Leseprobe Miss Amelias gefährliches Spiel

Kapitel 1

London, September 1891

Mr. Driscoll James Rose warf entnervt seinen Bleistift auf den Schreibtisch. Er war der zweite Sohn des verstorbenen Earl of Huntington, Bruder des gegenwärtigen Earls und Mitinhaber des Rose Room, des exklusivsten, nur Mitgliedern vorbehaltenen Spielkasinos in London.

Verdammt und zugenäht!

Er setzte seine Brille ab und rieb sich die Augen mit den Fäusten. In letzter Zeit konnte er sich einfach nicht auf seine Arbeit konzentrieren, so sehr er sich auch bemühte.

Das Unbehagen, das ihn seit Wochen plagte, wollte einfach nicht weichen. Als intelligentem Menschen war ihm klar, dass es keinen Grund dafür gab. Er hatte keine Geldsorgen, er gefiel den Damen und konnte nach Belieben seine Wahl unter ihnen treffen, sei es für einen Abend oder für das ganze Leben. Und obwohl er selbst keinen Titel besaß, gehörte er doch durch seinen Vater und Bruder dem Adel an. Warum also fühlte er sich so verloren? Ihm war, als würde er ziellos durch die Tage treiben und darauf warten, dass etwas geschah.

Die Begeisterung darüber, der erfolgreiche Inhaber eines Spielkasinos zu sein, war verflogen. Geblieben war nur die Arbeit, die noch dazu ganz schön hart sein konnte.

Drei Jahre zuvor hatten er und sein jüngerer Bruder Dante Hunt, dem ältesten der Rose-Brüder, vorgeschlagen, ein Spielkasino zu eröffnen. Obwohl das Glücksspiel illegal war, gab es in London mehrere einschlägige Etablissements. Die verantwortlichen Beamten drückten gewöhnlich ein Auge zu, sofern der Betreiber der vornehmen Gesellschaft angehörte und sie hin und wieder umsonst dort spielen durften.

Die Brüder hatten einen Plan ausgearbeitet, wonach Hunt für den finanziellen Grundstock sorgen und im Gegenzug einen kleinen Anteil am Gewinn erhalten sollte. Driscoll und Dante würden die Hauptarbeit erledigen, auch wenn Hunt sich regelmäßig im Kasino blicken lassen wollte, um zu sehen, wie die Geschäfte liefen.

Driscoll stemmte sich aus seinem Schreibtischstuhl hoch, ging zu einem Sessel und machte es sich mit lang ausgestreckten Beinen darin bequem. Warum genügte ihm das alles nicht mehr? Sein jüngerer Bruder hatte ihm geraten, sich eine hochklassige Mätresse zuzulegen, die sich um seine Bedürfnisse kümmerte. Hunt dagegen, frisch verheiratet und geradezu vernarrt in seine junge Frau, war der Meinung, Driscoll sollte sich ebenfalls in den Stand der Ehe begeben.

Die erste Möglichkeit konnte anstrengend werden, die zweite war es mit Sicherheit. Schließlich hatte Driscoll oft genug gehört, wie Dante sich über die übertriebenen Ansprüche seiner diversen Geliebten beklagte. Das geschah gewöhnlich ein, zwei Wochen, bevor er der jeweiligen Dame zusammen mit einem hübschen Schmuckstück den Laufpass gab und zur nächsten wechselte.

Das war Driscoll viel zu kompliziert. Nicht, dass er seinen männlichen Bedürfnissen nicht ab und an nachgegeben hätte, doch die Vorstellung, eine Frau mit Kleidern, Essen, Unterkunft und teurem Schnickschnack versorgen zu müssen, nur damit seine sexuellen Bedürfnisse befriedigt wurden, hatte für ihn keinen Reiz.

Und das Gleiche lebenslang für eine Ehefrau zu tun, war der blanke Horror.

„Es sieht so aus, als müssten wir Lord Benson mal wieder nach Hause bringen lassen.“ Mit diesen Worten betrat Dante das Büro, ließ sich in einen Sessel plumpsen und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.

