Leseprobe Lost in your Game

Wenn du zwei Sekunden nachgedacht hättest

Oliver

Das hier, dachte Oliver, war das beste Gefühl der Welt. Wintersonne auf der Haut, Adrenalin in seinen Adern und der Jubel der Fans in allen Zellen seines Körpers. Und ja, sicher, es gab noch andere Annehmlichkeiten, die den Job des NFL-Profis zum besten der Welt machten – Geld, Ansehen, die hingerissenen weiblichen Fans –, doch das hier, das war, wofür er es tat. Für diese Minuten auf dem Feld, direkt nach dem Abpfiff. Wenn er die Verbindung so deutlich spürte, zu den Kollegen und zu dem Publikum, nachdem sie wieder einmal gewonnen hatten. Er hatte schon immer von der Energie gezehrt, die von den Rängen zu ihm herunterschwappte, und seit er vor drei Jahren als Rookie für die Portland Peaks gedraftet worden war, hatte er nie aufgehört, diese Wirkung zu genießen.

Ein muskulöser Arm schlang sich um seine Schultern, und Oliver grinste und korrigierte sich in Gedanken. Das hier war das beste Gefühl der Welt: die Atmosphäre im Stadion und sein bester Freund direkt neben ihm. Er kannte Cookie seit dem College, doch erst seit dieser Saison spielten sie in derselben Mannschaft. Es war die sportlich beste Saison, die Oliver je erlebt hatte, mit der so reellen Chance auf die Playoffs – weil Cookie auf dem Feld Yards fraß so wie manch andere Menschen Fast Food.“

„Na, Träumer?“ Cookie kannte sein kleines Ritual nach Spielende ganz genau, und trotzdem – oder vielleicht deshalb – hatte er ihn dabei gestört. Es machte Oliver nicht im Geringsten etwas aus. Sein Leben war besser, wenn Cookie in seiner Nähe war, nicht nur auf dem Platz. Oliver drehte den Kopf und grinste seinen Freund an, dessen rote Locken schweißnass waren. Das Trikot hatte er lässig über eine Schulter geworfen und die Schulterpads abgenommen, sodass der muskelbepackte Oberkörper sichtbar blieb.

„Schon wieder bereit für die Realität?“, fragte Cookie, und die Sommersprossen auf seinen Wangen verschoben sich, als er grinste. „Oder brauchst du kurz?“

„Schnauze.“ Oliver schubste ihn, doch sein Freund wich ihm lachend aus. „Ist halt geil hier, was will ich machen?“

Cookie strich Oliver eine Strähne seines weißblond gefärbten Haars aus dem Gesicht und grinste schon wieder. „Jaja, schon klar, Momo. Portland ist die schönste Stadt der Welt. Gibt nichts Besseres.“

Die Stadionregie spielte ein neues Lied an, und sie setzten sich in Bewegung und schlenderten Arm in Arm auf die Stadionränge zu. Dort hüpften und tanzten ihre glücklichen Fans, eine dunkelgrüne Wand der Euphorie. Mit genau denen wollten sie jetzt feiern.

„Ist so. Die einzige Möglichkeit, das noch besser zu machen, ist deine Anwesenheit gewesen, und guck, wohin uns das gebracht hat.“ Oliver zwinkerte seinem Freund zu und wies mit dem Kinn ins Stadionrund, wo die Fans die erfolgreichste Saison seit der Teamgründung vor fast drei Jahrzehnten feierten. „Jetzt gibt es kein Steigerungspotenzial mehr.“

„Och“, machte Cookie und hob die Hand, um daran abzuzählen. „So spontan würde ich sagen … eine bessere Theaterszene … eine U-Bahn … bessere Pizza – au!“ Diesmal war er Olivers Hieb nicht rechtzeitig ausgewichen.

Der schüttelte in gespieltem Entsetzen den Kopf. „Bessere Pizza, sagt er, als ob das, was ihr da in Chicago esst, mit dem mithalten kann, was unsere Foodtrucks so zaubern. Glashaus, Steine, mein Lieber. Aber wenn es nach mir geht, bleibst du für immer hier, da hast du noch genug Zeit, dich – ja?“ Er wandte den Kopf, als ihn jemand antippte, und Cookie blieb notgedrungen mit ihm stehen.

Nora Lopes, die die Öffentlichkeitsarbeit für das Team verantwortete, stand in ihrem typischen Outfit aus Jeans, dunklem Blazer und gestresstem Gesichtsausdruck vor ihnen. „Mosley, du bist für ein Interview eingeplant, denkst du da bitte dran?“

„In Cookies Anwesenheit vergesse ich alles andere“, behauptete Oliver und grinste, als beide gleichzeitig mit den Augen rollten. „Sorry, Lopes, komme schon.“ Er klopfte Cookie zum Abschied kurz auf die Schulter, dann folgte er ihr dorthin, wo Fernsehkameras und Reporter schon warteten.

„Denk an dein letztes PR-Training und halt dich ans Skript“, sagte Nora. „Bitte, ich flehe dich an. Ich weiß, wie schwer es dir fällt, dich normal zu benehmen. Aber tu es für mich.“ Ihr Ton war nur halb scherzhaft, und nun war es an ihm, mit den Augen zu rollen. Oliver war schon immer ein beliebter Interviewpartner gewesen. Nicht nur, weil er der Quarterback war, nicht nur, weil er von hier kam und nie wirklich weg gewesen war. Ein großer Teil des Reizes war, dass er manchmal schneller redete, als er dachte, und das gelegentlich zu Sprüchen führte, nach denen die Medien lechzten. Oliver konnte nicht abstreiten, dass er die Aufmerksamkeit genoss – doch dank zahlloser Trainings, zu denen er von General Manager Hammond verdonnert worden war, geschahen diese Momente mittlerweile nur dann, wenn er sie bewusst provozierte.

