Leseprobe Love me (again)

Prolog

Jamie: Können wir bitte reden?

Jamie: Ruf mich zurück, bitte!

Jamie: Liam?

Jamie: Ich liebe dich! Bitte rede endlich mit mir!

Jamie: Fuck, hör auf mich zu ignorieren!

Jamie: Ich brauche dich. Ich bin am Ende. Melde dich!

Jamie: Du kannst uns nicht einfach so wegwerfen! Wir bekommen das hin! Ich liebe dich!

Jamie: FICK DICH!

Sie haben den Teilnehmer blockiert.

Kapitel 1

Liam

„Okay, jetzt reicht es mir aber endgültig!“

Ich zucke zusammen und lasse beinahe den Löffel voll Eiscreme aus der Hand fallen. Aber nur beinahe. Mein Arm hängt in der Luft und zittert, während ich völlig verdattert meine beste Freundin anstarre.

Kim steht vor mir, beide Hände in die Hüften gestemmt, und funkelt mich aus zusammengekniffenen Augen an. Auch wenn sie mit ihren blonden Haaren, die sie wie so oft zu einem Dutt zusammengebunden hat, ihrem süßen Gesicht mit der kleinen Stupsnase und ihrer geringen Körpergröße quasi die Niedlichkeit in Person ist, macht sie mir ein klein wenig Angst.

Ich blinzele verwirrt, denn leider weiß ich nicht, was sie von mir will. Ich liege in eine kuschlige Decke eingewickelt auf dem Sofa ihres kleinen Wohnzimmers und sehe mir eine Netflix-Serie an. Dabei stopfe ich Ben&Jerry’s-Eis in mich hinein und bin mir fast sicher, dass ich nichts falsch gemacht habe.

Abwartend sehe ich sie an. „Okay?“

Ihr Blick wird noch verkniffener. „Mal im Ernst. Es reicht!“

„Ähm. Ist wieder diese bestimmte Zeit im Monat, oder …?“, wage ich mich vor.

Ups. Großer Fehler.

Ihre Augen verengen sich zu Schlitzen. „Das hast du gerade nicht wirklich gesagt!“

Ehe ich reagieren kann, reißt Kim mir den Löffel aus der einen und den Eisbecher aus der anderen Hand. Mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck schiebt sie sich das Eis in den Mund.

„Hey“, murmele ich eingeschnappt. „Das ist unfair!“

„Das hast du verdient, nachdem du so einen frauenverachtenden Mist gequasselt hast.“

Touché.

Ich verschränke die Arme vor der Brust.

„Ich wollte doch eigentlich nur mein Eis essen“, grummele ich vor mich hin wie ein bockiger Fünfjähriger.

„Genau das ist ja das Problem“, nuschelt sie, während ein weiterer Löffel Eis in ihrem Mund verschwindet.

„Hä?“, frage ich verwirrt. „Mein Eis?“

Kim verdreht die Augen. „Nein! Ich meine, dass jetzt Schluss mit dem Verkriechen ist! Seit drei Monaten verlässt du die Wohnung nur zum Einkaufen und um deiner Tante zu beweisen, dass du immer noch dort wohnst. Genug Trübsal geblasen. Wir gehen heute aus.“

Mit diesen Worten dreht sie sich um und verschwindet mit meinem Eis in der Küche. Ich bleibe sprachlos auf dem Sofa zurück und starre auf die Tür.

Drei Monate? Es können doch noch keine drei Monate sein.

„D… drei Monate?“

Kurz darauf erscheint Kim wieder im Türrahmen und sieht mich mit verschränkten Armen an. „Ja! Dass du das nicht mal merkst, sagt schon alles! Was machst du eigentlich den ganzen Tag? Hast du deine Hausarbeit beendet?“

Ihre Stimme klingt so streng, dass ich mich unwillkürlich kleiner mache.

„Die muss ich erst am Montag abgeben.“

Kim seufzt. „Liam, es ist bereits Freitag.“

Stirnrunzelnd denke ich über ihre Antwort nach. Sicher ist der nächste Montag gemeint. Ich wühle in dem Deckengewirr nach meinem Handy und finde es unter diversen Game of Thrones-Kissen.

„Fuck“, murmele ich, als mir mit einem Blick auf das Datum klar wird, dass Kim recht hat. Meine Hausarbeit ist überfällig. Und um ehrlich zu sein, habe ich nicht den blassesten Schimmer, was sonst noch alles.

Mit einem gequälten Stöhnen lasse ich mich auf den Rücken fallen und lege mir ein Kissen über das Gesicht. Ich heiße die Dunkelheit willkommen, die mich jetzt umgibt.

Es geht mir nicht gut. Genau genommen geht es mir seit drei Monaten nicht gut.

Seit ich Jamie verlassen habe …

Ich höre sanfte Schritte, kurz bevor wieder Helligkeit über mich hereinbricht, als Kim mir das Kissen vom Gesicht nimmt. Ihre Gesichtszüge sind jetzt wieder so mitfühlend wie in der ganzen letzten Zeit.

Bei meiner Tante habe ich es nicht lange ausgehalten. Ich konnte einfach nicht mit meinen Gedanken allein sein. Also hat es mich in die kleine Zweizimmerwohnung von Kim verschlagen, wo ich nun die meiste Zeit verbringe. Sie arbeitet viel und spart fürs College. Das Apartment liegt in einer total miesen Gegend von Seattle und kostet auch dementsprechend wenig. Gut, dafür ist das Hochhaus runtergekommen, überall blättert die Farbe von den rissigen Wänden und in der Nacht sollte man besser ein Pfefferspray in der Tasche haben. Doch meine beste Freundin hat alles aus dieser Wohnung rausgeholt und sie zu einer Wohlfühloase gemacht.

