Leseprobe Inselglück und Dolce Vita

Kapitel 1

Norditalien, Juni 2023

Ein warmer Wind wehte über den See und zupfte an den Haarsträhnen, die sich aus Miras Zopf gelöst hatten und um ihr Gesicht tanzten. Sie bemerkte das Kitzeln der Berührung kaum und presste sich an die Reling, um die vielen Eindrücke in sich aufzunehmen. Je weiter sie sich vom Anleger entfernten, desto mehr hatte sie das Gefühl, ihre Sorgen auf dem Festland zurückzulassen. Die Brise trug sie fort wie den leichten Dieselgeruch, der am Hafen in der Luft gelegen hatte.

Vor Mira erstreckte sich funkelnd blaues Wasser. Das Sonnenlicht wurde in Facetten von den kleinen Wellen zurückgeworfen und überzog den Rumpf der Fähre mit seinem grellen Muster. Dichte Laubwälder bedeckten die Ufer zu beiden Seiten des Lago di Varrone, der sich schimmernd durch die Täler der norditalienischen Alpen schlängelte. Dächer mediterraner Villen und moderner Luxusresidenzen lugten zwischen den Baumwipfeln hervor.

Arbeiten, wo Promis Urlaub machen, dachte sie schmunzelnd und Paulas Stimme hallte dabei in ihren Gedanken nach. Ihre beste Freundin war von der ersten Sekunde an begeistert gewesen, als Mira ihr von der Projektarbeit auf der Isola del Tuono, der kleinen Privatinsel inmitten des Sees, erzählt hatte. Mira selbst hatte länger mit der Entscheidung gehadert, doch schließlich hatte der Wunsch, endlich wieder das zu tun, was sie früher so geliebt hatte, ihre Zweifel überwogen.

Und nun hatte sie es wirklich geschafft. Ihre Knie zitterten leicht, als die Erkenntnis in Miras Bewusstsein sickerte, und sie umschlang das kühle Metall fester. Sie war hier, in der denkbar schönsten Kulisse für ihre Arbeit, und würde wieder Kunst restaurieren dürfen. Trotz aller Unsicherheiten der letzten Wochen fühlte es sich absolut richtig an, auf diesem Boot zu stehen. Es war ihr Neuanfang, weit entfernt von ihrer norddeutschen Heimat, von der sie nun nicht nur knapp tausend Kilometer Land trennten, sondern auch mit jeder Sekunde mehr Wasser, das die Erinnerung an den Kummer verblassen ließ wie Farben in einem Aquarell.

Ein aufgeregtes Kribbeln durchfuhr sie und am liebsten hätte sie vor Glück laut aufgelacht. Sie beobachtete die im Fahrtwind tanzende Flagge am Schiffsmast und ihr Blick glitt über den endlos blauen Himmel, an dem Vögel ihre Kreise im Thermalwind zogen.

Ein Vibrieren in ihrer Hosentasche schreckte sie auf und riss sie aus ihren vorfreudigen Gedanken. Sie stieß gegen ihren Koffer, der neben ihr gestanden hatte und mit einem dumpfen Knall auf dem Deck aufschlug. Mit zitternden Fingern zog sie das Telefon aus der Tasche und prüfte die eingegangene Nachricht. Es war nur ihre Mutter, die ihr ein einzelnes rotes Herz schickte.

Sie steckte das Gerät wieder ein, atmete tief durch und fühlte, wie sich ihr Herzschlag normalisierte.

Es ist eine ganz neue SIM-Karte, beruhigte sie sich. Kaum jemand kennt diese Nummer.

Verstohlen blickte sie sich um, ob jemand ihre panische Reaktion bemerkt hatte. Die wenigen Fahrgäste schienen jedoch mit sich selbst beschäftigt zu sein. Die meisten von ihnen nutzten die Fähre offenbar zu beruflichen Zwecken. Lieferanten mit Styroporkisten, Spediteure mit großen Pappkartons und Geschäftsleute mit Aktenkoffern saßen entlang der Bordwand auf Sitzbänken und verschmähten den malerischen Ausblick, um Mails auf ihren Telefonen zu tippen, Zeitung zu lesen oder duftenden Kaffee aus Pappbechern zu trinken.

Mira atmete den Duft begierig ein und freute sich schon darauf, zum ersten Mal ein echtes italienisches Café in einem der kleinen Dörfer am Seeufer zu besuchen. Sogar der Kaffee am Flughafen in Mailand hatte sein deutsches Gegenstück bereits um Längen geschlagen.