Dennoch blieb Nora in seinem Blickfeld, schräg hinter dem Reporter, als ob sie ihm nicht vertraute. Pf. Oliver gab den Musterprofi und beantwortete alle Fragen zum Spiel und zu ihrem anhaltenden sportlichen Höhenflug so exakt entlang der PR-Richtlinien, wie Walt Hammond selbst es nicht besser gekonnt hätte. Statt sich selbst als Erfolgsfaktor anzuführen, wie er es einmal im Überschwang der Gefühle getan hatte, verwies er auf die tolle Teamleistung. Und als der Reporter ihn auf die allseits bekannten Spannungen zwischen ihm und Kapitän Carter ansprach, wiegelte er die mit seinem charmantesten Lächeln ab.

„Henry Cook war heute mal wieder der herausragendste Spieler“, sagte der Reporter dann und Oliver nickte grinsend. „Wie froh sind Sie, dass die Peaks ihn diese Saison getradet haben?“

„Er bringt genau das mit, was uns als Mannschaft gefehlt hat, um endlich erfolgreich zu werden“, sagte Oliver, wie es sich gehörte. „Den kann man aufs Feld stellen und von Tag eins an fängt er einfach jeden Ball. Deswegen lieben wir ihn ja alle so.“ Noras Augen verengten sich und Oliver dachte genervt an ihre Aussage von vorhin, er könne sich nicht normal verhalten. Nun, wenn das so war, würde er ihr beweisen, dass sie recht hatte. Er grinste und fügte hinzu: „Und ich ganz besonders.“

Noras Augenbrauen schossen nach oben, ihr Gesicht blass, und der Reporter machte große Augen und hakte nach. „Sie lieben Henry Cook?“

„Na, ich glaube, das ist kein Geheimnis, zumindest für niemanden, der uns kennt.“ Er fuhr sich durch die schweißnassen Haare und warf seinen unschuldigsten Blick in die Kamera. „Das mit uns, das ist eine richtige Liebesgeschichte.“

Der Mann räusperte sich und tauschte einen hektischen Blick, erst mit seiner Kamerafrau, dann mit Nora. „Entschuldigung, da muss ich kurz nachhaken. So, wie Sie das sagen, klingt es sehr missverständlich. Ist da mehr als nur Freundschaft zwischen Ihnen beiden?“

Hinter dem Journalisten hatte Nora die Augen weit aufgerissen und schüttelte heftig den Kopf. Jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt, um zurückzurudern. Er sah Cookie zwar als viel mehr als nur einen Freund, doch der Journalist wollte natürlich auf etwas anderes hinaus. Gleichzeitig konnte er der Versuchung nicht widerstehen, Nora zum Ausflippen zu bringen. Also räusperte er sich und sah sein Gegenüber wieder an.

„Nein, da haben Sie etwas falsch verstanden. Wir sind natürlich nur Freunde.“ Dann schenkte er ihm das auffälligste Zwinkern, das er hinbekam, und ignorierte Nora, die in einer beeindruckenden Pantomime klarmachte, dass sie ihm den Kopf abhacken würde.

„Das … ist eine unerwartete Aussage.“ Der Journalist räusperte sich schon wieder. „Gerade im Umfeld der NFL.“

„Na ja.“ Oliver war gelangweilt. Wie lange stand er schon hier? Er wollte endlich zu den Fans und zur Mannschaft, um den Sieg zu feiern. „Finde ich nicht. Dass Cookie nach Portland gekommen ist, ist das Beste, was mir je passiert ist. Das können ruhig alle wissen.“

Die Pause, die darauf folgte, wurde lang und bedeutungsschwer, auch wenn Oliver nicht verstand, weshalb. Was er gesagt hatte, konnte für niemanden eine Überraschung sein – es war allgemein bekannt, dass Cookie und ihn schon seit Jahren eine enge Freundschaft verband. Natürlich hatte Oliver keinerlei Einfluss auf den Trade gehabt, doch er hatte getan, was er konnte, um ihm die Stadt und das Team schmackhaft zu machen. Und ja, vielleicht war seine Wortwahl ein wenig überspitzt gewesen, aber an sich hatte er doch nichts Außergewöhnliches gesagt, oder?

Sicher, Noras Gesicht hatte eine ungesund rote Farbe angenommen und ihre Augen schossen förmlich Blitze auf ihn ab, aber das war nicht ungewöhnlich für sie. Er schätzte sie für ihren unermüdlichen Einsatz für das Team, aber sie war übervorsichtig. Auf ihre Meinung gab er nichts. Und Journalisten witterten hinter jedem Pups, den er von sich gab, eine Sensation, die sie ausschlachten konnten.

„Danke, Oliver Mosley“, sagte der Journalist, und Oliver schenkte ihm keine weitere Beachtung. Schnell drehte er sich weg, bevor Nora ihm erklären konnte, was er wieder alles falsch gemacht hatte. Sie würde es ihm spätestens beim nächsten Training vorhalten. Stattdessen joggte er zur Mannschaft, um sich dort in die Feierlichkeiten mit den Fans zu stürzen.

***

Wie nach jedem Heimspiel in den letzten Wochen saßen Oliver und seine Freunde aus der Mannschaft im Bikini Martini, einer der angesagtesten Bars in Portland. Siege mussten gefeiert werden, und jetzt, da sie eine solche Serie erreicht hatten, konnten sie die keinesfalls gefährden, indem sie mit dem Feiern aufhörten. So jedenfalls hatte Oliver es den anderen erklärt, und obwohl niemand von ihnen mit dem gleichen Enthusiasmus an die wöchentlichen Eskapaden heranging, kamen sie mit. Der Aberglaube steckte tief in ihnen allen.

