Leseprobe Keep my Heart

Kapitel 1: Kacey

»So viel kriminelle Energie hätte ich dir gar nicht zugetraut.«

Ich verdrehe die Augen. »Dann kennst du mich nach den ganzen Jahren aber immer noch schlecht.«

»Du würdest nie in die Hütte vom Kingsman einbrechen und deinen alten Hockeyschläger klauen.«

Meine Augenbrauen wandern nach oben und ich recke herausfordernd das Kinn vor. »Wetten?«

Will winkt ab und schüttelt heftig den Kopf. »Besser nicht. Ich kenne dieses verrückte Glänzen in deinen Augen. Und darauf folgt meistens irgendetwas, das mir Hausarrest beschert.«

Ich kann nicht anders, als laut loszulachen. »Du bist zwanzig! Wofür soll deine Mum dir bitte Hausarrest geben? Außerdem wäre es nicht wirklich klauen. Das Ding gehört mir ja.«

Er wirft mir einen Blick zu, der so viel heißen soll wie: Du weißt genau, dass es sie nicht interessiert, ob ich fünf, achtzehn oder dreißig bin. Solange ich hier wohne, habe ich nach ihren Regeln zu tanzen – und er weiß mindestens genauso gut, was ich darauf antworten würde. Nämlich, dass er es wie Holly hätte handhaben und ins Wohnheim im College ziehen sollen. Aber er würde Lego, seinen Labrador, nie allein zurücklassen.

Ich ärgere ihn gerne damit, dass er einfach nur die Bequemlichkeit von frisch gewaschener Wäsche, fertigem Frühstück am Morgen und leckerem Abendessen, ohne einen Finger rühren zu müssen, zu sehr genießt. Der Hauptgrund ist aber Lego.

»Ich werde nie Kingsmans Gesicht vergessen, als du mit dem Schläger auf seinen Hund losgegangen bist.«

»Du solltest dankbar dafür sein, dass ich dich vor diesem Untier gerettet habe!«

Will prustet los und auch ich habe die Szene sofort wieder vor Augen. Es war ein schöner, schneereicher Tag. Will und ich waren etwa sieben Jahre alt und auf dem Rückweg von unserem absolut liebsten Ort auf dieser Welt: dem See. Eigentlich handelte es sich dabei eher um eine große Pfütze in einer Senke, die sich im Winter als perfekte Eisfläche entpuppte. Wir haben dort jeden Tag Stunde um Stunde verbracht und zu zweit Eishockey gespielt. Diese Zeit mit Will gehört zu meinen schönsten Erinnerungen. Ausgenommen vielleicht diese eine mit Kingsman.

Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass ich meinen ersten, von meinem eigenen Geburtstagsgeld gekauften Eishockeyschläger über die Schulter gelegt habe. Kingsman war schon immer der mit Abstand gefürchtetste Nachbar von allen. Mit seinen zwei Metern Körpergröße und dem opulenten Körperbau, ist er heute noch angsteinflößend. Auch wenn er inzwischen fast siebzig ist und schlecht hört.

Jedenfalls haben Will und ich immer eine Art Abenteuerspiel daraus gemacht, wenn wir an Kingsmans Haus vorbei mussten. Normalerweise ist sein Hund King, ein sehr einfallsreicher Name, an einer Langlaufleine festgebunden, wodurch man beim Vorbeigehen zwar von lautem Bellen verfolgt wird, aber sonst nichts weiter zu befürchten hat. Nur an diesem Tag war es anders.

Klein-Kacey und Will liefen also an dem Holzzaun vorbei. Ich weiß noch, dass ich King gegenüber durch das Holz Grimassen geschnitten habe. Ich war absolut sicher, dass er an der Leine angebunden war und nicht in meine Nähe konnte. Da lag ich aber daneben.

Der Hund sprang mit einem gigantischen Satz über den Zaun direkt auf Will zu und ich habe in diesem Augenblick einfach nur geistesgegenwärtig den Schläger angehoben und ihn abgewehrt, bevor er aus meinem besten Freund Hackfleisch machen konnte. Natürlich kam genau in dem Moment, in dem ich den Hund erwischte, Kingsman um die Ecke gerannt.

King heulte auf und rannte auf sein Herrchen zu, ohne sich weiter verletzt zu haben. Doch unser Nachbar tat so, als hätte ich seinem Hund zehn blaue Augen, eine gebrochene Schnauze und fünf ausgeschlagene Zähne verpasst. Er schaute zuerst seinen Hund und dann mich entgeistert an, bevor er sich wie eine Furie auf mich stürzte und mir den Schläger abnahm. Als hätte er Angst davor, dass die siebenjährige Kacey gleich ihn als nächstes Opfer für ihre Attacke auserkoren würde.

Meiner Mutter erzählte er, ich hätte King völlig grundlos mit meinem Schläger malträtiert und damit dafür gesorgt, dass er ihn nie wieder mit zu einem Spiel mitnehmen könnte, weil er von der Sache ein Trauma davongezogen hatte.

Unsere Versicherungen, dass King derjenige war, der uns durch den Angriff fast ein Trauma beschert hat, juckte ihn gar nicht. Ich glaube, das sagt schon einiges darüber aus, wie sehr der Mann den Köter verhätschelte. Auf die Nachfrage hin, warum King nicht wie immer angeleint war, gab er jedenfalls keine Antwort.

Zwar hatte Mum Will und mir geglaubt, weil wir dermaßen aufgelöst waren, was wohl der einzige Grund dafür war, warum ich keinen Hausarrest kassiert hatte. Aber den Schläger habe ich seitdem nie wieder gesehen. Es würde mir schon eine gewisse Genugtuung geben, dem Kingsman eine Lektion zu erteilen und das Ding zurückzuholen. Einfach aus Prinzip.

»Ganz ehrlich? Du warst immer krasser drauf als ich«, reißt Wills Stimme mich aus meiner Erinnerung und ich sehe zu ihm auf. »Mir fallen mindestens zehn Situationen ein, in denen du uns den Arsch gerettet hast, während ich mir fast in die Hose gemacht habe.« Er passt mir den Puck zu und ich halte meinen Schläger so, dass die Scheibe kaum von der Kelle abprallt.

