch war all dies hinfällig oder kontraproduktiv. Deko wurde von unserem knapp Zweijährigen mit Genuss zerstört, den Kalender hatte ich in all dem Chaos verlegt und Ordnung war eine Art Fremdwort geworden.

Knappe drei Jahre waren vergangen, seit Leonard und ich uns nach einigem Hin und Her, einer Menge Drama und einer Fast-Hochzeit mit anderen Partnern füreinander entschieden hatten. Fast zwei, seit Maddie darum gebeten hatte, mich ebenfalls Mama nennen zu dürfen – wie Elliot, mein nun siebenjähriger Sohn aus erster Ehe. Und dann gab es da noch unseren Mittleren, der just in diesem Moment mit einem lautstarken Poltern aus dem Nebenraum auf sich aufmerksam machte.

„Jackson!“, riefen wir synchron.

„Hat er nicht gerade noch seinen Mittagsschlaf gemacht?“, seufzte ich.

„Theoretisch ja. Praktisch wohl nicht. Bleib bei den Babys, ich gehe schon!“ Leonard sprintete los und ließ mich allein vor dem Wickeltisch zurück. Angestrengt atmete ich ein und wieder aus. Jackson war anders, als Elliot in diesem Alter gewesen war, ja, er war tatsächlich anders als alle Kleinkinder, die ich zuvor kennengelernt hatte. Hatte ich auch zu meiner Zeit als Einzelkind-Mutter fest daran geglaubt, dass es bloß auf die Erziehung ankäme, so bewies mein zweitgeborener Sohn mir nun tagtäglich, dass dem nicht so war. Jackson war ungestüm und laut und man musste ihn nahezu ständig vor sich selbst retten. Er kam auf die wahnwitzigsten Ideen und hatte keine Angst vor nichts. Wenn er nicht gerade auf den Möbeln herumsprang oder -kletterte, Legoteile verspeiste oder Toilettenpapierrollen aufwickelte und die Treppe herunterließ, ärgerte er mit Vorliebe seine beiden älteren Geschwister.

Nachdem ich die Mädchen angezogen hatte, erschien Leonard im Türrahmen, Jackson, dessen kleines Gesicht rot vor Wut war, angestrengt unter den Arm geklemmt. Weitaus auffälliger als sein vor Wut gerötetes Gesicht war jedoch, dass Jacksons gesamter Schlafanzug sowie auch seine Locken so triefend nass waren, dass sie dort, wo Leonard nun mit ihm stand, eine kleine Pfütze auf dem Boden hinterließen. Sichtlich zornig wehrte er sich gegen den Griff seines Vaters und warf dann, als er bemerkte, dass seine Kraft nicht ausreichte, mit einem wütenden Brüllen den Kopf in den Nacken.

„Was ist denn passiert?“, erkundigte ich mich, als er kurz Luft holte, um zu einem neuen Schrei anzusetzen.

„Ach, er hat sich bloß einen Stuhl an die Arbeitsfläche herangerückt, ist hochgeklettert und hat, nachdem er die gesamte Spülmittelflasche auf dem Boden ausgeleert und hinterher durch die Gegend geworfen hat, beschlossen, im Waschbecken ein Bad zu nehmen“, erklärte Leonard, als wäre es das Normalste der Welt.

Ich seufzte. „Schon wieder?“

„Jap.“

„Und das so leise?“

„Bemerkenswert leise, ja.“

„Mit oder ohne Überschwemmung?“

„Anfängerfrage. Was glaubst du wohl?“

„Selbstverständlich mit. Puh.“ Ich griff nach dem Tragetuch, das neben der Wickelkommode lag, schlang es mir um den Körper und setzte erst die dunkelhaarige Mina und dann Ella hinein, auf deren Kopf sich nur ein wenig zarter blonder Flaum befand. „Ich gehe dann mal putzen. Holst du die Großen von der Schule ab?“

„Okay. Ich ziehe mir nur schnell etwas Trockenes an. Was mache ich mit ihm hier?“ Leonard streckte mir den immer noch triefenden Jackson entgegen. „Fesseln? Knebeln? Exorzismus vielleicht?“

„Kekse!“, schrie Jackson. Sein Lieblingswort.

„Ach, er ist doch noch nicht mal zwei“, versuchte ich Leonard zu besänftigen. „Die frechsten Kleinkinder werden später die liebsten Schulkinder. Ich meine … sieh dir Maddie an.“ Mit dem linken Arm angelte ich einen Schnuller von der Wickelkommode und steckte ihn der quengelnden Ella in den Mund, während ich mit der rechten Hand beruhigend ihren Rücken klopfte.

„Wie meinst du das mit Maddie?“, fragte Leonard gespielt entrüstet. Er setzte Jackson ab und ging neben ihm in die Knie, um ihm die nasse Kleidung auszuziehen.

Ich grinste wissend. Als ich Maddie damals, kurz nach dem Tod ihrer leiblichen Mutter kennengelernt hatte, war sie ein ungekämmter und lauter Wirbelwind gewesen, der in meinen Augen viel zu viel Zucker und Medien konsumiert hatte, während Elliot zu diesem Zeitpunkt eher verschüchtert und ausgesprochen brav gewesen war. Inzwischen war Maddie ruhiger geworden, ein pflegeleichtes, hilfsbereites Mädchen, das gute Noten schrieb und allseits beliebt war.