„Wieder abgefüllt?“

„Ja, stockbesoffen. Er schafft’s kaum noch von einem Tisch zum anderen. Ich habe Angst, er speit uns im Spielsalon den ganzen teuren Brandy, den er intus hat, auf den Boden.“

Driscoll erhob sich. „Ich kümmere mich darum. Ich brauche ohnehin mal eine Pause von dem ganzen Zahlenkram.“

Dante legte die Füße auf den Schreibtisch und schloss die Augen. „Gut. Ich hätte auch eine Pause nötig.“

Driscoll ging die mit einem dicken Teppich belegte Treppe zum Spielsalon hinunter. Wie erwartet, war der Saal voll und jeder Spieltisch umlagert. Er nickte im Vorübergehen Stephen Welsh, einem der Croupiers, zu und wechselte ein paar Scherzworte mit einigen Gästen, bis er Benson erspähte, der schwankend einem Würfelspiel zuschaute.

Dante hatte recht gehabt, der Mann war schon ein wenig grün im Gesicht. Driscoll blickte sich um und winkte David Jenkins, einen der Sicherheitsleute, zu sich.

„Ja, Mr. Rose?“ Der dunkelhaarige Wachmann war beinahe so groß wie Driscoll. Er war von Beginn an in ihren Diensten und besaß die Fähigkeit, auch heikle Angelegenheiten unauffällig zu regeln.

„Wir müssen Benson hier rausbringen“, sagte Driscoll leise und deutete mit dem Kopf in die entsprechende Richtung. „Nehmen Sie eine von unseren alten Kutschen für den Fall, dass er sich auf dem Heimweg übergeben muss.“

„Ich glaube, Seine Lordschaft ist in seinem eigenen Wagen gekommen.“

Jenkins war stets über alles Wichtige informiert. „Na, hervorragend. Dann bringen Sie ihn nach draußen und setzen Sie ihn in die Kutsche.“

Der Wachmann nickte und ging zu Benson hinüber. Er flüsterte ihm etwas zu, worauf der Betrunkene sich sofort aufrichtete. Jenkins klopfte ihm auf die Schulter und geleitete ihn freundlich, aber bestimmt hinaus.

Problem gelöst.

Driscoll wanderte noch ein wenig durch den Saal, doch die Freude darüber, was er und sein Bruder hier geschaffen hatten, wollte sich dieses Mal nicht einstellen. Vielleicht war es an der Zeit, bei Sir Phillip DuBois-Gifford, ihrem Kontaktmann im Innenministerium, vorzusprechen und nachzufragen, ob er nicht einen Auftrag für ihn hatte. Das würde Driscolls Leben wieder etwas Würze geben.

Kaum einer in London wusste, dass die Brüder Rose von Sir Phillip oft mit heiklen Angelegenheiten beauftragt wurden. In den Personallisten des Innenministeriums tauchte Sir Phillips Name nirgendwo auf, doch er war im Hintergrund in Angelegenheiten tätig, die dem Premierminister und manchmal auch der Königin persönlich am Herzen lagen.

Nachdem Driscoll noch eine weitere halbe Stunde im Spielsalon herumgewandert war und dabei zwei Brandys getrunken hatte, kehrte er nach oben ins Büro zurück. Dante saß noch immer da, wie er ihn verlassen hatte, und spielte mit einem Gummiband.

„Also, kleiner Bruder, die Pause ist um.“ Damit schob er Dantes Füße vom Schreibtisch.

„Ist Benson weg?“, erkundigte sich Dante, während er aufstand und sich reckte.

„Ja. Zum Glück war er mit seiner eigenen Kutsche hier. Falls ihm also ein Malheur passiert, ist es sein eigener Schaden.“

Dante ging hinaus, und Driscoll setzte sich wieder an seinen Schreibtisch in der Ecke und zog das Geschäftsbuch zu sich heran. Er musste sich zur Aufmerksamkeit zwingen, doch schließlich nahm er seine Arbeit wieder auf, wenn auch mit ebenso wenig Begeisterung wie zuvor.

Kurz vor Mitternacht erschreckte ihn plötzlich ein Geräusch, und er blickte auf. Das Geräusch schien vom Fenster auf der anderen Seite des Zimmers gekommen zu sein. Er hatte es offen gelassen, weil es im Büro ein wenig stickig gewesen war. Vielleicht hatte ja ein Ast des Baumes vor dem Haus gegen die Scheibe geschlagen.