Perez, den er schon seit gemeinsamen Sommercamps in ihrer Jugend kannte, saß neben ihm und nickte gelangweilt im Takt der Musik. Cookie war natürlich auf seiner anderen Seite und trank wie immer einen Virgin Mojito. Kaminski, der Jüngste in ihrem Kleeblatt, sah interessiert einer der Tänzerinnen zu, die sich kunstvoll um eine Stange herum drehte. Wenigstens er schien sich ansatzweise über diese Abende zu freuen.

„Noch zweimal gewinnen und wir sind in den Playoffs!“ Es war nicht das erste und vermutlich nicht das letzte Mal an diesem Abend, dass Oliver das sagte, und doch hoben alle brav ihre Gläser und stießen darauf mit ihm an. Das wäre der größte Erfolg in der Geschichte des Teams, und dass sie alle Teil davon sein durften, ließ Olivers Brust anschwellen.

Er stürzte den Rest seines Wodka-Sodas hinunter und betrachtete Cookie, dessen Miene so freundlich-nichtssagend war, dass Oliver wusste, er war in Gedanken weit weg. Sein bester Freund hatte seit jeher kaum Alkohol getrunken und ging nur feiern, wenn Oliver ihn mitschleifte – umso mehr bedeutete es ihm, dass er heute, wieder mal, an seiner Seite war.

Er legte den Kopf an seine Schulter und grinste schief zu ihm nach oben. „Meiko ist ja nicht eifersüchtig, oder?“, rief er und angelte blind mit der Hand nach der Wodkaflasche im Kühlbehälter ihres Tisches.

Cookie kannte ihn viel zu gut, um nicht sofort argwöhnisch zu werden. „Warum fragst du?“ Er war noch nicht lange in seiner Beziehung und hielt seine Freundin, so gut es ging, aus der Öffentlichkeit.

Oliver füllte sein Glas mit einem großzügigen Schluck Wodka, dann grinste er und drückte Cookie einen feuchten Kuss auf die Wange. „Weil ich dich so lieb habe“, erklärte er.

Cookie seufzte und schüttelte den Kopf. „Jaja, ich weiß. Aber das ist okay. Wenn Mei wegen jedem deiner Küsse eifersüchtig wäre, käme sie zu nichts anderem mehr.“ Er machte ein leidendes Gesicht, aber im Grunde seines Herzens genoss er Olivers Aufmerksamkeit. Da war er sich sicher.

„Ja, aber heute habe ich unser Geheimnis gelüftet“, sagte er und füllte sein Glas mit Soda auf. Und als Cookie ihn nur verwirrt ansah, fuhr er fort: „Im Interview heute habe ich dir eine Liebeserklärung gemacht.“

Urplötzlich setzte Cookie sich aufrecht hin, und Oliver wurde von seiner Schulter geschüttelt. „Ich hoffe, ich habe dich falsch verstanden.“ Cookie presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und Oliver lachte.

„Nee, wirklich! Du hättest Noras Gesicht sehen sollen, die hat fast ein Ei gelegt. Eine richtige Liebesgeschichte ist das mit uns zwei, habe ich gesagt.“ Die freie Hand beschrieb einen Bogen, um die Worte zu unterstreichen.

Cookie war leichenblass geworden, und noch ehe er etwas hätte sagen können, verpasste ihm Perez, der ihn offenbar gehört hatte, einen unsanften Klaps auf den Hinterkopf.

„Au!“ Oliver fuhr zu ihm herum und rieb sich die schmerzende Stelle. „Bist du bescheuert?“

„Nee, Mosley. Bist du bescheuert?“ Perez sah ihn aufgebracht an. „Bei den ganzen Spekulationen, ob zwischen euch was läuft, bringst du so eine Ansage? Geht’s noch?“

Oliver starrte ihn an, dann flackerte sein Blick zu Cookie, und dessen Augen voller Panik bestätigten ihm mehr als Perez’ harsche Worte, dass er einen Fehler gemacht hatte. „Wer spekuliert so was?“, fragte er, seine gute Laune verschwunden. „Das höre ich ja zum ersten Mal.“

Cookie schüttelte stumm den Kopf, seine Lippen weiter strichdünn zusammengepresst. Seine Finger, die den Mojito umklammert hielten, wirkten so, als wollten sie das Glas jeden Moment zerdrücken.

Nun mischte sich auch Kaminski ein. „Das hast du ernsthaft nicht mitbekommen? Du hängst doch den ganzen Tag am Handy, hast du noch nie nach deinem eigenen Namen gesucht? Seit Cookies Wechsel geht das so.“

„Was glaubst du, wie Hammond das findet?“, machte Perez weiter, und Oliver fühlte sich in die Enge getrieben.

„Ich wusste nicht, dass das so ein großes Ding ist!“, verteidigte er sich. Als er wieder Cookie ansah, der so gequält wirkte, fiel seine Abwehrhaltung in sich zusammen. „Scheiße, Mann. Sorry.“ Er legte ihm einen Arm um die Schultern und zog ihn eng zu sich, sodass sie Stirn an Stirn saßen. „Ich wollte nur die Lopes ein bisschen ärgern, du weißt doch, wie schön sie sich aufregen kann. Aber ich würde nie was machen –“ Er hielt inne und verbesserte sich dann reumütig. „Ich würde nie absichtlich was machen, was für dich blöd ist. Es tut mir leid. Echt.“

Cookie seufzte und nickte. „Jetzt ist es schon passiert. Hoffen wir, dass das niemand ernst nimmt, denn sonst sehe ich nicht nur für meine Beziehung schwarz.“

Oliver nickte und sah ihn flehend an. „Bist du mir sehr böse?“

Cookie rollte mit den Augen und machte sich los. „Du bist der nervigste Mensch, den ich kenne“, sagte er, „ganz ehrlich. Wenn du zwei Sekunden nachgedacht hättest, bevor du etwas sagst, hättest du das ganz einfach vermeiden können. Meinst du, das lernst du in diesem Leben noch mal?“

Oliver machte ein bedröppeltes Gesicht und nickte, und im Gegensatz zu seinen Worten spielte ein ergebenes Lächeln um Henrys Lippen.