Nachdem Leonard – wie so oft in den letzten Wochen – verspätet aufgebrochen war, um die beiden Großen von der Schule abzuholen, lief ich mit den inzwischen schlafenden Babys im Tragetuch hinter Jackson her, der, bloß mit einer Windel bekleidet, durch das ganze Haus flitzte und sich weigerte, sich etwas anziehen zu lassen. Ich stolperte über ein Polizeiauto im Miniformat, das daraufhin mit Sirenengeräuschen und blinkenden Lichtern reagierte. Die Babys zuckten zusammen, wohl eher wegen des Stolperns, denn Lärm waren sie gewohnt, und begannen vor Schreck synchron zu schreien. Jackson hingegen schien das Ganze für ein Spiel zu halten. Er tapste kichernd und strahlend auf seinen kleinen nackten Füßen aus dem Raum. Schweißgebadet ließ ich mich auf das Sofa sinken, auf dem noch die Spucktücher vom Vortag sowie eine volle Windel und Maddies Grafik-Tablet inklusive Ladekabel lagen.

„Sch sch sch“, machte ich, während ich rhythmisch auf der Sofakante vor und zurück wippte und beiden Babys den Rücken klopfte.

Ich unterdrückte ein Aufseufzen. Die alte Josephin (oder eher gesagt, die alte Jo, denn bevor Leonard sich geweigert hatte, mich bei meinem Spitznamen zu rufen, hatte ausnahmslos jeder mich so genannt) hätte bei dem Anblick unseres trauten Heims wahrscheinlich die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und wäre in Ohnmacht gefallen. Nachdenklich ließ ich meinen müden Blick durch das Wohnzimmer schweifen. Jenes Wohnzimmer, das wir damals, zu dem Zeitpunkt noch zu viert, so liebevoll renoviert und eingerichtet hatten. Auf der teuren Couch prangten Flecken, am Fernseher waren es kleine Handabdrücke, die sich auch an den Fenstern und auf dem Couchtisch wiederfanden.

Überall lag irgendetwas herum, das keinen richtigen Platz hatte: hier ein einsames Babysöckchen, dort ein Teddy, da eine leer getrunkene Wasserflasche. Auf dem Couchtisch standen zudem noch ein Teller vom Vorabend und eine Tasse mit einem Rest Kaffee. Es war nicht so, dass ich nicht aufräumte, nein, im Gegenteil – an manchen Tagen hatte ich das Gefühl, Aufräumen wäre das Einzige, das ich tat. Aber kaum war ein Raum halbwegs fertig, da sah der nächste wieder aus, als hätte dort eine Bombe eingeschlagen. Es war ein einziger riesengroßer Frühjahrsputz, der sich Tag für Tag wiederholte.

„Jackson, nein, gib das bitte Mummy!“ Alarmiert sprang ich auf, als mein Sohn, der sich inzwischen auch seiner Windel entledigt hatte, mit einer Käsereibe in der einen und einer Nagelschere in der anderen Hand zurück ins Wohnzimmer gehechtet kam. Wusste der Teufel, wie er an beides rangekommen war und vor allem, was er damit vorhatte.

„Gib das Mummy!“, wiederholte ich eindringlich und starrte ihm hypnotisierend in die Augen.

Zwar hörte er wie erwartet nicht auf mich, ließ beides aber immerhin fallen und kletterte auf die Fensterbank. Ihm dies abzugewöhnen, hatten wir inzwischen so oft erfolglos versucht, dass wir resigniert hatten und uns lediglich noch hinter ihn stellten, um ihn im Fall des Falles (im wahrsten Sinne des Wortes) auffangen zu können. Seufzend rappelte ich mich wieder auf und gesellte mich zu ihm. Mina schlief inzwischen, Ella weinte noch ein wenig.

„Sch sch sch“, machte ich besänftigend, schaukelte auf der Stelle von links nach rechts und legte einen Arm um Jackson. „Na, mein Schatz, wartest du auf deine Geschwister?“

„Addie! Liot!“, rief er und applaudierte freudig. Man konnte diesem kleinen Temperamentsbündel viel vorwerfen, aber keine mangelnde Liebe; er war absolut vernarrt in seine großen Geschwister und diese Tatsache war einfach so zuckersüß, dass ich die Aufregung der letzten Stunden fast vergaß.

Als der cyanblaue Minivan, den Leonard gegen seinen geliebten schwarzen Kleinwagen eingetauscht hatte, auf die Einfahrt rollte, jauchzte Jackson vor Freude. Er klopfte mit seinen kleinen Fäusten an die Fensterscheibe und konnte es danach kaum abwarten, von der Fensterbank herunterzukommen, um die Tür aufzureißen und ihnen entgegenzulaufen. Barfuß, nackt. Im Oktober!

Mein Herz machte einen Satz, als er Elliot in die Arme lief. Maddie jedoch schulterte bloß ihren Rucksack, wich ihrem kleinen Bruder Haken schlagend aus und stürmte an mir vorbei.

„Hey, Süße, alles in Ordnung?“, erkundigte ich mich erstaunt.

„Ja, Josephin, alles bestens“, brummte sie und verschwand mitsamt Jacke, Schuhen und Ranzen in ihrem Zimmer.