Kim ist zwei Jahre älter als ich und spart seit ihrem Abschluss. Und sie ist immer für mich da!

„Wir werden heute was trinken gehen“, sagt sie eindringlich und sieht mir dabei entschlossen in die Augen. Ich kenne diesen Blick. Er bedeutet, dass jegliche Diskussion zwecklos ist. Offenbar ist meine Schonfrist vorbei, bevor ich bereit dafür bin.

„Ich will nicht“, flüstere ich.

„Ich weiß. Aber du musst!“ Kim drückt mir einen Kuss auf die Wange und verschwindet im Bad.

„Du hast fünfzehn Minuten“, ruft sie, bevor die Badezimmertür schwungvoll ins Schloss fällt.

Ich seufze erneut und reibe mir über die Augen. Shit. Schließlich gebe ich mir einen Ruck und setze mich auf. Offenbar wird es Zeit, wieder im wahren Leben anzukommen.

***

Okay. Ich möchte zurück. Ganz, ganz schnell.

Nur am Rande nehme ich wahr, wohin wir eigentlich gehen, denn ich bin zu beschäftigt damit, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Allein das kostet mich unheimlich viel Kraft, was mir vor Augen führt, dass alles gerade verkehrt läuft.

Irgendwann umfängt uns lauter Bass und Stimmengewirr. Wir sind an unserem Ziel angelangt.

Ich hebe den Kopf und erstarre. Mich durchfährt ein fieser Stich.

Wir sind im Club. In dem Club. Im Basement. Hier hat alles angefangen. Ausgerechnet hier habe ich Jamie das erste Mal getroffen. Wir haben uns das erste Mal geküsst und danach sogar das erste Mal miteinander geschlafen. Ich war mir so sicher, dass ihn getroffen zu haben das Beste war, das mir je passiert ist. Aber mittlerweile … ist alles nur noch ätzend.

Glücklicherweise steuert Kim eine ganz andere Ecke des Clubs an, als die, in der wir damals mit Jamie saßen.

Unbeschwert lässt sie sich fallen und grinst mich an. Ich glaube sie hat keine Ahnung, was sie sich für einen Club ausgesucht hat. Hat sie es vergessen? Immerhin war sie damals dabei.

Ehe ich sie darauf ansprechen kann, flitzt sie schon zur Bar, um uns etwas zu trinken zu holen. Ich hindere sie nicht daran, denn eigentlich klingt Alkohol ganz gut.

Ich starre missmutig vor mich hin, während meine Gedanken wie so häufig um Jamie kreisen. Ich vermisse ihn noch immer genau so wie am ersten Tag, dabei habe ich gedacht, dass es mit der Zeit leichter werden würde. Wird es aber nicht.

Ich seufze, als Kim mit den Getränken zurückkommt und mir einen Cuba Libre vor die Nase stellt.

Die macht ja heute keine halben Sachen!

Wir stoßen an und ich nehme einen Schluck. Und noch einen. Der Drink ist stark und ich schmecke den Alkohol deutlich heraus. Irgendwie heiße ich den Geschmack willkommen. Das scharfe Brennen in meinem Hals, das mein Blut noch schneller durch meinen Körper zu pumpen scheint. Alles ist besser, als der unerträgliche Schmerz in meinem Inneren. Ich schlürfe am Strohhalm und ehe ich mich versehe, ertönt das Gluckern, das mir zeigt, dass der Drink bereits leer ist. Ups?

Kim sieht mich blinzelnd an, bevor sie mir ihr Getränk über den Tisch schiebt. Dankbar ziehe ich es zu mir heran und schlürfe das Glas ebenfalls in Rekordzeit leer.

Erschöpft lehne ich mich zurück und bemerke, wie der Alkohol sich wie ein dichter Nebel in meinem Kopf ausbreitet. Ich hätte schon vorher was trinken sollen. Aber ich hatte die berechtigte Angst, dass Alkohol mich zum Heulen bringen würde. Es war einfacher, die ganze Zeit Wut auf Jamie zu empfinden.

Kim lässt mich keine Sekunde aus den Augen. Auch nicht, als sie mir das nächste Glas zuschiebt.

Woher hat sie das denn jetzt?

Sie deutet darauf und ich trinke artig ein paar weitere Schlucke.

Irgendwann lehnt Kim sich vor und kneift ihre Augen zusammen. Sie denkt eindeutig über irgendwas nach.

„Also“, bricht sie die Stille zwischen uns. Erst jetzt wird mir klar, dass wir noch kein Wort gewechselt haben, seit wir ihre Wohnung verlassen haben. „Was ist in Oceanside passiert?“

Ich zucke zusammen und starre sie mit offenem Mund an. „Was?“

„Du hast mich schon verstanden, Liam. Ich will jetzt endlich wissen, was passiert ist. Was hat Jamie gemacht, dass es dir jetzt so geht? Seit drei Monaten blockst du jede meiner Fragen ab.“

Ich schlucke schwer. Und noch mal. „Ich kann nicht …“

„Doch, du kannst! Du kannst das nicht weiter in dich hineinfressen. Ich sehe doch, wie schlecht es dir geht. Bisher hast du jeden meiner Versuche, darüber zu sprechen, abgewehrt. Jetzt wirst du reden!“

Verzweifelt sehe ich sie an.

In meinem Hals sitzt ein dicker fetter Kloß. Aber sie hat recht. Ich muss endlich darüber reden.