Perez legte ihm die Hand auf die Schulter und zog ihn von Cookie weg. „Na komm, lass ihn mal in Ruhe“, sagte er. „Trink lieber noch einen mit mir. Wenigstens kommt bei uns beiden niemand auf die Idee, da könnte was laufen. Ich habe nämlich besseren Geschmack.“

„Ah ja?“ Oliver zog ihn an sich und drückte ihm einen Kuss in die dichten schwarzen Haare. „Glaub ja nicht, dass du sicher bist!“

Perez lachte und schob ihn von sich. Der Moment verging, doch das Bauchgrummeln, das die Reaktionen seiner Freunde hinterlassen hatte, konnte Oliver nicht komplett verscheuchen.

***

Henry

Im Nachhinein tat es ihm immer leid, wenn er sich von Oliver zu einer Partynacht hatte überreden lassen. Er mochte Routine und hatte sein Leben darum aufgebaut, und jedes Steinchen im gut geölten Getriebe seines Alltags sorgte für innere Unruhe. Bis nach Mitternacht wach zu bleiben, seine Stretching-Routine nach dem Spiel zu vernachlässigen, manchmal sogar Alkohol zu trinken, waren mehr als nur Steinchen. Doch er brachte es nicht übers Herz, seinem Freund seinen Aberglauben madig zu machen und die Siegesserie in Gefahr zu bringen. Außerdem hatte er meistens Spaß – wenn Oliver dabei war, wurde es selten langweilig.

Die andere Seite der Medaille war, dass der manchmal nicht wusste, wann er aufhören sollte. Und öffentliche Liebesgeständnisse, wie scherzhaft sie auch gemeint waren, waren definitiv eine Grenze, vor der er hätte aufhören sollen. Der Football reagierte allergisch auf alles, was auch nur eine Abweichung von der heterosexuellen Norm andeutete – und Oliver posaunte so etwas in die Welt, als interessierte es niemanden.

Sein bester Freund war schon immer impulsiv gewesen und hatte über Konsequenzen oft erst dann nachgedacht, wenn sie ihn bereits ereilt hatten. Wenn er Lust hatte, sich die Haare weißblond zu färben, sodass er aussah wie ein Boyband-Verschnitt aus den Neunzigern, dann tat er es und begriff gar nicht, warum der GM ihn nach dem fünften Frisurenwechsel in einer Saison zu sich zitierte. Und wenn er Lust auf einen Scherz hatte, dann gab er den auch zum Besten, ohne zu ahnen, welche Auswirkungen das für Henry hatte.

Vermutlich sollte er ihm deshalb böse sein. Nicht wegen Mei – die kannte ihn mittlerweile gut genug –, aber wegen der Gefahr, die ein solcher Spruch für sie bergen konnte. Auch wenn Oliver seine Aussage natürlich nur platonisch gemeint hatte, bedeutete das nicht, dass der Rest der Welt es ebenso sah. Henry wusste auch von den Gerüchten, hatte sich mit rasendem Herzen Fanvideos angesehen, mit romantischer Musik hinterlegte Montagen der diversen Küsse, die Oliver ihm gern aufdrückte. Doch es war nie etwas zwischen ihnen gelaufen und es wunderte ihn, dass sich die Gerüchte so hartnäckig hielten. Wer Oliver auch nur kurzzeitig unter die Lupe nahm, stellte schnell fest, dass er ein Schürzenjäger vor dem Herrn war.

Gestern Abend war er mit einer dunkelhaarigen Schönheit abgezogen, während Henry sich im Taxi auf dem Weg nach Hause wieder und wieder das Video des Interviews angesehen hatte. Der Schalk blitzte in Momos Augen, während er redete, doch Henry bezweifelte, dass viele sich die Mühe machen würden, so genau hinzusehen.

Also, ja, vermutlich sollte er ihm böse sein, doch das konnte er nicht. Er war schon immer hilflos gewesen gegen Olivers Charme und seine grundehrliche Art, die nie böse Absichten verfolgte und doch hin und wieder Chaos auslöste. Niemand außer Oliver hätte ihm eine Stunde nach ihrem Kennenlernen seinen Kindheitsspitznamen verraten und ihm angeboten, ihn so zu nennen. Henry hatte erst sehr viel später herausgefunden, dass niemand außer seiner Familie Oliver „Momo“ rufen durfte. Der Gedanke machte ihn immer noch stolz.

Er mochte ihn viel zu sehr, als dass er ihm böse sein könnte. Viel, viel zu sehr. Und ein wenig Chaos hin und wieder tat ihm gut.

Seine eigene dunkelhaarige Schönheit wurde so abrupt aus ihrem Schlaf gerissen wie er aus seinen Gedanken, als sein Festnetztelefon klingelte. Er lächelte, denn seine Mutter war zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk. Die Liebe zu Routinen hatte er definitiv von ihr. Jedes Wochenende rief sie ihn am spielfreien Tag an, und zwar um Punkt zehn Uhr.