Josephin?!“, wiederholte ich irritiert und drückte Elliot kurz an mich, während ich Leonard über seinen Kopf hinweg einen fragenden Blick zuwarf. „Seit wann bin ich denn wieder Josephin statt Mama?“

„Es ist meine Schuld. Ich habe völlig vergessen, dass sie heute Training hat“, gab Leonard zu, der seine liebe Mühe damit hatte, Jackson durch die Haustür zurück ins Haus zu manövrieren. „Da hätte ich überpünktlich sein und sie direkt am Fußballplatz absetzen müssen.“

„Aber sie hat doch freitags Training“, murmelte ich.

„Das habe ich auch gesagt“, stimmte Leonard mir zu. „Aber heute ist Freitag.“

„Tatsächlich?“

„Schon den ganzen Tag lang.“ Elliot schob sich seine Brille mit dem Zeigefinger auf den Nasenrücken, eine Angewohnheit, die er von seinem Vater Marten übernommen hatte, und hängte seinen Schulranzen an der Kindergarderobe auf. „Wieso ist Jackson nackt?“

„Frag mich was Leichteres.“ Ich lächelte müde. „War die Schule gut? Hast du Hunger? Hausaufgaben?“

„Dreimal ja.“

„Wenn heute Freitag ist…“, setzte Leonard an und wandte sich mit einem Augenzwinkern an mich.

„… dann ist heute Pizzatag“, beendete ich seinen Satz. Eine Tradition, die wir seit unserer WG-Zeit stets beibehalten hatten. Anfangs hatte ich es befremdlich gefunden, doch inzwischen gehörten Pizza und ein guter Kinderfilm für mich fest zum Freitagabend.

„Aber erst mal gibt es Mittagessen. Und dann werden die Hausaufgaben erledigt“, erklärte Leonard. „Soll ich uns eine schnelle Brotplatte fertigmachen?“

„Darf ich helfen?“, fragte Elliot eifrig.

„Klar. Sag deiner Schwester Bescheid, wasch dir die Finger und komm in die Küche“, bat Leonard ihn, nahm Jackson auf den Arm und zog die Haustür hinter sich zu. Als Elliot tat wie aufgetragen, wandte Leonard sich an mich. „Ich habe ihr angeboten, sie trotzdem noch hinzufahren, aber anscheinend ist es schlimmer, zu spät zu kommen, als gar nicht zu kommen.“ Er zuckte mit den Schultern.

„Oh nein, die arme Maddie. Der Trainer ist aber auch wirklich streng, wenn jemand unpünktlich ist. Ganz gemeiner Kerl.“ Ich seufzte und lächelte Leonard aufmunternd zu. „Soll ich mal mit ihr reden?“

„Du kannst es versuchen. Aber sie ist echt stur momentan.“

„Woher sie das wohl hat?“

„Wenn ich das nur wüsste … ich suche Karate Kid hier mal was zum Anziehen zusammen und dann kümmern wir drei Jungs uns um das Mittagessen.“ Leonard drückte mir einen Kuss auf die Wange und machte sich auf, mit Elliot und Jackson die Brotplatte zum Mittag vorzubereiten. Seit der Geburt der Zwillinge war das zu einem richtigen Standardmittagessen geworden; Brote mit verschiedenen Aufstrichen und Belägen, dazu meist ein wenig Rohkost. Mit fünf Kindern ist man immer froh, wenn man etwas Schnelles zaubern kann, das allen schmeckt und nicht viel Aufwand erfordert.

„Nachdem ich den Boden gewischt habe“, rief er aus der Küche hinter mir her, denn natürlich hatte ich Jacksons spontanes Bad im Spülbecken und die daraus resultierende Überschwemmung, die ich eigentlich vorhin hatte wegputzen wollen, längst vergessen.

Die Mädchen schliefen tief und fest im Tragetuch, ihre kleinen Köpfe sanft an meine Brust gebettet. Ich warf einen Blick die Treppe hinauf. Auf einigen der Stufen lagen achtlos ausgezogene und weggeworfene Kleidungsstücke, zudem eine Tasche mit aussortierter Kleidung von Elliot, die ich hatte in den Keller bringen wollen, und eine noch eingepackte neue Lampe, die Leonard im Flur anbringen wollte. Aber wie schon so oft in den letzten Wochen war etwas dazwischengekommen.

Langsam stieg ich die Treppe empor, sammelte dabei die Kleidungsstücke auf und entdeckte sogar die verschwundene Windel.

Oben angekommen klopfte ich leise an Maddies Tür. Sie reagierte nicht. Vorsichtig drückte ich die Klinke herab und warf einen Blick in ihr Zimmer. Ihre ausufernde Pink- und Rosaliebe hatte vor einem guten halben Jahr abrupt geendet und auf ihren Wunsch hin hatten wir aus dem einstigen Prinzessinnenzimmer einen Traum in Mintgrün gezaubert. Ihr Puppenhaus war durch einen Schreibtisch, ihr kleines Kinderbett durch ein spacig aussehendes Hochbett ersetzt worden, unter dem eine Minicouch und ein Bücherregal Platz fanden. Überall hingen Wimpel- und Lichterketten und hier und da einige Fußballposter.

Maddie lag bäuchlings auf dem Teppich, ihren Rucksack offen neben sich, aus dem einige Schulhefte und die Brotdose herauslugten.

„Was machst du da?“, fragte ich freundlich, stützte die Köpfe der Kleinen und setzte mich im Schneidersitz neben sie.