»Ich weiß genau, woran du denkst.« Ich passe zu ihm zurück und als unsere Blicke aufeinandertreffen, antworten wir beide gleichzeitig.

»Hollys und meine sechzehnte Geburtstagsparty.«

»Eure Geburtstagsparty.«

Manchmal ist es fast gruselig, wie gleich unsere Gehirne ticken. Und das obwohl wir uns seit zwei Jahren eigentlich fast nur noch auf dem Eis zu sehen bekommen.

Will stößt sich ab und fährt mit dem Puck an der Kelle los. Ich folge ihm und versuche, auf verschiedene Wege ihm die Scheibe wieder abzuluchsen. »Das ist schon fast fünf Jahre her und ich kann immer noch nicht fassen, dass du die Polizei angelogen hast.«

Belehrend hebe ich eine Hand vom Schläger, ohne den Versuch, ihm den Puck abzunehmen, zu unterbrechen. »Ich habe nicht gelogen. Nur die Wahrheit ein bisschen in die richtige Richtung ausgeweitet.«

»Das ist eine sehr freundliche Umschreibung.« Will schmunzelt und schüttelt den Kopf. »Spätestens da haben dann alle kapiert, dass du echt hart drauf bist.«

Ein Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus. »Ihr Jungs seid in ernsten Situationen einfach unbrauchbar. Bei so was muss man lernen, die Ruhe zu bewahren und die nach außen auszustrahlen. Dann noch die richtigen Worte zurechtlegen und man hat schon die halbe Miete.«

»Holly? Die Ruhe bewahren? Wir reden hier von meiner Schwester.« Er vollführt mit dem Zeigefinger eine Kreisbewegung auf Höhe seiner Schläfe, bevor er mir den Puck wieder zupasst. »Hättest du nicht ihren Platz eingenommen, hätte sie wahrscheinlich innerhalb von fünf Minuten alle meine Kindheitsverbrechen aufgezählt plus die aller Nachbarn und Klassenkameraden.«

Allein der Gedanke an Holly in einem Verhör der Polizei bringt mich so sehr zum Lachen, dass ich Wills Zuspiel verpasse und der Puck an mir vorbeischlittert. »Nicht mal fünf Minuten.«

Wills jüngere Zwillingsschwester Holly ist das komplette Gegenteil von ihm. Sie ist total quirlig und aufgedreht, redet ohne Punkt und Komma und treibt damit nicht nur ihn, sondern auch ihre Mitbewohnerin Chloé gerne in den Wahnsinn, wie ich gehört habe. Aber gleichzeitig kann man sie nur lieben und ins Herz schließen. Sie ist so verpeilt, dass es schon wieder knuffig ist.

»Hier, schieß mal ein paar.« Will spielt mir den Puck zu und macht sich zwischen den zwei provisorischen Torpfosten bereit. Wir haben echt Glück, dass es in unserem Wohnort eine kleine Eishalle gibt und Will den Besitzer, Simon, gut kennt, damit wir auch in den wärmeren Monaten trainieren können.

Will spielt als Goalie bei den Penguins an der North, während ich im Sturm der Damenmannschaft stehe. Falsch. Ich stand im Sturm. Vergangenheit. Obwohl das Meisterschaftsspiel inzwischen fast acht Wochen her ist, kann ich immer noch nicht glauben, dass unsere Mannschaft kurz vor dem Aus steht. Im September startet das Herbstsemester und nur vier Wochen später die neue Eishockeysaison. Wenn wir bis dahin keinen Ersatz für Alex gefunden haben … Ich darf den Gedanken nicht einmal zu Ende denken und konzentriere mich wieder auf Will.

Obwohl wir beide auf dasselbe College gehen und immer noch Nachbarn sind, ist es nicht mehr so einfach, uns zum Training in der kleinen Eishalle in unserem Ort zu treffen. Will ist mit dem Eishockeytraining und seinem Wirtschaftsstudium ausgelastet und selbst jetzt, während der Sommerkurse sind unsere Stundenpläne nicht gerade ein Match. Trotzdem versuchen wir, uns so regelmäßig wie möglich auf dem Eis zu treffen, und ich weiß, dass er sich die Zeit extra für mich frei schaufelt.

Am Anfang unseres Studiums hatte ich Sorge, dass wir uns zuerst nur noch wenig und dann fast gar nicht mehr sehen. Außer vielleicht hier mal ein Winken oder ein Hallo auf der Straße. Zum Glück ist es anders gekommen und meine Schwarzmalerei, für die ich ebenso bekannt bin wie für die Kings-Story, hat sich nicht bewahrheitet.

Will und ich sind Freunde, seit ich denken kann. Wir sind zusammen aufgewachsen. Er hat bei uns laufen gelernt und ich bei ihm schwimmen. Das Eishockeyspielen haben wir so ziemlich gleichzeitig für uns entdeckt und ich glaube, dass unsere Freundschaft dadurch nur noch tiefer und inniger wurde. Es gibt keinen Menschen auf diesem Planeten, dem ich mehr vertraue als ihm. Wenn mich irgendjemand fragen würde, wen ich für eine Weltrettungsmission als meinen Partner-in-Crime wählen würde, wäre meine Antwort stets dieselbe: William Turner.

Wir ergänzten uns immer gut. Wenn ich aufbrausend war, war er der Ruhepol. Wenn ich Angst vor Gewittern hatte, war er derjenige, der sich eine Decke geschnappt, über uns gelegt und mir mit einer Taschenlampe Geschichten vorgelesen hat, bis es vorbei war. Wenn er traurig war, war ich diejenige, die keine fünf Minuten später mit Eis, Chips – als wir älter waren wahlweise mit Dosenbier – und der gesamten Fast and Furious Filmsammlung vor seiner Tür stand. Und auch, wenn wir uns jetzt seltener sehen, bin ich froh, dass wir uns nicht auseinandergelebt haben.

