Leseprobe Im Herzen ein Earl

1. Kapitel

Hampshire, England

November 1817

Sie sah aus wie eine ertrinkende Madonna. Harry Morant konnte nicht anders, er musste sie einfach anstarren. Sie hielt das Gesicht dem Himmel zugewandt wie eine Blume, die den Regen begrüßt. Dunkles Haar klebte nass an ihren Wangen und fiel in dicken feuchten Strähnen über das Ölzeug, in das sie eingehüllt war. Ihr makelloser, zarter Teint schimmerte wie Perlen im feuchten, trüben Dunkel des Waldes, blass, beinahe übernatürlich.

Harry zügelte Sabre und ritt näher an das Fuhrwerk heran, das sich schwerfällig durch den New Forest kämpfte. Er hielt das Pferd am äußersten Wegesrand, um den von Kutschen und Karren aufgewühlten Morast zu vermeiden.

Sein Begleiter Ethan Delaney warf ihm einen überraschten Blick zu und ritt ebenfalls langsamer. Harry bemerkte es nicht. Er hatte nur Augen für die Frau.

Ihr Gesicht war fein geschnitten und schmal mit hohen Wangenknochen. Die Nase war etwas länger, als es dem Schönheitsideal entsprach, aber der Mund wirkte sinnlich, weich und verletzlich. Harry starrte auf diesen Mund und schluckte.

Sie saß hinten auf dem Karren. Hockte zwischen Fässern und Kisten wie ein in letzter Minute dazwischen gequetschtes Gepäckstück. Ihre Füße baumelten über der Straße, ihre Schuhe und der Saum ihrer Röcke waren voller Schlammspritzer. Neben ihr stand eine kleine Reisetasche.

Harry nahm eine leichte Bewegung wahr; halb versteckt durch die Plane des Fuhrwerks und dicht an die Frau geschmiegt lag ein schmutziger Spaniel. Er beobachtete Harry wachsam, gab aber keinen Laut von sich.

Die Frau schenkte der Straße kaum Beachtung, während die vier großen Zugpferde verbissen durch den Morast stampften und sich mit dem Karren abmühten. Unbewusst passte sie sich den schwankenden Bewegungen des Gefährts an. Den endlosen Schwall von Flüchen, die der Kutscher von sich gab, schien sie gar nicht zu hören, zuckte nur ab und zu zusammen, wenn die Peitsche wieder mal allzu laut knallte.

Sie wandte den Blick nicht vom Himmel. Nicht ein einziges Mal.

Ein Milchmädchen vielleicht oder eine junge Bedienstete auf dem Weg zu ihrer neuen Anstellung. Vielleicht auch die Tochter des Kutschers. Nein, den Gedanken verwarf er gleich wieder. Dafür wirkte sie zu vernachlässigt. Es sei denn, der Kutscher war ein Grobian.

Sie sah erschöpft aus. Unter den Augen, die in dem blassen Gesicht übergroß wirkten, hatte sie tiefe Ränder. Mit den bloßen Händen zog sie die Ölhaut fest um sich, um sich wenigstens etwas vor dem Regen zu schützen. Sie trug keinen Ring.

Harry verlangsamte Sabres Tempo, bis er seine Geschwindigkeit der des Fuhrwerks angepasst hatte. Ethan seufzte resigniert auf und trieb sein Pferd an.

Sabre tänzelte anmutig durch den aufgewühlten Matsch, so nah neben dem Karren, dass Harry das Mädchen hätte berühren können. Nein, kein Mädchen, erkannte er, eine Frau. Vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt.

Als sie den Kopf senkte und ihre Blicke sich trafen, befanden ihre Gesichter sich beinahe auf gleicher Höhe.

Harry konnte sich nicht von ihrem Anblick losreißen. Ihre Augen hatten die Farbe von dunklem Bernstein und waren dabei so ruhig und klar wie ein tiefer Waldsee. Ihr zartes Gesicht schimmerte vor Nässe. Die blassen weichen Lippen waren leicht geöffnet. Er war ihr jetzt so nahe, dass er die einzelnen Regentropfen an ihren langen dunklen Wimpern erkennen konnte. Was sie wohl tun würde, wenn er die Hand ausstreckte und einen dieser Tropfen mit dem Finger auffing? Doch noch während er das dachte, blinzelte sie und die Gelegenheit war verstrichen.

Auch gut. Es war ohnehin ein verrückter Einfall gewesen.

Durch die Nässe wirkte ihr Haar ganz dunkel. Er fragte sich, welche Farbe es wohl im Sonnenschein haben mochte. Feuchte Strähnen umrahmten das schmale Gesicht; sie klebten an ihrer Stirn, den Schläfen und den Wangen.

Harry verspürte das unwiderstehliche Bedürfnis, eine Strähne zurückzustreichen, die ihr beinahe in die Augen hing und sich in ihren Wimpern zu verfangen drohte. Ob die Strähne sich um seine Finger wickeln würde, wenn er das tat? Wie ein lebendes Wesen?

Gott, die junge Frau war wirklich vollkommen durchnässt. Sie hatte den Blick nicht abgewandt und Harry wurde es plötzlich heiß. Um seine Verwirrung zu kaschieren, hob er den Hut wie zum Gruß. Statt ihn wieder aufzusetzen, ertappte er sich jedoch dabei, wie er den Arm ausstreckte und ihr seinen Hut sanft auf die nassen Locken drückte.

Er saß so tief, dass er den Großteil ihres Gesichts verdeckte. Sie sagte kein Wort, legte nur den Kopf in den Nacken und sah Harry unter der Krempe hervor nachdenklich an.

„Sie sollten unter die Plane schlüpfen.“ Er nickte zu dem schweren Sackleinen, das über die Ladung des Fuhrwerks gespannt war. Zwischen den Kisten würde es eng und dunkel sein, und sie würde auch nicht nach draußen sehen können, aber das war mit Sicherheit besser, als im strömenden Regen zu sitzen.

Sie folgte seinem Blick und schüttelte leicht den Kopf. Harry konnte ihre Augen nicht mehr richtig sehen, aber ihre Lippen bewegten sich und er betrachtete sie wie gebannt. Wieder wurde ihm heiß.

Sabre tänzelte unruhig unter dem ungewohnt festen Schenkeldruck seines Reiters, und einen Moment lang war Harry damit beschäftigt, sein Pferd wieder unter Kontrolle zu bringen – und dankbar für die Ablenkung. Er nutzte die Gelegenheit, auch seine eigene Fassung wiederzugewinnen.

Er hätte eigentlich weiterreiten sollen. Bestimmt wartete Ethan weiter vorn schon ungeduldig auf ihn, außerdem wurde Harry zum Abendessen in Bath erwartet. Davon abgesehen war diese Frau ein Milchmädchen oder eine Bedienstete. Das konnte zu nichts führen und zudem traf Tante Maude bereits Vorkehrungen.

Aber irgendwie … Er verschlang sie förmlich mit den Blicken.

So hatte er sich schon seit … Jahren nicht mehr gefühlt.

Der Wald lichtete sich. Harry sah nach vorn. Sie näherten sich einer Weggabelung. Die eine Abzweigung führte nach Shaftesbury und weiter nach Bath, die andere, schmalere bog nach rechts ab. Er würde es dem Schicksal überlassen, ob er die Bekanntschaft mit dieser Frau vertiefen sollte oder nicht.

Schweigend ritt er neben dem Gefährt her, bis sie die Gabelung erreichten. Das Fuhrwerk bog nach rechts ab.

Dann soll es wohl so sein, dachte Harry. Das Schicksal hatte gesprochen.

Er wollte schon weiterreiten, aber sein Blick fiel auf die kleinen, vor Kälte geröteten Hände, mit denen sie sich am Karren festhielt. Ohne nachzudenken, zog er seine Lederhandschuhe aus und warf sie ihr in den Schoß.

Sie fing sie auf und sah ihn fragend an.

„Ziehen Sie sie an“, murmelte er. „Ihre Hände sehen eiskalt aus.“

Einen Moment lang bewegte sie sich nicht, dann zog sie erst den einen, dann den anderen Handschuh an. Es ging ganz leicht, weil sie ihr viel zu groß waren. Und dann schob sie den Hut etwas nach hinten und schenkte Harry ein Lächeln.

Harry starrte sie an, nickte ihr ruckartig zu und trieb sein Pferd Richtung Westen.