„Hausaufgaben“, antwortete sie einsilbig.

„Grammatik?“ Ich warf einen Blick auf das Heft, in dem sie arbeitete. „Soll ich dir helfen?“

„Nicht nötig, das ist total babyleicht.“ Maddie wandte den Blick nicht von ihrer Arbeit ab und schrieb nun fein säuberlich ein Wort in eines der leeren Felder. „Kümmere dich ruhig um die Babys.“

„Die Babys schlafen, Süße.“ Ich wartete, bis sie mich ansah und deutete auf das Tragetuch. „Es tut mir leid, dass wir dein Fußballtraining heute vergessen haben.“

„Schon gut.“ Maddie zuckte mit den Schultern. „Ich bin nur sauer auf meinen Dad. Ist ja nicht deine Aufgabe.“

Erstaunt schüttelte ich den Kopf. „Was willst du damit sagen? Natürlich ist es auch meine Aufgabe.“

„Na ja, ich meine … du hast jetzt zwei richtige Töchter“, erklärte sie gedehnt und setzte ein leises leibliche hinzu.

„Du hast recht“, stimmte ich ihr zu.

Sie hob verwundert den Blick.

„Mina und Ella sind meine ganze Welt. Mein ganzes Herz.“

Maddie nickte, eine Gefühlsmischung aus Erstaunen, Traurigkeit und gespieltem Verständnis auf dem hübschen schmalen Gesicht, das das Kindliche allmählich verlor.

„Aber …“, fuhr ich fort und strich ihr eine dunkle Haarsträhne hinter das Ohr, „… auch du, Elliot und Jackson sind meine ganze Welt. Mein ganzes Herz. Ich liebe euch alle fünf wie verrückt. Und es spielt keine Rolle, ob du in meinem Bauch warst oder nicht. Ich bin deine Mutter, du bist meine Tochter. Meine erste Tochter. Daran wird sich niemals etwas ändern.“

Maddies Mundwinkel zuckten verdächtig.

„Versprichst du das?“, fragte sie mit zitternder Stimme.

„Hoch und heilig.“

Ein Ruck ging durch ihren Körper, sie ließ die Hausaufgaben Hausaufgaben sein und fiel mir um den Hals. Ganz behutsam, um ihre kleinen Schwestern nicht aufzuwecken.

Sanft strich ich ihr über den Rücken. Oh Maddie. Wie hatte diese wilde und ungekämmte kleine Seele mich damals überfordert. Sie hatte mein Leben völlig auf den Kopf gestellt. Und wie schnell hatte ich mich dann doch Hals über Kopf in sie und ihren Vater verliebt. Hätte mir das damals jemand prophezeit, hätte ich ihn für verrückt gehalten.

***

Als wir an diesem Abend völlig erschöpft ins Bett fielen, die Zwillinge nach einer ausgiebigen Stillmahlzeit tief schlafend neben mir im Beistellbettchen, zog Leonard mich unerwartet an sich.

„Wenn ich nicht so unfassbar müde wäre …“, flüsterte er mir ins Ohr und strich mit seinen Lippen sanft über meinen Hals.

„Ich weiß nicht, wann ich zum letzten Mal duschen war“, gab ich zu bedenken.

„Josephin McEvans, Sie wissen wirklich, wie man einen Mann verführt.“

Ich kicherte.

„Man kann mir viel vorwerfen, aber nicht, dass ich meinen Sexappeal verloren habe“, scherzte ich.

„Das hast du auch nicht.“ Leonard, plötzlich ganz ernst, stützte sich auf seinen Ellbogen ab, legte das Kinn in die Hände und sah mich an. „Und das wirst du nie. Nicht für mich.“

„Du hast gut reden mit deinem Astralkörper.“ Neidisch deutete ich auf seinen Bauch, an dem sich nicht einmal ansatzweise Fett befand. Leonard war noch genauso durchtrainiert und braungebrannt wie an jenem Tag, an dem ich ihn kennengelernt hatte. Dabei aß er ständig ungesundes Zeug, trieb in letzter Zeit wenig Sport und war auch nicht öfter in der Sonne als jeder Otto Normalverbraucher – ganz schön unfair, Mutter Natur, ganz schön unfair. Unwillkürlich berührte ich meinen Bauch, der von der Schwangerschaft noch ein wenig gewölbt und mit dem einen oder anderen Dehnungsstreifen versehen war, und zog mein Shirt weiter nach unten.

„Josephin.“ Leonard strich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr. „Du hast achtunddreißig Wochen lang zwei Babys in deinem Bauch wachsen lassen. Du siehst toll aus. Genauso toll wie am ersten Tag … wobei, nein … besser als am ersten Tag.“

Ich hob fragend eine Augenbraue.

„Ich meine, du warst hübsch, als du da mit Klein Elliot vor der Tür der WG standst, ohne Frage … aber du warst so … steif. Und ängstlich. Und penibel.“

„Und du erst, Mr Jede-Nacht-eine-andere-Frau-im-Bett.“ Mit einem Kopfschütteln erinnerte ich mich an unser erstes Aufeinandertreffen zurück, bei dem Leonard zwar unverschämt gut ausgesehen hatte, aber mir mit seinem Machogehabe auf Anhieb sehr unsympathisch gewesen war.