Also tue ich es. Ich erzähle ihr alles. Angefangen von unserem ersten Zusammentreffen, als wir herausgefunden haben, dass wir von nun an Stiefgeschwister sind, über unseren Streit, weil Jamie unsere Beziehung verheimlichen wollte, und schlussendlich von dem großen Knall, nach dem ich nicht mehr konnte. Nach dem ich weg musste und Oceanside den Rücken gekehrt habe.

Kim schweigt die ganze Zeit und hört mir aufmerksam zu. Dann und wann nickt sie, hält sich sonst aber zurück.

Als ich fertig mit der Geschichte bin, greife ich nach meinem Glas wie nach einem Rettungsring und leere es in Sekundenschnelle. Ich fühle mich, als würde ich verdursten. Außerdem ist jetzt alles wieder da. Alle Gefühle, die ich seit Monaten zu verdrängen versuche. Alles in mir schreit nach Jamie, doch zeitgleich fühle ich mich verloren. Verraten. Verletzt. So schrecklich verletzt. Mein Herz gleicht einer einzig klaffenden Wunde.

Ich blinzele die Tränen weg, die sich ihren Weg bahnen wollen, und knabbere auf meiner Wange herum.

„Wow … das ist …“, fängt Kim an und schüttelt ihren Kopf, um sich zu sammeln. „Also noch mal. Du hast Jamie ein Ultimatum gestellt. Entweder er steht öffentlich zu euch oder du machst mit ihm Schluss. Dann stellt er ein Bild von euch beiden, auf dem ihr euch küsst, ins Internet und teilt so der ganzen Welt mit, dass er dich liebt?“

Ich nicke vorsichtig. Ihre Worte klingen logisch, doch ihr Gesichtsausdruck wird von Sekunde zu Sekunde ungläubiger.

„Er teilt also aller Welt seine Liebe mit, woraufhin du ihn anblaffst und ihn verlässt, ohne ein Wort der Erklärung?“, fährt Kim mit ihrer Zusammenfassung fort.

So wie sie es sagt, klingt das ziemlich dämlich.

Mit offenem Mund sieht sie mich an. Kurzerhand langt sie über den Tisch und boxt mir kräftig gegen den Oberarm.

„Au!“, zische ich und reibe die schmerzende Stelle. „Spinnst du?“

„Ob ich spinne? Was ist los mit dir, Liam? Da triffst du diesen unheimlich tollen Typen. Der entpuppt sich leider als dein Stiefbruder, aber allen Widrigkeiten zum Trotz verliebt ihr euch und seid glücklich. Wieso hast du das kaputt gemacht?“

„Ich?“, blaffe ich Kim wütend an. „Jamie hat uns einfach öffentlich geoutet! Ohne mich zu fragen, hat er uns vor der ganzen Schule bloßgestellt!“

Verwirrt schüttelt Kim den Kopf. „Aber du bist doch schon längst als schwul geoutet.“

„Trotzdem kann er das nicht einfach so ins Internet stellen. Er hat unsere Beziehung öffentlich gemacht, ohne mich vorher zu fragen. Einfach alle haben mich angestarrt. Es war genauso wie damals mit Wren.“ Ich beiße mir auf meine Unterlippe und fluche laut auf.

In Kims Augen blitzt Verstehen auf. Ihre Züge glätten sich.

„Es geht hier um Wren?“, fragt sie sanft. „Natürlich. Daran hätte ich auch selbst denken können.“

Meine Arme verschränken sich. Auch wenn ich derjenige bin, der das Thema aufgemacht hat, will ich nicht darüber reden.

„Ist denn jemand … Hat dir wieder jemand was getan?“ Kims Augen sind schockgeweitet.

„Nein“, bemühe ich mich schnell zu sagen. „Nein. Diesmal nicht.“

Sie legt eine Hand auf ihr Herz. „Scheiße.“

„Das kannst du laut sagen“, murmele ich.

„Du hast dich wieder genauso gefühlt wie damals, habe ich recht?“

Dunkle Erinnerungen legen sich über mich wie eine Wolke. Ich stöhne auf, denn ich kann die Tritte von damals quasi spüren.

„Ja“, murmele ich mit belegter Stimme. „Es war furchtbar, ich … Alle haben mich angestarrt, mich verurteilt. Und ich war nicht darauf vorbereitet.“

Meine beste Freundin legt ihre Hand auf meine und streicht mit dem Daumen behutsam auf und ab. „Warum hast du denn nicht früher mit mir geredet, Liam?“, fragt sie mitfühlend.

Ich seufze. „Weil ich einfach … keine Ahnung.“

„Vor der Situation flüchten wolltest?“

Eine Sekunde denke ich darüber nach. Schließlich nicke ich. „Ja. Schätze schon. Und es auszusprechen, macht es auch nicht besser. Ich meine … Es tut weh. Es tut scheiße weh und ich kann immer noch nicht fassen, dass Jamie das getan hat.“

In Kims Kopf scheint es zu rattern. Ihre Stirn ist in Falten gelegt und der Mund fest zusammengepresst.

Sie zögert. „Hast du dir nicht von ihm gewünscht, dass ihr euch outet?“

„Ich … ja. Aber doch nicht so.“

„Was wolltest du denn genau von ihm?“

Ich schnaube gequält. „Ich wollte es einfach nur unseren Freunden und unserer Familie sagen.“ Wieso habe ich das Gefühl, dass dieses Gespräch eine falsche Richtung einschlägt?