Meiko, die mit Kommilitoninnen unterwegs gewesen und erst nach ihm nach Hause gekommen war, stöhnte und vergrub den Kopf im Kissen. „Kann sie nicht nachmittags anrufen?“, grummelte sie. Henry grinste und gab ihr einen Kuss auf die schwarze Mähne, die das Kopfkissen überflutete.

„Bin schon weg“, sagte er und schlug die Decke zurück. „Schlaf ruhig weiter.“ Die Grübelei brachte ja doch nichts, das Interview war schon gegeben. Schnell angelte er nach einem Shirt und einem Paar Shorts, dann schnappte er sich das Telefon, das er nur hatte, damit seine Mutter ihn anrufen konnte. „Hey, Mom.“

Wie bei jedem ihrer Wochenendtelefonate ging er mit dem Telefon am Ohr in seine große offene Küche, um sich einen Tee zu machen. Frühstücken würde er später, wenn Mei wieder unter den Lebenden weilte. Auch so eine Gewohnheit, die sich in sein Leben geschlichen hatte.

„Hallo, Sweetheart.“ Seine Mutter hatte ihren üblichen Tonfall aufgesetzt, fröhlich und doch unterschwellig besorgt, so wie es niemand außer ihr hinbekam. „Geht es dir nicht gut?“, fragte sie prompt. „Du klingst nicht so fit?“

„Doch, doch“, versicherte er, während er den Wasserkocher einschaltete, Tee aus dem Schrank holte und Milch bereitstellte. „Wir waren nur gestern unseren Sieg feiern. Die Tradition verlangt danach, weißt du doch.“ Er grinste. „Der Aberglaube diktiert, dass wir nichts an unseren Abläufen ändern.“

„Glückwunsch zum Sieg“, sagte sie, und ihre Stimme war weich. Er wusste, sie war stolz auf ihn, beide Eltern waren das. Sie hatten nie eine sportliche Laufbahn für ihn vorgesehen, so weit weg von ihrer eigenen, akademischen Welt, doch sie verfolgten seine Erfolge mit großer Hingabe. „Deine Performance war mal wieder spektakulär.“ Dann schwieg sie einen Moment lang, und er wusste, was kam, bevor sie es sagte, denn seit seinem Wechsel nach Portland war es Teil der Tradition geworden: ihre Kritik an seinem Lebenswandel. „Du weißt, dass du nicht alles tun musst, was dieser Junge von dir will, ja, Sweetheart?“

„Mom“, sagte Henry mit sanftem Tadel in der Stimme, während er heißes Wasser auf den Teebeutel goss. „Tu nicht so, als ob du Momo nicht kennst, nachdem er so oft in den Semesterferien bei uns gewesen ist. Und ja, natürlich weiß ich das. Ich kann immer Nein zu ihm sagen.“ Obwohl er das ehrlicherweise selten tat. Es gab wenig im Leben, das er mehr liebte als Momos Augen, die vor Freude aufblitzten, weil er Henry zu etwas überredet hatte. „Ich bin ein erwachsener Mann und entscheide selbst, was ich tun will.“

Diese Aussage bezog sich nicht nur auf seine Partynacht, was sie beide wussten. Seit er nach Portland gezogen war, hatte sich das Verhältnis zu seinen Eltern abgekühlt. Sie lebten schon ihr ganzes Leben lang in Chicago, und er war dort aufgewachsen und als Rookie für die Bears gedraftet worden. Seine Eltern nahmen ihm übel, dass er das alles zurückgelassen hatte. Momo brüstete sich gern damit, dass es seine Überredungskünste gewesen waren, die seinen besten Freund dazu überredet hatten, an die Westküste zu wechseln. Es hatte eine Rolle gespielt, denn Henrys Leben war schöner, wilder und aufregender, wenn Momo in der Nähe war, und er genoss die zusätzliche Zeit, die sie zusammen verbrachten.

Doch auch wenn er bisher ein paar gute Saisons gespielt hatte, war er noch lange nicht berühmt genug, um darauf Einfluss zu nehmen, wohin die Trades ihn verschlugen. Es war ein schöner Zufall gewesen, dass er ausgerechnet hier gelandet war, doch nichts, das er sich ausgesucht hätte. Auch wenn er dem Schicksal insgeheim schon öfter gedankt hatte, dass es ihn zurück zu Momo gebracht hatte. Obwohl seine Mutter das auf rationaler Ebene wusste, nahm sie es ihm dennoch übel.

Sie schwieg und er ebenfalls, während er Milch aufgoss, bis der Tee karamellfarben war, und die Tasse vorsichtig mit sich ins Wohnzimmer trug, das sich direkt an die Küche anschloss. Er störte sich an der Missbilligung seiner Eltern, obwohl Momo ohne Zweifel ein schlechter Einfluss auf ihn war. Der letzte Abend hatte das mal wieder mehr als deutlich gezeigt. Doch sie verstanden nicht, dass er das genoss. Nicht, dass er es Momo gegenüber jemals zugegeben hätte. Er wusste, dass er ein wenig zu brav war, wenn man ihn sich selbst überließ, und er liebte die atemlose Wildheit, mit der Momo ihn so mühelos mit sich riss.

Er wechselte das Thema, ehe das Schweigen zwischen ihnen zu unangenehm wurde. „Meiko hat ihre Hausarbeit zurückbekommen. Und sie hat sich umsonst Sorgen gemacht, es ist eine 2,1 geworden.“ Er setzte sich auf sein großes, weiches Sofa, vergrub die Zehen unter einem Kissen und zog dann zusätzlich eine Decke über die Beine.