„Es war nicht gerade Liebe auf den ersten Blick“, stimmte Leonard mir zu.

„Auch nicht auf den zweiten oder dritten.“

„Aber der vierte … da hat‘s dann gefunkt.“

„Und wie.“ Grinsend streckte ich mich ihm entgegen und küsste ihn.

„Du hast innerlich geleuchtet damals, nachdem du endlich eine Weile ohne Marten verbracht hattest“, schwelgte Leonard in Erinnerungen. „Und genau in dieses Leuchten habe ich mich verliebt. Solange du das hast, wirst du immer schön für mich sein. Sogar mit neunzig Jahren noch.“

Und als ich so dalag, die schlafenden Zwillinge und meinen Ehemann neben mir, die anderen drei Kinder glücklich und zufrieden mit den Bäuchen voller Pizza in ihren eigenen Zimmern und Betten, da wurde mir über alle Müdigkeit und Erschöpfung hinweg bewusst, dass ich, Josephin McEvans, angekommen war. Ich war genau dort, wo ich immer hatte sein wollen.

Kapitel 2

Aufregende Neuigkeiten

„Tschüss, habt einen schönen Tag, ich habe euch lieb!“, rief ich Elliot und Maddie nach, nachdem ich sie an jenem Montagmorgen an der Grundschule abgesetzt hatte.

Es war kein gewöhnlicher Montagmorgen, nein, es war ein ganz besonderer. Leonard ging das erste Mal seit der Geburt der Zwillinge wieder arbeiten und ich war mit allen fünf Kindern auf mich gestellt, was mir im Voraus weitaus mehr Angst gemacht hatte, als ich nun, im Nachhinein betrachtet, hätte haben müssen. Elliot und Maddie waren äußerst selbstständig, Jackson ausnahmsweise einigermaßen kooperativ und Mina und Ella schliefen selig in ihren Babyschalen.

Zwar hatte es nicht mehr dafür gereicht, mir selbst die Zähne zu putzen, Jackson trug einen Turnschuh und einen Gummistiefel an den Füßen sowie eine Unterhose auf dem Kopf, aber ich war dennoch stolz auf mich. Die Brotdosen waren gefüllt und in den beiden Ranzen verstaut, die Schulkinder sauber angezogen, die Babys gestillt und der Tag noch jung. Von so viel Organisationstalent hätte selbst die alte Jo sich noch eine Scheibe abschneiden können.

Zurück zu Hause trug ich zuerst die Sitzschalen mit den Mädchen ins Schlafzimmer und holte anschließend Jackson aus dem Wagen, der sich derweil des Schuhs und Gummistiefels entledigt hatte. Die Unterhose auf seinem Kopf schien ihn jedoch nicht weiter zu stören.

Beim Versuch, die Babys aus den Sitzschalen in den Stubenwagen zu legen, wachte Mina auf und sah mich mit großen Augen an. Um zu vermeiden, dass sie ihre Schwester aufweckte, bei der das ganze Prozedere geglückt war, nahm ich sie schnell auf den Arm, zog ihr den roséfarbenen Fleeceoverall aus und trug sie mit in die Küche, in der Jackson bereits auf sein Frühstück wartete. Die Ellbogen auf der Kücheninsel abgestützt, das Kinn in der offenen Hand abgelegt und mit strampelnden Beinen saß er dort auf seinem erhöhten Stuhl und sah mich abwartend an. Mit seinen grau-grünen Augen und den braunen welligen Haaren, die sich strähnenweise sogar stark lockten, sah er aus wie eine Miniaturversion seines Vaters.

„Kekse!“, rief er fröhlich.

„Müsli“, entgegnete ich. „Oder Brot. Wie du magst.“

„Kekse!“ Jackson trommelte mit den Füßen gegen die Kücheninsel, das kleine rundliche Gesicht zu einer herausfordernden Grimasse verzerrt.

„Kekse sind kein Frühstück, Jackson.“ Ich schüttelte entschieden den Kopf und legte das Baby an, um stillend zum Vorratsschrank zu gehen. Eins dieser Dinge, die man als Mehrfachmutter irgendwann automatisch macht, da es sich nicht vermeiden lässt – Stillen beim Herumlaufen. „Brot oder Müsli, Jackson?“

„Kekse.“

Gut. Dass er leicht beeinflussbar war, konnte man ihm schon mal nicht vorwerfen. Das würde er irgendwann sicher zu seinem Vorteil nutzen können.

„Wie auch immer – Mummy braucht erst mal einen Kaffee.“ Ich schaltete unseren Kaffeevollautomaten an und ließ mir einen extragroßen Milchkaffee in die Tasse laufen, die ich zum letzten Muttertag bekommen hatte. Die Kinder hatten sie mit Keramikstiften bunt bemalt und waren nach wie vor unheimlich stolz auf ihr Werk.

Kaum hatte ich Zucker in den Kaffee gerührt, Mina auf die Spieldecke gelegt und die Tasse an die Lippen gesetzt, begann Ella im Schlafzimmer lautstark zu schreien.

„Kekse!“, brüllte Jackson mir fordernd hinterher, als ich aufsprang, um Ella zu holen.

Irgendetwas sagte mir, dass ich diesen Kaffee nicht mehr trinken würde, solange er noch heiß war.

