Leseprobe Kein Lord zum Heiraten

Prolog

Mayfair, London

April 1816

Mit geweiteten Augen trat die achtzehnjährige Annabelle Green von Quinton Carlisle zurück, an dessen muskulöse Brust sie sich gerade gepresst hatte. Sie hob eine Hand an ihre Lippen. Geschwollen, heiß, feucht … Himmel, er hatte sie geküsst.

Bei Gott, sie hatte es zugelassen!

Sie unterdrückte ein selbstanklagendes Ächzen. Zugelassen? Sie war dem Schuft praktisch in die Arme gesprungen, um sich küssen zu lassen.

„Annabelle?“, fragte er leise und mit besorgtem Ton. Die Geräusche des gut besuchten Balls der Countess of St. James drangen durch die dicht mit Rosen bewachsene Laube am Ende des Gartens, wo sie von Schatten eingehüllt waren.

Sie starrte ihn an und wusste beim besten Willen nicht, was sie hätte sagen können. Vor wenigen Minuten hatte sie sich aus der Bibliothek auf die Terrasse geflüchtet, um dem Gedränge der Feier zu entkommen und eine kleine Runde durch den Garten zu drehen; um sich ein paar Minuten Ruhe zu gönnen, in denen sie nicht das Thema des Geflüsters und Gelächters der anderen Damen auf dem Ball war, die der Meinung waren, sie würde sich übernehmen. Immerhin war sie nur die Begleitung einer Dame, ohne ein Recht darauf, Seide und Juwelen zu tragen oder mit heiratsfähigen Gentlemen zu tanzen.

Doch in den Schatten war sie Quinton Carlisle begegnet. Und dann hatte sie sich in seinen Armen wiedergefunden und einen unglaublichen Kuss bekommen.

„Geht es Euch gut?“, fragte er. Seinem von Schatten verhangenen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war er genauso bestürzt wie sie.

„Ihr … Ihr habt mich geküsst“, flüsterte sie an den Fingern vorbei, die sie sich immer noch auf die Lippen presste.

„Ganz eindeutig.“ Ein teuflisches Grinsen umspielte seine Lippen. „Und Ihr habt den Kuss erwidert.“

„Habe ich nicht!“

Er hob amüsierte eine Augenbraue, ob dieser offensichtlichen Lüge.

Annabelle ächzte. Es war auch nicht bloß ein schlichter Kuss gewesen. Sie waren sich auf intensive Weise begegnet, begierig und hungrig, mit Knabbern, Saugen und wandernden Händen …

„Ich würde es gern wiederholen.“ Er trat vor, um die Distanz zwischen ihnen zu überbrücken, und sein erhitzter Blick senkte sich auf ihre Lippen. „Unbedingt.“

Ihre Hand sank von ihrer Lippe herab; nicht, um ihn zu ermutigen, sondern weil sie völlig verwirrt war. Was in aller Welt war über sie beide gekommen? „Aber wir mögen einander nicht einmal!“, brachte sie piepsend über die Lippen.

Nun, er mochte sie auf jeden Fall nicht.

Er war Quinton Carlisle, um Himmels willen. Sie kannte ihn, seit sie zehn war. Er war freigiebig mit seinem Lächeln, das stets die Schmetterlinge in ihrem Bauch erwachen ließ, und ein goldblonder Schönling, der gewiss selbst Adonis neidisch gemacht hätte. Als einer von Londons charmantesten Schuften verdrehte er gelangweilten Witwen und Ehefrauen der gehobenen Gesellschaft die Köpfe, wohin er auch ging. Und das, obwohl er erst einundzwanzig war. Belle hätte schon tot oder über achtzig sein müssen, um sich nicht zu ihm hingezogen zu fühlen.

Doch er war auch ihr Fluch. Er schien es nie leid zu werden, sie zu necken, so wie er es schon seit ihrer Kindheit tat. Sie waren Freunde, gewiss, doch in dieser Ballsaison schien er große Freude daran zu finden, sie zu verärgern bis ihr Flammen aus dem Kopf schießen könnten. Während sie über ihn fantasiert haben mochte, hatte er ihr nie einen Gedanken gewidmet.

Bis zu diesem Abend. Er hatte sie umarmt, sein muskulöser Körper hatte sich an ihre weiche Haut gepresst, und seine Lippen hatten mit ihren gespielt, um ihr einen Kuss nach dem anderen zu entlocken, bis sie glaubte, explodieren zu müssen, ob der pulsierenden Sehnsucht in ihr.

Oh, was hatte er für köstliche Lippen! Kein Wunder, dass sich ihm all diese Frauen aus Adelskreisen förmlich an den Hals warfen. Wenn er so küssen konnte, warum sollten sie sich dann etwas aus seinem Ruf als einem der wilden Carlisle-Brüder machen?

Doch Belle machte sich etwas daraus. Ihr eigener Ruf hing ohnehin schon am seidenen Faden, einfach nur, weil sie war, wer sie war: lediglich die obdachlose Tochter einer von Lord Ainsleys ehemaligen Haushälterinnen, die er und Lady Ainsley aus Mitleid aufgenommen hatte; eine mittellose Gesellschaftsdame, deren Mutter tot war und deren Vater verurteilt im Gefängnis saß. Trotz der Bemühungen von Lord und Lady Ainsley, ihr das Wohlwollen der Gesellschaft zu verschaffen, war nicht eine Person auf dem heutigen Ball bereit, sie zu akzeptieren. Und das hatte man sie spüren lassen. Wiederholt.

Und jetzt hatte sie selbst diese dürftige Stellung aufs Spiel gesetzte. Himmel, wie war sie nur in diese Situation geraten? Ausgerechnet mit Quinton Carlisle! In ihrem Kopf drehte sich alles.

„Aber ich mag dich, Belle“, korrigierte er sie mit tiefer, belegter Stimme.

In diesem Moment hätte sie beinahe das Gleichgewicht verloren. Er … mochte sie?

Seine Lippen verharrten knapp vor ihren, so nah, dass sie die Hitze seines Atems auf ihren eigenen Lippen spüren konnte. „Ich kann dir zeigen wie sehr, wenn du mir nicht glaubst.“

Sie legte ihm nachdrücklich eine Hand auf die Brust, um ihn auf Abstand zu halten, wenngleich sich ihre verräterischen Fingerspitzen in den Brokatstoff seiner Weste gruben. „Warum hast du mich so geküsst?“

Er neigte den Kopf und ließ seine Lippen kurz die ihren berühren. Doch es war so viel mehr als nur ein flüchtiger Kuss. Er barg ein Versprechen auf all die verruchten Dinge, die er mit ihr anstellen würde, wenn sie ihn ließe … alle möglichen, herrlich verführerischen Dinge. „Weil ich es wollte.“

Er grinste sie in den Schatten an, dann lehnte er sich vor, um sie noch einmal zu küssen; und diesmal hatte er eindeutig mehr im Sinn, als eine bloße Begegnung der Lippen …

Sie stieß ihm eine Hand gegen die Schulter und hielt ihn auf. „Warum hast du mich geküsst, Quinton?“

Er zog sich verdutzt zurück. Dann antwortete er leise: „Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht.“

Oh, das war absolut das Letzte, was eine junge Dame hören wollte, nachdem sie ihren ersten Kuss verschenkt hatte! Er konnte sich nicht einmal eine gute Lüge einfallen lassen, um sich zu erklären, oder eines der zärtlichen Komplimente, die er den anderen Damen so freigiebig zukommen ließ.

Anscheinend war sie nicht einmal die inhaltsleere Schmeichelei wert.

Seine Augen funkelten. „Annabelle, du gehörst definitiv nicht zu der Art von Frauen, mit denen ich üblicherweise in den Schatten lande.“

Seine unverblümte Ehrlichkeit brannte sich in ihre Brust. Doch er gluckste, als wäre ihre missliche Lage für ihn amüsant.

Sie blinzelte, konnte aber die aufsteigenden Tränen nicht aus ihren Augen verbannen. „War das nur ein Witz für dich?“ Nur ein weiterer Weg, um sie zu necken und zu quälen? Sie wusste, dass er ein Schurke war, doch sie hätte nie gedacht, dass er so tief sinken würde!

Sein beschatteter Gesichtsausdruck wurde ernst. „Zuerst ja“, räumte er ein. „Doch am Ende nicht mehr.“

Wut und Scham tobten in ihr. Mit einem schwachen Aufschrei stieß sie ihn zurück. Sie drehte sich um, stürmte aus der Gartenlaube …

Und stolperte.

Ihr Zeh blieb an einer Wurzel hängen und sie stürzte nach vorn. Da sie das Gleichgewicht verloren hatte und sich nicht bremsen konnte, stieß sie mit der Schulter gegen den Pfosten, der den Eingang einrahmte. Das laute Reißen von Stoff drang in ihre Ohren, nur Sekundenbruchteile bevor ihre Knie auf der Erde aufkamen. Für einen Moment konnte sie in ihrem fassungslosen Schock nichts anderes tun, als auf Händen und Knien dort zu verharren, während sie gekränkt den Kopf hängenließ und ihr Mieder locker an ihr hing.

„Belle!“ Quinton kniete sich neben sie und griff nach ihrem Arm. „Bist du verletzt?“

Sie kniff die Augen zu, um die heißen Tränen zurückzuhalten, und schüttelte den Kopf. Doch es war eine Lüge, denn ihr Herz war zerbrochen.