»Träumst du?«

Ich schaue auf und muss mehrmals blinzeln, weil die Sonne inzwischen so weit nach unten gewandert ist, dass sie mir durch die staubigen Fenster in den Augen sticht. Wie lang stand ich denn jetzt bitte einfach so da und habe auf den Puck vor mir gestarrt? Rasch schüttle ich die Erinnerungen ab.

»Nein, ich habe nur darüber nachgedacht, dass ich es schon verdammt lange mit dir aushalte. Dafür sollte ich eine Trophäe kriegen. Eine Auszeichnung wie bei Harry Potter für besondere Dienste für das Wohl der Menschheit oder so was.«

Will lacht auf und das Geräusch zaubert mir direkt ebenfalls ein Lächeln aufs Gesicht. Ich liebe es, ihn zum Lachen zu bringen und so gelöst zu sehen. Er trägt oft eine Art Schutzpanzer gegenüber anderen Personen. Zeigt nie sein volles Inneres, nachdem er schon so oft verletzt wurde – und trotzdem gehört Will zu den freundlichsten und hilfsbereitesten Menschen, die ich je kennengelernt habe. Ich kann nicht einmal an beiden Händen abzählen, wie oft ich ihm gesagt habe, dass er aufpassen und sich nicht ausnutzen lassen soll. Aber er winkt immer nur ab und sagt, dass es sich irgendwann auszahlt, anderen zu helfen.

In der Hinsicht sind er und Holly sich extrem ähnlich. Gewissermaßen sind sie schon fast ein bisschen naiv, wenn es darum geht. Sie sehen nur das Gute in den Menschen und merken oft erst zu spät, dass sie nur ausgenutzt wurden und eben nicht jede Person das Beste im Sinn hat.

»Haben wir nicht schon unser neunzehnjähriges Jubiläum verpasst?«

»Warum? Wolltest du eine fette Party für mich schmeißen?« Ich presse die Hand auf die Brust auf Höhe meines Herzens und schiebe die Unterlippe in gespielter Rührseligkeit hervor. Bevor er sich richtig in Position bringen kann, hole ich aus und ziele. Will bemerkt mein Ablenkungsmanöver erst zu spät und hebt seinen Schläger, als ich den Puck schon längst im Tor versenkt habe. »Das ist wohl nicht das Einzige, wofür du zu spät dran bist. Sie sind eindeutig zu langsam, Mr. Turner.«

Durch die ruckartige Bewegung ist Wills Beanie verrutscht, weswegen er sie abnimmt, sein kinnlanges blondes Haar zurechtstreicht und schließlich wieder aufsetzt. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ganz schön fies sein kannst?«

»Du«, gebe ich wie aus der Pistole geschossen zurück. »Mindestens eine Milliarde Mal. Vielleicht solltest du langsam akzeptieren, dass das zu meiner Natur gehört. Damit halte ich nervige Typen von mir fern.«

»Bei mir hat das dann aber eher weniger funktioniert.« Er spielt mir den Puck zurück und ich mache mich für den nächsten Schuss bereit.

»Ich habe beschlossen, dass du okay bist und bleiben darfst. Zumindest vorerst.«

Will verbeugt sich, als hätte er die Hauptrolle in einem Theaterstück besetzt und gerade seine Aufführung beendet. »Es ist mir eine Ehre, weiterhin in deiner Nähe verweilen zu dürfen.«

Ich nutze es sofort aus, dass er seinen Kopf nach unten richtet, und schieße ein weiteres Tor. »Wenn du so weitermachst, kann ich gleich einen dieser Schlittschuh-Pinguine ins Tor stellen. Der hält vermutlich deutlich mehr Schüsse als du. Und das, obwohl die Dinger nur aus Weichschaum sind.«

»Autsch. Der tat weh.« Er presst sich die Hand getroffen an die Brust und verdreht die Augen, sodass ich nur noch das Weiße sehe. »Okay, jetzt richtig. Volle Konzentration.«

Lächelnd schüttle ich den Kopf und fahre ein Stück zurück, damit mehr Abstand zwischen uns ist. Er spielt mir den Puck zu und ich nehme ihn an. Den Kopf nach oben gerichtet, stürme ich auf das provisorische Tor zu. Will kommt mir entgegen und kurz bevor wir aufeinandertreffen, vollführe ich eine 180-Grad-Drehung um ihn herum und schieße den Puck ins Tor.

»Respekt, das war nicht übel.«

»Warum klingst du so überrascht? Ich habe dir schon so viele Tore eingeschenkt, dass ich einen Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde bekommen sollte.«

Will holt den Puck, der noch ein ganzes Stück weiter über das Eis gerutscht ist. »Erzähl das bloß keinem aus meinem Team, sonst setzen die mich als Kapitän ab, bevor ich Wayne Gretzkys Namen dreimal nacheinander sage.«

»Zurecht. Vielleicht musst du mal lernen, zu akzeptieren, dass deine Zeit abgelaufen ist.« Ich versuche, meine Stimme so dunkel und monoton wie möglich klingen zu lassen.

»Und wer schwebt dir als mein Nachfolger vor?«, steigt Will auf meinen Witz ein. Er weiß genau, dass ich das nicht ernst meine. Er ist als Kapitän absolut perfekt. Motiviert, engagiert, voller Feuer für sein Team, aber auch in den richtigen Situationen der Ruhepol, den die Jungs brauchen.

»Hmm.« Gespielt nachdenklich tippe ich mir ans Kinn. »Wie wäre es mit … Connor?« Ich hole wieder mit dem Schläger aus, merke jedoch schon beim Abschlag, dass der Schuss dieses Mal nichts wird.

Will wehrt ihn mit Leichtigkeit ab und passt mir die Scheibe zurück. »Connor? Also ich weiß nicht. Beim letzten Training hat er fast den Coach überfahren. Ich glaube, der ist aktuell nicht mehr so gut auf ihn zu sprechen. Das würde einer Beförderung zum Teamkapitän wohl eher im Weg stehen.«

»Nicht dein Ernst«, stoße ich lauter als beabsichtigt hervor und falle damit komplett aus meiner Rolle. Aber mich will das Bild einfach nicht loslassen, wie der Stürmer auf den Puck zustürzt und dabei fast den Coach von den Schlittschuhen holt.