Ich hatte Recht behalten. Nachdem ich Elliot und Maddie von der Schule abgeholt hatte und in der Küche damit begann, das Mittagessen vorzubereiten, fiel mir die noch volle Tasse in die Hände. Seufzend öffnete ich die Mikrowelle, um den Kaffee aufzuwärmen und während des Kochens zu trinken, nur um festzustellen, dass sich darin noch eine volle Tasse mit Kaffee vom Vortag befand. Schlussendlich goss ich beide ins Waschbecken und beschloss, mir Kaffee fortan nur noch im Thermobecher mit ins Auto zu nehmen. Da hatte ich zumindest an jeder roten Ampel kurz die Hände frei und somit die Gelegenheit, einen großen Schluck zu nehmen.

Maddie lief mit Ella im Arm auf und ab und summte ihr ein Lied vor, während Elliot oben Jackson unterhielt und Mina zufrieden auf der Spieldecke strampelte. Einer von den rar gesäten Augenblicken, in denen ich kurz durchatmen und meine Gedanken sortieren konnte. Ich versuchte, einen groben Plan in meinem Kopf zu stricken, der den Rest des Tages strukturieren sollte – zumindest soweit wie möglich. Heute stand immerhin kein Fußballtraining an, das ich hätte vergessen können. Also musste ich bloß kochen, mit Elliot für den Mathetest lernen, den Termin für die Impfung der Zwillinge endlich vereinbaren und …

„Mama?“ Maddie unterbrach meine Gedanken und streckte mir die strampelnde Ella entgegen. „Sie hat mich angepinkelt.“

„Sie hat was?“ Schnell nahm ich ihr das Baby ab. Tatsächlich, Ellas Strampler war völlig warm und durchnässt. „Oh nein! Na dann gehen wie euch beide mal schnell umziehen. Ich mache Baby A frisch, du ziehst dir auch etwas Trockenes an und …“

„Kannst du Jackson aus meinem Zimmer holen? Er wirft meine ganzen Sachen rum!“, rief Elliot aus dem Obergeschoss herunter. Es folgte eine rasche Abfolge von lauten, scheppernden Geräuschen. „Mann, Jackson, das ist meine Autosammlung! Das geht doch alles kaputt!“

Just in dem Moment begann auch Mina alias Baby B auf der Krabbeldecke zu weinen und unzufrieden zu zappeln. Ich unterdrückte ein Aufseufzen. So viel zum Sortieren meiner Gedanken.

***

Als Leonard am Abend nach Hause kam, hatte ich die Kinder bereits ins Bett gebracht und stand gerade im abgedunkelten Schlafzimmer, um abzuwarten, ob die Babys tatsächlich schliefen oder ob ich noch einmal einen Schnuller reichen und sie ein wenig tätscheln musste. Ich war dermaßen müde, dass ich am liebsten sofort mitgeschlafen hätte, doch dass ich Leonard den ganzen Tag nicht gesehen und ihn aufrichtig vermisst hatte, war mir in diesem Moment wichtiger. Ich hatte im Voraus gewusst, dass er am ersten Tag recht lange würde arbeiten müssen und doch war es nun weitaus später geworden als ich erwartet hatte.

Leonard sah müde, aber ziemlich zufrieden aus, als er ins Schlafzimmer kam. Ein kleiner Lichtstrahl fiel aus dem Flur in den Raum hinein, ließ die Babys in Dunkelheit gehüllt und beleuchtete nur die Stelle am Bettrand, an der ich gerade stand.

„Hi.“ Leonard küsste mich sanft. „Wie war dein Tag?“, flüsterte er.

„Nun, ich habe alle fünf am Leben erhalten. Ist das genug?“

„Das ist auf jeden Fall genug.“

„Und wie war deiner?“, erkundigte ich mich, mehr aus Höflichkeit als aus echtem Interesse, denn die Müdigkeit wurde stärker und stärker.

„Josephin?“ Leonard räusperte sich und machte eine bedeutungsschwangere Pause. „Ich habe großartige Neuigkeiten. Ted will mich befördern. Ich soll ein ganz neu zusammengestelltes junges Team anleiten.“

„Ist das wahr? Oh Leonard, endlich!“ Ich fiel ihm um den Hals und drückte ihn überschwänglich. „Das hast du schon so lange verdient.“

„Danke, danke.“ Leonard löste meine Arme von seinem Hals, schob mich ein Stück weit von sich weg und sah mir ernst in die Augen.

„Es gibt ein Aber, richtig?“, schloss ich, immer noch flüsternd, bevor er überhaupt etwas sagen konnte.

„Wir müssten umziehen“, gab Leonard geradeheraus zu. „Nach Colorado. In die Nähe von Denver.“

Vom unscheinbaren, süßen New Greenville in Arizona nach Colorado? Das musste ich erst mal sacken lassen. Schweigend setzte ich mich auf die Bettkante und malte mit dem Fuß Kreise auf den flauschigen Schlafzimmerteppich. Colorado.

„Ich weiß, ich weiß … das ist erst mal ein Schock.“ Leonard ging vor mir in die Knie und legte seine Hände auf meinen Oberschenkeln ab. Seine grau-grünen Augen sahen mich durchdringend an. „Und niemand verlangt, dass wir das sofort entscheiden. Hör mir nur erst zu, bevor du etwas sagst.“

„Okay.“ Ich nickte.