Achselzuckend setzte Driscoll seine Arbeit fort. Doch gleich darauf ertönte wieder ein dumpfer Knall. Als er aufblickte, sah er, wie ein junger Mann durch das Fenster kletterte, ins Stolpern geriet und geräuschvoll zu Boden fiel.

***

Miss Amelia Smythe ächzte, als ihre Hüfte auf dem Boden aufschlug und ein scharfer Schmerz ihr wie ein Pfeil durch das Bein schoss. Sie zuckte zusammen, unterdrückte jedoch jeden Schmerzenslaut. Soweit sie von dem Ast draußen hatte erkennen können, befand sich niemand im Zimmer. Mühsam kam sie auf die Beine und strich sich die Jacke glatt.

„Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?“

Als sie die Stimme des Mannes hörte, wäre Amelia vor Schreck fast wieder aus dem Fenster gefallen. Sie fuhr herum und starrte in zwei dunkelbraune Augen, die sie ein wenig ungehalten anblickten. „Was machen Sie denn hier?“, fragte sie mit erstickter Stimme.

Sie musste sich eingestehen, dass der Mann, dem eine dunkelbraune Haarsträhne in die hohe Stirn fiel, recht gut aussah. Schweigend und mit hochgezogenen Brauen schaute er sie an. Angesichts dieses unerwarteten Problems war es wohl das Beste, wenn sie gleich wieder verschwand. „Ähm, wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen, Sir, dann gehe ich jetzt wieder“, bemerkte sie mit einer Handbewegung in Richtung Fenster.

„Halt!“ Mit einem amüsierten Grinsen auf den vollen Lippen kam er auf sie zu. „Sie sind kein Mann.“

Sie schüttelte den Kopf und hielt den Atem an. Beim Näherkommen schien er den gesamten Raum auszufüllen. Er war breitschultrig, groß und ziemlich imposant. Seine aristokratischen Züge passten gut zu seinen dunklen Augen. Amelia verspürte ein leichtes Kitzeln im Bauch, während sie das Gefühl hatte, als wäre auf einmal nicht mehr genug Luft zum Atmen im Zimmer.

Von ihrem Posten auf dem Baum hatte sie beobachtet, wie ein anderer Mann mit den Füßen auf dem Schreibtisch dagesessen und mit Gummibändern geschnippt hatte. Schließlich war er aufgestanden und hinausgegangen, nachdem er sich ausgiebig geräkelt hatte. Dass jemand anderes hereingekommen war, hatte sie nicht bemerkt.

Pech gehabt.

„Nein, ich bin kein Mann. Und es tut mir leid, dass ich Sie gestört habe, Sir.“ Sie nickte in Richtung des Schreibtisches, den sie von draußen nicht hatte sehen können, und fügte hinzu: „Ich lasse Sie dann mal weiterarbeiten.“

Doch er packte sie beim Handgelenk und fragte interessiert: „Warum sind Sie durch mein Fenster gestiegen?“

Erschrocken, weil der Mann sie festhielt, stieß sie das Erste hervor, was ihr einfiel: „Draußen regnet es.“

Zu ihrer Überraschung zog er die Brauen womöglich noch höher. „Besitzen Sie denn keinen Schirm?“

Sie schüttelte den Kopf und überlegte, wie sie verschwinden könnte, bevor er den Wachmann rief. Obwohl ein Aufenthalt im Gefängnis ihr offen gestanden nicht so schlimm erschien wie das, was sie zu Hause erwartete.

Nein, korrigierte sie sich im Stillen selbst. Sie hatte kein Zuhause. Ihr schrecklicher Stiefbruder Randolph, der Viscount Newton, hatte sie als Bezahlung seiner Spielschulden an den widerlichen Daniel Lyons verkauft. Sie verdrehte innerlich die Augen, wenn sie nur an den Namen dachte.

Da Randolph mit seinen dreißig Jahren neun Jahre älter war als Amelia und sie keine gemeinsamen Eltern hatten, war zwischen ihnen in den fünfzehn Jahren, da ihre Mutter und sein Vater miteinander verheiratet gewesen waren, kein herzliches Verhältnis entstanden.