„Das ist schön zu hören.“ Der Ton seiner Mutter wurde prompt wieder freundlicher. „Ihr müsst bald zu uns kommen“, fügte sie noch hinzu, wie jedes Mal, wenn sie miteinander sprachen.

Oder ihr kommt endlich mal zu mir, lag es Henry auf der Zunge, denn seine Eltern hatten definitiv einen entspannteren Terminkalender als er. „Vielleicht schaffen wir es nach unserem Urlaub“, sagte er aber nur, ohne es ernst zu meinen – ebenso wie jedes Mal. Wenn die Saison sowie Meikos Blockpraktikum vorbei waren, würden sie zwei Wochen nach Costa Rica fliegen – danach konnten sie nach Chicago kommen, falls sie beide Lust darauf haben würden.

„Das wäre schön“, sagte seine Mutter, obwohl sie sicher ahnte, wie unehrlich er ihr gegenüber diesbezüglich war.

Henry hatte sich längst damit abgefunden, dass ihre Unterhaltungen immer so sein würden: seicht und nichtssagend. So sehr sie ihn liebte, sie hatte nie weiter nachgefragt bei den Themen, die ihn wirklich beschäftigten. Seiner Arbeit, seinen Touchdowns. Der Person, der sein Herz gehörte.

„Wie war deine Woche?“, fragte er also, lehnte sich in seinem Sofa zurück und sah hinaus in den halbverwilderten Garten, den er so liebte. Es musste ja nicht immer um ihn gehen.

Wenn du ihn doch so lieb hast

Henry

Während Meiko schlief, bereitete Henry ein opulentes Frühstück vor: Waffeln, Omeletts, Obst, Kaffee für Mei und Tee für sich. Sie so zu verwöhnen, diente, wenn er ehrlich mit sich selbst war, vor allem dazu, sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Er wusste, dass er ihr nicht der Freund war, den sie verdiente, nicht nur, weil sein Job so viel von seiner Zeit und Energie in Anspruch nahm.

Momo forderte ebenfalls Aufmerksamkeit. Obwohl Henry wusste, dass das nicht fair war, verbrachte er seine Zeit lieber mit Momo als mit Meiko, wenn er die Wahl hatte. Er kannte ihn schon so viel länger, und Momo war einer der wenigen Menschen, von denen Henry nie eine Pause brauchte.

Mit einem Seufzen machte er sich daran, die Küche aufzuräumen, und dachte darüber nach, mit welcher Leichtigkeit Momo am gestrigen Abend mal wieder eine Frau abgeschleppt hatte. Es war nicht fair, wie leicht ihm das fiel, während Henry sich trotz des guten halben Jahrs, das er Mei nun schon kannte, manchmal unbeholfen ihr gegenüber fühlte. Doch er würde sich eher die Zunge abbeißen, als seinen Freund um Rat zu fragen. Außerdem fürchtete er, dass das, was Momo so unwiderstehlich machte, nichts war, das man lernen konnte. Es hatte vermutlich nichts mit dem Aussehen zu tun, denn nicht mal Henry fand seine aktuelle Boyband-Frisur sonderlich attraktiv an Momo. Es waren müheloser Lausbubencharme, frech blitzende dunkle Augen und das intuitiv richtige Level an Intensität in seinen Blicken und Gesten, das Manager Hammond ebenso mühelos um den Finger wickelte wie die Damenwelt von Portland. Und Henry.

Arme schmiegten sich von hinten um seine Mitte, und er fuhr zusammen, hatte über seine Gedanken an Momo glatt die Existenz von Mei vergessen. Nicht zum ersten Mal, leider. Ein weiterer Punkt auf der Liste an Dingen, die ihn zu einem schrecklichen Freund machten.

„Ich glaube, der Kaffeeduft hat mich geweckt“, murmelte Meiko und drückte einen Kuss auf den dünnen T-Shirt-Stoff über seinem Rücken. „Du bist so toll“, sagte sie dann, als sie den Rest der Küche in Augenschein nahm und sah, was alles vorbereitet war. „Ich kenne keinen anderen Mann, der so was für seine Freundin macht.“

Henry drehte sich in ihren Armen und drückte ihr einen Kuss auf die vom Schlaf verwuschelten Haare. „Für dich jederzeit“, sagte er. „Für die beste Freundin, die ich mir wünschen könnte.“ Denn das war sie, schon allein deshalb, weil sie ihn trotz all seiner Unzulänglichkeiten ehrlich liebte.

Ihre Hände strichen abwärts, von seinem Rücken zu seinem Po, schlüpften unter den Bund seiner Pants. „Wollen wir uns ein bisschen Appetit erarbeiten?“, fragte sie, ihr Ton einladend.

Henry versteifte sich unwillkürlich und atmete langsam aus, um sich bewusst wieder zu entspannen. Es war ein ewiges Thema zwischen ihnen. Mei mochte Sex und wollte oft mit ihm schlafen, doch was Henry auf dem Platz so leichtfiel, schien im Bett ein Ding der Unmöglichkeit zu sein: Leistung abliefern. Das Wissen, dass Mei eine attraktive Frau war, half leider nur theoretisch. Seinen Körper interessierte das nicht, denn seine Erregung blieb nie lange bestehen.

Mei verdiente einen besseren Mann. Einen, der ihr Aufmerksamkeit und Begierde und Zeit schenkte, denn sie war eine tolle Frau. Er war dankbar, dass sie trotz allem bei ihm blieb.