„Hast du ihm das gesagt?“

Ich zucke zurück. „Was?“

„Ob du ihm das gesagt hast“, wiederholt sie. Nachdrücklicher.

„Ich“, stammele ich. „Das sollte doch klar sein. Man lädt nicht einfach so private Bilder ohne Zustimmung ins Internet und outet sich damit.“

Kim knabbert auf ihrer Unterlippe herum und sieht nicht überzeugt aus, was mich verdammt frustriert. Warum versteht sie das nicht?

„Liam … Ich muss zugeben, dass ich verwirrt bin. Ich meine … Jamie ist extrem in seinem Handeln oder nicht? Haben wir das nicht damals in genau dieser Bar schon gemerkt? War es nicht genau das, was dir gefallen hat?“

Ich presse die Lippen zusammen, weil ich nicht zugeben will, dass sie ins Schwarze getroffen hat.

„Und bist du nicht bewusst als schwuler, selbstbewusster Typ an diese Schule gegangen?“

Abwehrend lehne ich mich zurück. „Und?“

„Du hast ihm die Pistole auf die Brust gesetzt. Du hast ihn irgendwie gezwungen.“

„Ich … Nein, das habe ich nicht“, würge ich schnell hervor. Blinzelnd sickert die Wahrheit in meine Gedanken. Denn … ich habe ihn gezwungen.

Geschockt und mit geweiteten Augen sehe ich Kim an. Mehrere Strähnen haben sich aus ihrem Dutt gelöst. Mit gerunzelter Stirn hält sie meinen Blick fest.

„Liebst du Jamie?“, fragt sie mich direkt. Mein Herz klopft aufgeregt.

„Natürlich. Mehr als alles andere. Deswegen geht es mir ja so beschissen!“

Kim nickt, als würde sie so langsam verstehen.

„Liam, ich verstehe, dass die Sache mit Wren noch immer schwer für dich ist. Wie könnte es das auch nicht sein. Aber … hast du Jamie überhaupt davon erzählt?“

„Nein“, gebe ich tonlos zurück.

„Wie kann das sein? Du hast dir doch von ihm gewünscht, dass er sich outet. Habt ihr nicht über dich gesprochen?“, fragt sie ungläubig.

Ich zögere und beiße mir auf die Unterlippe. Wir haben darüber geredet. Und ich bin nicht stolz darauf.

Mir entweicht ein Fluch.

„Er hat mir gesagt, dass er Angst vor einem Outing hat. Und weil ich ihn nicht mit meiner Geschichte verschrecken wollte, habe ich ihm gesagt, dass es gut gelaufen ist.“

Sie stößt ein entsetztes Quietschen aus und schlägt sich die Hände vor den Mund.

„So schlimm ist das jetzt auch nicht“, murmele ich.

Kim ist meine beste Freundin. Müsste sie nicht auf meiner Seite stehen?

Sie greift nach meiner Hand und streichelt darüber. Ihre Augen finden meine. „Liam, hör zu. Jamie ist nicht Wren. Okay? Du hast ihm nicht nur vorgegaukelt, dass ein Outing ein Klacks wäre, du hast ihn auch dazu gedrängt, dass er sich outet. Es hört sich nicht so an, als ob er schon so weit gewesen wäre. Und dann hast du ihn einfach sitzen gelassen. Du hast ihn mit allem allein gelassen und bist abgehauen!“

Kims Worte dringen nach und nach in mein Bewusstsein und hallen so laut in meinem Inneren wider, dass ich mir am liebsten die Ohren zuhalten würde.

Sie hat recht.

„Ich … er …“, stammele ich vor mich hin. „Ist es meine Schuld, dass wir getrennt sind?“ Meine Stimme klingt mittlerweile dünn und brüchig. Eine Träne löst sich aus meinen Wimpern.

Kim sieht mich mitfühlend an. „Jamie hatte keine Ahnung, was das Outing für dich bedeuten würde. Du hast ihn vor die Wahl gestellt und er hat sich für dich entschieden.“

Gequält schließe ich meine Augen. Ich bin ein Arschloch. Das wird mir von Minute zu Minute klarer.

„Habt ihr seitdem miteinander gesprochen?“, fragt sie sanft.

„Er hat mir ein paar Mal geschrieben und versucht mich anzurufen, aber irgendwann habe ich ihn blockiert.“

„Liam“, seufzt sie und schnauft.

Ich tue es ihr gleich und wische mir die Tränen aus den Augenwinkeln. Zeitgleich sehe ich auf die Sitzecke, in der ich Jamie das erste Mal getroffen habe. Mit seinem Kapuzenpullover und den grünen strahlenden Augen. Mit dem frechen Grinsen, das mich sofort in seinen Bann gezogen hat. Schon da habe ich gewusst, dass das der Beginn von etwas Großem werden würde. Etwas Großem, das ich zerstört habe.

Wieso habe ich nicht vorher mit Kim geredet?

Stirnrunzelnd schaue ich sie an, als ich bemerke, dass sie mich die ganze Zeit wissend ansieht.

„Das war Absicht, oder? Hierher zu kommen und mich abzufüllen?“

Sie zuckt nur mit den Schultern. „Du musstest endlich darüber reden. Ich hatte ja keine Ahnung, wie wichtig es sein würde. Ich hatte eigentlich angenommen, dass er dich hinterhältig betrogen hat oder so was.“

Ich lasse ihre Worte auf mich wirken. Die letzten drei Monate habe ich mir eingeredet, dass Jamie sich falsch verhalten und mich hintergangen hat. Dass er mein Vertrauen missbraucht hat. Dabei war es genau andersherum.