Erst viel später fiel ihm auf, dass er gar nicht gehört hatte, wie sie ‚Danke‘ gesagt hatte. Er erinnerte sich nur noch daran, dass ihre Lippen das Wort geformt hatten. Er hatte nur töricht genickt und war an dem sperrigen Fuhrwerk vorbeigeritten, ohne sich dessen bewusst zu sein. Er konnte nichts anderes um sich herum wahrnehmen als dieses Lächeln.

„Na, das war ja mal etwas ganz Neues“, spottete Ethan, als Harry zu ihm aufschloss. „Jetzt werden wohl Hüte verschenkt, wie? War das nicht sogar dein Lieblingshut?“ Sein Blick fiel auf Harrys bloße Hände. „Und … nein, sag bloß nicht, auch noch deine polnischen pelzgefütterten Handschuhe! Um diese Handschuhe habe ich dich jahrelang beneidet!“

Harry zuckte mit den Schultern. „Sie hat so gefroren und war völlig durchnässt.“ Er konnte sich selbst nicht so recht erklären, was in ihn gefahren war.

Ethan schnaubte. „Ich friere auch und bin durchnässt, verdammt. Und zwar durch und durch, wegen des Schneckentempos, in dem du plötzlich neben diesem Fuhrwerk hergeritten bist. Ich habe übrigens schon oft erbärmlich gefroren, seit ich dich kenne, und ich bin dein Freund! Wenn du diese Handschuhe unbedingt loswerden wolltest, hättest du sie auch mir schenken können!“

Harry schwieg. Ethan machte die absurde Situation ohnehin schon viel zu viel Spaß, da brauchte er nicht auch noch Öl ins Feuer zu gießen, indem er versuchte, ihm das Unerklärliche zu erklären.

Doch Ethan ließ nicht locker. Sein wissendes Lächeln war wirklich ärgerlich. „Harry Morant, wir sind jahrelang kreuz und quer über die Iberische Halbinsel gereist, bei Eis und Schnee, im Kampfgetümmel und bei sengender Hitze, doch noch nie hast du ein gutes Paar Handschuhe oder gar deinen Lieblingshut verschenkt.“

„Das war etwas anderes. Damals brauchte ich sie.“

Ethan warf ihm einen ungläubigen Blick zu. „Und jetzt brauchst du sie etwa nicht? Mann, es gießt in Strömen, falls du das noch nicht bemerkt hast!“

Harry hatte es bemerkt. Er schlug seinen Kragen hoch und ritt weiter.

„Also“, fragte Ethan nach einer Weile, „wie heißt sie?“

Harry zuckte erneut mit den Schultern.

„Wollte sie es dir nicht sagen?“

Harry schüttelte den Kopf. „Ich habe sie gar nicht gefragt.“

„Und wo wohnt sie?“

„Das hat sie mir auch nicht gesagt.“

„Was hat sie denn gesagt?“

„Nichts.“

„Nichts?“

„Nichts.“

„Gott stehe mir bei. Und was hast du gesagt – nein, erzähl es mir nicht, wahrscheinlich auch nichts.“

„Nicht jeder ist so geschwätzig wie du, Delaney.“

„Nein, Harry, aber selbst ein maulfauler Baumstumpf muss irgendetwas von sich geben, wenn er eine Frau finden will.“

„Meine Tante ist gerade dabei, eine Frau für mich zu finden“, gab Harry steif zurück. Er selbst suchte gar keine Frau. Das Mädchen auf dem Fuhrwerk hatte mitleiderregend ausgesehen, das war alles. Und er … er hatte ihr nur seinen Hut gegeben.

„Deine Tante“, sagte Ethan verächtlich. „Was für ein Mann überlässt es seiner Tante, eine Braut für ihn zu finden?“

„Ein vorsichtiger Mann.“

Ethan fluchte. „Ausgerechnet du mit deinem hübschen Gesicht – Mann, die Frauen stehen deinetwegen Schlange!“

Harry schnaubte nur.

„Ich habe sie doch gesehen, auf dem Hochzeitsball deines Bruders – sie haben dich umschwirrt wie Motten das Licht. Ginge es um mich mit meiner hässlichen Visage, dann könnte ich das mit der Tante ja noch verstehen, aber du …“ Er schüttelte den Kopf.

„Sie waren mir ungefähr genauso willkommen wie Motten, das kannst du mir glauben“, behauptete Harry.

Ethan lachte schallend auf. „Erzähl mir doch keine Märchen, Junge! Ich habe dich jeden Morgen ins Haus schleichen sehen, du hast immer nach irgendeinem Parfüm geduftet – und es war jedes Mal ein anderes Parfüm!“

„Das war ja das Problem“, murmelte Harry.

„Gott, so ein Problem hätte ich auch gern!“

„Sie wollten nicht mich“, führte Harry aus.

„Nein, natürlich nicht“, spottete Ethan.

„Sie waren nicht einmal daran interessiert, mit mir zu reden.“ Harry hatte sich gefühlt wie ein – wie nannten die Italiener das? – wie ein Gigolo. Ins Bett der Dame zitiert, wo er deren Wünsche zu erfüllen hatte, doch niemals eingeladen zu einem Dinner oder zu einem Ausritt im Park. Und natürlich niemals zu einem Ball, denn mit seinem verkrüppelten Bein gab er auf dem Tanzparkett keine gute Figur ab.

„Reden?“, wiederholte Ethan verblüfft. „Ach so, ja, ich vergaß, du bist berühmt für deine Redekunst, nicht wahr?“ Harry warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Ethan lachte und tätschelte ihm die Wange. „Du bist so beredt wie ein Baumstumpf, mein Junge, aber wenigstens wussten die Damen deine anderen Qualitäten zu schätzen.“

Harry wiegelte ab. „Das waren reine Bettgeschichten.“ Sie mochten zwar Damen gewesen sein, aber sie hatten ihn nie wie einen Gleichrangigen behandelt, wie einen Gentleman. Nur wie den Bastard eines Gentlemans.

Ethan seufzte schwer. „Reine Bettgeschichten, wie? Das ist wirklich schrecklich und kaum zu ertragen.“

Harry musste wider Willen lächeln. „Nein, aber es war anstrengender, als du denkst.“

Ethan bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick. „Zwangsläufig, bei der Anzahl von Frauen.“

Sie mussten beide lachen und ritten eine Weile schweigend weiter. „Jede von ihnen war verheiratet“, bekannte Harry schließlich.

„Nun, das ist ja auch nur vernünftig, nicht wahr? Du würdest doch sicher keine Jungfrau entehren wollen, oder? Ich bin sicher, diese feinen Londoner Damen hatten ihren Ehemännern gegenüber ihre Pflicht erfüllt und einen oder zwei Erben zur Welt gebracht; was ist also schon dabei, wenn sie danach ein bisschen Spaß mit einem gut aussehenden jungen Kerl wie dir hatten?“

Harry dachte darüber nach. „Sie haben vor dem Altar ein Gelübde abgelegt, Ethan.“

„Schon, aber wahrscheinlich hatten sie dabei kein Mitspracherecht. Du weißt doch, wie das bei den Adeligen ist – da werden solche Dinge arrangiert. Nur Bauern wie ich haben das Glück und den Luxus, aus Liebe heiraten zu dürfen.“

Harry nutzte die Gelegenheit, das Thema zu wechseln. „Wenn das so ein Glück ist, Ethan, warum hast du dann nie geheiratet?“

„Ich war bislang zu beschäftigt damit, für den armen verrückten König in den Krieg zu ziehen. Aber mach dir keine Sorgen, ich habe bereits ein bestimmtes Mädchen im Auge. Noch ehe das Jahr um ist, bin ich verheiratet, darauf kannst du wetten.“

„Du? Mit wem?“ Harry war überrascht. Er konnte sich nicht daran erinnern, Ethan in der letzten Zeit mit einem Mädchen gesehen zu haben. „Kenne ich sie?“

„Damit würde ich schon zu viel verraten, und das tue ich erst, wenn das Mädchen selbst damit einverstanden ist.“ Er sah Harry an und lächelte etwas zerknirscht. „Sie ist kein so unkompliziertes Mädchen wie deine Londoner Damen – ich muss mich richtig anstrengen, ihr den Hof zu machen, meiner Kleinen.“

„Anstrengen? Den Hof machen?“ Harry konnte nicht fassen, dass sein Freund das offenbar ernst meinte. Wenn Ethan sich wirklich mit einer Frau traf, wäre es Harry doch mit Sicherheit aufgefallen.