Er half ihr auf die Füße. Sie verschränkte die Arme vor ihrem Mieder, um es an Ort und Stelle zu halten, und als könnte sie so auch die Beschämung zurückhalten, die in ihr brodelte, dann riss sie sich von ihm los. Mit den Tränen, die ihre Sicht verschwimmen ließen, und den Schatten konnte sie sein Gesicht nicht klar sehen – oh, und sie war froh darum! Sie hätte sein Mitleid nicht ertragen. Die Demütigung hätte sie umgebracht.

„Geht es dir gut?“, fragte er leise, während er mit beiden Händen ihre Schultern packte, damit sie sich nicht entfernen konnte.

Ein Schluchzen drang ihr über die Lippen. „Mein Kleid …“ Sie hatte das kostbare Seidenkleid in Elfenbein und Perlweiß ruiniert, das sie auf Lady Ainsleys Drängen hin zu ihrem ersten Ball getragen hatte. Der Riss im Mieder klaffte oberhalb ihrer Brüste, der Rock war mit Dreck verschmiert.

„Lass mich dir helfen.“

„Verschwinde!“ Sie wand sich aus seinem Griff. „Hast du mir heute Abend nicht schon genug angetan?“

Er starrte sie ob ihres wütenden Vorwurfs ungläubig und mit offenem Mund an. Dann verengte er die Augen. „Ich habe nichts getan …“

„Carlisle!“ Die Stimme eines Mannes drang durch die Stille des Gartens, gefolgt von einem misstönenden Lachen. „Da seid Ihr ja!“

Himmel“, entfuhr es ihm. Er versuchte, sein Jackett für sie auszuziehen, doch es war zu spät.

Zwei Männer näherten sich ihnen durch den dunklen Garten, mit glimmenden Zigarren und Whiskeygläsern in den Händen. Sie erstarrten, als sie Belle in ihrem zerrissenen Kleid ausmachten, und Quinton, der noch dabei war, sein Jackett auszuziehen. Auf beiden Gesichtern breitete sich ein lüsternes Lächeln aus, bis die Zähne der beiden im Mondlicht schimmerten.

„Und er ist beschäftigt“, sagte der erste Mann schleppend.

Der zweite legte seinem Freund einen Arm um die Schultern und tippte ihm mit seinem Glas gegen die Brust. „Und das auf wahrlich köstliche Weise.“

Neuerliche Scham breitete sich in Belle aus, und sie zuckte unter den lasziven Blicken der beiden Männer zusammen, die langsam von ihrem schmutzigen Rocksaum bis zum gerissenen Mieder wanderten. Sie drehte sich weg, doch es war zu spät. Die beiden hatten sie gewiss erkannt, trotz der Schatten. Und was Quinn und sie in deren Vorstellung gerade getan haben mussten …

„Verschwindet“, knurrte Quinn, während er zwischen sie und die Männer trat. Die Hände ballte er an seinen Seiten zu Fäusten.

Der erste Mann schnalzte mit der Zunge. „Wir sollen Euch all den Spaß überlassen?“

Belle erkannte ihn: Burton Williams, der jüngste Sohn des Viscount Houghton. Ihr wurde schlecht. Oh Gott, nicht dieser Taugenichts; dieses männliche Klatschweib!

„Ich hätte Euch allerdings nie für einen solchen Menschen gehalten“, murmelte Williams verächtlich.

Belles Brust schnürte sich so sehr zusammen, dass sie keine Luft mehr bekam und sich sicher war, ihr Herzschlag würde unter dem Druck aussetzen. Sie ließ den Kopf hängen, um ihr Gesicht zu verbergen, während die erste Träne schon über ihre Wange kullerte.

„Verschwindet“, wiederholte Quinton durch zusammengebissene Zähne. „Das geht Euch nichts an.“

Williams ignorierte das und lachte. Er hatte zu viel Spaß daran, Quinn zu rügen und sie zu demütigen, um jetzt zu gehen. „Habt Euch das Kleid zerrissen, was, Schätzchen?“

Der andere Mann schlug Williams auf die Schulter und deutete auf ihren Rock. „Bevor oder nachdem sie auf den Knien war, was meint Ihr?“

Quintons breiter Körper versteifte sich in so intensiver Wut, dass man sie in der mitternächtlichen Luft pulsieren spüren konnte. „Fort mit Euch“, befahl er. „Und verliert kein Wort hierüber.“

„Sonst was?“, spottete Williams, während er sein Glas in die Büsche warf, um die Hände für einen Kampf frei zu haben.

Die Heiterkeit wich aus den beiden Männern. Ihr Gesichtsausdruck versteinerte und sie richteten sich auf. Spannung knisterte in der Luft wie Elektrizität.

„Quinn, nicht.“ Sie legte ihm eine Hand auf den rechten Arm, um die Schlägerei zu unterbinden, die jeden Augenblick ausbrechen mochte. Denn wenn es dazu käme, würden gewiss all die Menschen aus dem Ballsaal nach draußen strömen, um sich das Spektakel anzusehen. Ganz London würde sie so sehen und würde die gleichen Schlüsse über sie und Quinton ziehen, wie Williams und sein Freund. „Geh einfach. Bitte.“

Seine Augen glühten wie Kohlen. „Und sie damit davonkommen lassen, dich beleidigt zu haben?“

„Ja!“, bekam sie erstickt heraus, aus Angst, sie würde gleich weiterschluchzen. „Es bedeutet nichts …“

„Einen Blaustrumpf bespringen?“ Der Freund lachte. „Seid Ihr so verzweifelt?“

„Es sei denn, Blaustrümpfe schmecken nach Blaubeeren. Ist es so, Carlisle?“ Williams trat einen Schritt auf Quinn zu. „Ist sie eine reife, saftige Blaubeere, die einem Mann auf der Zunge zergehen will?“

Die Muskeln in Quintons Arm spannten sich unter ihren Fingerspitzen an und sie spürte, wie seine glimmende Wut zu Zorn entflammte.

„Quinton, nein“, flehte sie. „Bitte.“

Doch er schüttelte ihre Hand ab, trat mit geballten Fäusten vor und ging zum Angriff über. Binnen Sekunden prügelten die drei Männer aufeinander ein, begleitet von den Übelkeit erregenden, dumpfen Aufschlägen gelandeter Treffer.

Panik stieg in ihr auf. Sie durfte sich hier draußen nicht erwischen lassen; nicht während sie so aussah! Nicht während sich einer von Mayfairs beliebtesten Schuften ihretwegen prügelte.

Ohne nachzudenken rannte sie zum Haus. Sie wusste nur, dass sie verschwinden musste. Sie wollte dringend den Ruheraum finden, um sich dort zu verstecken, bis Lady Ainsley sie retten und diesem Alptraum ein Ende setzen könnte.

„Belle, warte!“, rief Quinn. Sie blickte lange genug über die Schulter, um zu sehen, wie er einen Treffer landete, bei dem Williams ins Taumeln geriet. „Halt!“

Doch es war das Letzte, was sie wollte, sich ihm in ihrer Schande zu stellen, oder zu sehen, wie er ihretwegen zusammengeschlagen wurde. Als sie hörte, dass er sich aus dem Kampf zurückzog und ihr nachrannte, eilte sie schneller durch die dunklen Schatten in Richtung der Terrassentür. Sie griff mit zitternder Hand nach dem Türknauf …

„Annabelle, nein!“

Sie riss die Tür auf und eilte hinein. Dann erstarrte sie mitten in der Bewegung und musste einen Schrei unterdrücken, als sie vier der größten Wichtigtuerinnen in Adelskreisen in der Bibliothek sitzen sah. Sie wurde angestarrt, als würde sie in die Stallungen gehören, nicht zu ihnen in das prächtige Stadthaus. Dann wanderten die Blicke langsam über ihre Gestalt, musterten das zerrissene und schlaffe Mieder, den Dreck auf ihrem Kleid … Oh Gott.

Quinton erreichte sie einen Augenblick später. Nach dem Kampf sah er zerzaust und derangiert aus. Ein wissendes Lächeln breitete sich auf den Gesichtern der Frauen aus, und ihre Augen funkelten, als wären sie Hyänen, die ein Festmahl ausgemacht hatten. Ein Schuft und eine Frau, die sie für zu schlecht erzogen hielten, um je eine von ihnen zu sein …

Er zog sein Jackett aus und warf es ihr über die Schultern, um sie zu bedecken, doch es war zu spät. Der Schaden war schon angerichtet. Ihr zerrissenes und schmutziges Kleid lieferte die nötigen Beweise – und die Munition –, die diese Frauen brauchten, um Belle zu ruinieren.

Kapitel 1

Cumbria, England, nahe der schottischen Grenze

September 1822

Annabelle hielt inne. Sie war mit Lady Ainsley durch den Garten von Castle Glenarvon spaziert und blickte nun zur Nachmittagssonne hinauf, die sich langsam gen Horizont senkte. Wieder war ein Tag vorüber.