»Unabsichtlich natürlich. Er war sehr darauf konzentriert, den Puck zu kriegen.«

Mein Blick wandert nach oben zum Fenster. Es dauert nicht mehr lang, bis die Sonne komplett untergegangen ist. »Wir sollten langsam gehen. Ist schon spät.« Als müsste ich meine Worte unterstreichen, deute ich vielsagend mit der Hand nach oben.

Will nickt, wirkt dabei aber fast schon enttäuscht. Ihm scheint es wie mir zu gehen. Wir kommen verglichen zu früher so selten dazu, gemeinsam zu trainieren, dass mir die Zeit immer viel zu schnell vorbeigeht. »Willst du noch auf einen Eistee mit aufs Dach?«

»Da brauchst du nicht zweimal fragen.«

»Es war nur Höflichkeit, dass ich gefragt habe. Mir war klar, dass du ja sagst.«

Ich rolle mit den Augen und versuche dabei, mein Lächeln zu verbergen. »Deine Selbstsicherheit kennt wohl keine Grenzen.«

Wir sammeln unsere Sachen auf und verlassen schweren Herzens das Eis. Wie kann es eigentlich sein, dass die Zeit immer so schnell vorbeigeht, dass es einem fast nur wie ein Wimpernschlag vorkommt, während die Vorlesungen in der Uni gefühlt nie ein Ende nehmen? Will würde darauf jetzt sofort eine Antwort parat haben, die vermutlich mit irgendeiner Theorie zu tun hat, von der ich noch nie gehört habe.

Obwohl er Wirtschaft studiert, interessiert er sich neben Eishockey für viele unterschiedliche Dinge. Von Musik über Physik bis hinzu Geschichte ist alles dabei und ich habe mich nicht nur einmal gefragt, wie es möglich ist, dass ein einziger Mensch ein so großes Allgemeinwissen hat.

Neben ihm finde ich mich selbst manchmal fast schon ein wenig langweilig. Ich liebe Eishockey. Das war’s. Ich schaue Eishockey im Fernsehen, sehe mir Spiele live in der Halle an und studiere gefühlt eher nebenbei Sportmanagement. Ob ich das später mal tatsächlich machen will, sei dahingestellt. Aber es ist ein gutes und zugegeben interessantes Studium, mit dem mir später einige Türen offenstehen. Aber trotzdem spukt da dieser Traum in meinem Kopf herum: professionell Eishockey zu spielen. Ein Traum der, je mehr Zeit seit der letzten Saison vergeht, in immer weitere Ferne rückt.

Ich folge Will in sein Haus, das nur ein paar Meter von der kleinen Eishalle entfernt ist, und werde von seiner Mutter mit einem freundlichen Lächeln empfangen. »Geht ihr noch aufs Dach? Wollt ihr einen Eistee mitnehmen?«

»Das wäre toll, Mum. Danke.«, sagt Will und schenkt ihr ein Lächeln.

Sie ist bereits dabei den Eistee aus dem Kühlschrank zu holen und summt eine Melodie vor sich hin, die ich nicht kenne. Keine fünf Minuten später trage ich eine volle Glaskaraffe in der einen und eine Dose mit weißem Zucker in der anderen Hand die Treppen hoch, während Will die Gläser und ein paar Kekse ergattert hat.

Wir sitzen nicht wirklich auf dem Dach. Theoretisch ist es eher ein überdachter Vorsprung, der an Wills Zimmer angrenzt und den man mit einer Leiter erreicht. Es ist zwar nicht so einfach, dort mitsamt Glaskaraffe hinaufzuklettern, aber dafür werde ich jedes Mal mit einem spektakulären Blick belohnt.

Ich lasse mich auf das Palettensofa sinken, das ich gemeinsam mit Will zusammengebaut habe. Die einst weinroten Polster sind von den vielen Stunden, die wir auf ihnen schon verbracht haben, durchgesessen und die Farbe ist nicht mehr so frisch wie am Anfang. Aber ich liebe diesen Ort fast so sehr wie unsere Eishalle und die kleine Pfütze, die sich im Winter hinter Wills Haus bildet und mit Abstand unsere Lieblingseisbahn ist.

Will schenkt zuerst mir und dann sich selbst Eistee ein. Ohne dass ich etwas sage, süßt er meinen noch einmal extra mit zwei Löffeln Zucker und rührt ein paar Mal um, bevor er mir das Glas reicht. Dankend nehme ich es entgegen und lasse mich tiefer in die Polster sinken. Mit einem wohligen Seufzer trinke ich einen Schluck. Will schüttelt es bei meinem Anblick.

»Bei so viel Zucker steht fast der Löffel im Glas. Mum tut da so immer schon genug rein.«

Ich schüttle den Kopf, sodass meine braunen Locken von links nach rechts fliegen. »Quatsch. So ist er absolut perfekt.« Schon immer habe ich alles geliebt, was süß ist. Je klebriger und schokoladiger, desto mehr bin ich in meinem Element. Ich habe nicht erst einmal gehört, dass ich einen saumäßig guten Stoffwechsel haben muss, bei dem ganzen Süßkram, den ich täglich verdrücke.

Ich antworte darauf immer nur, dass das Leben in manchen Situationen schon bitter genug ist und ich so eben selbst dafür sorge, dass es jeden Tag ein klein wenig süßer wird. Gerade jetzt, wo alles nach Alex’ Kündigung so dunkel und schwarz erscheint, brauche ich das umso mehr.

Kapitel 2: Will

»Alles okay, Kitty?« Wir sitzen wieder auf dem Dach und Kacey wirkt heute noch mehr in Gedanken, als gestern nach unserem gemeinsamen Training.