„Ja, für dich sind das zweifellos Fremdworte, mein hübscher Junge, aber wir weniger von der Natur Begünstigten müssen unserer Zukünftigen tatsächlich den Hof machen. Mittlerweile habe ich allerdings einige Übung darin. Soll ich dir ein paar Tipps geben, damit du vielleicht sogar mal einer vornehmen Adeligen den Hof machen kannst?“

Harry rümpfte die Nase. „Ich habe keine Zeit, lange um eine Frau zu werben, und ich beabsichtige auch nicht, eine vornehme Adelige zu heiraten, die mich schon nach wenigen Jahren zum Hahnrei macht. Ich habe meine Tante gebeten, eine Braut aus der Mittelschicht für mich zu suchen, dort hat man höhere Moralvorstellungen als beim Adel und achtet auf Anstand und Ehre.“

„Aber es soll immer noch eine Zweckehe werden?“

„Wahrscheinlich.“

Ethan schürzte nachdenklich die Lippen. „Ich bin ja nur ein ungehobelter Ire, und was ich über den Adel und die Mittelschicht weiß, passt in einen Fingerhut, doch ich könnte mir denken, dass ein Mädchen, das eine Zweckehe führen soll, sich in ein paar Jahren vermutlich eher anderweitig umsieht als eins, das aus Liebe geheiratet hat.“

„Ich heirate nicht aus Liebe. Das ist ohnehin alles nur Unsinn.“

Ethan warf ihm einen abschätzenden Blick zu. „Ach ja, wenn ich mich recht erinnere, hab ich so was doch schon mal gehört. Lady Andrea oder Anthea – so hieß sie doch, nicht wahr?“

„Ich war damals noch ein dummer Junge“, gab Harry knapp zurück. „Solchen Unfug habe ich hinter mir, ich bin jetzt ein nüchtern denkender Mensch.“

„Ach so, ja, natürlich bist du das“, stimmte Ethan zu. „Deswegen sind deine Haare jetzt auch tropfnass und deine Hände halb erfroren.“ Harry sah ihn scharf an, doch ehe ihm eine passende Antwort einfallen konnte, sagte Ethan bereits: „Hier ist die Abzweigung, also verabschiede ich mich jetzt von dir. Viel Glück in Bath bei deiner Tante und den Mittelschichtmädchen. Ich werde mir dieses Pferd einmal ansehen und dich auch wissen lassen, wenn ich unterwegs auf ein Anwesen stoße, das es sich eventuell zu kaufen lohnt.“ Ethan winkte ihm noch einmal zu und ritt davon.

 

Nell Freymore schob den Männerhut ein Stück nach hinten und sah dem gut aussehenden Fremden nach, der davonritt, um seinen Freund einzuholen. Was für ein Mann verschenkte seinen eigenen Hut und seine Handschuhe an eine Unbekannte, die hinten auf einem Fuhrwerk saß? Einer völlig verschmutzten Unbekannten noch dazu?

Er war ein Pferdemensch, das merkte sie allein schon an seinem prachtvollen schwarzen Vollblut, das so einen stolzen Gang hatte; aber auch an seiner Art zu reiten, mit dieser mühelosen Anmut, die man niemals erlernen konnte, so als wäre er auf einem Pferderücken groß geworden. Auch Papa war früher so geritten.

Er war ihr schon aufgefallen, bevor er an das Fuhrwerk herangekommen war und sie sein Gesicht hatte sehen können. Sie hatte sein Pferd beobachtet. Pferde zogen ihre Blicke immer magisch an, sie konnte nichts dagegen tun. Sowohl sein Pferd als auch das seines Begleiters waren außergewöhnliche Tiere; der Rappe kraftvoll mit ausgreifendem, anmutigen Gang und der Rötlichgraue auffallend hässlich, aber ebenfalls sehr kräftig. Beide Pferde sahen aus, als wären sie sehr schnell.

Ach, wie sehr wünschte sie sich eins dieser Tiere! Pferde legten die vielen Meilen so mühelos zurück. Dagegen war es eine Qual, auf dem schwerfälligen Fuhrwerk zu sitzen und sich im Schneckentempo fortzubewegen. Dafür sprach nur, dass es genauso schnell war, wie sie laufen konnte, sie aber bequemer vorankam. Sie war so entsetzlich müde gewesen, als der Kutscher ihr die Mitfahrgelegenheit angeboten hatte. Und sie war ihm auch sehr dankbar, aber ach, auf einem schnellen Pferd reiten zu können, das wäre wunderbar …

Sie hatte die beiden Männer beobachtet und beinahe gehofft, einer von ihnen würde sich in Luft auflösen, sodass ein Pferd für Nell übrig bliebe, auf dem sie davongaloppieren könnte. An solche Fantasien klammerte sie sich in diesen Tagen und träumte davon, ihr Leben wäre ein anderes. Sie wusste, das war töricht, aber manchmal hielten Fantasien Hoffnungen am Leben.

Und das brauchte sie mehr als alles andere.

Als die Reiter näher kamen, ertappte sie sich dabei, dass ihr Blick an dem größeren hängen blieb. Er hatte irgendetwas an sich. Sein Freund redete und lächelte beim Reiten, während er ganz still war, als wäre er in seine eigenen Gedanken versunken. In sich gekehrt.

Sie war sich nicht sicher, wann sie gemerkt hatte, dass er sie ebenfalls beobachtete. Er war noch ein ganzes Stück entfernt, als es ihr bewusst wurde. Sie spürte es einfach.

Sie tat so, als fiele es ihr nicht auf, und sah in eine andere Richtung, weil sie nicht wollte, dass ihre Blicke sich begegneten. In Gegenwart von Männern fühlte sie sich unbehaglich in letzter Zeit. Sie blickte hinauf zum Himmel, in der Hoffnung, ein Fleckchen Blau dort zu entdecken.

Es war immer ein hoffnungsvolles Anzeichen, so ein Fleckchen Blau, doch an diesem Tag war der Himmel genauso wie schon seit Wochen. Grau. Kalt und gnadenlos grau.

Sie hatte vor, ihn – beide – zu ignorieren, als sie vorbeiritten, so als wären sie gar nicht da. Sein Freund ritt tatsächlich weiter; er zwinkerte ihr kurz zu, grüßte gut gelaunt den Kutscher und dann war er fort.

Er jedoch blieb, wurde langsamer und lenkte sein Pferd so nah an das Fuhrwerk, dass sie den Geruch des Fells und des feuchten Umhangs wahrnehmen konnte. Jetzt gelang es ihr nicht mehr, so zu tun, als wäre er nicht da.

Seine Augen waren so grau und düster wie der Himmel, doch sein Blick brannte.

Und dann hatte er ihr seinen Hut gegeben.

Und sie hatte ihn zum ersten Mal richtig angesehen. Das markante, vollkommene Männergesicht mit der geraden, kühnen Nase und den schmalen geschwungenen Lippen. Der Inbegriff männlicher Schönheit.

Es war einer jener Momente gewesen, in denen die Zeit zum Stillstand zu kommen schien, sich endlos ausdehnte und dann doch so schnell wieder vergangen war.

Der ganze Austausch hatte vielleicht fünf Minuten gedauert. Er hatte ein paar Worte gesagt, sie hatte überhaupt nicht gesprochen. Ausnahmsweise hatte ihre sonst so flinke Zunge sie im Stich gelassen; Nell hatte keine Ahnung, warum. An der Weggabelung hatte er ihr einen letzten glühenden Blick zugeworfen und dann war er fort gewesen.

Sie war sich nicht sicher, was sich zwischen ihnen eigentlich abgespielt hatte. Eigentlich hatten nur ein Hut und ein Paar Handschuhe den Besitzer gewechselt, Worte waren dabei kaum gefallen. Trotzdem würde sie dieses Gesicht und diese seltsamen kühlen Augen, in denen doch so ein Feuer brannte, nie mehr vergessen.

Langsam tauten ihre eiskalten Finger wieder auf. Die Handschuhe waren warm – warm durch das Fellfutter und von der Wärme seiner großen, starken Hände. Und jetzt wärmten sie Nells Hände.

Noch weitaus mehr wärmten sie jedoch ihre verwundete Seele. Die Freundlichkeit eines Fremden; unerwartet und unermesslich anrührend.