Ihre Brust schnürte sich schmerzhaft zusammen, als sie flüsterte: „Nur noch ein Monat.“

Die verwitwete Viscountess hakte sich bei Belle unter und nickte ihr resolut zu, während sie ihren Arm tätschelte. „Es bleibt noch reichlich Zeit.“

Belle war sich da nicht so sicher. Die vergangenen vier Jahre waren immerhin wie im Flug vergangen, und jetzt war sie immer noch unverheiratet, einen Monat vor ihrem Geburtstag und der Frist für ihr Erbe.

Sie atmete tief durch und ließ den Blick durch den Garten und über die weitläufige Landschaft des Anwesens in Cumbria schweifen, das sie so liebte, mit den Flüssen, Tälern und dem Heidekraut, das sich bis zu den blauen Bergen in der Ferne erstreckte. Das Anwesen war im Englischen Bürgerkrieg einem Günstling der Krone geschenkt worden, und es war angelegt worden, um die Grenze gegen eine schottische Invasion zu verteidigen. Seitdem war es in der Familie des verstorbenen Lord Ainsley weitervererbt worden, und auch wenn es finanziell wenig abwarf, war es ein geschätzter Besitz; so weit im Norden, dass eine starke Böe es nach Schottland hätte tragen können.

Annabelle liebte jede mit Steinen oder Heidekraut übersäte Ecke davon. Nachdem sie ihre Kindheit damit verbracht hatte, von Ort zu Ort zu ziehen, und manchmal mitten in der Nacht vor den Gläubigern ihres Vaters hatte fliehen müssen, ohne zu wissen, wann es die nächste Mahlzeit geben mochte, wirkte der Friede und die Beständigkeit von Glenarvon für sie immer noch wie ein Traum. Und in einem kurzen Monat, wenn sie fünfundzwanzig wurde, würde das Anwesen ihr gehören.

Falls sie dann verheiratet war.

Sonst würde sie es für immer verlieren. Das Anwesen würde an die Kirche gehen und Belle würde wirklich alles verlieren … die Berge und die Wildnis, die geliebten Schafe und ihre Weiden, selbst den kleinen Teich, in dem sie an Sommerabenden schwamm. Es war das einzig wirkliche Zuhause, das sie je gekannt hatte.

Das war die unerträgliche Situation, in der sie sich befand. Und sie wusste, dass die Liebe an allem Schuld war.

Als die Witwe ihre Pein bemerkte, fügte sie leise hinzu: „Wir wollen nur das Beste für dich, meine Liebe.“

„Ich weiß.“ Belle drückte liebevoll ihren Arm und wandte sich ab, bevor Lady Ainsley die Tränen in ihren Augen sehen konnte.

Lady Ainsley und ihr verstorbener Ehemann hatten Belle immer geliebt, seit sie im Alter von zehn Jahren zu ihnen gekommen war. Ihre Mutter war an einem Fieber gestorben und ihr Vater, der nie an ihrem Leben teilgenommen hatte, außer, um ihr Kummer zu machen, war zwei Jahre zuvor im Gefängnis gelandet. Sie hatte keine Verwandten gehabt, die sie hätten aufnehmen können.

Weil ihre Mutter einst für den Viscount gearbeitet hatte, hatte Lady Ainsley ihr helfen wollen, indem sie sie aufnahm und zu ihrer Gesellschaftsdame heranzog, da die Viscountess keine eigenen Kinder gehabt hatte. So war sie im Leben der beiden aufgenommen worden, und Belle war so gut behandelt worden wie eine eigene Tochter. Wahrlich, wie die drei Töchter aus Lord Ainsleys erster Ehe war sie mit einer wundervollen Bildung versorgt worden, mit all den Kleidern und dem Schmuck, den sie sich hätte wünschen können, und mit einem sicheren und stabilen Zuhause. Die beiden hatten sich ebenfalls gewünscht, dass Belle für den Rest ihres Lebens wohlbehütet wäre. Daher hatte Lord Ainsley ihr Castle Glenarvon vermacht, unter treuhänderischer Verwaltung des neuen Viscount – doch nur, wenn sie bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag verheiratet wäre. Denn dann würde ihr Ehemann das Anwesen verwalten und ihr Dieb von einem Vater würde keine Hand daran legen können.

Doch der Weg in die Hölle war mit guten Vorsätzen gepflastert, und bei dem Versuch, sie zu beschützen, hatten die beiden ihr ungewollt geschadet. Denn ihr fünfundzwanzigster Geburtstag lag jetzt nur noch einen Monat in der Zukunft und es war kein Ehemann in Sicht.

„Wir haben einen Plan, und er wird funktionieren“, rief ihr Lady Ainsley ins Gedächtnis. Sie meinte die Reihe von Teegesellschaften und Feiern, die sie veranstalten würden. Alle heiratsfähigen Gentlemen der Gegend waren eingeladen, um Belle die Gelegenheit zu bieten, sie kennenzulernen und zu entscheiden, ob einer von ihnen zum Ehemann taugte. Es war wie eine hastige Miniaturausgabe einer Ballsaison.

Natürlich war nun endlich die Zeit gekommen, um zu enthüllen, dass Castle Glenarvon ihre Mitgift darstellte. Mit der Erlaubnis der Viscountess hatte sie das geheim gehalten; abgesehen von einigen vertrauenswürdigen Personen mit persönlichem Interesse an dem Grundstück, die eingeweiht worden waren: der Vorarbeiter des Anwesens, der Familienanwalt und Sir Harold Bletchley, dem das Nachbaranwesen gehörte. Sie hatte befürchtet, von Mitgiftjägern heimgesucht zu werden, die mehr Interesse an dem Land als an ihr hatten, und große Angst davor gehabt, in einer Ehe wie der ihrer Mutter zu landen. Eine Ehe, in der die mangelnde Liebe ihres Ehemannes die Verbindung in einen Alptraum verwandelt hatte.

Doch jetzt, mit der drohenden Frist und dem Mangel an Verehrern, hatte sie keine andere Wahl, als ihre Mitgift zu enthüllen; und keine andere Wahl, als eine Zweckehe in Betracht zu ziehen.

„Es bleibt immer noch Sir Harold“, warf Lady Ainsley spontan ein. „Er würde einen guten Ehemann abgeben.“

Belle versteifte sich. Sir Harold würde gewiss einen guten Ehemann abgeben; nur nicht für sie. Nicht, wenn sie Unterhaltungen mit ihrem Mann genießen wollte, die sich um etwas anderes als die Jagd und Hunde drehten.

Oh, Sir Harold war kein schlechter Mensch. Doch er war auch nicht der gutherzige Mann, der sie ihrer Vorstellung nach glücklich machen würde; einer, der seine Ehefrau als echte Partnerin ansehen würde, mit der er gemeinsam, gleichberechtigt ein Anwesen verwalten konnte und die seinen Respekt verdient hatte.

Lady Ainsley zählte seine Vorzüge auf, als würde sie einen Eintrag aus Debrett’s Leitfaden über Etikette vorlesen. „Er hat seinen eigenen Grundbesitz, ein beträchtliches Vermögen, das Ansehen des Adels und eine gute Familiengeschichte … Er wäre nach sämtlichen Gesichtspunkten eine vorteilhafte Partie für dich. Du solltest noch einmal über sein Angebot nachdenken.“

Belle wehrte sich dagegen, in Tränen auszubrechen. Lady Ainsley wollte auf ihre Art hilfsbereit sein. Und sie lag nicht falsch. Eine junge Dame mit Belles Stammbaum – oder dem Mangel ebendessen – wäre nie in der Lage gewesen, einen Gentleman zu heiraten, es sei denn, sie brachte ein Anwesen als Mitgift mit. Doch Belle hatte sich nie für Stellung oder ihren Platz in der Gesellschaft interessiert; es sei denn, es ging darum, Lord und Lady Ainsley zufriedenzustellen. Ob die gehobene Gesellschaft sie für den Rest ihres Lebens verachten oder sie mit offenen Armen willkommen heißen würde, war ihr herzlich egal. Sie hatte der Gesellschaft vor sechs Jahren den Rücken gekehrt, als alle ihr den Rücken gekehrt hatten. Das Einzige, was ihr jetzt noch wichtig war, war das Recht, hier zu leben, in dem Zuhause, das sie liebte, umgeben von all den Menschen, die ihr wichtig waren.

Sie hatte nur nicht damit gerechnet, dafür in eine Ehe gezwungen zu werden, die sie nicht wollte.

„Ich glaube nicht, dass er und ich gut zueinanderpassen“, entgegnete sie, bevor Lady Ainsley ihr Schweigen als Einverständnis deuten konnte. „Ich glaube, ich sollte andernorts suchen.“

„Solange du immer noch suchst“, warnte Lady Ainsley mit all der Sorge und Liebe einer wahren Mutter. „Ich befürchte, du bist der Ehe mittlerweile abgeneigt.“

„Ich bin nicht gegen die Ehe“, verteidigte Belle sich. „Sie ist eine völlig akzeptable Institution.“ Doch sie war auch noch nie eine dieser jungen Damen gewesen, die der Ehe erwartungsvoll entgegenblickten und jede wache Stunde damit verbrachten, sich herauszuputzen und zu planen, wie sie den besten Ehemann ergattern konnten; einen von hohem Stand und mit großem Vermögen. „Doch ich wünsche mir eine Ehe, die auf Respekt basiert, auf Freundschaft, gemeinsamen Interessen … Liebe.“ Sie sprach mit sanfter Stimme und war sich sicher, dass die Witwe ihre Bewunderung für die beiden Menschen hören konnte, die ihr ein zweites Elternpaar geworden waren. „Eine Ehe, wie Ihr sie mit Lord Ainsley geführt habt.“

Aus Liebe zu heiraten, war natürlich eine idyllische Vorstellung, die angesichts moderner Konventionen kaum haltbar war. Unter adligen Damen war Zuneigung das Letzte, was bei der Wahl eines Ehepartners in Betracht gezogen wurde. Doch Belle hatte bei ihrer Mutter aus erster Hand erlebt, was einer Ehefrau widerfahren konnte, die an einen Mann gekettet war, der sich nicht für die echte Partnerschaft interessierte, die eine Ehe darstellen sollte.