Ihr fiel erst auf, dass sie einen der kaffeetrinkenden Fahrgäste anstarrte, als dieser den Kopf hob und sie bemerkte. Er schien etwa in Miras Alter zu sein, vielleicht Anfang dreißig. Auf seinem sonnengeküssten Gesicht lag ein leichter Bartschatten und sein Haar war gerade lang genug, um seine kantigen Konturen in leichten Wellen zu umrahmen. Seine braunen Augen funkelten amüsiert, als er Mira anlächelte. Er zwinkerte und prostete ihr mit seinem Becher zu.

Sie wandte sich schnell ab und betrachtete mit roten Wangen eine Gruppe von Wasservögeln, an denen das Schiff vorüberfuhr. Nicht, dass ihr Gegenüber auf falsche Gedanken kam und sie womöglich ansprach. Er machte mit seinem offenen Lächeln zwar einen sympathischen Eindruck und hätte ihr unter normalen Umständen gefallen können, doch Mira war nicht zum Flirten nach Italien gekommen.

Ganz im Gegenteil sogar.

Der Mann schien ihren Unwillen entweder zu spüren oder hatte ihr ohne Hintergedanken zugezwinkert, denn als sie unauffällig zu ihm hinübersah, schaute er bereits wieder auf das Display seines Telefons.

Die Fähre steuerte nacheinander kleine Dörfer am Ufer an und an jeder Station stiegen mehr Fahrgäste aus als ein. Dann verließ der Steuermann den bisherigen Kurs entlang des Ufers und hielt auf die Mitte des Sees zu. Dort erhob sich eine steinige Insel aus dem Wasser – Miras Ziel.

Von Weitem wirkte die Isola del Tuono wie ein einzelner, öder Fels, auf dessen plateauförmigem Gipfel nur eine Baumgruppe wuchs. Als das Schiff die Insel jedoch langsam umrundete und Mira die bisher verborgene Rückseite sah, schien sie immer weiter zu wachsen. Die steile Felsklippe fiel zur anderen Seite hin flach ab und gab den Blick auf die vielen spitzen Dachgiebel und Türmchen eines gewaltigen Herrenhauses frei, das oben auf der Klippe zwischen den Bäumen thronte. Darunter erstreckten sich terrassenförmige Gärten und üppige Parkanlagen, die bis zum flachen Ufer verliefen. Das Boot hielt auf einen Anleger zu und als sie näher kamen, verbarg sich die Größe der Insel erneut hinter akkuraten Hecken und alten Bäumen vor neugierigen Blicken.

Wie aus einer Trance gerissen blickte Mira sich um.

Die einzigen verbliebenen Fahrgäste zur Insel waren sie und der Mann mit dem Kaffee, der inzwischen damit beschäftigt war, einen Rucksack zu schultern und dann eine Softshelljacke in einer Sporttasche zu verstauen. Sein Gepäck war im Vergleich zu ihrem wesentlich leichter.

Wahrscheinlich arbeitet er hier und wohnt auf dem Festland, dachte sie und beäugte skeptisch ihren eigenen Koffer, der ihr Gepäck für die nächsten drei Monate enthielt.

Das Schiff legte an der Kaimauer an und Mira stolperte bei der Erschütterung über den Koffer, der noch immer zu ihren Füßen lag.

»Guarda di non farti male!«, ertönte eine Stimme neben ihr.

Der Mann hatte sich ihr zugewandt und die Arme ausgestreckt, als hätte er sie aufgefangen, wenn sie ihr Gleichgewicht nicht von selbst wiedergefunden hätte.

Er schien ihren verständnislosen Blick richtig zu deuten. »Aufpassen«, warnte er sie auf Englisch und ein spöttisches Lächeln lag auf seinen Lippen, passend zu seinem Tonfall. »Moment mal, du hast da etwas.«

In einer fließenden Bewegung zog er eine kleine rosafarbene Blüte aus ihrem Pony und hielt sie Mira hin.

»Oleander. Die wachsen überall auf der Insel«, erklärte er in milderem Ton. »Muss der Wind mitgetragen haben.«

»Danke«, murmelte sie ebenfalls auf Englisch und nahm die Blüte entgegen. Sie spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg und vermied den Blickkontakt zu ihm. Eilig bückte sie sich nach ihrem Koffer und bemühte sich, ihn in Richtung der Zugangsbrücke zu ziehen, die ein Matrose nach dem Vertäuen des Schiffs ausgeklappt hatte. Sie betete, dass die Rollen des Koffers nicht hängen blieben, und wollte möglichst schnell an Land kommen, um Abstand zwischen sich und den Fremden zu bringen.