Nell hielt sich an dem schwankenden Fuhrwerk fest und betrachtete ungeduldig die langsam vorbeiziehende Landschaft. Mit jeder Meile kam sie ihr vertrauter vor, und sie konnte es nicht mehr erwarten, nach Hause zu kommen. Sie musste irgendetwas tun. Dieses langsame Reisen ließ ihr viel zu viel Zeit zum Nachdenken, Grübeln und Trauern.

Sie hob den Blick zu den mittlerweile fast kahlen Baumwipfeln vor dem grauen Himmel. Der Winter kam. Die Welt um sie herum lag im Sterben.

Nein. Nein, das stimmte nicht, niemand starb. Nur Papa war gestorben. Nur Papa. Das musste sie allmählich akzeptieren.

Sie fuhr nach Hause. Dort würde es ihr wieder gut gehen. Sie würde etwas Geld auftreiben und nach London zurückkehren. Und dieses Mal würde sie sie finden, ihre Torie …

Wo Leben ist, gibt es auch Hoffnung, hieß es doch.

Rote und goldgelbe Blätter schwebten zu Boden und versanken im Morast. Wie immer brannten ihr die unbeantworteten Fragen auf der Seele.

Warum, Papa, warum? Warum hast du mir nicht gesagt, was du vorhattest? Warum hast du erst so getan, als glaubtest du mir, und dann im Geheimen doch anders gehandelt?

Ausflüchte, Lügen und Geheimnisse – immer schon, ihr ganzes Leben lang. Und jetzt, wo es so sehr darauf ankam, dass sie etwas für sie Lebenswichtiges erfuhr, war es zu spät. Die Antworten hatte Papa mit ins Grab genommen, es blieben nur noch offene Fragen.

Warum, Papa, warum?

Der Regen ging in ein sanftes Nieseln über, Tropfen fielen von der Krempe des Huts. Ihr Gesicht blieb trocken; sie hatte ohnehin längst keine Tränen mehr.

Als sie das letzte Mal von zu Hause fortgegangen war, hatte der Sommer gerade angefangen und die Welt war grün und voller Leben gewesen. Jetzt kehrte Nell zurück, die Sommerblumen waren verblüht, der Winter nahte und die Natur starb dahin.

Nell empfand eine geradezu schmerzhafte innere Leere. Zu Hause würde es ihr besser gehen. Dort konnte sie klarer denken und Pläne schmieden, was sie als Nächstes tun sollte.

Vielleicht konnte sie ja sogar schlafen …

Oh Gott, wenn sie in jener Nacht doch nur nicht eingeschlafen wäre! Sie hätte ihn aufhalten können. Aber sie hatte geschlafen und im Schlaf alles verloren.

Seitdem hatte sie kaum mehr geschlafen. Sie war so müde.

Sie zwang sich, aufrechter zu sitzen. „Wir sind fast zu Hause, und dann habe ich wieder Geld. Mit Geld ist schließlich alles möglich, nicht wahr, Freckles?“

Die Hündin setzte sich schwanzwedelnd auf und leckte ihr über die Nase.

„Vielen Dank für diesen Liebesbeweis.“ Nell drückte Freckles an sich. Was hätte sie bloß ohne Freckles gemacht? Die Hündin war ihr so ein Trost und eine so treue Freundin gewesen.

Freckles wurde munter und schnüffelte interessiert an den Männerhandschuhen. Sie sah Nell so hoffnungsvoll an, dass die beinahe gelacht hätte. „Nein, diese Handschuhe sind nicht für dich.“

Aus kummervollen braunen Augen blickte der Spaniel zwischen den Handschuhen und Nell hin und her; ihr Blick drückte unendliches Verlangen, aber auch einen gewissen Vorwurf aus.

Jetzt musste Nell wirklich lachen. „Ja, ich bin mir sicher, dass sie sehr interessant riechen, aber Handschuhe sind nicht für Hunde da. Sieh nur, dort ist bereits der Kirchturm von St. John‘s. Noch zwanzig Minuten, dann sind wir zu Hause.“

 

Zu Nells Überraschung war das Haupttor geschlossen. Das war noch nie der Fall gewesen, soweit sie sich erinnern konnte. Eine Kette war durch die Eisenstäbe gewunden und mit einem Vorhängeschloss versehen worden.

Verwirrt ging sie die Mauer entlang bis zu der Stelle, wo, wie sie wusste, ein paar Steine herausgefallen waren und sich eine Öffnung aufgetan hatte. Freckles sprang hindurch und Nell folgte ihr.

Sie lief die Auffahrt hoch. Der Regen hatte aufgehört, aber sie sah keine Menschenseele. Das kam ihr befremdlich vor. Je mehr sie sich dem Haus näherte, desto stärker wurde ihr Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte. Sie stieg die Stufen zum Haupteingang hinauf und zog am Glockenstrang. Sie hörte das Läuten im Inneren des Hauses, doch niemand kam, um ihr zu öffnen.

Dann würde sie eben den Hintereingang nehmen. Die Küchentür war wenigstens nie abgeschlossen.

„Ja, bitte? Kann ich Ihnen behilflich sein?“

Nell schrak zusammen und drehte sich um. Hinter ihr stand ein Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Er war klein, um die dreißig und äußerst korrekt gekleidet. Er trug eine schwarze Hose und einen taillierten Mantel mit ausgeprägten Schulterpolstern. Sein schütteres Haar war nach vorn gekämmt, wohl in der Absicht, die Frisur von Brutus nachzuahmen, was aber keine gute Idee gewesen war. In der Hand hielt er eine Aktentasche. „Wer sind Sie?“, fragte sie. Der Mann sah aus wie ein Anwalt.

„Ich bin Mr Pedlington.“ Er musterte sie von Kopf bis Fuß, als wäre sie ein lästiges Insekt. „Hier gibt es keine Arbeit“, ergänzte er verschnupft.

Nell vermutete, dass sie ziemlich verwahrlost aussah. Sie war so weit gelaufen, und das im Regen und in all diesem Morast. „Ich suche keine Arbeit“, gab sie freundlich zurück. „Ich wohne hier. Ich bin Nell Freymore.“

Ihm traten fast die Augen aus dem Kopf. „Freymore?“, rief er aus. „Sie meinen doch nicht etwa … nicht der verstorbene …“

„Ja, ich bin seine Tochter.“

Pedlington wirkte unangenehm berührt. „Ich vertrete die Kanzlei Fraser & Shaw.“ Er hielt inne, als müssten ihr diese Namen etwas sagen.

Doch das war nicht der Fall und sie wartete auf seine weitere Erklärung.

Er räusperte sich. „Hat man Ihnen denn nichts gesagt?“

„Was soll man mir gesagt haben?“

„Ach, du liebe Güte.“ Er fuhr sich mit dem Finger in den Kragen.

Seine Art machte sie allmählich nervös. „Was gibt es denn, das ich wissen sollte?“

„Hm, das Haus. Der Besitz.“

„Ja?“

„Dieses Haus …“ Er wies auf das Gebäude.

„Ich weiß, was das für ein Haus ist. Es ist schließlich mein Zuhause.“

Er schluckte. „Nein, das ist es nicht. Nicht mehr. Meine Kanzlei ist beauftragt worden, es zu verkaufen.“

„Verkaufen? Das können Sie nicht, es gehört mir.“ Er schien sie nicht verstanden zu haben, daher fügte sie hinzu: „Es ist mein Eigentum.“

„Nein. Ich fürchte … Ihr Vater …“ Pedlington zögerte. „Er hat es beim Kartenspiel verloren.“

„Das kann nicht sein“, widersprach Nell. Sie merkte, dass der Anwalt weiterreden wollte, und fügte hastig hinzu: „Ich meine, ich weiß, dass er Dinge verspielt, das hat er immer schon getan. Er hat fast alles verspielt, was er je besessen hat. Aber dieses Haus kann er nicht verspielt haben, weil es ihm nicht gehört. Er hat es schon vor Jahren auf meinen Namen überschrieben …“ Sie verstummte, denn Pedlington schüttelte den Kopf.

„Es ist alles vollkommen legal“, erklärte er. „Ich habe die Dokumente selbst gesehen. Gebäude und Ländereien sind ausschließlich Eigentum unseres Mandanten.“

Nell starrte ihn eine ganze Weile an, dann gaben ihre Knie nach. Sie ließ sich auf die oberste Treppenstufe fallen; die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. „Sie meinen, das Haus ist jetzt auch weg?“ Papa hatte zu allem anderen auch noch ihr Zuhause verloren? Er hatte ihr doch geschworen, die Übertragungsurkunde wäre auf ihren Namen ausgestellt worden.