Belle war nicht wahnsinnig begabt in Mathematik, doch sie konnte definitiv neun Monate abzählen und wusste, dass ihre unerwartete Zeugung ihre Eltern in die Ehe gezwungen hatte. Es hatte keine Liebe zwischen den beiden gegeben, und Marcus Greene hatte geglaubt, seine Ehefrau kontrollieren zu können, sei es mit direkten Befehlen, Beleidigungen oder mit Fäusten. Er hatte nie für ein sicheres Dach über ihren Köpfen gesorgt, oder für ausreichend Geld, um Brot und Stoff zu kaufen – oft hatten sie überhaupt kein Geld gehabt. Er hatte sich lieber die Nächte mit Alkohol um die Ohren geschlagen und die Tage mit wechselnden Arbeiten verbracht, von denen er keine länger als eine Woche hatte halten können. Er hatte seine Frau und sein Kind mit sich herumgeschleift, ohne dass ihnen eine Fluchtmöglichkeit geblieben wäre. Die Trunkenheit war schlimmer geworden, die Schläge härter und häufiger, die Schulden höher … bis er wegen Diebstahls verhaftet worden und ins Gefängnis gesteckt worden war. Seine Haftstrafe war für seine Familie der Weg in die Freiheit gewesen.

Doch während die Situation ihrer Mutter gezeigt hatte, wie leidvoll eine Ehe sein konnte, hatte Belle auch die wahre Partnerschaft von Lord und Lady Ainsley erlebt. Oh, die beiden hatten sich durchaus gestritten; Worte der Wut waren ausgetauscht worden und einmal hatte die Viscountess sich eine Woche lang geweigert, ihr Boudoir zu verlassen, bis Lord Ainsley sich entschuldigt hatte. Doch der Viscount hatte niemals Schimpfworte gegen sie benutzt oder aus Zorn die Hand gegen sie erhoben. Sie hatten einander inniglich geliebt, und diese Liebe hatte den großen Unterschied gemacht.

Es kam allein auf die Liebe an, davon war Belle überzeugt.

Oder auf den Mangel derselben.

Angesichts all der Dinge, die sie erlebt hatte, hätte sich Belle sehr gerne dafür entschieden, eine alte Jungfer zu werden, wenn die andere Wahl war, einen Mann zu heiraten, der sie nicht liebte.

Doch das konnte sie niemals laut aussprechen, aus Angst, der Witwe damit das Herz zu brechen. Und in ihrer aktuellen Situation, in der ihr Zuhause auf Messers Schneide stand, schien sie keine Wahl mehr zu haben.

„Ich wünsche mir auch eine gute Ehe für dich“, stimmte Lady Ainsley zu. „Weshalb ich nach Quinton Carlisle geschickt habe.“

Belle stolperte.

Sie strauchelte, während sie um ihr Gleichgewicht rang, dann drehte sie sich zur Viscountess um, mit offenem Mund und Augen so groß wie Untertassen. Es fiel ihr nicht leicht, nach dem Schock ihre Stimme wiederzufinden, dann brachte sie piepsend heraus: „Warum?

Lady Ainsley blickte geradeaus. „Um dir bei deiner Suche nach einem Ehemann zu helfen, natürlich.“

Belle starrte sie verblüfft an. Dieser Schurke sollte ihr dabei helfen, einen angemessenen Ehemann zu finden? Was wusste er denn darüber, abgesehen davon, wie er es selbst vermied, sich die Ehefessel anlegen zu lassen? Gütiger Himmel. Es war ein Zeichen dafür, wie verzweifelt sie mittlerweile waren, dass Lady Ainsley sich genötigt fühlte, diesen Teufel herzubringen.

Die Viscountess ignorierte Belles tiefe Atemzüge, mit denen sie um Beherrschung rang, und spazierte weiter durch den Garten. „Ich habe eine Nachricht an ihn beigelegt, als ich vergangenen Monat seiner Mutter schrieb, um Elizabeth dazu zu gratulieren, endlich einen ihrer Söhne ohne Skandal verheiratet zu haben. Beziehungsweise“, korrigierte Lady Ainsley sich, „nur mit einem kleinen Skandal. Trent hat immerhin die Nichte eines seiner Pächter geheiratet. Ich bin mir sicher, dass man sich deswegen bis nach Cornwall die Mäuler zerrissen hat.“

Belle hatte diese Nachricht nicht zu Gesicht bekommen, sonst hätte sie sie gewiss verbrannt. Was vermutlich der Grund dafür war, dass die Viscountess ihr bis jetzt nichts erzählt hatte.

Grauen rumorte in ihrem Bauch, ob des Gedankens, ihn wiederzusehen. „Aber warum Quinton?“

„Weil wir seine Hilfe brauchen.“ Der Blick der Witwe wanderte über das Tal in der Ferne hinweg. „Wenn jemand angemessene Kandidaten von den unerwünschten unterscheiden kann, dann mein Großneffe.“

Pah! Die einzige Hilfe, die Quinton beisteuern würde, wären zusätzliche Probleme. So wie immer.

Wenn sie sich in der Vergangenheit begegnet waren, bei den seltenen Anlässen, zu denen Annabelle Lord und Lady Ainsley nach London begleitet hatte, hatte dieser Schuft sie erbarmungslos verspottet. Wie einer dieser Jungen auf dem Schulhof, der Mädchen an den Zöpfen zieht, nur um ihre Wut auf sich zu lenken. Mit den Jahren waren die Qualen nur schlimmer geworden, und er schien sich mehr zu amüsieren, je mehr sie sich ärgerte.

Bis zu ihrer Londoner Ballsaison, während der er schließlich zu weit gegangen war.

„Ihr wisst, was zwischen uns vorgefallen ist, Mylady“, flüsterte sie. Es überraschte sie, wie schmerzhaft diese Erinnerung selbst jetzt noch war. Der Mann, der den letzten Nagel in den Sarg ihres Rufs getrieben hatte, war nun wirklich die letzte Person, die sie in ihrem Leben haben wollte.

„Ja.“ Lady Ainsley presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. „Das ist ein weiterer Grund, aus dem ich ihn hergebeten habe. Es ist seine letzte Gelegenheit, um sich bei dir zu entschuldigen.“

Das würde wohl kaum geschehen. Die Carlisle-Brüder entschuldigten sich nie für das Unheil, das sie anrichteten, und sie bezweifelte, dass sich Quinton in den vergangenen sechs Jahren nennenswert verändert hatte und reumütig geworden war.

Außerdem wollte sie keine Entschuldigung. Erzwungene Buße von Quinton würde nicht ansatzweise die Probleme wiedergutmachen, die seinetwegen über ihr Leben hereingebrochen waren. Dank dieser einen, unglückseligen Nacht im Garten der St. James’ hatte sie keine angemessenen Verehrer. Sie hatte ohnehin schon mit einem Finger am Rand der Gesellschaft gehangen, und jede Soiree, an der sie während dieser Ballsaison teilgenommen hatte, hatte nur den Eindruck vertieft, dass sie anders war als die Damen, die in die Oberschicht hineingeboren waren. Auch wenn der Viscount und die Viscountess sie liebten, konnte sie nicht ändern, wer ihre Eltern waren – die Gesellschaftsdame und der verurteilte Verbrecher.

Schon vor dieser Nacht hatten ihr die Gentlemen wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Doch seitdem war sie geradezu unsichtbar.

Was damals für sie völlig in Ordnung gewesen war. Doch jetzt lief ihr die Zeit davon, und sie würde aus einer Schar von Männern auswählen müssen, die sie nur ihres Erbes wegen wollten. Schlimmer war nur ihre anhaltende Angst um Glenarvon. In eine Ehe ohne Liebe gezwungen zu werden, war traurig genug … aber was sollte sie tun, wenn sie einen Mann wählte, der sich weigerte, sie das Anwesen führen zu lassen? Glenarvon würde in den gemeinsamen Besitz übergehen und ihr Ehemann hätte immer das letzte Wort. Ein guter Ehemann würde ihr erlauben, das Anwesen nach ihrem Gutdünken zu führen, doch es gab keine Garantie dafür, dass der Mann, den sie wählte, am Ende nicht wäre wie ihr Vater – ein Lügner, Spieler, Dieb, Peiniger … sie würde den wahren Charakter erst dann kennen, wenn es schon zu spät wäre.