„Teds Großcousine oder Großtante oder so ist vor Jahren verstorben. Ihr Haus gehört der Familie, steht aber seit ihrem Tod komplett leer. Es ist wohl ein ziemlich riesiges Grundstück und ein großes Gebäude mit zehn Zimmern. Ich wiederhole – zehn Zimmer! Und er würde es uns, falls wir es haben wollen, für weitaus weniger verkaufen, als wir für unser Haus hier gezahlt haben.“

„Aber wieso?“, erwachte die Skeptikerin in mir. „Ein derart großes Haus für so wenig Geld?“

„Nun, es liegt eben recht abgelegen. Viele Menschen leben lieber in der Stadt“, wischte Leonard meine Bedenken beiseite. „Ted hat mir Fotos geschickt. Warte kurz.“ Er zog sein Smartphone aus der Hosentasche, tippte kurz darauf herum und zeigte mir anschließend einige Bilder von einem großen, wirklich schönen Haus.

„Es hat eine Veranda“, flüsterte ich. Ich hatte schon immer eine Schwäche für Häuser mit Veranden gehabt.

„Ja.“ Leonard nickte. „Und einen Wintergarten, jede Menge alte Obstbäume, eine Scheune …“ Er scrollte durch die Fotos und zeigte mir alles, was er benannte. „Sieh dir nur an, wie groß die Zimmer sind. Und es hat drei Badezimmer.“

Er ließ das Ganze noch ein wenig auf mich wirken, dann steckte er das Handy zurück in seine Hosentasche. „Der Ort heißt Oldmallow, ein abgelegenes Dorf, das etwa fünfzehn Fahrminuten von der Stadt entfernt ist, in der ich arbeiten werde … ich meine, arbeiten würde. Und ich würde aufgrund der Führungsposition fast das Doppelte von dem verdienen, was ich aktuell bekomme. Das ist viel, Josephin, das ist echt viel. Wir könnten den Kindern ein Pferd kaufen oder irgendetwas anderes Teures, was wir uns sonst nie würden leisten können.“

„Gott, Maddie würde dir die Füße küssen, wenn du ihr ein Pferd kaufen würdest.“

„Ich weiß.“ Leonard strahlte über das ganze Gesicht. „Und Elliot kann auch ein Pferd haben. Oder einen Golden Retriever. Und Jackson … puh, nein, Jackson bekommt vorerst kein Haustier – das hätte keine lange Lebenserwartung. Aber wenn …“

„Leonard“, fiel ich ihm so sanft wie möglich ins Wort. „Wir sind hier nicht bei Unsere kleine Farm. Das klingt ja alles großartig und romantisch, aber wir sollten da ganz realistisch rangehen.“

„Okay.“ Leonard nickte, das breite Lächeln immer noch im Gesicht. „Und wie?“

„Wir könnten … eine Pro-und Contra-Liste anlegen.“

„Wie die alte Jo?“

„Die alte Jo war hervorragend im Anlegen von Pro-und Contra-Listen.“

Ich zog die Nachttischschublade auf, kramte zwischen Fieberzäpfchen, einer Packung Taschentüchern und meinem Geheimvorrat an Marzipanschokolade, die ich vor den Kindern versteckt hielt, um sie nicht teilen zu müssen, einen kleinen Block und einen Kugelschreiber hervor.

„Contra: Die Kinder haben all ihre sozialen Kontakte hier“, begann ich und schrieb meine Bedenken im Lichtstrahl des Flurs sogleich auf.

„Pro: Wir hätten ein größeres Haus, sodass jedes Kind ein eigenes Zimmer haben könnte. Es ist sogar noch Platz für ein Arbeitszimmer für mich, einen Ankleideraum und einen Raum für dich ganz allein.“ Leonard setzte sich neben mich und tippte mit dem Zeigefinger auf das Wort Pro.

Ich ergänzte seine Worte.

„Und was soll ich mit einem Raum für mich ganz allein?“, fragte ich, während die Mine über das Papier kratzte.

„Keine Ahnung. In Ruhe atmen oder so.“

„Klingt gut.“ Ich musste grinsen. „Marten.“

„Ich heiße Leonard.“

„Weiß ich doch. Marten ist ein Contra-Punkt.“

„Oh, das ist er definitiv.“

„Jetzt sei doch mal ernst“, verlangte ich, ein Lachen unterdrückend. „Marten würde Elliot nicht mehr so oft sehen können, und ja …“, ich streckte Leonard, der den Mund öffnete, um etwas zu entgegnen, die Hand entgegen, „… mir ist klar, dass er ihn auch hier nicht sehr oft sieht. Aber Elliot ist sein Sohn. Ich kann das nicht einfach tun, ohne mir Gedanken um die Bindung zwischen den beiden zu machen.“

Leonard atmete tief ein und wieder aus. Die Beziehung zwischen meinem Mann und meinem Ex-Verlobten hatte sich glücklicherweise inzwischen etwas entspannt, auch weil Marten selbst inzwischen geheiratet und einen kleinen Sohn mit seiner neuen Frau bekommen hatte. Dennoch würde er Leonard nie ganz verzeihen, dass dieser ihm vor Jahren mal ein blaues Auge geschlagen und dass ich seinetwegen die unfassbar teure und über Monate hinweg geplante Traumhochzeit in letzter Sekunde abgesagt hatte. Er war auf allen Kosten sitzengeblieben. Und auch Leonard war nie ein Marten-Fan geworden, da er wusste, dass er mir damals das Herz gebrochen hatte und ich dennoch zu ihm zurückgegangen war.