Lügen, immer wieder Lügen.

„Wo soll ich denn jetzt hingehen?“

„Ich weiß es nicht, es tut mir leid.“ Er räusperte sich, und in seiner Stimme schwang neben Diensteifer auch Mitgefühl mit: „Hier können Sie jedenfalls nicht bleiben. Sie müssen gehen.“

2. Kapitel

Firmin Court, Wiltshire

Zehn Tage später

„Ich muss gestehen, das Haus ist ein wenig heruntergekommen“, sagte Pedlington entschuldigend. „Aber mit ein paar Renovierungsarbeiten …“

„Es ist sogar außerordentlich heruntergekommen. Tatsächlich wirkt der ganze Besitz sträflich vernachlässigt“, erwiderte Harry und blickte vielsagend auf die alten verschlissenen Samtvorhänge.

Pedlington verzog das Gesicht. „Ich fürchte, der verstorbene Earl hat es mit der Erfüllung seiner Pflichten nicht so ganz genau genommen …“

Harry schnaubte. Welche Pflichten? Seinen Informationen nach hatte der verstorbene Earl so ziemlich alles vernachlässigt, abgesehen von den Spieltischen. Doch diese Nachlässigkeit würde sich für Harry auszahlen.

Pedlington fuhr fort. „Dieses Gebäude ist nicht Teil des Gesamtbesitzes. Es gehörte seiner verstorbenen Frau, also zählt es nicht zum unveräußerlichen, an den Titel gebundenen Erbe.“

Sie gingen von einem verstaubten Zimmer ins nächste und durch Flure mit verblichenen Tapeten, an denen dunklere Stellen verrieten, wo einst Bilder gehangen oder Möbel gestanden hatten. Wenn dieses Haus nicht zum unveräußerlichen Erbe gehört, fragte Harry sich, warum hat der Earl es dann nicht verkauft? Der Mann hatte doch sonst alles andere verkauft, was er in die Finger bekommen hatte.

Dem vierten Earl of Denton war es gelungen, einen großen, blühenden Besitz herunterzuwirtschaften. Er hatte ihn bis zum Anschlag mit Hypotheken belastet, alles verkauft, was verkauft werden konnte, und trotzdem hatte das noch nicht gereicht, um seine Schulden begleichen zu können. Und dann, als er schon mit einem Fuß im Schuldgefängnis gestanden hatte, war er einem Herzinfarkt erlegen. Mitten auf einer Straße, wie Harry gehört hatte.

Danach waren die Aasgeier eingezogen; die Gerichtsvollzieher und die, denen der Earl Geld geschuldet hatte. Sie hatten sich einverleibt, was von dem einst so prachtvollen Besitz noch übrig war. Pedlington vertrat die Londoner Kanzlei, deren Aufgabe darin bestand, das zu retten, was noch zu retten war.

Harry hatte in Bath alles darüber erfahren – und daraufhin seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen den Rücken gekehrt, sehr zum Leidwesen seiner Tante. Es hatte ohnehin keinen Sinn gehabt. Die Mittelschicht-Väter der Mädchen, die seine Tante für ihn ausgesucht hatte, hatten ihm unmissverständlich klargemacht, dass sie für ihre Töchter eine bessere Partie anstrebten.

Also war Harry hierher geritten, um sich das Anwesen anzusehen. Ehe der verstorbene Earl Firmin Court übernommen hatte, war der Besitz berühmt für seine Pferde gewesen.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass der fünfte Earl besonders begeistert ist über die Aufgaben, die jetzt vor ihm liegen“, vermutete Harry. Der arme Kerl.

Pedlington schüttelte den Kopf. „Nein, das ist er in der Tat nicht. Er ist ein Cousin zweiten Grades des verstorbenen Earls – er lebt in Irland – und er hatte keine Ahnung, wie es um diesen Besitz bestellt ist. Der Ärmste erlitt einen ziemlichen Schock, als er von der Höhe der Schulden erfuhr. Er fiel sogar in Ohnmacht, sagte man mir. Was nützt einem ein Titel, wenn er einhergeht mit einem Erbe, das zum Großteil unveräußerlich und hoch verschuldet ist?“ Er warf Harry einen hoffnungsvollen Blick zu. „Wenigstens kann dieser Teil des Besitzes verkauft werden.“

Harry ignorierte ihn. Das Haus war vollkommen leer geräumt worden, und das nicht erst in letzter Zeit. In den Räumen roch es nach Staub, weil sie lange nicht bewohnt gewesen waren, aber nicht nach Schimmel und Fäulnis. Die beiden Männer gingen weiter von Zimmer zu Zimmer, und Harry bestand darauf, dass ihm alles gezeigt wurde, obwohl ihn das Haus im Grunde gar nicht interessierte.

„Was zum …“, murmelte der Anwalt. Eins der Schlafzimmer war abgeschlossen. Mit zunehmendem Ärger probierte er einen Schlüssel nach dem anderen aus. „Es ist nur ein Schlafzimmer, Sir, nicht weiter interessant. Es ist im selben Zustand wie der Rest des Hauses.“

Harry zog eine Augenbraue hoch. „Und Sie haben keinen Schlüssel dafür?“

„Nein, aber ich versichere Ihnen, ich werde umgehend einen besorgen“, erwiderte Pedlington gepresst.

Der fehlende Schlüssel war Harry ziemlich gleichgültig, daher machte er auf dem Flur kehrt und schlenderte wieder zurück.

„Möchten Sie sich vielleicht noch die Küche ansehen? Oder den Dachboden und den Bedienstetentrakt?“ Pedlingtons Tonfall verriet, dass er bereits mit einer Absage rechnete.

Harry machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich bin mir nicht sicher, ob das überhaupt einen Sinn hat. Hier ist alles entsetzlich verwahrlost. Nun ja, vielleicht doch die Küche, obwohl sie bestimmt nur äußerst unzureichend ausgestattet ist. Und da ich eigens den ganzen Weg bis hierher auf mich genommen habe, kann ich mir genauso gut auch noch die Außengebäude ansehen.“

Pedlington war inzwischen davon überzeugt, dass er umsonst hergekommen war. Er seufzte. „Ja, Sir. Durch die Küche gelangen wir zu den Außengebäuden.“

Ihre Schritte hallten auf dem nackten Holzfußboden wider. Ein guter, solider Boden, wie Harry feststellte, keine Spur von Holzwürmern. Er unterdrückte ein Schmunzeln über die Niedergeschlagenheit des Anwalts. Rund um das Haus wucherte üppiges grünes Gras. Wenn die Ställe genauso solide waren wie das Haus, würde er dem Mann ein Angebot machen.

Dieses Anwesen benötigte nur etwas Geld, viel harte Arbeit und eine gute Bewirtschaftung. Das Vermächtnis von Großtante Gertie brachte das nötige Geld, für den Rest würde Harry sorgen.

Die Stalltüren standen offen. Pedlington runzelte die Stirn. „Ich bin mir ganz sicher, dass ich sie abgeschlossen habe, als ich das letzte Mal hier war.“

Als sie näher kamen, steckte ein Hund den Kopf zur Tür heraus und fing an zu knurren.

Pedlington blieb abrupt stehen und beäugte den Hund nervös. „Husch!“, rief er und fuchtelte mit den Händen. „Geh weg!“

Der Hund, nein, eine Hündin, wie Harry sah, zog drohend die Lefzen hoch. Sie war ein schönes Tier, ein English Springer Spaniel, weiß mit braunen Flecken. Harry sah den Hund streng an. „Was soll das, Madam? Warum knurrst du uns so ungezogen an? Benimm dich!“

Die Hündin reagierte sofort auf seinen gebieterischen Tonfall. Sie wirkte kleinlaut und wedelte leicht mit dem Schwanz.

„Dachte ich‘s mir doch – du bluffst nur, nicht wahr, Süße?“ Harry ging in die Hocke und schnippte mit den Fingern. „Na komm, stell dich doch mal vor.“

Die Hündin kam zögernd näher und schnüffelte an seiner Hand. Sie wedelte heftiger mit dem Schwanz, leckte seine Finger und warf sich vor ihm auf den Rücken.

„So ist es viel besser.“ Harry kraulte ihren Bauch und sie wand sich genüsslich. Als Harry sich wieder aufrichtete, sprang die Hündin ebenfalls auf und sah ihn erwartungsvoll an.