Dieser verließ hinter ihr das Boot, grüßte den Matrosen und einen am Anleger stehenden Mann mit einem Handschlag und überquerte zielstrebig die gepflasterte Anlegestelle.

Außer der Fähre waren dort nur drei Boote vertäut und dümpelten im seichten Wasser: ein kleines Ruderboot und zwei eindrucksvolle Jachten. Während eine der beiden Jachten dem hiesigen Standard zu entsprechen schien, da Mira auf dem See und an den Häfen am Ufer bereits einige ähnliche Modelle gesehen hatte, war die größere der beiden der Inbegriff einer Luxusjacht. Mira betrachtete die imposanten Decks und versuchte, sich die Art von Party vorzustellen, die darauf vermutlich gefeiert wurde.

Direkt neben ihr räusperte sich jemand.

Erschrocken fuhr sie zusammen und drehte sich zu dem Herrn um, der bei ihrer Ankunft bereits am Anleger gestanden hatte und auf sie zu warten schien.

Kapitel 2

»Signorina Winter?«, fragte der Wartende, scheinbar belustigt über ihr Staunen.

Mira lächelte den Herrn entschuldigend an. »Mi scusi“, antwortete sie und wechselte ins Englische, das sie die nächsten Monate über begleiten würde. „Ich war in Gedanken. Sind Sie Signor Marino?«

»Der bin ich«, bestätigte jener und hielt Mira eine Hand hin, die sie erleichtert schüttelte. »Willkommen in unserem kleinen Paradies!«

»Danke«, antwortete Mira und betrachtete Signor Marino genauer. Mit ihm hatte sie per Mail und telefonisch ihren Aufenthalt geplant und die Abläufe besprochen, er war dabei jedoch stets so förmlich aufgetreten, dass ihr vor dem ersten Treffen etwas mulmig zumute gewesen war. Sie hatte sich den Maggiordomo, das oberste Mitglied des Haushaltspersonals der Familie di Varrone, als steifen Butler vorgestellt. Stattdessen wirkte der freundliche Herr mit dem Schnauzbart und dem sonnengebräunten Gesicht jedoch eher wie ein wohlwollender Großvater.

»Hatten Sie eine gute Reise hierher?«, erkundigte sich Signor Marino.

Er nahm den Griff von Miras Koffer und setzte sich damit langsam in Bewegung. Mira protestierte, doch er winkte lächelnd ab und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Die Rollen klackerten leise auf dem kunstvoll gelegten Pflaster.

»Danke. Das hatte ich«, bestätigte Mira und nickte energisch. Sie erzählte kurz von ihrem Flug von Hamburg nach Mailand, der Bahnfahrt bis zum See und der anschließenden Überfahrt. Dabei ließen sie den Anleger hinter sich und folgten einem breiten, kurvigen Weg, der zwischen gepflegten Hecken und Zypressen hangaufwärts führte.

Aus Steintöpfen entlang des von akkurat getrimmten Ziersträuchern und Statuen gesäumten Weges verströmten üppige Blütenpflanzen einen himmlischen Duft. Sie stiegen eine Freitreppe empor und vor ihnen tat sich eine gewaltige Rasenfläche auf, in deren Mitte ein mehrstöckiger Springbrunnen sprudelte.

Das wahrhaft Atemberaubende an diesem Anblick war jedoch das herrschaftliche Anwesen, das am anderen Ende des Gartens lag und an das Schloss Versailles erinnerte. Je näher sie dem Gebäude kamen, desto größer schien es zu werden.

Die Sonne wurde von den unzähligen Fenstern und gläsernen Kuppeln reflektiert. Ein Flügel des Hauses schien gänzlich aus Glas zu bestehen.

»Die Wintergärten und Gewächshäuser befinden sich an der Nordseite des Hauses«, erklärte Signor Marino, der einige Schritte vor Mira stand und ihrem Blick gefolgt war.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie mit offenem Mund stehen geblieben war.

»Es ist der Lieblingsplatz der Hausherrin, die dort einige Modernisierungen vorgenommen hat«, fuhr er fort und überspielte damit gekonnt Miras Verlegenheit.