Wenn er nicht im Internat gewesen war, hatte Randolph einen Großteil seiner Zeit damit verbracht, sie zu hänseln und zu quälen. Als Erwachsener dann bestand seine Art der Quälerei darin, sie ständig daran zu erinnern, dass er der Erbe war und nach dem Tod seines Vater die Verfügungsgewalt über sie und ihre Mitgift haben würde. Nachdem dann zuerst ihre Mutter und bald darauf auch ihr Stiefvater, der ehemalige Viscount Newton, verstorben waren, hatte ihr abscheulicher Stiefbruder keine Zeit verloren und sie nach London geschleppt, um sie Mr. Lyons, bei dem er Spielschulden hatte, statt einer Bezahlung als Mätresse anzubieten.

Als Randolph ihr schließlich befohlen hatte, sich bereitzuhalten, da Mr. Lyons in zwei Tagen kommen und sie „einfordern“ würde, war Amelia nur die Flucht geblieben. Das Problem war, dass sie nur über geringe Mittel verfügte und, da sie den Großteil ihres Lebens auf dem Land verbracht hatte, keine Freunde in London besaß, an die sie sich hätte wenden können.

Allerdings wäre es besser gewesen, wenn sie nicht in Panik geflohen wäre, sondern sich einen Plan zurechtgelegt hätte. Also, einen besseren Plan als durchs Fenster in das Büro dieses Mannes zu klettern, um dem Regen zu entgehen.

Sie räusperte sich und konzentrierte sich auf ihre aktuellen Probleme. „Genau genommen besitze ich schon einen Regenschirm“, sagte sie. „Ich habe ihn nur gerade nicht dabei.“ Sie entzog ihre Hand dem Griff des Fremden und wich zum Fenster zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen …“

Blitzschnell griff er erneut nach ihrer Hand. „Nein, ich lasse nicht zu, dass Sie wieder durchs Fenster steigen und sich womöglich den Hals brechen.“

Sie schnaubte abfällig. Wieso glaubten Männer immer, sie könnten einem vorschreiben, was man zu tun und zu lassen hatte? Sie brauchte keinen Aufpasser. Schließlich war sie eine erwachsene Frau von einundzwanzig Jahren.

Mit gespielter Liebenswürdigkeit erwiderte sie: „Machen Sie sich keine Sorgen, Sir. Ich schaffe das schon.“ Sie wischte sich die Regentropfen von den Wangen. „Ich bin ja auch hochgekommen, nicht?“

Doch der Mann starrte sie nur weiter an. „Sie werden mir jetzt sagen, wer Sie sind, wieso Sie sich als Mann verkleidet haben und warum Sie durch mein Fenster gestiegen sind“, forderte er.

Sie trat von einem Fuß auf den anderen und dachte, wenn sie ihm einige Auskünfte gab, würde er sie vielleicht gehen lassen. „Ich bin Miss Amelia Pence.“ Es wäre nicht sinnvoll gewesen, ihm ihren richtigen Namen zu verraten, denn sie wollte auf jeden Fall vermeiden, dass er ihren Stiefbruder ausfindig machte. „Draußen ist es ziemlich nass, und als ich das Licht in Ihrem Fenster sah, wollte ich mich hier drin nur eine Weile aufwärmen.“ Als wollte sie ihren Worten Nachdruck verleihen, schauderte sie, dann reckte sie das Kinn.

So. Jetzt hatte sie ihm eine beinahe ehrliche Antwort gegeben.

„Ist Ihnen nicht eingefallen, zu diesem Zweck durch die Haustür hereinzukommen?“ Es ärgerte sie, dass er sich über sie lustig machte. „Und warum dieser Aufzug?“, fügte er hinzu und deutete mit dem Finger auf sie.

Allmählich wurde er ziemlich lästig. Amelia richtete sich auf, um imposanter zu erscheinen, obwohl sie Hosen trug, klatschnass war und soeben wie ein Trottel durchs Fenster gepurzelt war. „Meine Kleidung geht Sie nichts an, Sir. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Da Sie mich nicht auf dem gleichen Weg gehen lassen, wie ich gekommen bin, werde ich also durch diese Tür dort gehen, die Treppe hinuntersteigen und das Haus verlassen.“

Zaghafter, als es ihre Worte vermuten ließen, ging sie um ihn herum und blieb abrupt stehen, als er ihr den Weg vertrat. „Nein.“ Er schüttelte gelassen den Kopf. „Ich fürchte, ich brauche noch ein paar Antworten von Ihnen, bevor ich Sie gehen lasse.“

Amelia stöhnte und erschauerte erneut. Ihr Versuch, Randolph zu entkommen, wuchs sich zu einem echten Problem aus.