Pedlington beäugte das Tier voller Abneigung. „Dieser Hund dürfte gar nicht hier sein, ein Hund gehört nicht zum Inventar. Er ist ein Streuner.“

„Ja, aber völlig harmlos, wie Sie sehen. So, und nun lassen Sie uns die Ställe besichtigen.“

Pedlington rührte sich nicht von der Stelle, er hatte sichtlich Angst vor der Hündin.

„Ich kann mir die Ställe auch allein ansehen“, sagte Harry. „Diese Stalltüren sind von irgendjemandem geöffnet worden. Prüfen Sie doch inzwischen die Schlösser an den anderen Außengebäuden.“

Pedlington warf einen Blick auf den Hund und nickte. „Das mache ich, Sir, wenn Sie nichts dagegen haben. Schließlich sollen hier keine Landstreicher eindringen.“

Harry trat in die Stallungen. Die Hündin folgte ihm und schoss geradewegs auf ein Bündel auf dem mit Kopfstein gepflasterten Boden zu, das aus einem Schal und Handschuhen zu bestehen schien. Harry runzelte die Stirn. Die Kleidungsstücke sahen zu gut aus, um einfach auf den Boden geworfen zu werden, doch die Hündin legte sich hin, die Pfoten rechts und links von dem Bündel ausstreckend, und bettete den Kopf besitzergreifend darauf. Sie schien nicht die Absicht zu haben, weiterzugehen.

„Sehr schön“, sagte Harry zu ihr. „Du bewachst das Zeug und ich sehe mich hier einmal um.“ Sie wedelte zweimal mit dem Schwanz, machte aber keine Anstalten aufzustehen.

Harry drehte sich um und atmete tief ein. Das war genau das, was er gesucht hatte; Boxen für mindestens vierzig Pferde in einem durch und durch solide wirkenden Stallgebäude – es war sogar in einem besseren Zustand als das Haupthaus. Der gepflasterte Boden war sauber und gründlich gefegt; die Luft roch nach frischem Heu und … Pferd. Es war ein frischer Pferdegeruch. An einem Haken hingen ein Umhang aus Ölhaut und ein Hut. Harry runzelte die Stirn. Der Hut sah genauso aus wie … ein Geräusch lenkte ihn ab. Was zum Teufel war das? Es klang nach einem Pferd, das Schmerzen hatte. Jemand murmelte leise.

Er lief den Hauptgang hinunter und sah im Vorbeieilen in jede Box. Sie waren alle leer – bis auf die letzte. Der untere Teil der Boxentür war geschlossen, aber der obere stand offen. Er sah hinein.

In der mit Heu ausgestreuten Box lag eine Stute, offensichtlich in Geburtswehen. Ihre mageren Flanken waren nass von Schweiß. Sie quälte sich sichtlich und warf sich von einer Seite auf die andere. Kein gutes Zeichen. Eine junge Frau kauerte neben der Stute, in gefährlicher Nähe zu den ausschlagenden Hufen. Ihr Gesicht konnte Harry nicht sehen.

Er zog seinen Mantel aus. „Wann haben die Wehen begonnen?“

„Etwa fünfzehn Minuten nachdem das Fruchtwasser abgegangen ist.“ Die Stimme klang grimmig und die Frau drehte sich nicht einmal zu ihm um. Aus einer kleinen Flasche goss sie sich etwas Öl auf die Handfläche.

„Das kommt mir zu lange vor.“

„Ich weiß.“ Sie verkorkte die Flasche wieder und stellte sie beiseite. „Das Fohlen liegt falsch.“

Jetzt sah Harry es auch. Der Schwanz der Stute war in ein Tuch gewickelt worden, sodass man die schon austretende Fruchtblase erkennen konnte. Darin zeichnete sich der Umriss eines einzelnen winzigen Hufs ab. Es hätten zwei kleine Hufe sein müssen, denen kurz darauf der Kopf folgen würde. „Das Fohlen muss im Mutterleib gedreht werden“, stellte Harry fest und krempelte seine Ärmel hoch.

Sie war mit dem Einölen ihrer Hände und des rechten Unterarms fertig. „Ich weiß. Genau das will ich jetzt versuchen.“

„Ich helfe Ihnen.“ Harry entriegelte die untere Boxentür.

„Nein! Kommen Sie nicht herein – Sie regen sie nur auf!“ Die Frau wandte ihm flüchtig das Gesicht zu.

Sie war es. Die junge Frau auf dem Fuhrwerk. Er konnte nicht viel von ihr erkennen, nur ein flüchtiges Aufschimmern blasser Haut und große, besorgte Augen, aber er war sich ganz sicher.

„Bleiben Sie zurück! Männer machen sie nervös!“

Harry ignorierte sie. „Wollen Sie sich wirklich einen Huftritt gegen den Kopf einfangen? Sie können ihr nicht helfen, solange sie in diesem Zustand ist!“ Als er die Box betrat, warf die Stute den Kopf zurück und verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße darin zu sehen war. Sie legte die Ohren flach an, entblößte die Zähne und unternahm einen verzweifelten Versuch aufzustehen.

Die Frau fluchte und warf Harry einen aufgebrachten Blick zu, als wollte sie sagen: Sehen Sie, was Sie angerichtet haben!

Das sah Harry in der Tat, doch er ließ sich nicht davon beirren. Sie brauchte Hilfe, und er hatte viel Erfahrung mit nervösen Stuten.

Die Frau drehte sich wieder um und begann, tröstend auf das Tier einzureden. Sie streichelte es und sprach gleichzeitig in einem leisen, melodischen Tonfall. Hypnotisierend, dachte Harry. Jedes Lebewesen musste davon in den Bann gezogen werden. Er kam leise näher und stimmte in ihre sanfte Beschwörung ein.

„Ganz ruhig, mein Mädchen“, murmelte er sanft. „Du kennst mich zwar nicht, aber ich werde dir nicht wehtun. Dir geht es schlecht, ich weiß, und du hast Angst, aber das werden wir bald ändern.“ Er nahm das Halfter und streichelte beruhigend ihre Nüstern.

Die Stute verdrehte noch ein-, zweimal die Augen, doch dann schien sie seine Gegenwart zu akzeptieren und wurde etwas ruhiger.

„Vielen Dank“, sagte die Frau über ihre Schulter hinweg, noch immer in diesem hypnotisierenden Tonfall. „Ich muss sagen, ich bin überrascht. Toffee hat normalerweise Angst vor Männern.“

Dazu hat sie zweifellos allen Grund, dachte Harry grimmig, als er die verblassten Narben auf den schmalen Flanken des Tiers sah. Irgendwann musste jemand die Stute gnadenlos mit der Peitsche bearbeitet haben. „Ich habe mein ganzes Leben mit Pferden verbracht“, erwiderte er jedoch nur. „Soll ich jetzt versuchen, das Fohlen zu drehen?“

„Nein, das mache ich selbst“, erklärte die Frau. „Kleine Hände sind dafür besser geeignet.“

Damit hatte sie recht; außerdem schien sie zu wissen, was sie tat. Daher setzte Harry sich so hin, dass er sie vor den schlagenden Hufen schützen konnte und sagte: „Sie können anfangen.“

Es war unglaublich. Zwei Wochen lang hatte er immerzu an sie denken müssen und jetzt war sie da, keinen Meter von ihm entfernt. Was machte sie hier auf Firmin Court, allein in einem verlassenen Stall und einer Stute Geburtshilfe leistend?

Er verfolgte, wie sie das Ende einer Wehe abwartete, tief durchatmete und die Fruchtblase mit den Fingern öffnete. Flüssigkeit ergoss sich über ihre Hand, als sie entschlossen den kleinen Huf packte und ihn sanft in den Mutterleib zurückschob, bis ihr ganzer Unterarm darin verschwunden war.

„Lebt das Fohlen?“, fragte Harry.

Kurzes Zögern, dann: „Ja.“ Sie runzelte die Stirn und tastete. „Ein Bein ist angezogen und liegt unter ihm. Ich versuche jetzt, es …“ Sie sog schmerzerfüllt den Atem ein, als sich der Geburtskanal während einer neuerlichen Wehe um ihren Arm zusammenzog.

Harry verzog mitfühlend das Gesicht. Er hatte das selbst schon erlebt, es war verdammt schmerzhaft. Er hätte erwartet, dass eine Frau dabei aufschreien würde, aber sie gab keinen Laut von sich.