Sie rollt mit den Augen, aber an ihren zuckenden Mundwinkeln erkenne ich, dass mein alter Spitzname für sie immer noch Wirkung zeigt. »Ich dachte, du hättest endlich damit aufgehört, mich so zu nennen. Wir sind keine zwei mehr.«

»Du weißt, dass du für mich immer Kitty sein wirst.« Den Kosenamen habe ich Kacey schon verpasst, als ich gerade mal mit dem Sprechen angefangen habe. Ich konnte »Kacey« nicht aussprechen und habe sie stattdessen »Kitty« genannt. Der Name steht sinnbildlich für unsere Freundschaft, die jetzt schon so viele Jahre besteht.

Sie nickt langsam. »Da hast du recht.« Das kleine Lächeln auf ihren Lippen verschwindet schnell wieder und sie macht einen geknickten Eindruck. »Um auf deine Frage zurückzukommen: Nein, es ist nichts okay, Will. Ich habe einfach keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Du weißt genau, was es bedeutet, dass Alex aufgehört hat.«

»Jetzt mal nicht gleich den Teufel an die Wand«, gebe ich mit gezielt ruhiger Stimme zurück. »Es klappt eben nicht immer von heute auf morgen einen neuen Coach zu finden. Wir hatten auch zuerst Probleme, weil gefühlt kaum jemand am College Trainer werden will.«

»Oh ja, es ist bestimmt ein wahnsinniges Problem, einen Headcoach und einen Assistenztrainer zu haben«, sagt sie mit bissiger Stimme und verdreht in großer Geste die Augen. Ich weiß, dass sie es mir gegenüber nicht böse meint, aber trotzdem schwingt deutlich der Unmut in ihren Worten mit. Das ist aber verständlich. Obwohl wir im Gegenteil zu den Mädels die Meisterschaft schon wieder knapp verloren haben, werden mehr Gelder an unser Team vergeben – und daran wird sich in absehbarer Zeit höchstwahrscheinlich nichts ändern.

Es ist unfair. Das braucht nicht schön gesprochen zu werden. Ich habe jedes Spiel der Mädels angeschaut, wenn es sich mit meinen eigenen Matches und Trainings vereinbaren ließ – und sie sind wirklich gut. In dem letzten Jahr hat Alex hervorragende Arbeit geleistet. Der Ehrgeiz und das spielerische Können waren schon immer vorhanden und er hat es geschafft, daraus eine Mannschaft aufzubauen, die bei jedem Spiel kämpft und einen wahnsinnigen Zusammenhalt hat. Ich hoffe wirklich für Kacey und die Mädels, dass ihre Leistung irgendwann honoriert wird. Ich habe nie verstanden, wieso da Unterschiede gemacht werden. Rein spielerisch gesehen, haben die Unicorns besser abgeschnitten als wir. Punkt.

»Vor allem sprechen wir inzwischen von über zwei Monaten. Nichts da mit ›von heute auf morgen‹. Wir hätten schon längst einen Ersatz finden müssen«, sagt Kacey, als ich nicht sofort auf ihre Worte reagiere. »Einfach unfassbar, dass ausgerechnet jetzt die Sportvorständin in Mutterschutz gehen musste. Ihre Vertretung hat absolut keine Ahnung von dem, was sie da tun soll. Ich meine, ich bin nur paar Tage, nachdem Alex abgetreten ist, zu ihr gegangen und trotzdem passiert nichts. ›Ich muss mich in diese ganze Thematik erst einmal einarbeiten, bislang habe ich nur das Eistanz-Team betreut und das hier ist für mich komplettes Neuland‹«, äfft Kacey die Stimme der Frau nach. »Und dann sagt sie, dass ich erst mal die Füße stillhalten und das College machen lassen soll. Wie passen die beiden Aussagen bitte zusammen?« Sie nestelt an der Serviette herum und zerreißt sie in immer kleinere Papierfetzen. Dabei liegt ein fieses Grinsen auf ihren Lippen und ich kann mir vorstellen, dass sie sich beim Malträtieren der Papierserviette ein bestimmtes Gesicht darauf vorstellt.

Sanft boxe ich sie gegen die Schulter, damit sie wieder zu mir aufsieht. In ihren Augen lese ich deutlich die Resignation. Dieselbe, die sie seit dem Meisterschaftsabend zur Schau trägt, obwohl der Tag sie hätte glücklich machen und nicht dermaßen enttäuschen sollen.

Allein an ihrem Blick hatte ich erkannt, dass irgendetwas nicht stimmte. Tränen glitzerten in ihren Augen und das muss bei Kacey wirklich etwas heißen, denn obwohl wir uns schon so lange kennen, kann ich an einer Hand abzählen, wie oft ich sie weinen gesehen habe. Sie wirkte total aufgelöst und durcheinander.

Zuerst konnte ich ihren Worten kaum folgen, als sie mir erzählt hatte, dass Alex und Mary das Team verlassen. Doch als mir die Bedeutung dann klar wurde, bin ich fast vom Glauben abgefallen und konnte mich nur mit Mühe zusammenreißen, um mir den Schock nicht anmerken zu lassen.

Kacey war schon fertig genug, weswegen ich versuchen musste, Ruhe zu bewahren, um ihr damit eine Stütze zu sein. Aber in meinem Kopf hatte es sich angefühlt, als würden eine Milliarde kleiner Männchen aufgebracht darin herumrennen und in den verstaubten Schubladen nach einer Lösung für das Problem suchen.

Hätte der Kerl nicht zumindest bis nach der Meisterfeier warten können, um den Mädels von seinem Weggang zu erzählen? Es musste ihnen vorgekommen sein, als würden sie geradewegs gegen eine Betonmauer laufen. Zuerst das pure Glück über die gewonnene Meisterschaft und dann der Schlag ins Gesicht. Ich war nicht einmal dabei und trotzdem kann ich es mir bildlich vorstellen, wie die Stimmung in der Kabine umgeschwungen war bei dieser Eröffnung. So wäre es zumindest mir an ihrer Stelle gegangen.