Kapitel 2

Driscoll bezweifelte, dass die Frau ihm ihren richtigen Namen genannt oder den wahren Grund dafür angegeben hatte, dass sie durchs Fenster gestiegen war. Aber zumindest hatte er sich auf ihre Kosten amüsiert wie schon lange nicht mehr.

Sie war ein hübsches kleines Ding. Mit großen blauen Augen und blonden Locken, die ihr jetzt feucht an der Stirn klebten. Volle Lippen, die zum Küssen einluden, und eine Stupsnase mit ein paar hellen Sommersprossen darauf ließen sie wie einen kleinen Kobold wirken und zauberten ein Lächeln auf sein Gesicht. Wenn er genau hingeschaut hätte, als sie durch das Fenster gefallen war, wäre ihm ihre kurvige Figur in der regennassen Hose und dem am Körper klebenden Hemd nicht entgangen und er hätte sie niemals mit „Sir“ angesprochen.

Er rief sich selbst zur Ordnung, denn es gehörte sich für einen Gentleman nicht, eine Frau zu begaffen. Stattdessen hätte er erwähnen sollen, wie sehr sie vor Kälte zitterte und dass ihr hübscher Kussmund langsam blau anlief. Die ungewöhnlich kalte Septembernacht in Verbindung mit ihren nassen Kleidern hätte dem Mädchen eine schwere Erkältung eintragen können.

„Auch wenn Sie gerne vor mir die Flucht ergreifen würden, muss ich darauf bestehen, dass Sie hier bleiben, bis Sie trocken sind.“ Ein dezentes Knurren aus ihrem Magen brachte ihn auf ein weiteres Problem. „Haben Sie schon zu Abend gegessen?“

Noch stärker zitternd zuckte sie mit den Schultern, was bedeutete, dass sie noch nicht gegessen hatte. Driscoll ging zu dem dickbauchigen Ofen, der mitten im Zimmer stand, und legte ein Holzscheit nach.

Miss Pence nutzte die Gelegenheit nicht, um sich aus dem Staub zu machen, was ihn hoffen ließ. Er nahm seinen Mantel vom Kleiderhaken neben seinem Schreibtisch und bat sie, näher an den Ofen zu treten.

Das arme Mädchen schien seinen Kampfgeist verloren zu haben. Lammfromm schlurfte es zu dem Sessel, auf den er deutete, und ließ sich darauf nieder. „Ziehen Sie Ihre Jacke aus“, befahl Driscoll.

Sie blickte ihn erstaunt an, gehorchte jedoch und ließ sich von ihm den Mantel um die Schultern legen. „Ich lasse Tee und etwas zu essen aus der Küche bringen.“

Miss Pence nickte nur.

„Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie nicht weggehen, während ich der Köchin Anweisungen gebe?“

„Ich g-g-gehe n-nicht weg.“ Sie wickelte sich enger in den Mantel und beugte sich näher zum Ofen.

Driscoll ging, keineswegs sicher, dass sie noch da sein würde, wenn er zurückkam. Und warum sollte ihn das überhaupt bekümmern? Schließlich kannte er das Mädchen gar nicht. War sein Leben wirklich so eintönig, dass eine triefend nasse Frau in Hosen, die durch sein Bürofenster gepurzelt war, ihm so interessant erschien, dass er unbedingt ihre Geschichte hören wollte?

Leider Gottes ja.

Das Kasino beschäftigte eine Köchin, die jeden Abend ein Büffet zubereitete, an dem sich die Gäste von Mitternacht bis zur Sperrstunde bedienen konnten. Ursprünglich als zusätzliche Aufmerksamkeit gedacht, hatte sich das Angebot bald bezahlt gemacht, da diejenigen, die sich an den Speisen gütlich taten, sich länger an den Spieltischen aufhielten.

Driscoll ging zum Büffet und füllte einen Teller mit Käse, kaltem Braten, Brot, einem Beerentörtchen und zwei Stücken Obst.

„Du bist heute Abend aber hungrig, Bruder“, bemerkte Dante, der sich ebenfalls am Büffet bediente, mit einem Blick auf Driscolls vollen Teller.