Sie setzten sich erneut in Bewegung.

»Das Haus ist seit seiner Erbauung im 18. Jahrhundert im Besitz der Familie di Varrone und wurde von Signor Alessandro und Signora Chloe vollständig saniert.«

Mira musste sich räuspern, um ihre Stimme wiederzufinden. »Es ist wunderschön.«

Sie bogen vom Hauptweg ab und folgten einem kleineren Pfad in Richtung einer mit Kletterrosen bewachsenen Mauer. Hinter einem Torbogen zwischen den alten Steinen erwartete sie ein völlig anderes und doch ebenso schönes Bild. Der Garten hier war weniger pompös und glamourös. Er erinnerte an einen englischen Bauerngarten, doch die Fülle farbenprächtiger Blüten, Gräser und Büsche raubte Mira den Atem. Der Pfad führte sie ein wenig hangabwärts an Gemüsegärten und Gewächshäusern vorbei, über einen kleinen Wasserlauf und zu einem mit Rosen und Wein bewachsenen Haus aus terrakottafarbenen Ziegelsteinen. Es war zwar nicht vergleichbar mit dem Herrenhaus, aber trotz seines behaglichen Landhaus-Charmes immer noch ein stattliches Gebäude.

»Das Haus der Bediensteten«, erklärte Signor Marino. »Es wird für die nächsten drei Monate Ihr Zuhause sein. Ich hoffe, es gefällt Ihnen?«

Mira konnte nur ungläubig nicken. Unter einem Dienstbotenhaus hatte sie sich eher eine Jugendherberge vorgestellt. Hier hingegen erwartete sie, jeden Moment könne Elizabeth Bennet aus Stolz und Vorurteil aus dem Fenster winken.

»Dann werde ich Ihnen nun Ihr Zimmer zeigen. Ich würde Sie auch den anderen Angestellten vorstellen, aber leider haben wir das Mittagessen verpasst und es wird kaum jemand im Haus sein.«

Er führte sie zur Haustür, an der ein Kranz aus Gräsern und Lavendel hing, der beim Öffnen hin- und herschwang. Im Inneren des Hauses war es angenehm kühl und roch nach frischer Wäsche. Von der Diele aus konnte Mira durch eine offene Tür in die geräumige Küche sehen, in der ein massiver Holztisch Platz für mindestens zehn Personen bot. Bodentiefe Sprossenfenster sorgten dafür, dass man sich sogar im Inneren des Gebäudes so fühlte, als würde man mitten im Garten stehen. Signor Marino ging an der Küchentür vorüber zu einer breiten Holztreppe. »Ihr Zimmer liegt im ersten Stock«, erklärte er beim Aufstieg. »Sie teilen es sich mit Signorina Boselli, wie ich Ihnen bereits bei unserem letzten Telefonat mitgeteilt habe. Signorina Boselli ist vermutlich gerade bei der Arbeit, aber beim Abendessen werden Sie sich gewiss kennenlernen.«

»Ich freue mich schon«, erwiderte Mira. Immerhin war ihre Zunge wieder in der Lage, Worte zu bilden. »Findet das Abendessen hier in der Küche statt?«

»Nur bei schlechtem Wetter oder niedrigen Temperaturen. Ansonsten sitzen wir gemeinsam hinter dem Haus. Wenn Sie heute um achtzehn Uhr nach draußen kommen, können Sie es nicht verfehlen.«

Er blieb vor einer hellen Holztür im Landhausstil stehen und stellte Miras Koffer ab. Dann griff er in die Tasche seines Jacketts und reichte Mira einen silbernen Schlüssel. »Hier befindet sich Ihr Zimmer. Falls es Ihnen an irgendetwas fehlen sollte, können Sie sich jederzeit bei mir melden oder an einen der Angestellten wenden.« Er griff erneut in seine Tasche und zog eine elegante Visitenkarte hervor, auf der seine Mobilnummer eingraviert war.

Mira steckte die Karte ein und dankte ihm. »Wann erhalte ich meine Einweisung?«

»Die Signora erwartet sie morgen früh um neun Uhr. Den heutigen Nachmittag haben Sie also zur freien Verfügung, können ankommen, auspacken und sich von der Reise erholen.«

»Danke, das werde ich. Dann sehen wir uns um achtzehn Uhr?«

Signor Marino nickte. »Bis später, Signorina Winter.«

Mira steckte den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür und war zum wiederholten Mal an diesem Tag sprachlos.