Ich habe zugelassen, dass meine Vergangenheit alles zerstört hat, was ich liebe. Alles, was von Bedeutung ist.

Ich brauche Jamie. Mehr als alles andere. Mehr denn je wird mir bewusst, dass ich der Arsch in der Geschichte bin. Nicht ich bin es, der Zeit braucht, um wieder klarzukommen.

„Scheiße. Ich habe einen riesengroßen Fehler gemacht. Er wird mir niemals verzeihen“, flüstere ich aufgebracht, aber dennoch laut genug, dass Kim mich verstehen kann. Weitere Tränen laufen meine Wangen hinab.

„Jedenfalls nicht, wenn du weiterhin in meiner Wohnung herumsitzt und Eis in dich hineinschaufelst!“

Ich drücke die Schultern durch. „Du hast recht! Ich werde um ihn kämpfen!“, sage ich entschlossen, auch wenn ich nicht die geringste Ahnung habe, was ich jetzt tun soll.

„Es wird Zeit nach Oceanside zurückzugehen, Liam.“

Kapitel 2

Jamie

Diese Party ist scheiße. Anders lässt es sich nicht ausdrücken.

Genervt schaue ich mich um und nehme einen Schluck von meinem Bier. Wir sind bei meinem Kumpel Justin zu Hause, der auf die glorreiche Idee gekommen ist, eine Party zu schmeißen.

Mürrisch sehe ich meine Freunde und Mitschüler an, die tanzen, lachen und eine gute Zeit haben. Ich würde am liebsten schreiend wegrennen! Und wenn die Party nicht von Justin wäre, der in den letzten Monaten meine größte Stütze gewesen ist, würde ich das auch tun. Stattdessen begnüge ich mich damit, alle mit meinen Blicken zu vergraulen. Alle außer Justin. Denn der bleibt an meiner Seite, egal, wie schlecht gelaunt ich bin.

Kaum zu glauben, dass ich bis vor kurzem noch jemand war, der kaum länger als eine Stunde am Stück schlechte Stimmung schieben konnte. Denn jetzt ist es der Dauerzustand.

Ich trinke einen weiteren Schluck von meinem Bier und kommentiere die Blicke, die in unsere Richtung geworfen werden, mit einem Augenrollen. Es ist klar, was die anderen denken. Nämlich das, was alle denken.

Sie glauben, dass ich ein liebeskranker Trottel bin, der sich in seinen Stiefbruder verknallt hat, abserviert wurde und jetzt mit Justin rummacht. Genau in der Reihenfolge.

Auch wenn mittlerweile kaum noch jemand darüber flüstert, dass ich schwul bin, ist meine Freundschaft zu Justin umso interessanter für alle.

Zumal ich immer noch der Idiot bin, der von seinem Stiefbruder sitzengelassen wurde …

Ich schnaube. Justin fängt meinen Blick auf und scheint sofort zu wissen, was ich gerade denke. Er schlägt sein Bier prostend gegen meines und nimmt lachend einen Schluck. Wie der Typ mich aushält, ist mir ein einziges Rätsel. Ich halte es momentan kaum selbst mit mir aus.

Ohne Justin hätte ich die letzten Monate nicht geschafft. Nachdem Liam mich verlassen hat, war ich am Ende. Die Schule war der blanke Horror und jeder hat über mich geredet. Nicht nur das – sie haben mich jede einzelne Sekunde daran erinnert, dass ich allein bin. Ohne Liam. Dabei war er der Einzige, den ich bei mir haben wollte.

Justin ist zu keinem Zeitpunkt von meiner Seite gewichen. Er hat mir geholfen, die Scheiße in der Schule durchzustehen. Na ja, zumindest halbwegs. Denn letzten Endes geht es mir immer noch verdammt beschissen!

Ich wühle mit den Fingern durch meine Haare, die mehr einem Vogelnest gleichen als je zuvor. Interessiert mich allerdings nicht.

Justin und ich unterhalten uns, ohne dass ich ihm wirklich zuhöre. Denn meine Gedanken kreisen um Liam. Sie kreisen immer um Liam. Auch wenn ich verflucht wütend auf ihn bin, vermisse ich ihn. Auch wenn ich ihn hasse, liebe ich ihn.

Und gleichzeitig habe ich ein schlechtes Gewissen, weil Justin nicht meine ganze Aufmerksamkeit hat. Ach, scheiße!

Ich trinke mein Bier in einem Zug leer und gehe durch das große, einladende Wohnzimmer, das durch die vielen hellen Möbel und Landschaftsgemälde an den Wänden absolut wohnlich aussieht.

Bei uns zu Hause wirkt alles, als wäre es einem Designkatalog entsprungen, während es hier so heimelig ist, dass man Urlaub machen will. Verrückt, wenn man bedenkt, dass ich in einer verdammten Villa wohne und aus meinem Zimmer auf den Ozean blicken kann. Was mich vollkommen fertig macht. Ich habe schon immer nichts so sehr geliebt wie den Ozean, doch nun erinnert er mich vor allem an Liam. Immer, wenn ich in die tosenden Wellen blicke, sehe ich direkt in Liams Augen.