Eine tonnenschwere Last hat sich auf Kaceys Schultern gelegt und ich kenne sie gut genug, um zu wissen, dass sie es sich allein zur Aufgabe macht, einen Ersatz für Alex zu finden, damit das Team weiterhin besteht. Egal, was der Sportvorstand dazu sagt. Sie hat so hart dafür gekämpft, in einer Frauenmannschaft zu spielen und mit aufzubauen, die auf einem wirklich hohen Niveau spielt, dass sie sich davon definitiv nicht so schnell geschlagen gibt. Auch wenn wir beide wissen, dass das eine echte Herkules-Aufgabe wird und ich aktuell keinen blassen Schimmer habe, wie wir das angehen sollen. Aber trotzdem werde ich für Kacey da sein.

»Ich weiß, dass das Alles gerade ziemlich frustrierend ist. Aber gib dem College ein bisschen Zeit. Die werden schon jemanden finden, da bin ich mir sicher.«

Kacey seufzt. »Sie sollten das am besten einfach mir überlassen. Das, was das College bisher nämlich gemacht hat, bringt gar nichts. Auch wenn ich nicht genau weiß, wo ich überhaupt anfangen sollte.«

»Am besten fängst du am Anfang an. Es war klar, dass es nicht einfach wird. Vor allem jetzt, wo die Zuständige aus dem Vorstand wegfällt. Aber das wird schon, Kitty. Wir können trotzdem ein paar Ideen sammeln, die du der Vertretung im College vorstellen kannst«, versuche ich sie aufzumuntern. Obwohl ich ihr insgeheim zustimme, dass das College bisher nicht allzu viel Energie in die Suche gelegt hat. Den Mini-Artikel auf der Website, in dem über die gewonnene Meisterschaft und in einem Nebensatz darüber berichtet wird, dass Alex als Coach aufhört und ein neuer Trainer gesucht wird, kann man jedenfalls vergessen. Darauf wird sich kaum jemand mit der rettenden Lösung melden.

»Ha ha. Megalustig, Will. Willst du dafür gleich eine kassieren oder erst später?« Drohend hebt sie die Hand, doch das winzigkleine Lächeln auf ihren Lippen straft ihrer Worte Lügen. »Mary hat mir da echt eine riesige Scheiße überlassen. Sie hat sich absolut den richtigen Moment ausgesucht, um abzutreten. Am Ende sind nicht sie und Alex die Bösen, sondern ich, weil ich es nicht hinkriege, einen Ersatz zu finden. Aber ich werde mir schon etwas einfallen lassen.« Sie massiert sich die Schläfe mit Zeige- und Mittelfinger, als hätte sie Kopfschmerzen.

»Das hält ja keiner aus. Hast du dich jetzt genug in Selbstmitleid gebadet?«

»Nope«, gibt sie zurück, lässt sich auf dem Polster tiefer nach unten sinken und streckt ihre Beine aus, sodass sie einmal quer über meinem Schoß liegen.

Es kostet mich einiges an Selbstbeherrschung, um nicht zu lachen und stattdessen einen ernsten Ton anzuschlagen. »Hör mir mal gut zu, Kacey West. Die Zeit des Schwarzmalens ist vorbei, das hast du in den letzten zwei Monaten perfektioniert. Jetzt werden Pläne geschmiedet.« Ich greife nach ihren Beinen und hebe sie von meinem Schoß runter, von wo ich sie auf den Boden fallen lasse. »Na los, aufstehen!«, sage ich in der befehlshaberischsten Stimme, die ich in diesem Augenblick zu Stande bringe.

»Du bist echt ein Sklaventreiber, weißt du das? Lass mir wenigstens ein bisschen Zeit, um über die Scheiße hinwegzukommen.«

»Ich weiß. Wenn es nach dir geht, würdest du jetzt am liebsten noch mal acht Wochen mit Eis und Butterpancakes voller Ahornsirup auf dem Sofa lümmeln und dir eine Folge Gilmore Girls nach der anderen reinziehen. Aber dafür haben wir echt keine Zeit.«

»Dabei klingt das nach einem perfekten Plan. Vielleicht solltest du das ›Aber‹ noch mal überdenken und dafür einfach mitmachen.« Kacey klimpert mehrmals mit den Wimpern und versucht, mich mit ihrem besten Hundeblick rumzukriegen.

»Du weißt genau, dass das keine Wirkung auf mich hat.« Ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, als sie den süßen Blick aufgibt und stattdessen laut und genervt aufstöhnt – was übrigens gar nicht mehr süß ist. »Na los, lass uns einen Schlachtplan entwerfen. Ich weiß, dass du das auch willst. Genug Trübsal geblasen.« Ich strecke die Hand nach ihr aus. Ein paar Sekunden schwebt sie zwischen uns in der Luft, bevor Kacey danach greift und sich von mir auf die Füße ziehen lässt.

»Manchmal bist du echt unausstehlich, Turner.«

»Oh oh, Turner? Heißt das jetzt, dass ich in Schwierigkeiten bin?«

Gespielt nachdenklich tippt sie sich an die Unterlippe und lässt mich ein paar Sekunden zappeln, bevor sie antwortet. »Du bist so ziemlich die einzige Person, die es überlebt, mich von meinem Gilmore Girls-Selbstmitleidsabend abzuhalten. Verscherz dir das nicht.« Ihre Augen blitzen auf und ich erkenne den altbekannten Schalk darin aufblitzen, den ich in den vergangenen Stunden schon angefangen habe, zu vermissen.

»Komm, lass uns bisschen aufs Eis gehen. Wir haben noch ein, zwei Stündchen, bevor die Halle schließt.«

»Na gut. Aber Simon könnte die Zeiten auch einfach verlängern.«

»Besser nicht, sonst tauchst du bald gar nicht mehr zu Hause auf.« Das war nur zur Hälfte ein Scherz. Kacey war früher fast nur zum Schlafen daheim, zum Leidwesen ihrer Mutter, die als Krankenschwester und deshalb im Schichtdienst arbeitet. Ihr Vater ist auf Montage und kommt daher meistens nur an den Wochenenden nach Hause, weswegen Kacey viel Zeit bei uns verbracht hat. Aber das hat sich mit dem Studium geändert, da wir immer an unterschiedlichen Tagen Training hatten und es dadurch nicht mehr so gut zusammengepasst hat.