Lady Ainsley fuhr fort: „Und da das Potenzial besteht, dass Mitgiftjäger aus dem Unterholz gekrochen kommen, sobald sie von deiner Mitgift erfahren, werden wir die starke Präsenz eines Mannes brauchen, um alle im Zaum zu halten.“

„Habt Ihr ihm den wahren Grund für die Einladung verraten?“ An ihr nagte das ungute Gefühl, dass sie Quinton damit überfallen würden. Oder vielmehr war es Lady Ainsley, die sie mit dem empörenden Plan überfiel, diesen Schuft hierherzuholen.

Die Viscountess gab sich verletzt, ob dieses dezenten Vorwurfs. „Er wird nach Amerika gehen, und ich möchte meinen Großneffen vorher noch ein letztes Mal sehen. Ich bin eine alte Frau und lebe vielleicht nicht mehr, wenn er zurückkehrt.“

Belle hob eine Augenbraue. Sie hatte Lady Ainsley kennen und lieben gelernt wie ihre eigene Mutter, und das war eindeutig eine Finte, wenn sie je eine gehört hatte.

Quinn kannte die Wahrheit also nicht.

Doch die Witwe lag nicht falsch: Sie war in die Jahre gekommen, und Belle konnte die Vorstellung nicht ertragen, Lady Ainsley zu verlieren, wie zuvor ihre Mutter und den Viscount. Sie biss sich schuldbewusst auf die Unterlippe. „Wenn Ihr Euch mit Lord Quinton hier wohler fühlt, dann schätze ich …“

„Tue ich.“

Das kam überraschend schnell. Belle musterte sie argwöhnisch. Quinton Carlisle war nicht der Einzige, der im Zuge von Lady Ainsleys Suche nach einem Ehemann für Belle manipuliert wurde. Es gab keinen Ausweg aus der Bedingung für ihr Erbe, und Lady Ainsley tat alles, was in ihrer Macht stand, damit Belle ihr Zuhause nicht verlor. Das konnte Belle ihr gewiss nicht vorwerfen.

Doch die Umsetzung – insbesondere das Einbeziehen von Quinton – würde sich garantiert als desaströs herausstellen.

„Ich bin eine pragmatische Frau, Annabelle“, erklärte Lady Ainsley. „Mit Sentimentalität allein kommt man nicht weit. Ab einem gewissen Punkt muss man pragmatisch werden.“

Das mochte stimmen. Belle hoffte nur, sie könnte einen Weg finden, sich ganz schnell wieder von diesem Punkt zu entfernen.

„Vielleicht war es falsch von Ainsley und mir, dass wir Quinton vor sechs Jahren nicht dazu gezwungen haben, dich zu heiraten“, sagte die Viscountess nachdenklich. „Hätten wir das getan, würdest du jetzt nicht in dieser Situation stecken.“

Nein, dann wäre ihre Situation noch viel schlimmer. Genau deshalb hatte sie Lord Ainsley angefleht, nicht auf einer Hochzeit mit Quinton zu bestehen, um damit nach dem Ball ihren Ruf zu retten. Zu einer Hochzeit gezwungen zu werden, hätte ihrem Ruf nicht geholfen, ihrer beider Leben ruiniert und eine von Animositäten und Reue erfüllte Ehe geschaffen. Sie hatte den Viscount noch nie so wütend erlebt, doch er hatte schließlich nachgegeben und sie schließlich still und leise nach Glenarvon zurückkehren lassen, damit sie London und diese schreckliche Nacht hinter sich lassen konnte.

Was Quinton anging: Sie nahm an, dass der Schuft wusste, wie knapp er der Ehefessel entgangen war, und nie wieder das Land von Glenarvon betreten würde, ob er nun von seiner Großtante hergebeten worden war oder nicht. Für Belle war das tröstlich. Immerhin hatte sie so schon ausreichend Probleme im Leben.

So oder so. Quinton Carlisle war der letzte Mensch, an den sie gerade denken wollte. Nicht während eines so schönen Sonnenuntergangs, an einem der vermutlich letzten warmen Tage des Jahres.

„Wenn Ihr erlaubt, Mylady.“ Belle ließ ihren Arm von dem der Viscountess gleiten. „Ich würde gerne zum Teich hinuntergehen, um vor dem Abendessen noch etwas frische Luft zu schnappen.“

„Nun gut. Dann sehen wir uns beim Abendessen.“ Sie drehte Belle ihre Wange zu, damit sie ihr einen Kuss geben konnte.

Belle kam dem mit einem Lächeln nach.

Lady Ainsley lief in Richtung des Hauses, und Belle seufzte dankbar, während sie in die entgegengesetzte Richtung davoneilte, hin zum Ende des Gartens und dem kleinen Pfad jenseits davon. Der führte in einer Richtung bergauf zu den verfallenen Ruinen einer alten Burg und in der anderen bergab ins Tal und zu dem abgeschiedenen Teich. Sie wandte sich hinunter ins Tal und ihre Füße trugen sie rasch über den vertrauten Pfad, den sie in den vergangenen fünfzehn Jahren mindestens einmal am Tag beschritten hatte.

Zum ersten Mal an diesem Tag verspürte sie Ruhe, und sie summte leise eine Melodie vor sich hin, als sie den Rand des Teiches erreichte und sich auszog. Ihre Sorgen glitten so leicht von ihr ab wie Schichten ihrer Kleidung. Wenigstens für eine kurze Weile konnte sie all ihre Sorgen vergessen und einfach den Sommerabend genießen.

Mit einem kleinen Schaudern trat sie in das kalte Wasser, dann atmete sie tief ein und sprang vorwärts, um wie an den meisten Sommerabenden in die Mitte des Teiches hinauszuschwimmen. Wie immer hatte sie das ganze Tal für sich. Die Männer waren alle oben bei den Stallungen, wo ihre Quartiere lagen, oder zu ihren Familien und Häusern im Dorf zurückgekehrt. Es gab niemanden, der sie durch das dichte Gestrüpp am Ufer hätte sehen oder sich in ihre friedliche Einsamkeit hätte drängen können.

Sie schloss die Augen und ließ sich vom kalten Wasser erfrischen; es kühlte all die Frustrationen herunter, die ihr Leben verschlangen.

Doch das Wasser konnte nicht die Trauer aufhalten, die sie überkam, als sie daran dachte, dass sie Glenarvon verlieren könnte, wenn sie keinen Ehemann fand. Das Anwesen war für sie ein Rückzugsort gewesen, an dem sie frei von den Schrecken ihrer Kindheit war, an dem sie immer ein warmes Bett hatte und Essen ohne die Mehlwürmer, die sie mit ihrer Mutter immer aus dem Mehl hatte sammeln müssen. Was würde sie tun, ohne die Sicherheit dieses Ortes und ohne diese besonderen Momente? Wie sollte sie je wieder glücklich werden, wenn sie von allem, was ihr wichtig war, fortgezwungen wurde?

„Schau mal einer an.“ Eine tiefe Männerstimme drang durch die stille Abendluft. „Wen haben wir denn hier?“

Annabelle drehte sich herum und keuchte überrascht. Sie riss die Arme nach oben, um ihre nackten Brüste zu bedecken, und ließ sich nach unten sinken, bis ihr das kalte Wasser bis zum Kinn reichte und ihr Körper unter der Oberfläche des Sees versteckt war.

Sie starrte den großen Fremden am Ufer an, wo er direkt neben ihren abgelegten Kleidern stand, doch sie konnte sein Gesicht nicht sehen, da die Sonne hinter ihm unterging. Sie schluckte ihre Angst und ihre Demütigung herunter, und Empörung loderte in ihr auf. Sich so an sie heranzuschleichen, während sie allein war, nackt und verletzlich – wie konnte er es wagen!

„Wer sind Sie?“, verlangte sie zu erfahren. Sie versuchte, möglichst streng zu klingen, doch die ganze Situation troff vor Ironie, angesichts ihre schwachen Situation. Himmel, sie konnte nicht einmal weglaufen! „Was wollen Sie?“

Ein teuflisches Grinsen zeigte sich in den Schatten auf seinem Gesicht. „Belle“, rief er mit einem Lachen in der Stimme, „bist du das?“

Ihre Schultern sanken unter die Wasseroberfläche. Möge Gott ihr beistehen. Dieses Grinsen würde sie überall wiedererkennen; dieses attraktive, lässige Grinsen, mit dem er dem König die Krone hätte abschwatzen können …

„Quinton Carlisle“, rief sie knapp und war verärgert, dass er ausgerechnet hier und jetzt hatte eintreffen müssen.

Typisch Quinn. Er tauchte immer im ungünstigsten Augenblick auf. Und zufälligerweise – als hätte er eine Art sechsten Schurkensinn – genau dort, wo gerade eine nackte Frau stand.

Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er einundzwanzig Jahre alt gewesen, frisch aus Oxford gekommen und schon damals auf dem besten Weg gewesen, ein Schuft zu werden. Er und seine beiden älteren Brüder hatten in jener Ballsaison eine Schneise durch Londons berüchtigtste Schauplätze geschlagen, als hätten sie versucht, sich gegenseitig mit ihren trunkenen Ausschweifungen zu übertreffen. Die drei waren das vorherrschende Thema beim Tratsch in den Ruheräumen gewesen, und der Adel war sich nicht sicher, ob die drei in ihre geheiligten Ränge gehörten. Doch während die Damen sie öffentlich geschmäht hatten, hatten sie insgeheim für die drei geschwärmt. Insbesondere für Quinton, dessen charmantem Lächeln zahlreiche Herzen erlegen waren. Und andere Körperteile.