Ich schüttele den Kopf, um meine Gedanken loszuwerden, lächele kurz Drew zu, der mit Macey und ein paar anderen zusammensteht. Macey. Noch so etwas, was verdammt beschissen läuft. Seit Liam mich verlassen hat, ist unsere Freundschaft anders. Man könnte auch sagen, dass ich sie vergrault habe. Ich halte sie auf Abstand und lasse eigentlich nur noch Justin wirklich an mich heran, obwohl meine beste Freundin mehr als einmal versucht hat, für mich da zu sein. Was ich nicht zugelassen habe. Dass Macey mich dennoch anlächelt, als wäre nie etwas gewesen, gibt mir zumindest einen Funken Hoffnung. Aber es ist nicht wie immer. Weil ich ein vollkommen anderer bin als noch vor drei Monaten. Mürrisch, unfreundlich und vor allem unglücklich.

Ich schiebe mich an ein paar Leuten vorbei durch zur Küche und öffne den großen Kühlschrank, der nicht viel mehr als Bier zu bieten hat. Justins Mutter ist mit seinen Schwestern zu einem Wellnesswochenende aufgebrochen und diesen Umstand hat er direkt genutzt. Sehr zu meinem Missfallen. Denn wir könnten auch einfach Netflix-schauend auf seiner Couch liegen und einen schönen Abend haben. Ohne die ganzen Menschen hier.

Ich greife nach zwei Flaschen Bier, die mit Tequila gemixt sind, und schlendere zurück zu Justin.

Dankbar nimmt er eine Flasche entgegen.

„Alles gut?“, fragt er und mustert mich genau.

Ich schüttele den Kopf, bejahe aber trotzdem.

Er nimmt es mir nicht ab. „Ach, komm schon, so schlimm kann es doch gar nicht sein. Sonst mochtest du Partys immer gern. Gefällt es dir nicht mal ein kleines bisschen?“

„Jetzt gerade würde ich mir lieber heiße Nadeln in die Augen stechen, als hier mit den ganzen Trotteln zu sein. Von dir abgesehen“, gebe ich trocken zurück.

Justin fängt an zu lachen und kommentiert nicht weiter, dass ich unsere anderen Freunde irgendwie als Trottel bezeichnet habe. Was ich im Grunde genommen nicht mal so meine. Ich seufze. Zwischen Macey, Drew und mir liegt eine Schlucht, von der ich aktuell nicht weiß, wie ich sie überwinden soll. Von meinem besten Freund Ethan ganz zu schweigen. Auch jetzt überkommt mich eine Gänsehaut, wenn ich daran denke, wie Ethan reagiert hat, als er das Foto von mir und Liam gesehen hat, auf dem wir uns küssen. Unwillkürlich drängt sich das Bild in meine Gedanken, wie kalt Ethan mich angesehen hat.

Das hätte ich nie von dir gedacht, hallen seine Worte in meinem Kopf wider.

„Na gut, was hältst du davon, wenn wir“, setzt Justin an und hält plötzlich inne. Er sieht irgendwen hinter mir mit großen Augen an. Doch bevor ich mich umdrehen kann, kommt er einen Schritt dichter auf mich zu. Sehr dicht. Überrascht sehe ich ihn an. Sein Gesicht nähert sich meinem und bevor ich fragen kann, was los ist, schließt Justin den Abstand zwischen uns und küsst mich.

Ich gebe einen überraschten Laut von mir, schiebe ihn aber nicht weg. Seine weichen Lippen liegen warm auf meinen, als ich den Mund leicht öffne und den Kuss erwidere. Keine Ahnung, warum ich ihn ebenfalls küsse, denn eigentlich waren wir uns einig, dass das zwischen uns nichts werden kann. Definitiv nicht. Nicht wenn jeder zweite Gedanke von mir Liam gilt. Allein die Erinnerung an ihn sorgt dafür, dass ich mich von Justin löse und meinen Oberkörper zurückziehe. Doch weshalb? Schließlich gibt es keinen Grund, ihn von mir zu schieben. Es ist nicht schlimm, ihn zu küssen.

Im Gegenteil. Eigentlich ist er ein guter Küsser. Aber er ist nicht Liam.

Ich bin so was von kaputt!

„Äh. Was war das gerade?“, frage ich verwirrt, als Justins Blick mich fixiert. Er beugt sich wieder zu mir und nähert sich meinem Ohr.

„Dreh jetzt nicht durch und bleib ganz ruhig. Aber … Liam steht da hinten“, flüstert er mir zu.

Ich zucke zusammen und mir wird eiskalt. Gleichzeitig beginnen meine Hände zu schwitzen, während mein Herz mir bis zum Hals schlägt.

Völlig entgeistert sehe ich Justin an. Doch seine ernste Miene verrät mir, dass das hier kein blöder Scherz ist, um mich rumzubekommen. Er hat mich geküsst, damit Liam es sieht. Damit ich nicht schon wieder wie der letzte Trottel dastehe. Damit Liam nicht sieht, wie verflucht schlecht es mir geht. Umgehend fährt mein ganzer Körper Achterbahn.

Ich atme tief durch und drehe mich langsam um.

Nichts könnte mich darauf vorbereiten, was sein Anblick in mir auslöst. Kann man zeitgleich glücklich und todunglücklich sein? Denn so fühle ich mich gerade. Einerseits tut es so unendlich gut ihn zu sehen und zu wissen, dass er hier ist. Anderseits sorgt sein Anblick dafür, dass die Wut mich wie eine Walze zu überrollen droht.

Liam steht mitten im Wohnzimmer. Er trägt eine dunkle Jeans und ein schwarzes enges T-Shirt. Seine Haare sind länger geworden und reichen bis über seine Ohren, was ihm verdammt gut steht. Und seine Augen … seine Augen. In ihnen tobt der Ozean und trifft mich mitten ins Herz.