„Ich würde gern, Mei, aber du weißt, ich –“

Weiter kam er nicht, denn sie stellte sich auf die Zehenspitzen und verschloss seinen Mund mit einem Kuss. „Ich weiß. Du denkst wieder mal nur das Schlechteste von dir. Aber ich möchte dich auch verwöhnen, so wie du es für mich machst.“ Sie sah erst auf die Frühstücksvorbereitungen, dann wieder in sein Gesicht. „Mach die Augen zu und lass mich machen, und dann sehen wir, wohin uns das führt. Wie klingt das?“

Henry verkniff sich ein Seufzen, denn das wäre nicht fair. Auch wenn er am liebsten direkt gefrühstückt hätte. Stattdessen lächelte er und versuchte, es echt wirken zu lassen. Er würde sich mental in den Tunnel begeben, wie er es oft tat, ähnlich wie vor einem Spiel – denn das schien zu helfen. Für ihn führte das zwar nicht zu einem schönen Ergebnis, aber immerhin Mei schien zufrieden zu sein. Sie durfte nur nicht herausfinden, dass er seine Erektion nur beibehielt, weil er in Gedanken weit weg war.

„Das klingt großartig“, log er also und ließ sich von ihr zurück ins Schlafzimmer ziehen.

***

Zu seinem Entsetzen fand Meiko Momos Interview, ehe Henry eine Chance gehabt hatte, ihr davon zu erzählen. Nachdem sie miteinander geschlafen hatten – wenn man es denn so nennen konnte –, waren sie wieder in die Küche gegangen. Während er Waffeln und Omeletts zubereitete – Tätigkeiten, mit denen er sich wesentlich wohler fühlte als mit denen im Schlafzimmer –, scrollte sie durch die sozialen Medien.

„Ähm“, sagte sie, gerade als er eine neue Ladung Waffelteig ins Eisen gab, und ihr Tonfall ließ ihn aufsehen. Sie starrte mit hochgezogenen Augenbrauen auf ihr Handy, dann zu ihm. „Honey … das Internet sagt, du bist mit Oliver zusammen.“

Henry stand einen Moment wie versteinert da. Dann explodierte etwas in seinem Bauch, heiß und unangenehm, Panik oder Angst oder Entsetzen oder alles auf einmal. Er keuchte und schob schnell ein schwaches Lachen hinterher, um seine Reaktion abzumildern.

„Ach, scheiße“, sagte er schließlich. „Momo hat gestern ein Interview gegeben, in dem mal wieder die Gäule mit ihm durchgegangen sind … Ich bin gar nicht dazu gekommen, dir davon zu erzählen.“

Sie sah ihn unsicher an. „Und gibt es etwas, das du mir zu diesem Thema sagen willst?“

„Nein.“ Er lächelte sie an. Es fühlte sich seltsam an, während gleichzeitig in seinem Bauch ein Sturm tobte. „Ich bin doch hier, oder nicht? Momo hat mal wieder nicht nachgedacht, ob andere das, was er sagt, genauso lustig finden wie er.“

Sie warf ihm einen skeptischen Blick zu. „Geht es dir gut? Dein Verhalten ist merkwürdig, wenn ich das mal so sagen darf.“

Er lachte wieder, atemlos, dann fuhr er sich mit den Händen übers Gesicht. „Mei … weißt du, wie konservativ Football ist? Weißt du, was uns passieren kann, wenn irgendwer das ernst nimmt? Das kann meine ganze Karriere in Gefahr bringen.“ Und das war nicht gelogen. Das war ein großer Teil dessen, was ihn so in Panik versetzte. Wahrscheinlich sogar der größte. „Sorry, dass das nicht gut wirkt gerade. Ich verspreche dir, Momo und ich sind kein Paar und nie eins gewesen.“

Kurz herrschte Schweigen zwischen ihnen, dann stand sie auf und zog ihm sanft die Hände vom Gesicht. „Ich glaube dir“, sagte sie leise und legte die Arme um ihn. „Und ich bin sicher, es wird nicht so schlimm, wie du denkst. Das Internet hat jetzt eben ein bisschen Spaß damit, aber in ein paar Tagen haben sie es vergessen.“

Henry atmete tief durch und presste sie an sich. „Ja. Bestimmt.“ Auch wenn er das leider nicht glaubte.

***

Oliver

Er war zu spät dran, wieder mal, und wusste jetzt schon, dass seine Familie ihn mit spöttischen Kommentaren empfangen würde. Dabei war es nicht seine Schuld, dass sie ihre gemeinsamen Essen gern auf Uhrzeiten legten, zu denen er viel lieber noch schlief. Der weiße Kies auf dem Zugangsweg zum Malt & Flame knirschte unter seinen Sneakern, als er ihn entlangeilte.

Für niemanden außer seiner Familie – okay, und für Cookie, doch der war ja quasi Familie – wäre er an einem spielfreien Tag so früh aufgestanden. Die Frau in seinem Bett, an deren Namen er sich beim besten Willen nicht mehr erinnerte, hatte er ebenfalls aus seiner Wohnung komplimentiert, statt noch eine Runde einzulegen.

Schnell noch ein Autogramm und Foto für einen kleinen Jungen im Portland-Trikot, dann schob er die schwere Eingangstür des Gastropubs auf und ließ sich nonchalant neben seinem großen Bruder auf die hölzerne Sitzbank fallen, drückte ihm einen Kuss in die Haare und grinste in die Runde. „Morgen.“

Charlie hob demonstrativ den Arm, um auf seine Uhr zu sehen. „Fast ein Uhr und Momo wünscht guten Morgen. Alles wie immer.“ Er grinste und stieß Oliver in die Seite, was der sofort zurückgab.