„Ja.“ Aus irgendeinem Grund zögerte Driscoll, seinem Bruder von der jungen Dame – Miss Pence – zu erzählen. Höchstwahrscheinlich würde die Kleine sowieso nicht mehr da sein, wenn er mit dem Essen zurückkam.

Zu seiner Überraschung und widerwilliger Freude saß Miss Pence noch genau dort, wo er sie zurückgelassen hatte. Als er von hinten auf sie zuging, rührte ihn ihre zusammengesunkene Gestalt, durch die immer wieder ein Schauer lief. Das Mädchen steckte in Schwierigkeiten, daran bestand kein Zweifel. Er konnte nur hoffen, dass sie ihm nach einem Imbiss und einer Tasse Tee, um die er die Köchin gebeten hatte, mehr über ihre Lage erzählen würde.

Mit den Worten „Ich glaube, das hier wird Sie von innen wärmen“, reichte er ihr den vollen Teller, den sie so begeistert entgegennahm, als wäre sie am Verhungern.

„D-d-danke.“ Mit zitternden Fingern umklammerte sie den Teller.

„Ich möchte ja nicht aufdringlich erscheinen, Miss Pence, aber ich glaube, es wäre am besten, wenn Sie Ihre nassen Kleider ausziehen würden.“

Peinlich berührt sah er, wie sie ihn mit großen Augen anstarrte. Es schien, als wollte sie auf der Stelle flüchten.

„Nein“, erklärte er und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „So war das nicht gemeint. Hier auf der Etage gibt es auch ein Schlafzimmer –“

Miss Pence sprang auf, stellte den Teller auf einen Tisch, warf den Mantel ab und lief zur Tür. Verdammt nochmal, er stellte sich aber auch zu dämlich an.

„Nein, bitte.“ Er schob sich an ihr vorbei und versperrte ihr erneut den Weg.

„Gehen Sie von der Tür weg, Sir“, forderte sie mit hochgerecktem Kinn. Die nassen Locken klebten ihr an der Stirn. Angesichts ihrer zitternden Stimme und ihres geschwächten Körpers fühlte er sich noch miserabler. Er musste auf jeden Fall verhindern, dass das Mädchen Angst bekam und wieder in den Regen hinauslief.

Er trat beiseite. „Erlauben Sie bitte, dass ich es Ihnen erkläre. Ich habe es ganz falsch angefangen.“

Als sie eine Hand auf die Klinke legte und ihn argwöhnisch ansah, trat er ein paar Schritte zurück.

„Hier oben gibt es ein Zimmer“, – er vermied sorgsam das Wort Schlafzimmer –, „wo Sie sich umziehen können. Dann hängen wir Ihre Kleider ans Feuer und lassen sie trocknen, während Sie essen.“ Er hob beschwörend die Hand. „Ich versichere Ihnen, Miss Pence, ich bin ein Gentleman und würde nie im Leben einer jungen Dame zu nahe treten.“

Daraufhin richtete sie sich auf, und obwohl sie gut dreißig Zentimeter kleiner war als er, hatte es fast den Anschein, als würde sie auf ihn herabschauen. „Sie haben sich noch nicht einmal vorgestellt, Sir.“

„Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Miss Pence. Ich bin Mr. Driscoll Rose, ein Bruder des Earl of Huntington. Meinem anderen Bruder, Mr. Dante Rose, und mir gehört dieses Spielkasino.“

Sie entspannte sich ein wenig. „Da ich nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehme, sagt mir der Titel Ihres Bruders offen gestanden nichts. Aber vom Rose Room, wo ich einen so ungeschickten und blamablen Auftritt hatte, habe ich schon gehört.“

Trotz ihres derangierten Äußeren und des plötzlichen Erscheinens gefiel Driscoll ihr Humor, und zum ersten Mal seit Wochen empfand er nicht mehr diesen ewigen Überdruss. „Ja“, bestätigte er, „wir sind hier im ersten Stock des Rose Room.“

***

Amelia atmete erleichtert auf. Ausgerechnet hier würde sie ihr Bruder nie finden, da er drei Wochen zuvor wegen einer Prügelei Hausverbot im Kasino erhalten hatte.

Als sie nach ihrer Flucht das beleuchtete, einladend offen stehende Fenster an der Rückseite des Gebäudes bemerkt hatte, wusste sie nicht, was sich in dem Haus befand. Und als sie die große Eiche sah, deren Äste bis fast ans Fenster reichten, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, hinaufzuklettern.