So ziemlich jeder im Raum starrt ihn an, doch sein Blick ruht auf mir. Es kostet mich extrem viel Kraft, ihm einfach den Rücken zuzudrehen und meine Aufmerksamkeit wieder auf Justin zu richten. Mein Herzschlag donnert laut in den Ohren. Meine Atmung geht viel zu schnell.

„Ich geh pissen“, murmele ich und stürme in Richtung der Toilette davon. Ich ignoriere die aufdringlichen Blicke meiner Mitschüler, die genau beobachtet haben, wie Justin mich geküsst hat – und denen sicherlich nicht entgangen ist, dass Liam aufgetaucht ist. Ich zwänge mich zwischen den Leuten durch den schmalen Flur zur Treppe und nehme mehrere Stufen auf einmal. Meistens ist oben weniger los, da fast alle Zimmer abgeschlossen sind. Justin hat drei Schwestern, die ihm den Kopf abreißen würden, wenn jemand Fremdes ihre Zimmer betreten würde. Zu meinem Glück treffe ich auf niemanden. Mittlerweile zittern meine Hände, während mein Herz in der Brust zu explodieren droht.

Liam ist hier.

Wie ferngesteuert setze ich meinen Weg fort und stoße die Tür zum großen Badezimmer auf. Und stehe plötzlich Ethan gegenüber, der sich die Hände wäscht.

Ethan, meinem eigentlich besten Freund, der seit meinem Outing kein Wort mehr mit mir gesprochen hat.

Überrascht schaut er mich an.

„Sorry“, brumme ich und will mich schon wieder umdrehen.

„Schon gut. Bin so gut wie fertig, komm rein.“

Scheinbar gleichgültig trete ich in das geräumige Badezimmer, das ich nur aufgesucht habe, um mich zu verstecken, denn aufs Klo muss ich eigentlich gar nicht. Ich lehne mich an die schwarzgeflieste Wand und lasse meinen Kopf dagegen sinken. Tiefe Atemzüge nehmend, versuche ich meine zitternden Hände und meine zu schnelle Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Im Spiegel mir gegenüber sehe ich deutlich, wie gehetzt ich wirke. Das scheint auch Ethan wahrzunehmen, der mich beim Hände abtrocken im Spiegel mustert.

„Alles klar?“, fragt er mit gerunzelter Stirn.

Ich blinzele ihn irritiert an.

Sein Ernst? Seit drei Monaten behandelt er mich wie Luft und jetzt will er wissen, ob alles okay ist, wo es das offensichtlich nicht ist.

Da ich nicht die geringste Ahnung habe, was ich darauf antworten soll, schweige ich und sehe ihn an. Fuck, ich habe ihn vermisst.

An einem einzigen Tag habe ich nicht nur meinen festen, sondern auch meinen besten Freund verloren.

Immerhin lenkt mich sein Anblick ab und sorgt dafür, dass sich meine Atmung wieder verlangsamt.

Ethan lässt sich währenddessen nicht beirren und starrt mich weiter an, obwohl er längst fertig ist. „Also, du und Justin, ja?“

Was für ein Themenwechsel.

Ich lache bitter auf. Schließlich ist es genau das, was alle denken.

„Ich und Justin was?“, frage ich scharf, doch er verzieht nicht mal eine Miene.

„Na ja, ich habe den Kuss gesehen. Seid ihr zusammen?“

Okay, ich werde absolut nicht schlau aus Ethan. Wieso redet er plötzlich mit mir?

„Nee.“

„Wieso? War der Sex nicht gut?“, fragt er flapsig weiter, so als wäre nie etwas zwischen uns vorgefallen.

Meine Augenbrauen heben sich, ohne dass ich etwas dagegen tun kann.

„Der Sex war klasse, das Problem war eher, dass ich direkt danach angefangen habe zu heulen wie ein kleines Baby.“ Keine Ahnung, weshalb ich ihm das erzähle.

Leider ist es nicht mal gelogen. Vor kurzem habe ich mit Justin geschlafen, was im Nachhinein ein totales Desaster war. Ich habe ungelogen direkt danach losgeheult und mich eine ganze Weile nicht beruhigen können. Es hat sich angefühlt, als hätte ich Liam betrogen, auch wenn das natürlich Blödsinn ist. Dennoch ändert es nichts daran, dass ich ihn liebe. Und dass es keinen anderen für mich geben kann.

Zu behaupten, dass Justin überfordert war, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Vermutlich war das auch der Moment, in dem uns beiden klargeworden ist, dass aus uns nichts anderes werden kann als Freundschaft.

Ethan verzieht bei meiner Erzählung das Gesicht und dreht sich zu mir um.

„Du hast geweint?“

„Rotz und Wasser. Mit viel Sabber und Schnodder und das, bevor ich mich wieder anziehen konnte.“

Wenn möglich, verzieht sich sein Gesicht noch mehr.

„Keine Sorge. Ich erspare dir die schwulen Details“, setze ich bitter nach, denn ich habe die Worte von ihm nicht vergessen, die er mir entgegengeschleudert hat, nachdem ich Liam und mich auf Social Media geoutet habe.

Das hätte ich nicht von dir gedacht.

„Stört mich nicht“, sagt er achselzuckend und sieht mich abwartend an.

„Ja, ist klar. Du hast deutlich gemacht, wie angewidert du bist.“

Ethans Gesicht nimmt einen verwirrten Ausdruck an. „Was meinst du?“

„Ich meine“, sage ich und verschränke die Arme vor der Brust, „dass du mir vor drei Monaten vor der Schule noch gesagt hast, dass du so was niemals von mir gedacht hättest.“

Ethan zuckt zurück, den Mund leicht geöffnet und die Augen aufgerissen.