Sie wartete, bis die Wehe abgeklungen war, dann versuchte sie angestrengt weiter, das Bein des Fohlens freizubekommen. Es war eine heikle Angelegenheit und erforderte viel Fingerspitzengefühl. Wendete sie zu viel Kraft an, konnten die Stute und das Fohlen schwere Verletzungen davontragen.

Sie ächzte leise und fing behutsam an, sich zurückzuziehen. Mit einer langsamen, fließenden Bewegung zog sie erst den Arm, dann die Hand wieder aus der Stute. Sie öffnete die Hand und Harry sah zwei winzige, dunkle Vorderbeine zum Vorschein kommen, gleich darauf gefolgt von einer Nase.

„Sie haben es geschafft!“, rief Harry atemlos.

Sie schien ihn gar nicht zu hören. Sie lehnte sich zurück auf ihre Fersen und beobachtete, wie nach einer weiteren Wehe das ganze Fohlen in einem Schwall von Flüssigkeit aus dem Mutterleib glitt.

Die Stute hob den Kopf und betrachtete das nasse, dunkle Bündel, das zum Teil immer noch von der Eihaut eingehüllt war. Sie beschnupperte es vorsichtig und fing dann an, ihr Fohlen sauber zu lecken.

Die Frau rührte sich nicht, daher schob Harry eine Hand unter ihren Ellenbogen, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Sie zuckte erschrocken unter seiner Berührung zusammen und erhob sich geschmeidig und ohne seine Hilfe. „Sie muss jetzt mit dem Fohlen allein sein“, sagte sie und schob ihn aus der Box.

Sie zog die untere Boxentür hinter sich zu und beugte sich dann darüber, während sie sich die Hände an einem Lappen abwischte. Sie schien den Blick nicht von der Stute und dem Fohlen wenden zu können.

Harry wiederum konnte den Blick nicht von der Frau wenden. Zum ersten Mal konnte er sie im Normalzustand sehen, nicht völlig durchnässt und schmutzig. Sie war mittelgroß und hatte ein schmales, ernstes Gesicht. Ihr Teint wirkte im fahlen Licht des Stalls immer noch blass schimmernd und makellos rein. Er hatte sich vorgestellt, dass ihr Haar heller sein würde, sobald es getrocknet war, und das stimmte auch. Es hatte die Farbe von Honig und wies ein paar goldblonde Strähnen auf. An diesem Tag hatte sie es im Nacken zu einem lockeren Knoten geschlungen, aus dem sich ein paar Strähnen gelöst hatten.

Sie trug ein altes braunes Reitkostüm, abgetragen und aus der Mode gekommen. Das abgelegte Kostüm einer anderen Frau, vermutete er; es war um die Brust herum zu weit und um die Taille zu eng.

Sie drehte sich abrupt um und sank zu Boden. „Oh Gott, oh Gott.“ Sie schlang die Arme um sich. „Ich habe nicht geglaubt, dass ich es schaffen würde. Ich dachte, sie würde … die beiden würden ...“ Sie verstummte und holte ein paar Mal tief Luft. „Als ich das Fohlen im Mutterleib ertastet habe ...“ Sie ließ den Kopf auf die Knie sinken. „Gott sei Dank.“

„Sie haben das noch nie zuvor gemacht?“

Noch ein paar tiefe Atemzüge, dann sah sie auf und schüttelte den Kopf. „Nein.“ Eine Träne rann über ihre Wange.

Harry hätte sie am liebsten fortgeküsst, stattdessen reichte er der jungen Frau sein Taschentuch.

Sie zuckte zusammen, als er mit der Hand ihren Arm streifte, fast, als hätte sie seine Anwesenheit ganz vergessen. Sie starrte auf das Taschentuch. „Was soll ich damit?“

„Sie weinen.“

„Nein, das tue ich nicht“, behauptete sie rasch. Sie rieb sich mit der Hand über die Wangen. „Ich weine nie. So etwas ist sinnlos.“

Harry zog die Brauen hoch, doch ehe er etwas dazu sagen konnte, war sie wieder aufgestanden und drehte sich um, um die Stute zu betrachten.

Die junge Frau war sehr dünn und wirkte noch erschöpfter als beim letzten Mal, als er sie gesehen hatte. Jemand sollte sich besser um sie kümmern, dachte er verärgert.

Wer war sie? Die Tochter eines Stallburschen? Eines Bauern? Lebte sie hier irgendwo in der Nähe?

Er konnte sein Glück nicht fassen, sie wiedergefunden zu haben. Das Schicksal gab ihm eine zweite Chance. Harry war kein Mann, der eine zweite Chance nicht nutzte; so etwas wurde einem viel zu selten im Leben gegönnt. Allerdings hatte er auch nicht vor, die Dinge zu überstürzen. Sie war angespannt, das merkte er ihr deutlich an.

„Ich weiß noch, wie Toffee selbst auf die Welt gekommen ist“, sagte sie nach einer Weile.

„Sie ist ein schönes Tier. Man sieht ihr an, dass Araberblut in ihren Adern fließt. Ich vermute, sie bewegt sich sehr anmutig.“

Sie sah ihn nachdenklich an. „Ja, und sie ist auch sehr schnell.“

Aus der Nähe konnte er winzige goldene Einsprengsel in ihren großen bernsteinfarbenen Augen erkennen. Unter seinem Blick nahmen sie einen wachsamen, beinahe verlegenen Ausdruck an. Die Frau wandte sich wieder der Stute zu.

„Ich nehme an, deswegen ist sie auch noch hier. Man kann sie einfach nicht einfangen.“

„Ihnen scheint das ja gelungen zu sein.“ Nur zu gern hätte Harry die Strähnen in ihrem Nacken berührt und die zarte Haut dort gestreichelt.

„Ja, aber mir vertraut sie auch.“

„Das überrascht mich nicht. Gehört sie Ihnen?“

„Nein ... nein.“ Sie schien noch etwas sagen zu wollen, schwieg dann aber.

„Ihrem Fell nach zu urteilen, ist sie in letzter Zeit nicht besonders gut gepflegt worden“, stellte Harry fest.

„Nein.“

„Eine ungewöhnliche Behandlung für eine wertvolle trächtige Stute.“

„Allerdings.“

„Das gilt auch für den Rest dieses Anwesens“, fuhr Harry fort. „Alles ist seit Jahren vernachlässigt worden. Nur die Stallungen sind noch so weit in Ordnung, dass sie genutzt werden können.“

Sie seufzte. „Ich weiß.“

Er neigte den Kopf zur Seite und sah sie an. „Sie reden auch nicht gerade wie ein Wasserfall, nicht wahr?“

Sie zuckte die Achseln.

Um Harrys Mundwinkel spielte ein Lächeln. Und die Leute nannten ihn maulfaul! Flüchtig stieg ihm ihr Duft in die Nase, und er versuchte, ihn einzuordnen. Kernseife? Nicht unbedingt der typische Duft für eine junge Frau. Wahrscheinlich hatte sie sich für die Geburt damit gewaschen.

Sie standen nebeneinander an der Boxentür und beobachteten, wie die Stute ihr Fohlen säuberte, es von den Resten der Fruchtblase befreite und sich mehr und mehr mit ihm vertraut machte. Das war ein Anblick, den Harry niemals leid wurde.

Er sah die Frau von der Seite her an und merkte, dass ihr wieder eine Träne über die Wange lief, während sie die zärtliche Annäherung zwischen Mutter und Kind verfolgte. Ihr weicher, verwundbarer Mund bebte. Sie biss sich auf die Lippe und wischte beinahe wütend die Träne fort.

Ich weine nie. So etwas ist sinnlos.

„Wohnen Sie hier in der Nähe?“, erkundigte er sich ruhig.

Sie schwieg einen Moment, dann sagte sie: „In den alten Zeiten hat man geglaubt, die Tiere leckten ihre Jungen, um ihnen ihre Gestalt zu geben.“

Harry entging nicht, dass sie ihm auswich. Das war nur recht und billig, schließlich kannte sie ihn gar nicht. Doch das ließ sich ändern. „Übrigens, ich bin Harry Morant.“ Er streckte die Hand aus.

Sie zögerte, schüttelte sie dann aber. „Ich bin Nell ... einfach nur Nell.“

„Sehr erfreut, Einfach-nur-Nell“, erwiderte er. Ihr Händedruck war fest. Ihre Haut war zwar weich, trotzdem spürte er ein paar alte Schwielen. Irgendwann musste Nell harte körperliche Arbeit geleistet haben.