„Und Elinor“, ergänzte ich. „Und Maddies Großeltern. Und dein Vater. Leonard, wir haben so viele Menschen in der Nähe, die wichtig für unsere Kinder sind. Das können wir ihnen nicht antun.“

„Du hast recht.“ Leonard sah zerknirscht aus. So zerknirscht, dass es mir leidtat, ihm seine Euphorie genommen zu haben.

Familie schrieb ich in Großbuchstaben in die Contra-Spalte und reichte die Liste und den Stift an Leonard weiter.

Er betrachtete sie einen Moment lang, dann ergänzte er einige Worte in der Pro-Spalte, die ich erst erkennen konnte, als er seinen Arm beiseiteschob.

„Größerer Garten, gute Schulen, ein teures Pferd“, las ich leise. „Leonard! Das sind keine Pro-Punkte, das sind Träumereien. Wie sollen wir uns denn noch um ein Pferd kümmern?“

„Maddie kann das tun“, antwortete Leonard schlicht. „Oder die Zwillinge. Die helfen ja sonst nie bei irgendwas.“

Ich prustete ein unterdrücktes Lachen hervor. Unerwartet nahm Leonard mein Gesicht zwischen seine Hände und strich mir mit den Daumen sanft über die Wangen. Das hatte er ewig nicht gemacht. Das Lachen blieb mir im Hals stecken. Ein Gefühl von Vertrautheit, Sehnsucht und Sentimentalität stieg in mir auf.

„Josephin, ich glaube, dass das eine riesengroße Chance für uns ist. Für unsere Familie“, sagte Leonard leise. In seiner Stimme lag etwas Beschwörendes.

Nachdenklich sah ich ihn an. „Aber ich liebe das Haus“, wendete ich wispernd ein.

„Ich liebe das Haus auch.“ Leonard lächelte sanft. „Hier hat sich einfach ein Großteil unserer Zeit als Familie abgespielt. Aber seien wir ehrlich … auf kurz oder lang müssen wir uns sowieso nach etwas Größerem umschauen. Ich glaube nicht, dass Baby A und Baby B sich auf ewig ein Zimmer mit uns teilen wollen. Und wer sagt, dass wir nicht auch ein anderes Haus lieben können?“

Ich seufzte schwer und ließ meinen Blick über die Zwillinge gleiten. Wie tief sie schliefen, wenn sie so dicht beieinanderlagen. Die Vorstellung, dass sie in absehbarer Zeit ein ganzes Stück wachsen, laufen und viel mehr Platz benötigen würden, war noch so fern … nahezu surreal. Die Erinnerung daran, dass auch Elliot und Jackson einst so winzig und hilflos gewesen waren, hingegen verschwommen.

Leonard nahm meine Hände in seine. Wie immer waren seine viel wärmer als meine.

„Ich will dich auf keinen Fall drängen, Josephin. Und ich werde das nicht alleine entscheiden. Ich möchte nur, dass du darüber nachdenkst. Denk darüber nach, dass jedes Ende auch für einen Anfang steht. Okay?“

„Okay“, nickte ich, ohne den Kopf von den Babys abzuwenden. Ella hielt ein Stück von Minas Schlafsack in ihrem Händchen, als hätte sie Sorge, dass ihre Schwester in der Nacht von ihrer Seite verschwinden könnte.

„Danke, mein Schatz.“ Leonard drückte mir einen Kuss auf die Stirn, dann reckte und streckte er sich und suchte sich frische Kleidung im Schrank zusammen. „Ich springe noch schnell unter die Dusche. Wollen wir danach zusammen einen Film ansehen?“

„Klar, gern“, antwortete ich, obwohl wir beide nur allzu gut wussten, dass wir nach den ersten zehn Minuten tief und fest schlafen würden.

Unwillkürlich begann ich, über das nachzudenken, was Leonard über Anfänge gesagt hatte und ich erinnerte mich nur allzu gut daran, dass mein letzter Neuanfang mein Leben um ein Vielfaches besser gemacht hatte. Was, wenn ich hier eine ungeheuer große Chance verpasste? Wenn wir als Familie eine Chance nicht wahrnahmen? Was sollte schon geschehen, immerhin hatte ich Leonard an meiner Seite. Und das Haus … ich hatte selten ein so tolles Haus gesehen wie das auf den Fotos. Die Veranda, der Wintergarten, die alten Obstbäume und die vielen Zimmer tauchten vor meinem inneren Auge auf und all die Räume füllten sich in meinen Gedanken mit Leben. Mit unserem Leben.

„Warte“, verlangte ich, als Leonard an der Tür angelangt war.

„Ja?“ Mit fragendem Gesichtsausdruck wandte er sich um.

Ich atmete tief ein und wieder aus.

„Lass es uns wagen“, sagte ich dann langsam.

„Ernsthaft?“

„Ja, ernsthaft.“

Mit wenigen schnellen Schritten war er wieder bei mir, wobei sein Gesicht sich sichtlich erhellte.

„Wir werden also umziehen?“, schloss er, als wollte er sichergehen, dass wir beide von derselben Sache sprachen.

Ich nickte bedächtig. „Ja, Leonard. Wir werden umziehen.“