„Kleiner Mann, du siehst mächtig verkatert aus“, sagte seine Mutter, bevor sie ihren Begrüßungskuss auf die Wange entgegennahm. „Und du bist mal wieder zu spät.“

Sein Vater nippte an seinem Bier, dann grinste er das flegelhafte Grinsen, das beide Söhne von ihm geerbt hatten. „Tja, Frankie“, sagte er und zog seine Frau an der Schulter zu sich. „Wer gut spielt, darf gut feiern, so sind die Regeln.“

Oliver grinste zurück. „Siehst du, Mom, war alles genehmigt.“

„Mhm“, machte sie, nahm einen Schluck von ihrem Bier und sah ihn durchdringend an. „Gibt es irgendwas, was du gestern gemacht hast, das nicht genehmigt gewesen ist?“

Oliver dachte an die Frau in seinem Bett, doch seine Mutter hatte sich längst damit abgefunden, dass er vermutlich niemals sesshaft werden würde.

„Irgendwelche Interviews, zu denen du dich äußern möchtest?“, fragte sie weiter, ihr Ton unschuldig, doch die hochgezogenen Augenbrauen machten klar, dass sie genau wusste, was los war.

„Ahhh“, sagte er. „Ja.“ Er verzog das Gesicht und kratzte sich am Hinterkopf. „Das habt ihr mitbekommen, ja?“

Sein Vater schnaubte belustigt. „Oliver, das ganze Internet hat es mitbekommen. Wie kann es sein, dass du nicht im Bilde bist?“

„Ich war beschäftigt.“

Charlie hustete übertrieben, doch seine Mutter warf ihnen beiden strenge Blicke zu und kam wieder auf das Thema zurück, das Oliver so gern ignoriert hätte. Er hatte verstanden, dass das Interview keine so lustige Idee gewesen war, wie er in dem Moment gedacht hatte. Aber mussten sie jetzt alle darauf herumreiten? „Willst du uns irgendwas sagen zu Cookie und dir?“

„Ja, kannst du in Zukunft erst uns Bescheid sagen, bevor du der ganzen Welt erzählst, dass du mit jemandem zusammen bist?“ Charlie war heute in bester Stänkerlaune.

Oliver verdrehte die Augen. „Dass ausgerechnet ihr das glaubt. Klar habe ich Cookie lieb, aber doch nicht so.“ Er wedelte mit der Hand, als würde das helfen, das alberne Gerücht zu zerstreuen. „Außerdem ist es die Schuld unserer PR-Tante. Die ist immer so zugeknöpft und traut mir nichts zu in Interviews.“

„Ja, komisch, Kleiner, woher das kommt.“ Der Ton seines Vaters triefte förmlich vor Sarkasmus. „Okay, also: Das war richtig blöd von dir, aber wir hoffen das Beste, ja? Sogar eine Talkshow wollte dich direkt einladen, habe ich heute Morgen gelesen.“ Er seufzte. „Versuche beim nächsten Interview, nicht direkt den ersten Gedanken rauszuhauen, der dir einfällt, wie wäre das?“

„Und vielleicht gehst du am Abend nach so einem Interview nicht mit Cookie in einen Club und knutschst ihn da ab“, schlug seine Mutter vor. „Ja, natürlich hat euch jemand fotografiert, was glaubst du denn?“, ergänzte sie auf seinen ungläubigen Blick hin. „Das ist ein brandheißes Thema gerade. Du weißt doch selbst, wie das in der NFL ist.“

„Man sollte meinen, die Gerüchte über euch hätten gereicht, damit du vorsichtig bist.“ Charlie, natürlich. „Kannst froh sein, dass die Peaks das bisher ignoriert haben. Aber ich bin nicht überrascht, dass du die Klappe nicht halten konntest.“

„Ernsthaft?“ Oliver starrte ihn empört an. „Du kennst die Gerüchte auch? Und hast nie was gesagt?“

Charlie lachte. „Ich dachte, dein Riesenego muss alle Artikel kennen, die über dich kursieren. Ich wäre im Traum nicht darauf gekommen, dass das für dich neu ist.“

Genervt rieb Oliver sich die Stirn. „Das ist doch alles Quatsch, Mann. Cookie und ich, als ob. Die Frau, mit der ich nach Hause bin, hat wahrscheinlich niemand fotografiert, oder? Würde ja nicht in die Story passen.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und grummelte vor sich hin.

„Warum? Zum hundertsten Mal das Gleiche interessiert niemanden.“ Seine Mutter brachte es fertig, in einem einzigen kurzen Satz ihre Missbilligung über seinen Lebensstil ebenso wie ihre Abscheu über den Medienzirkus unterzubringen.

Oliver seufzte. Offensichtlich hatte er diesmal so richtig Scheiße gebaut. Ein so großes Echo hatte noch keiner seiner Sprüche ausgelöst. Hoffentlich merkten sie alle bald, dass das, was sie da berichteten, Bullshit war. Er und Cookie – das konnte auch nur jemand glauben, der sie nicht kannte.

Und als hätte er seine Gedanken gelesen, griff sein Vater über den Tisch und nahm seine Hand. „Aber, Sohn, ich hoffe, eins ist dir klar“, sagte er mit plötzlich weicherer Stimme. „Wenn du irgendwann merkst, dass du Cookie doch so lieb hast, wie gerade alle denken … dann kannst du ihn immer gern mitbringen. Ja?“

Oliver war genervt, auch wenn der rationale Teil seines Hirns zu schätzen wusste, wie offen seine Eltern waren. „Mein Gott, nicht du auch noch, echt. Ja, danke, Dad. Ist notiert. Ich sage euch Bescheid, falls es jemals relevant wird.“ Was es nicht wird, fügte er in Gedanken hinzu, doch er sagte es nicht, und nachdem die Bedienung an den Tisch getreten war und seine Bestellung aufgenommen hatte, wandte sich das Gespräch zum Glück unverfänglicheren Themen zu.