Nachdenklich betrachtete sie Mr. Rose. Sie wusste zwar noch nicht, wie sie es anstellen sollte, doch falls es ihr gelang, über Nacht hierzubleiben, bliebe ihr genügend Zeit, um sich einen Plan zurechtzulegen. Und außerdem bekäme sie etwas zu essen und hätte es warm und trocken.

Schließlich entschloss sie sich, dem freundlichen Mann zu vertrauen. „Ja, Mr. Rose, ich glaube, ein paar trockene Kleider könnten nicht schaden.“

Als er sie anlächelte, begannen Schmetterlinge in ihrem Bauch zu flattern. Doch es war weder die richtige Zeit noch der richtige Ort für einen Flirt. Sie war ohnehin schon auf der Flucht vor zwei Männern und musste unbedingt Geld verdienen, um London heimlich verlassen zu können.

„Ausgezeichnet“, erwiderte Driscoll. „Ich werde einem der Dienstmädchen auftragen, Sie in das Zimmer zu führen und Ihnen beim Umkleiden behilflich zu sein. Die Frauen, die hier saubermachen und in der Küche helfen, haben ihre Zimmer im Untergeschoss. Vielleicht hat ja eine von ihnen passende Kleider für Sie.“

„Vielen Dank, Mr. Rose. Sie sind zu freundlich.“

Er ging zur Tür und gab jemandem die Anweisung, Betsy heraufzuschicken. Dann deutete er auf das Essen. „Bitte, Miss Pence.“

Dankbar setzte sich Amelia wieder hin und nahm sich Brot und Käse. Sie bemühte sich um damenhafte Zurückhaltung, doch sie hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen und war sehr hungrig. Mr. Rose setzte sich ihr gegenüber, sodass sie sich beide am Ofen wärmen konnten. Er schwieg und betrachtete sie mit einem Blick, den sie erstaunlicherweise nicht als bedrohlich empfand.

Als es an die Tür klopfte, stand er rasch auf und ließ einen Herrn mit einer Teekanne und eine junge Frau herein.

„Ah ja, guten Abend, Betsy. Das hier ist Miss Pence, die dringend trockene Kleider braucht. Können Sie ihr helfen?“

Das Dienstmädchen warf Amelia einen Blick zu und nickte. „Ja, Mr. Rose. Ich glaube, ich hätte da ein paar Kleidungsstücke für Miss Pence.“

„Ausgezeichnet. Holen Sie die Sachen, und dann können Sie unseren Gast in das Schlafzimmer hinten im Korridor führen und ihr beim Umziehen zur Hand gehen.“

Ohne ein Zeichen der Überraschung knickste das Mädchen und ging hinaus. Vielleicht war Mr. Rose entgegen allem Anschein doch ein flotter Lebemann, der häufig Frauen ins Kasino brachte, die frische Kleider und einen Schlafplatz benötigten.

Unwillig schob Amelia den Gedanken beiseite und widmete sich wieder ihrem Essen und dem heißen Tee.

„Ich möchte ja nicht neugierig erscheinen, Miss Pence, aber dürfte ich fragen, was Sie um“, – er warf einen Blick auf die Wanduhr –, „ein Uhr morgens auf einem Baum zu suchen hatten? Und erzählen Sie mir bitte nicht, Sie wären an einem nassen, glitschigen Stamm hochgeklettert, nur weil Sie keinen Schirm dabei hatten.“

Amelia wischte sich den Mund mit der Serviette ab und legte sie neben den jetzt leeren Teller. „Ich bin Ihnen für Ihre Hilfe sehr dankbar, Mr. Rose. Trotzdem kann ich Ihnen den Grund nicht nennen. Ich möchte Ihnen nur versichern, dass ich weder auf der Flucht vor der Polizei, noch in irgendwelche kriminellen Machenschaften verstrickt bin.“

Mr. Rose schaute sie nur an. Offensichtlich stellte ihn ihre Antwort nicht zufrieden, aber sie schien ihn auch nicht weiter zu stören.