Ich mag mein Studium und genieße es, am College zu sein, aber oft vermisse ich die Zeit davor. Als wir gemeinsam zur Schule und nach Hause gefahren sind und praktisch jede freie Minute zusammen verbracht haben. Diese Minuten haben sich damals nach mehr Zeit angefühlt, als es jetzt der Fall ist.

Vor unserem Studium hat Mum schon gar nicht mehr gefragt, ob Kacey zum Essen bleibt. Sie deckte den Tisch automatisch für fünf Personen und mein Dad freute sich immer, wenn sie da war. Ich glaube, insgeheim haben meine Eltern immer gehofft, dass irgendwann mehr aus Kacey und mir wird. Vielleicht irgendwann …

»Wie lang willst du eigentlich noch dastehen und den Stein anstarren?«, unterbricht Kacey meine Gedanken.

Stein? Perplex blinzle ich ein paar Mal, bis sich der letzte Gedanke in meinem Kopf verflüchtigt. Ich habe nicht einmal bemerkt, dass wir schon draußen stehen. Verwundert schaue ich auf das Paar Schlittschuhe in meinen Händen. Wow, ich muss echt in meinen Gedanken versunken gewesen sein, wenn ich es nicht einmal mitbekommen habe, dass wir durch das ganze Haus gelaufen sind.

Zum Glück ist der Weg zur Eishalle nicht weit und wir stehen nur wenig später auf dem Eis. Irgendwie ist es zu unserem Ritual geworden, in den verschiedensten Situationen hierherzukommen. Zum Nachdenken, zum Trainieren, zum Pläne schmieden. Wir haben einen großen Teil unserer Kindheit hier verbracht, wenn wir nicht draußen auf der gefrorenen Pfütze fahren konnten. Es wirkt immer wie der absolut perfekte Ort, um alle Probleme zu lösen, die das Leben eben so mit sich bringt und ich hoffe, dass er auch heute seine Magie wirken lässt. Wir brauchen nämlich einen sauguten Plan, um das auf die Kette zu kriegen.

»Also Bestandsaufnahme«, sagt Kacey und feuert den ersten Schuss auf mich ab. »Wir haben fünfzehn Spielerinnen, davon zwei Goalies, sieben Abwehrspielerinnen und sechs Stürmerinnen.«

»Und eine Eishalle direkt an der Uni«, werfe ich ein und verpasse den Puck knapp, wodurch er in unserem provisorischen Tor landet. Ich sammle ihn auf und spiele ihn Kacey zurück, die sich sofort wieder in Schussposition bringt.

»Aber keinen Trainer.« Kaum hat sie ausgesprochen, schießt sie wieder. Und das mit einer solchen Wucht, dass ich mich zügig in Sicherheit bringe, bevor das Ding an Stellen landet, in denen ich lieber keine Hartgummischeibe spüren möchte.

»Falls du vorhast, meine Freunde hier unten zu Spiegeleiern zu verarbeiten, sollte ich vielleicht kurz meine Ausrüstung holen gehen.« Verschmitzt streiche ich mir das Haar aus dem Gesicht, was mit den klobigen Handschuhen gar nicht so einfach ist.

Kacey holt sich selbst den Puck und kommt neben mir zum Stehen. »Sorry, das Thema stresst mich.«

»Das verstehe ich. Aber ich wäre dir trotzdem dankbar, wenn ich nachher noch in einem Stück vom Eis runterkomme. Mir sind meine unversehrten Knochen und … andere wichtigen Körperteile echt heilig.«

»Keine Sorge, Turner. Ich werde schon auf dich aufpassen. Wir wollen ja nicht, dass du dir irgendwelche Wehwehchen zuziehst. Außerdem will ich irgendwann Mal Patentante werden. Als deine beste Freundin ist mir der Job vorbestimmt.«

»Danke, das ist sehr zuvorkommend.« Der nächste Schuss ist zwar hart, aber bei Weitem nicht mehr so gefährlich für meine aktuell noch heilen Knochen. »Ich weiß, das ist jetzt erst mal alles ernüchternd. Aber wir finden eine Lösung. Du musst dir selbst und allen anderen nur einfach ein bisschen mehr Zeit geben.«

»Zeit?« Kacey lacht trocken auf. »Zeit ist genau das, was wir nicht haben. Wir haben schon über zwei Monate verbummelt. Und daran bin ich leider nicht unschuldig. Aber ich musste mit dieser ganzen Scheiße erst mal klarkommen. Das hat mich echt komplett überrollt. Ich hätte nie damit gerechnet, dass Alex aufhört. Es gab nie irgendwelche direkten Anzeichen.«

Die Verzweiflung in ihrer Stimme schmerzt mich. Wenn ich könnte, würde ich alles dafür geben, damit es ihr bessergeht. Aber gleichzeitig weiß ich, dass ich im Moment nicht mehr tun kann, als bei ihr zu sein und mit ihr gemeinsam nach einer Lösung zu suchen. Wobei ich befürchte, dass uns da heute nicht sofort die glorreiche Idee kommt. Auch wenn ich das Kacey gegenüber nicht laut ausspreche. Damit würde wahrscheinlich der letzte Hoffnungsfunke in ihr einfach zerstört werden.