Kein Wunder, dass er ihr in diesem Frühling kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatte, es sei denn, um sie zu quälen. Warum sollte er auch nur einen Gedanken an ein schüchternes Mädchen vom Lande verschwenden, die sich eher in Buchläden als in Ballsälen zu Hause fühlte, wenn die eleganten Damen aus Adelskreisen um seine Aufmerksamkeit buhlten? Sie hätte wissen müssen, dass sie ihm nichts bedeutete, als er sie dazu verführt hatte, ihm ihren ersten Kuss zu schenken. Was für eine dumme Gans sie doch gewesen war!

„Du bist es also.“ Ein amüsiertes Funkeln in seinen blauen Augen verriet, dass er offensichtlich begeistert war, sie in einer so peinlichen Situation erwischt zu haben. Er ließ sich auf seine Fersen sinken und kam damit ihrer Sichtebene näher. „Du steckst bis zum Hals drin, wie ich sehe.“

„Und du bist so lästig wie eh und je“, murmelte sie, zu der gleichen Art von Gezänk angestachelt, in der sie sich schon seit ihrer Kindheit ergingen. Alte Gewohnheiten waren schwer abzulegen.

Er lachte kurz. Eine seiner blonden Strähnen fiel ihm in die Stirn, als er seinen Castorhut absetzte und sich mit den Fingern durch die dicken Locken fuhr, die noch immer so goldblond waren wie in ihrer Erinnerung. Sein schiefes Grinsen wurde noch breiter.

Oh, sie kannte diesen Blick! Und sie kannte die Wirkung gut, die er auf Frauen hatte. Auch jetzt noch, nachdem sie erlebt hatte, welch teuflisches Wesen hinter diesem engelsgleichen Gesicht lauerte, spürte sie dieses charmante Grinsen in ihrem Körper; so intensiv, dass sie die Zehen in den schlammigen Grund des Sees grub.

Er zog seine ledernen Reithandschuhe aus und schlug sie gegen seinen muskulösen Oberschenkel, als wäre es ein herrlicher Witz für ihn, sie in einer so peinlichen – und zunehmend kalten – Situation anzutreffen. „Ich war mir nicht sicher, ob du das bist“, spottete er, „oder ob sich Meerjungfrauen nach Schottland verirrt haben.“

„Wir sind in England“, entgegnete sie. Dieser Mistkerl brachte sie um den Verstand, so wütend machte er sie – und so war es schon immer gewesen, verflucht. „Aber wenn du gerne weiterziehen möchtest, Schottland ist nur fünfzehn Kilometer in die Richtung.“ Sie nickte ruckartig in Richtung der Berge in der Ferne. „Gute Reise!“

Statt sich beleidigt zu zeigen, lachte er mit einem Funkeln in den Augen. Auch das war sehr typisch für Quinn – grenzenlose Energie und eine anziehende Persönlichkeit. „Deine Loyalität der Krone und dem Land gegenüber in allen Ehren, Belle, aber ich glaube nicht, dass sich ‚Rule, Britannia!‘ auch auf Ententeiche erstreckt.“

Oh, möge der Teufel diesen Mann holen! Sie presste die Lippen zusammen und warf ihm mörderische Blicke zu, da sie sich nicht zutraute, ihm zu antworten, ohne etwas zu sagen, das sie bereuen könnte.

Er war genau so lästig, wie sie ihn in Erinnerung hatte, obwohl er sechs Jahre älter war, reifer und definitiv breiter und muskulöser. Sie überkam das mulmige Gefühl, dass Lady Ainsley einen schrecklichen Fehler gemacht hatte, indem sie ihn hierher eingeladen hatte. Wie sollte ausgerechnet er von allen Männern ihr dabei helfen, einen Ehemann zu finden – obwohl sie das gar nicht wollte?

Doch ihre größte Sorge galt im Moment nicht seiner Tante oder der Frage, wie die beiden die Schwierigkeiten bereinigen würden, die der verstorbene Viscount in ihrem Leben hinterlassen hatte – sondern der Frage, wie sie aus dem Teich und zu ihren Kleidern kommen sollte, ohne dass Quinn sie nackt sah. Seiner entspannten Haltung nach zu urteilen, wie er da auf den Fersen seiner Stiefel hockte und den Oberarm leger auf seinem Oberschenkel abgelegt hatte, bezweifelte sie, dass er vorhatte, ein Gentleman zu sein und zu verschwinden.

„Lady Ainsley ist oben im Haus“, erklärte sie ihm, während sie Gänsehaut bekam. Herr im Himmel, das Wasser war kalt! In wenigen Minuten würde sie mit den Zähnen klappern.

„Ich weiß. Mein Bruder Robert ist bei ihr“, erklärte er. „Aber der Stallbursche meinte, du seist hier, und ich dachte, ich sollte Hallo sagen, bevor ich mich im Haus einlebe. Also … Hallo.“ Selbst in dem schwachen Licht des verblassenden Sonnenuntergangs funkelten seine Augen wie die des Teufels. „Das fühlt sich an wie in alten Zeiten.“

Alte Zeiten, die sie sehr gern vergessen würde.

Als ihr Blick sehnsüchtig zu ihren Kleidern zu seinen Füßen zuckte, folgte er ihm. „Bist du wirklich …“ Er keuchte mit vorgespieltem Entsetzen, als er einen Finger in ihrem Kleid einhakte und es vom Boden hochhob. „Du liebe Güte, Belle! Ihr führt hier draußen im Grenzland wahrlich ein wildes Leben, was?“

Trotz des kalten Wassers stieg ihr Hitze ins Gesicht. Natürlich konnte man sich darauf verlassen, dass Quinn auf so ungenierte Weise darauf hinwies, dass sie nackt war.

Sie seufzte verärgert. Und zitterte vor Kälte. Ihre Zähne klapperten und sie betete, dass er nicht sehen konnte, wie sie sich schüttelte; oder irgendetwas anderes, was er nicht sehen sollte. „Wärst du so gut …“

„Ach je, wie leichtsinnig!“ Er schüttelte den Kopf und ließ die Zunge schnalzen. „Ein wildes Tier könnte deine Kleider finden und sie fortschleppen, oder der Wind könnte sie einfach davontragen …“

„Quinton James Carlisle, wage es nicht!“ Doch ihrer Drohung mangelte es an Gewicht, da sie nichts tun konnte, um ihn aufzuhalten. Und verflixt noch eins, das wusste er auch.

Sie entlockte ihm damit also bloß ein noch breiteres Grinsen. Sie konnte in seinem Gesicht lesen, dass er versucht war, genau das zu tun, was sie befürchtete, mit ihren Kleidern davonzulaufen und sie hier nackt zurückzulassen, wie Eva im Paradies. Diese hinterlistige Schlange!

„Immer noch die Belle, die ich kenne.“ Er lachte heiter, als wäre er wirklich froh, sie zu sehen. „Sag mir, ziehst du immer noch Bücher den Menschen vor?“

„Manchen Menschen, ja“, presste sie hervor. Und insbesondere dir.

Als könnte er ihre Gedanken lesen, krümmte er sich unter dröhnendem Lachen. Dieser verfluchte Schuft lachte tatsächlich! Dabei hätte er den Anstand haben sollen, Reue zu zeigen, ob der Dinge, die er ihr vor all diesen Jahren angetan hatte.

Aus Frustration ballte sie unter der Wasseroberfläche die Hände zu Fäusten. „Warum bestehst du immer wieder darauf, mich zu quälen? Wir sind keine Kinder mehr.“

„Nein, sind wir nicht.“ Hitze trübte seinen Blick, während er sie fixierte. Dieser Blick bewies, dass er durch und durch ein Mann war. „Aber dich zu necken, lässt ein Feuer in deinen Augen entflammen, Belle“, sagte er schleppend mit seidiger Stimme. „Und es hat mir schon immer gefallen, dieses Feuer in dir zu sehen.“

Sie erschauderte; dieses Mal nicht der Kälte wegen.

Doch sie durfte seinen lieblichen Worten nicht trauen. Das war gleichgeblieben, auch wenn der Rest von ihm eindeutig anders war … größer, breiter, kräftiger. Und absurd maskulin. Seine eng sitzende Wildlederhose betonte die straffen Muskeln seiner Oberschenkel und seine schmale Taille, während sein eng anliegender Redingote die breiten Schultern hervorhob. Seit ihrer letzten Begegnung hatte er sich zu einem goldblonden Berg von einem Mann verwandelt, ganz wie seine älteren Brüder. Und doch hatte er sich das charismatische Grinsen seiner Jugend bewahrt.

Wäre er jemand anderes, hätte sie ihn als attraktiv bezeichnet. Vielleicht sogar schön. Doch leider kannte sie die Carlisle-Brüder und wusste nur zu gut, was unter ihrem faszinierenden Äußeren steckte. Sebastian war ernst, Robert risikofreudig und Quinton … nun, Quinn bahnte sich mit seinem Charme einen Weg durch die Welt.

Doch sein Charisma wirkte bei ihr nicht mehr. Sie hatte Immunität erlangt. Auf die harte Tour.

Einen Moment lang war sie versucht, ihm zu zeigen, wie viel Feuer tatsächlich in ihr brannte, und einfach aus dem Teich zu spazieren, um sich ihre Kleider zu holen, so nackt, wie Gott sie geschaffen hatte. Sie hätte zu gern seinen verblüfften Blick gesehen! Denn so etwas würde er ihr gewiss nicht zutrauen.