„Haben Sie nochmals vielen Dank für das Essen und die Gelegenheit, mich aufzuwärmen. Aber jetzt möchte ich Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.“ Für den Fall, dass er sie noch weiter ausfragen wollte, wäre es besser, zu gehen, bevor sie sich noch verplapperte. Sie stand auf und schaffte es fast bis zur Tür, als eine große Hand dagegen drückte und ihr so den Ausgang versperrte.

Seufzend lehnte sie die Stirn gegen das Holz. Sie konnte Mr. Rose unmöglich verraten, dass ihr Stiefbruder ihr auf den Fersen war. Obwohl sie streng genommen volljährig war, würden die meisten Leute sie höchstwahrscheinlich zu Randolph zurückschicken in der Annahme, dass er als ihr Vormund am besten wüsste, was gut für sie war.

Was eher nicht stimmte.

In ihrem Rücken spürte sie die Wärme, die Mr. Roses Körper ausstrahlte, und hörte seine Atemzüge, die nach Pfefferminz dufteten. „Nein, Miss Pence.“

Er ließ alle höflichen Umgangsformen beiseite, legte ihr die Hände auf die Schultern und drehte sie zu sich herum. „Auch wenn ich nicht weiß, wovor Sie auf der Flucht sind, lasse ich Sie nicht alleine im Regen durch die Stadt laufen. Für eine Dame ist es nachts auf den Straßen von London viel zu gefährlich. Auf keinen Fall möchte ich in der Morgenzeitung Meldungen über Mord und andere schlimme Dinge, die hübschen jungen Frauen zugestoßen sind, lesen.“

Amelia schloss die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Sie war verängstigt, völlig mittellos, erschöpft und durchgefroren. Außerdem wusste sie nicht, wie sie Randolph aus dem Weg gehen sollte. Warum war ein Fremder freundlicher zu ihr und mehr um ihr Wohlergehen besorgt als ein Verwandter, der eigentlich auf sie aufpassen und sie beschützen sollte?

Mr. Rose rückte ein wenig von ihr ab. Vielleicht war ihm bewusst geworden, dass es sich nicht gehörte, sie anzufassen. „Ich bestehe darauf, dass Sie in dem freien Schlafzimmer übernachten, wohin Betsy Sie bringen wird, und ich versichere Ihnen, dass Sie dort niemand belästigen wird. Außerdem besitzt die Tür ein stabiles Schloss.“

Zwar hatte sie während der kurzen Zeit, seit sie in London war, noch nicht viel über die Brüder Rose erfahren, doch sie wusste, dass der Rose Room ein hochklassiges Spielkasino war, das von Ehrenmännern geführt und von Mitgliedern des Adels besucht wurde.

Wenn das, was Randolph mit ihr vorhatte, wahr würde, bliebe ihr der Zugang zur feinen Gesellschaft für immer versperrt, und das Leben, das sie sich erträumte, wäre ihr verbaut. Verglichen damit war Mr. Roses zuvorkommendes Angebot, sie im Kasino unterzubringen, ungleich erstrebenswerter.

„Ich nehme Ihr Angebot an, Mr. Rose. Wahrscheinlich verletze ich damit irgendein ungeschriebenes Gesetz, aber da mich in London kaum jemand kennt, wird es meinem Ruf nicht besonders schaden.“

„Ich kann Sie nur noch einmal bitten, Ihre Tür zu verriegeln. Das wäre mir eine große Beruhigung. Wir haben selten Probleme im Kasino, aber ich möchte auf keinen Fall, dass Sie Ihre Sicherheit und Ihren guten Ruf aufs Spiel setzen.“

Kurz darauf kehrte Betsy mit diversen Kleidungsstücken über dem Arm zurück. Auf Mr. Roses Anweisung hin brachte das junge Dienstmädchen Amelia zu einem hübschen Schlafzimmer, das sich einige Türen weiter auf dem gleichen Flur wie das Büro befand.

Der Raum war nach ausgesprochen maskulinem Geschmack eingerichtet. Offensichtlich benutzten ihn die Brüder, wenn sie im Kasino übernachten wollten.

Nachdem Betsy Amelia gezeigt hatte, wo alles stand, und ihr die Kleider, ein weiches Baumwollnachthemd und einen Morgenrock gegeben hatte, ging sie. Die geborgten Kleidungsstücke in der Hand saß Amelia auf dem Bett und starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit.

Für diese Nacht hatte sie eine Unterkunft, doch was wäre morgen?