»Was ist mit Ehemaligen?«

Kacey schüttelt den Kopf. »Ich habe schon ein paar angerufen, von denen ich die Kontaktdaten herausgefunden habe. Manche haben es in die Camps geschafft und spielen professionell. Die kann man also vergessen. Und die, mit denen ich gesprochen habe und die es nicht gepackt haben, sind in ihren richtigen Jobs oder haben Familien und dadurch keine Zeit, um nebenbei eine Eishockey-Damenmannschaft zu trainieren. Vielleicht krieg ich paar weitere Kontaktdaten raus, um noch mehr anzurufen.«

»Sind aber wahrscheinlich eher schwierig ausfindig zu machen«, räume ich ein und denke über einen weiteren Vorschlag nach, während ich Kacey den Puck zuspiele. »Und wenn ihr versucht, jemanden von einer anderen Mannschaft abzuwerben?«

»Damit ein anderes Team ohne Trainer dasteht und genauso dumm aus der Wäsche guckt wie wir jetzt?« Sie schüttelt den Kopf. »Das denkt man zwar bei deinem blonden Engelshaar und den braunen Knopfaugen nicht. Aber manchmal kannst du echt fies sein.«

Ich zucke mit den Schultern. »Das ist eine gängige Praxis. Die wenigsten Trainer oder Spieler sind fix an ihre Mannschaften gebunden. Es ist nicht mehr so wie früher, dass sie sich ihrem Heimatklub so verbunden fühlen, dass sie nie auf die Idee kommen würden, zu wechseln. Meistens warten sie nur auf das nächstbeste Angebot, um zu verschwinden.«

Wie so oft zieht Kacey ihre Unterlippe zwischen die Zähne und kaut darauf herum. »Mag sein, aber ich hätte dabei ein echt beschissenes Gefühl.«

»Beschissener als jetzt? Kann ich mir kaum vorstellen.«

Kacey vollführt eine Drehung mit dem Puck, schiebt ihn an mir vorbei und in das Tor. »Keine Ahnung, wahrscheinlich nicht. Ich weiß einfach nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll. Außerdem käme das nächstbeste Angebot bestimmt nicht von uns. Hast du mal unsere Ausrüstung gesehen? Noch zwei weitere Saisons in den Trikots und das Zeug löst sich in der Waschmaschine auf. Ich glaube nicht, dass Alex bei uns ein mega Gehalt kassiert hat. Er hatte sogar einen Nebenjob in einem Computerladen.«

»Ich verstehe, dass du nicht weißt, wie du damit umgehen sollst. Mir würde es genauso gehen. Keiner hat behauptet, dass sich die Situation easy lösen lässt. Aber unmöglich ist es nicht.« Dass das Gehalt tatsächlich ein großes Problem darstellt, sage ich nicht. Sie weiß selbst, dass das einer der schwierigsten Punkte ist.

Kacey zuckt mit den Schultern, als würde sie meine Worte nur an sich abprallen lassen. Dabei sehe ich genau, wie es hinter ihrer Stirn arbeitet. »Du sagst das aber immer so, als wäre es einfach zu lösen.«

»Ich versuche nur, nicht sofort allein das Negative zu sehen, sondern die verschiedenen Möglichkeiten, die trotz allem noch offenstehen.«

»Weißt du, dass dein Optimismus manchmal echt krass nervig ist?« Trotz der harten Worte ist das Lächeln in ihrer Stimme deutlich herauszuhören.

»Fast so nervig wie dein ständiger Pessimismus«, kontere ich und handle mir dafür direkt ein Tor ein. »Sonst steckst du auch nicht immer gleich den Kopf in den Sand. Wenn es jemanden gibt, dem das Wort ›aufgeben‹ ein Fremdbegriff ist, dann dir. Erinnerst du dich, wie lang du dafür gekämpft hast, so professionell Eishockeyspielen zu können? Selbst ich habe irgendwann nicht mehr daran geglaubt, aber du hast es geschafft.«

»Und jetzt ist alles für den Arsch.«

Der Puck prallt von meinem Schläger ab und ich lasse das Holzteil einfach neben mir aufs Eis fallen. Mit einem schnellen Abstoßen stehe ich neben Kacey und platziere meine beiden Hände auf ihren Schultern. Dabei sehe ich ihr eindringlich in die braunen Augen. »Hör damit auf.« Nach jedem Wort schüttle ich sie leicht an den Schultern, um sie auf dem Eis nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen.

»Womit genau? Dir ein Tor nach dem anderen einzuschenken?« Ihr Mundwinkel zuckt und ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen, schüttle dann aber den Kopf.

»Nein, das meine ich ausnahmsweise nicht.« Ich weiß genau, dass sie das nur sagt, um vom eigentlichen Problem abzulenken. Gleichzeitig ist es ihr aber deutlich anzusehen, wie sehr ihr die Sache zu schaffen macht. »Du sollst damit aufhören, dich nur auf die schlimmen Dinge zu fokussieren. Ja, es ist scheiße, dass Alex und Mary gegangen sind. Ja, es wäre super gewesen, wenn direkt ein Ersatz gefunden worden wäre. Aber anstatt dich jetzt dermaßen über die Situation aufzuregen, sollten wir unsere Kraft besser darauf verwenden, einen Ausweg zu finden.«

»Wir? Du meinst eher, ich sollte meine Kraft besser darauf verwenden, einen Ausweg zu finden. Immerhin hat Mary mich als neue Kapitänin bestimmt. Mir wäre es lieber, diese Verantwortung nicht tragen zu müssen. Noch nicht einmal richtig im Amt und es macht mich jetzt schon krank.« Sie seufzt und lässt ihren Kopf nach vorn auf meine Schulter sinken. Mehrmals hebt sie ihn ein paar Zentimeter an, um ihn dann wieder fallen zu lassen.

»Nein, ich meine wir. Ich habe dir schon mal gesagt, dass wir zusammen einen Schlachtplan entwerfen. Wir werden jemand Passendes finden. Und dann gewinnt ihr in der nächsten Saison wieder den Meistertitel, damit der letzte Idiot erkennt, wie gut ihr seid. Die Sponsoren werden euch zu Füßen liegen. Okay?«

»Okay«, murmelt sie, weicht meinem Blick aber aus.

Sanft lege ich Daumen und Zeigefinger auf ihr Kinn und drehe damit ihren Kopf so, dass sie mir direkt in die Augen schauen muss. »Ich will ein richtiges Okay. Kein einfach so dahin Gesagtes. Also noch mal: Wir finden eine Lösung. Okay?«

»Okay«, sagt sie wieder, aber dieses Mal leuchtet etwas in ihrem Blick auf, das ich den ganzen Tag über vermisst habe: Wilde Entschlossenheit.