Sie zitterte, ob dieser aufregenden Vorstellung. Trotz der Kälte flatterte eine eigenartige, aufgeregte Sehnsucht tief in ihrem Bauch. Das Mädchen, das er einst gekannt hatte, hätte so etwas gewiss nie in Betracht gezogen, doch die Frau, zu der Annabelle geworden war, würde vielleicht etwas Unerwartetes tun; etwas derart Kühnes, dass er …

Sie nieste.

„Gesundheit“, sagte er, dann tauchte er eine Hand in das Wasser am Ufer. „Brr! Das ist ganz schön kalt, oder nicht?“

Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Sie traute sich nicht, zu sprechen, da sie dieses Mal definitiv etwas Ungehöriges gesagt hätte.

„Du solltest lieber rauskommen, Belle. Du wirst schon ganz blau.“ Seine Augen funkelten, so viel Spaß hatte er daran, mit ihr zu spielen. „Wie eine Blaubeere.“

Die Luft blieb ihr im Halse stecken. Blaubeere. Ihre Augen brannten ob dieser gedankenlosen Wortwahl und sie spürte ein Stechen in der Brust. Dass er nach all den Jahren so gemein war, diese entsetzliche Nacht zur Sprache zu bringen – doch er lächelte sie unverändert an und war sich der Grausamkeit seines unüberlegten Kommentars offensichtlich nicht bewusst. Natürlich dachte Quinton nicht mehr daran. Sein Ruf war ja nach dieser Schlägerei nicht ruiniert gewesen; sein Herz nicht zerschmettert. Aber ihres.

Ihren Körper mochte sie unter der Wasseroberfläche verbergen können, nicht aber die Kränkung, die ihr Gesicht verfinsterte wie Sturmwolken.

Seinem verdutzten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er die plötzliche Veränderung bemerkt, aber nicht begriffen, was seine Worte implizierten. Und sie wagte es nicht, mit dem Kloß in ihrem Hals zu sprechen, da sie befürchtete, sie würde weinen. Und sie würde sich nie gestatten, vor ihm zu weinen, und ihm niemals zeigen, wie sehr er sie verletzt hatte.

„Belle, geht es dir … Oh, Herr im Himmel.“ Sein Grinsen verblasste und ein Ausdruck des Bedauerns trat in seine Augen. „Es tut mir leid. Das ist so lange her, dass ich es völlig vergessen hatte.“

Doch sie hatte nicht vergessen und würde es auch nie tun.

Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf, dann drehte er ihr den Rücken zu und lief ein paar Schritte, um ihr Privatsphäre zu geben. All sein Necken war wie weggewischt. „Komm raus, wann immer du dazu bereit bist.“

***

Quinn hatte ihr den Rücken zugedreht und den Blick auf die länger werdenden Schatten gerichtet, die die untergehende Sonne in der Landschaft verteilte. Er hörte ein leises Platschen, als Belle sich rasch zum Ufer bewegte.

Er lächelte. Annabelle Greene. Aufbrausend, defensiv, ernst … genauso, wie er sie in Erinnerung hatte. In ihrer Kindheit war sie ein Blaustrumpf gewesen und hatte die Nase ständig in irgendwelchen Büchern vergraben. Daher hatte er ihr den Spitznamen Bluebell gegeben, nach der Glockenblume, eine Mischung aus ihrem Namen und dem Begriff Blaustrumpf, nur um sie damit zu ärgern. Der Name hatte sich gehalten.

Wie auch seine Freude daran, sie zu ärgern.

Er hatte sie nicht angelogen – er hatte es schon immer gemocht, das Feuer in ihren Augen zu sehen. Vielleicht lag es daran, dass all die Frauen der gehobenen Gesellschaft, die er kannte, ihre wahren Gefühle verborgen hielten. Nicht so Annabelle, deren hübsches Gesicht noch nie ihre Gefühle hatte verbergen können, und deren strahlendes Lächeln ganze Räume erhellen konnte.

Vielleicht war es sogar noch simpler. Während er zum Mann herangereift war, hatte er begriffen, wie nah sich Wut und Leidenschaft waren. Ein Feuer, das von Sticheleien angefacht wurde, war den Flammen der Lust sehr ähnlich.

„Geht es dir gut?“, rief er über die Schulter. Dann fügte er hinzu, nur um sie zu necken: „Bluebell.“

„E… Es geht mir gut!“

Er hörte ihr Zähneklappern. Stechende Schuldgefühle stiegen in ihm auf, weil er sie zu lange im kalten Wasser festgesetzt hatte. Aber vielleicht hatte sie die Antwort auch zwischen vor Wut zusammengebissenen Zähnen hervorgepresst. Das wäre die Annabelle, die er kannte.

Gütiger Himmel, waren wirklich sechs Jahre vergangen, seit er sie zuletzt gesehen hatte?

Ihre letzte Begegnung war in London gewesen, zu Beginn ihrer ersten Ballsaison. Als eine Spätentwicklerin, die noch nicht ganz zur Frau geworden war, waren ihre Kurven damals noch kaum erblüht. Sie war schon ihre ganze Kindheit lang eine Bohnenstange gewesen und hatte zunächst lange Beine und große Augen bekommen, in einer Mischung aus nussbraun und honiggelb. Ihre schlaksige Gestalt war grazil geworden und ihre Schüchternheit hatte sich zu einer natürlichen Sittsamkeit gewandelt. Bluebell war plötzlich interessant geworden, selbst für den übersättigten jungen Mann, der er damals schon gewesen war.

Dann hatte er sie geküsst.

Er erinnerte sich noch an den süßen Honiggeschmack auf ihren Lippen, an den Duft von wildem Heidekraut auf ihrer Haut, ihre schmiegsamen Kurven … und die völlige Verwirrung, die ihn danach ergriffen hatte. Sie war Bluebell, um Gottes willen. Tanta Agathas Gesellschaftsdame. Unschuldig und unerfahren. Und genau deshalb so überaus faszinierend.

Sechs Jahre waren vergangen, in denen er sie nicht mehr wiedergesehen hatte. Doch den bissigen Bemerkungen nach zu urteilen, die sie gerade gewechselt hatten, war sie noch ganz die Alte. Und eigenartigerweise war er darüber erleichterter, als er zugeben wollte.

Da er es sich nicht verkneifen konnte, bot er ihr heiter an: „Brauchst du Hilfe mit den Strümpfen?“

„Bleib, wo du bist!“

„Aber ich kenne mich sehr gut mit Damenstrümpfen aus“, sagte er schleppend.

„Oh“, murmelte sie leise, „das glaube ich gern.“

Er gluckste. Sie war wirklich die gleiche, alte Annabelle.

Gut zu wissen, dass sich manche Dinge nicht verändert hatten, wo doch gerade alles in seinem Leben drunter und drüber ging. Inklusive seiner unerwarteten Einladung nach Glenarvon, die ihn völlig unvorbereitet erwischt hatte. Tante Agatha hatte in ihrem Brief angedeutet, dass sie finanzielle Angelegenheiten zu klären habe, was nur Gutes verheißen konnte.

„Lady Ainsley sagte, du habest vor, nach Amerika zu reisen“, rief Belle von hinter ihm. „Ist das wahr? Gehst du wirklich fort?“

Er lächelte ob ihres gestelzten Versuches, eine gewöhnliche Unterhaltung zu führen. Oder eher ob ihres nicht so subtilen Versuchs, herauszufinden, wann er abreisen wollte. „Ja.“

Doch zuerst musste er seiner Tante seinen Respekt erweisen und das Geld einsammeln, das sie für ihn vorgesehen hatte. Als Bettler durfte man nicht wählerisch sein, und er konnte für seine Pläne gewiss jeden Penny gebrauchen, den er in die Hände kriegen konnte. Zu behaupten, dass seine Mittel als dritter Sohn limitiert waren, war eine Untertreibung. Oh, er hatte sich erfolgreich als Verwalter des Familienanwesens behauptet, nachdem Sebastian geerbt und seine Hilfe gebraucht hatte. Sogar deutlich erfolgreicher, als irgendjemand angesichts seines wilden Rufs erwartet hätte. Binnen zwei Jahren hatte er die Profite des Anwesens um über fünfzehn Prozent gesteigert.

Doch es war Sebastians Anwesen, nicht seines, und er hatte immer im Schatten des Titels gelebt. Sich seinen eigenen Wert zu beweisen, bedeutete, einen anderen Weg einzuschlagen, auf dem sein Erfolg von seinen eigenen Fähigkeiten abhing, und bei dem seine Verbindung zum Duke of Trent keine Rolle spielte.

„Nach New England oder Virginia?“, hakte sie nach, als wäre dieses Thema so gewöhnlich wie eine Unterhaltung übers Wetter beim Tee; als wäre sie nicht gerade nackt.