„Ich weiß, es tut … Warte mal“, unterbricht er sich selbst. „Du glaubst, ich habe das auf dein Schwul-Sein bezogen?“

Ich erspare mir eine Antwort und starre stumm zurück, versuche mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Die Erinnerungen an diesen Tag sind verdammt schmerzhaft. Seitdem ist alles anders.

„Fuck“, knurrt Ethan und vergräbt beide Hände in seinen dunklen Haaren.

Er kommt ein paar Schritte näher und steht jetzt dicht vor mir, was irgendwie ziemlich unangenehm ist. In letzter Zeit ist Justin der Einzige gewesen, der mir näher gekommen ist. Selbst Macey halte ich auf Abstand. Leider kann ich nicht weiter zurückweichen, da ich bereits an der Wand lehne.

„Jamie, es tut mir leid. Ich war verdammt sauer auf dich, aber doch nur, weil du mir nichts gesagt hast. Du warst da mit Macey, die wie immer in alles eingeweiht war, und ich musste davon durch das scheiß Internet erfahren. Das hat mich verletzt und deshalb habe ich so blöd reagiert.“

Ich lasse sein Geständnis sacken, während ich dümmlich blinzele.

„Willst du mich verarschen?“, würge ich hervor.

„Ähm. Nein.“

Ein Lachen löst sich aus meiner Kehle und lässt sich nicht mehr zurückhalten, was eine absolute Premiere ist, da ich mich nicht mehr an das letzte Mal erinnern kann.

„Du hast mir so einen Spruch vor der ganzen Schule gedrückt, nachdem Liam … Und dann bist du einfach gegangen und hast mich da stehen lassen, während alle mit dem Finger auf mich gezeigt haben. Ich war völlig am Ende, wusste nicht, was ich machen soll. Und das alles nur, weil du beleidigt warst, weil ich dir nicht früher erzählt habe, dass ich auf Typen stehe?“, fasse ich zusammen.

Ethan verzieht nun wieder das Gesicht und streicht mit seiner Hand über seinen Hinterkopf. „Äh. Also. Ja.“

„Ist dir klar, wie bescheuert das ist?“

„Ich glaube, ich habe nicht richtig nachgedacht.“

„Du glaubst?“

Ethan lacht kurz laut auf, bevor er mich angrinst. „Ich habe nicht nachgedacht. Ehrlich gesagt habe ich das sogar bis eben gerade nicht. Ich war es so verdammt leid, dass ich immer die zweite Geige hinter Macey spielen muss. Dabei bist du doch mein bester Freund. Nur ich irgendwie nie deiner.“

Keine Ahnung, ob ich lachen oder weinen soll. Leider klingt das absolut nach Ethan. Und ich weiß sogar ganz genau was er meint, weil es schon immer ein Thema in unserer Freundschaft war.

„Wieso hast du es mir nicht einfach gesagt?“, fragt Ethan kurze Zeit später.

Ich seufze. „Weil ich es eigentlich niemandem sagen wollte. Das Ganze war so nicht geplant. Es liegt nicht daran, dass ich dir nicht vertraue. Oder vertraut habe. Keine Ahnung.“

Ethan presst seine Lippen fest aufeinander. „Ich habe es ganz schön verkackt, oder?“

Ich zucke mit den Schultern.

Nun stöhnt Ethan laut auf. „Ich war ein beschissener Freund.“

Wieder nur ein Schulterzucken von mir. Was soll ich auch sonst tun? Fakt ist, dass er nun mal ein beschissener Freund gewesen ist.

Einige Minuten stehen wir schweigend da und überraschenderweise ist es nicht mal wirklich unangenehm. In den letzten Monaten habe ich Schweigen durchaus zu schätzen gelernt.

„Ich habe eben da draußen Liam gesehen“, durchbricht Ethan meine Gedankengänge.

Gegen meinen Willen zucke ich heftig zusammen. Seinen Namen laut zu hören, stellt viel zu viel mit mir an, lässt mich viel zu viel fühlen. Allem voran Schmerz.

„Keine Ahnung, was er hier zu suchen hat“, sage ich resigniert.

Ethan mustert mich nachdenklich. „Du wusstest also nichts davon?“

„Seit drei Monaten habe ich nichts mehr von ihm gehört und jetzt kommt er einfach so hierher.“

Seine Augen weiten sich geschockt. „Fuck!“

Ein leichtes Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, weil ich sein Fluchen vermisst habe.

„Wie geht’s dir damit? Kommst du klar?“

Mein Herz pocht mir immer noch bis zum Hals, ich schwitze und zittere nach wie vor wie Espenlaub. Ich bin also sehr weit davon entfernt klarzukommen. „Ich bin total am Arsch“, sage ich seufzend und vergrabe das Gesicht in meinen Handflächen.

Auch wenn ich nicht weiß, weshalb ich mich ausgerechnet Ethan gegenüber öffne, fühlt es sich richtig an.

„Hast du Bock von hier zu verschwinden?“

Überrascht hebe ich den Kopf und sehe einen entschlossenen Ausdruck auf seinem Gesicht. Was auch immer bis jetzt zwischen uns gestanden hat, es scheint, als wäre es aus der Welt geschafft. Ich ergründe kurz, ob ich weiterhin sauer oder verletzt sein soll und komme zu dem Schluss, dass ich Ethan in dieser Sekunde viel zu sehr brauche. Und dass er nach wie vor mein bester Freund ist, obwohl er sich wie ein Arsch benommen hat.

„Nichts lieber als das.“