„South Carolina.“

„Warum?“

Er grinste, ob ihres Verhörs. „Ich habe es meinem Vater versprochen.“

„Nein“, korrigierte sie. „Ich meine, warum, South Carolina?“

„Ein alter Freund meines Vaters lebt dort.“ Asa Jeffers hatte im ersten Krieg gegen die Amerikaner in seinem Regiment gedient und war nach dem Krieg in den ehemaligen Kolonien geblieben. Er hatte außerhalb von Charleston am Ashley River beträchtlichen Landbesitz erstanden und sich dort niedergelassen, um eine Familie zu gründen. „Er wird alt und hat niemanden, der die Verwaltung seines Landes für ihn weiterführt. Deshalb bietet er es zum Verkauf an.“

„Und du wirst es kaufen?“

„Ja.“ So wie sein Vater es arrangiert hatte. Richard Carlisle hatte gewusst, dass Quinn seinen eigenen Weg würde gehen müssen, und er hatte nicht versucht, ihn umzustimmen, als er seinen Blick gen Amerika gerichtet hatte. Er hatte ihn sogar ermutigt. Quinn konnte sich das Anwesen allein nicht leisten, selbst bei dem großzügigen Preis, den Jeffers anbot, daher hatte sein Vater eingewilligt, ihm das Geld zu leihen. Es hatte nur eine Bedingung gegeben: dass Quinn Jeffers und seiner Frau gestatten würde, ihr restliches Leben auf dem Anwesen zu verbringen, und dass er sich um die beiden kümmern würde.

Und Quinton war fest entschlossen, dieses letzte Versprechen gegenüber seinem verstorbenen Vater zu halten. Das allerletzte Versprechen, tatsächlich. Denn der Brief, in dem Jeffers den Verkaufsbedingungen zugestimmt hatte, war drei Tage vor dem Unfall eingetroffen, der seinen Vater das Leben gekostet hatte. Danach waren Quinns Pläne auf Eis gelegt worden, doch er hatte sich an dieses Versprechen gehalten, um einen Weg aus seiner Trauer zu finden und für seine Mutter stark zu sein, als sie ihn brauchte.

Jeffers hatte großmütiges Verständnis gezeigt, für Quinns Bedürfnis, in England zu bleiben, seiner Familie durch die Trauerphase zu helfen und Sebastian bei der Verwaltung des Anwesens zu helfen, bis ein richtiger Landverwalter eingestellt werden konnte. Doch die Trauer war nun vorüber und ein guter Verwalter war gefunden. Und Quinn wurde in Charleston gebraucht. Er hatte nicht da sein können, um in der Nacht des tödlichen Unfalls an der Seite seines Vaters zu sein, doch er würde sich um Asa Jeffers kümmern.

„Solltest du dann nicht bereits auf einem Schiff gen Westen reisen?“, fragte Belle.

Gute Frage. Ihm lief die Zeit davon. Er musste es vor Neujahr nach Charleston schaffen, denn dann würde Jeffers das Land nicht länger für ihn reservieren können, da er es verkaufen musste, bevor Steuern erhoben wurden. Angesichts der Tatsache, dass er in nur vier Wochen auf einem Schiff nach Amerika sein musste, um diese Frist einzuhalten, kam diese Reise ins Grenzland nicht gerade gelegen. Doch er war nicht zu stolz, um zusätzliches Geld auszuschlagen, das Tante Agatha ihm zugestehen mochte, um seine Zukunftspläne zu finanzieren, die nicht nur sein eigenes Anwesen in Amerika umfassten, sondern auch ein Handelsunternehmen.

„Ich werde noch früh genug aufbrechen“, antwortete er entschlossen.

Natürlich hatte er auch gewusst, dass er bei einem Besuch auf Glenarvon Annabelle wiedersehen würde. Sie hatten sich beim letzten Mal nicht unter den besten Umständen getrennt, doch er hatte angenommen, dass sie einander für einige Tage tolerieren konnten, bis er zur Küste weiterreiste. Dann würde seine Zukunft beginnen. Er konnte es kaum noch erwarten.

„Quinton! Deinetwegen habe ich jetzt Dreck in den Strümpfen!“

Er grinste. Ja. Immer noch die Bluebell, die er kannte.

Es sei denn …

Wie sehr hatte Belle sich in den vergangenen sechs Jahren wirklich verändert?

Die Versuchung, seine Neugier zu befriedigen, war zu stark, um sie zu ignorieren. Und wer könnte es ihm vorwerfen, wenn er einen kurzen Blick riskierte? Immerhin wäre jeder Mann neugierig, bei einer Frau, die er seit ihrem achtzehnten Lebensjahr nicht mehr gesehen hatte, seit einer Nacht, in der sie ihm mit ihren Küssen den Atem geraubt hatte.

„Und schau sich das einer an! Mein Kleid ist voller Gras.“

War sie immer noch das schlaksige Mädchen aus seiner Erinnerung; immer noch nichts als Haut und Knochen, scharfe Kanten und große Füße? Das Schicksal würde ihn gewiss dafür bestrafen, doch er kam nicht umhin …

Er warf einen Blick über die Schulter.

Ihm stockte der Atem, als er sie im verblassenden, goldvioletten Licht des Sonnenuntergangs erblickte, in ihrer kurvigen Nacktheit und triefnass. Sie stand halb zu ihm gedreht, während sie rasch in ihre Sachen schlüpfte. Beim Luzifer. Volle Brüste mit dunkler abgesetzten, rosaroten Nippeln, die vom kalten Wasser ganz hart waren; runde Hüften und lange Beine, die sich von ihren Zehen in die Höhe erstreckten, bis zu … Nun. Sie war offensichtlich mit dem Rest ihres Körpers in ihre Füße hineingewachsen.

Er schluckte schwer. Bluebell war zur Frau geworden.

Möge Gott ihm beistehen, darauf war er nicht vorbereitet gewesen, und auch nicht auf die instinktive Reaktion, mit der sich seine Eingeweide zusammenzogen. Gütiger Himmel, mit dieser Bluebell hatte er nicht rechnen können. Und als sie sich drehte, um sich ihr Unterhemd über den Kopf und dann über ihre Brüste und die Hüfte zu ziehen, verzückte sie ihn unbewusst mit einer anderen Sicht auf ihren herangereiften Körper, und der Anblick nahm ihm den Atem.

Er drehte sich weg, bevor sie seinen Blick bemerken konnte. Die Fäuste an seiner Seite bebten und er atmete langsam und tief durch, um sich zu beruhigen.

Nun, ein paar Dinge hatten sich in den vergangenen sechs Jahren wohl doch geändert; auf überaus unerwartete und interessante Weise.

„Nur einen Moment noch“, rief sie. „Ich komme nicht ganz an …“

Wieder raschelte Stoff hinter ihm. Quinn malte sich aus, wie sie ihren geschmeidigen Köper verdrehte, um in ihrem Rücken das Kleid zu schließen. Ihre Brüste wurden gewiss auf verführerische Weise gegen den Stoff gepresst, während sie den Rücken wölbte. Eines ihrer langen Beine wäre halb entblößt von einem gehobenen Rock, bis zu dem spitzenbesetzen Saum ihres Strumpfes, den er langsam an ihrem Oberschenkel herunterrollen könnte, während er mit den Lippen seinem Weg folgte.

„Fast geschafft!“

Er kniff die Augen zu und versuchte nicht daran zu denken, wie rund und voll ihr Po aussehen musste, während sie sich vorbeugte, um ihre Halbschuhe anzuziehen. Er schnaubte verärgert. Dass ausgerechnet sie von allen Frauen ihm eine solche Reaktion entlocken konnte, bei der jetzt sogar sein Schwanz kribbelte …

„Würdest du dich beeilen?“, trieb er sie ärgerlich an. Denn er war sich nicht sicher, wie lange er noch so herumstehen konnte, ohne zu ihr zu schauen.

„So“, verkündete sie. „Ich bin angezogen.“

Gott sei Dank. Er drehte sich um.

Dann erstarrte er, angesichts der gesamten Macht ihrer Präsenz.

Belle war lieblich und geradezu bezaubernd – und weitaus verführerischer als in seiner Erinnerung –, während sie ihn durch gesenkte Wimpern ansah. In ihrem geblümten Nesselstoffkleid, mit dem feuchten, karamellbraunen Haar, das sie jetzt festgesteckt hatte, sah sie völlig anständig aus; nicht so, als wäre sie gerade nackt beim Schwimmen erwischt worden. Sie reichte ihm kaum bis zur Schulter, traf ihn aber mit der Kraft einer Amazone, mit ihrer stillen Anziehungskraft und ihrer natürlichen Grazie. Ihre Unsicherheit war verschwunden; abgelöst von einer strahlenden Selbstsicherheit, die er erst ein einziges Mal bei ihr erlebt hatte: kurz bevor sie ihre Arme um seinen Hals geschlungen und ihn geküsst hatte.

Sie streckte ihm eine Hand entgegen und er nahm den Duft von Heidekraut in der Luft wahr. Das gleiche wilde und blumige Parfum wie in seiner Erinnerung. Ihre Wangen waren auf delikate Weise gerötet und das Kribbeln in seinem Schwanz wurde zu einem sehnsüchtigen Ziehen, das an seiner Wirbelsäule heraufwanderte.

Sie sagte leise: „Willkommen auf Castle Glenarvon.“ Mit einem Hauch von widerwilliger Höflichkeit und einem Blitzen in den Augen, das ihn an das Glühen von Kohlen erinnerte, kurz bevor sie in Flammen aufgingen, fügte sie hinzu: „Ich hoffe, du genießt deinen Aufenthalt.“