Sie trug keinen Ring. Ihre Kleidung saß schlecht und war altmodisch, aber der Stoff war von guter Qualität.

Sie hatte zwar nur wenig geredet, doch er hatte keinerlei Dialekt aus ihrer Sprache herausgehört.

Wer war diese Frau?

„Ich nehme an, Sie sind wegen Ihrer Handschuhe und Ihres Huts gekommen“, sagte sie nach einer Weile.

„Nein, ich ...“

Die Stalltür ging knarrend ein Stück weiter auf. „Mr Morant?“, rief Pedlington und seine Stimme hallte durch den Stall. „Ist dieses Tier ... ach, da ist es ja. Ich warte lieber draußen auf Sie.“

Harry schmunzelte. „Er hat Angst vor Ihrem Hund“, erklärte er Nell.

„Sie tut niemandem etwas.“

„Ich weiß. Kommen Sie, wir wollen Pedlington aus seiner Notlage erlösen.“

„Aber ich ...“

„Toffee braucht Sie im Moment nicht. Sie muss mit ihrem Fohlen allein sein.“ Harry nahm ihren Arm und nach kurzem Zögern ließ sie sich von ihm den langen Hauptgang entlang zur Stalltür führen.

Nach ein paar Schritten warf sie ihm einen Seitenblick zu. „Haben Sie Schmerzen im Bein?“

Eine ganz natürliche Frage, angesichts seines Hinkens. Jeder stellte sie früher oder später. Seine Antwort überraschte ihn jedoch selbst. „Nein, das war schon immer so, seit ich mich erinnern kann.“ Normalerweise schob er eine Kriegsverletzung vor. Die Leute konnten so viel leichter mit einem heldenhaften, verwundeten Soldaten umgehen als mit der Wahrheit – dass er seit frühester Kindheit ein Krüppel war.

Als sie den Eingang erreichten, sprang die Hündin auf sie zu. „Braves Mädchen, Freckles.“ Nell hob den Schal und die Handschuhe auf. Sie klopfte den Staub von ihnen ab und fügte erklärend hinzu: „Sie folgt mir auf Schritt und Tritt, es sei denn, ich gebe ihr etwas zum Bewachen. Ich wollte sie während der Geburt nicht in Toffees Nähe haben.“ Sie nahm Hut und Mantel vom Haken und reichte Harry den Hut und die Handschuhe. „Vielen Dank, dass Sie sie mir geliehen haben. Sie haben mich mehr gewärmt, als Sie sich vorstellen können.“

Harry nahm sie unbeholfen entgegen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Eigentlich wollte er ihr anbieten, sie sollte sie behalten, aber das war Unsinn. Sie brauchte sie jetzt nicht mehr, außerdem waren sie ihr ohnehin viel zu groß.

Sie griff nach einer Lederschnur, schlang sie der Hündin um den Hals und trat durch die Stalltür hinaus ins helle Sonnenlicht.

„Alles ist sicher verschlossen ...“ Pedlington blieb wie angewurzelt stehen und starrte die Frau an.

„Das ist ...“, begann Harry.

„Lady Helen Freymore, ich weiß“, erwiderte Pedlington und klang nicht gerade erfreut.

Lady Helen Freymore? Harry zuckte zusammen. Freymore war der Familienname der Earls of Denton, er hatte auf allen Papieren des Besitzes gestanden. Auch Harry starrte sie an. ‚Einfach-nur-Nell‘ war Lady Helen Freymore?

Die Frau, die im strömenden Regen mit schmutzigen, baumelnden Beinen auf einem einfachen Fuhrwerk gesessen hatte; die Frau, die geschickt Geburtshilfe bei einer Stute geleistet hatte, sollte die Tochter eines Earls sein? Es musste sich um ein Missverständnis handeln.

„Lady Helen, Sie wissen doch, dass Sie nicht hier sein sollen“, sagte Pedlington mit einer Mischung aus Mitleid und Verzweiflung. „Ich habe es Ihnen doch schon erklärt.“ Er warf Harry einen verlegenen Blick zu und fuhr leiser fort: „Sie können hier nicht bleiben. Das Haus hat monatelang leer gestanden und meine Anweisung lautet, es als unbewohnten Besitz zu verkaufen.“ Er legte besondere Betonung auf das Wort ‚unbewohnt‘.

„Das verstehe ich, Mr Pedlington“, gab sie ruhig zurück. „Ich habe auch bereits entsprechende Maßnahmen ergriffen, aber die Stute war in Not.“

„Die Stute?“

„Ja, sie ist eigentlich schon zu alt zum Fohlen und dann stellte sich auch noch heraus, dass ihr Fohlen falschlag. Beide wären gestorben, wenn ich nicht da gewesen wäre und das Fohlen im Mutterleib gedreht hätte.“

„Lady Helen, bitte!“, protestierte Pedlington und lief puterrot an. „Solche Dinge dürften Sie eigentlich gar nicht wissen!“

Sie sah ihn nachdenklich an. „Ja, aber das tue ich nun einmal. Ich habe noch nie verstanden, warum man Frauen in Unkenntnis über einen Prozess lässt, der für sie schließlich ...“

„Lady Helen!“ Der Anwalt warf Harry einen tödlich verlegenen Blick zu.

Sie seufzte, ersparte dem Mann aber weitere Peinlichkeiten. „Die Stute hat einmal mir gehört, also liegt mir ihr Wohlergehen sehr am Herzen.“

„Nun, jetzt gehört sie Ihnen aber nicht mehr“, erwiderte der Anwalt gereizt. „Man hat mir versichert, Sie hätten eine neue Bleibe gefunden, Lady Helen.“

„Das habe ich natürlich“, bestätigte sie würdevoll. „Ich wollte auch heute Morgen abreisen, aber ...“

„Dann tun Sie das bitte. Die Tiere gehen Sie nichts mehr an. Sie werden an den verkauft, der sie haben will.“

Das Blut schoss in ihre sonst so blassen Wangen. „Sie dürfen sie nicht bewegen! Sie hat gerade erst gefohlt und das Wetter wird von Tag zu Tag schlechter. Das Fohlen sollte ...“

„Darüber haben Sie nicht mehr zu bestim…“

„Ich kaufe sie beide“, meldete Harry sich zu Wort.

Nell und der Anwalt drehten sich verblüfft zu ihm um. „Sie?“, fragte Nell nach.

Er nickte. „Und ich werde mich gut um sie kümmern. Sie haben mein Wort.“ Er hielt ihr die Hand hin.

Sie drückte sie, ungewöhnlich fest für eine Dame. Er nahm ihren Duft jetzt besser wahr, nach Seife, Pferd, frischem Heu und dazu warm und weiblich. Nur ein leichtes Ziehen und er könnte sie im Arm halten und diese weichen Lippen kosten...

Was tat er da bloß? Harry zügelte sein Verlangen. Er kannte sie ja nicht einmal. Aber er wollte sie kennen, Lady hin oder her.

„Danke.“ Sie schenkte ihm dieses strahlende Lächeln, das ihn schon im Wald völlig verzaubert hatte.

Sein Körper reagierte.

Sein Verstand löste sich auf.

Ihm fiel kein einziges Wort mehr ein.

„Mr Morant, ich übernehme keine Verantwortung für auch nur ein Tier, das hierbleibt.“ Pedlingtons Stimme holte Harry aus seinen Tagträumen. „Die Tiere müssen fort. Mr Morant? Lady Helen? Ich muss wirklich darauf bestehen.“

Der Mann klang eindeutig pikiert. Harry hätte ihn am liebsten erschlagen wie ein lästiges Insekt.

„Und, Lady Helen, ich muss ferner darauf bestehen, dass Sie Firmin Court jetzt verlassen. Ich habe Ihnen schon vor über einer Woche mitgeteilt, dass es nicht länger Ihrer Familie gehört, aber Sie haben sich schamlos über meine Anweisungen hinweggesetzt. Ich möchte sogar behaupten, dass Sie den Besitz im Grunde widerrechtlich betret…“

Sie entzog Harry abrupt ihre Hand und drehte sich zu dem Anwalt um. „Wie können Sie es wagen, so etwas zu sagen! Firmin Court hat sich Hunderte von Jahren im Besitz meiner Familie mütterlicherseits befunden und ich habe ihm gegenüber eine Verpflichtung, die auch anwaltliche Papiere mir nicht nehmen können.“ Sie machte eine verächtliche Handbewegung. „Trotzdem, meine Taschen sind gepackt, meine Abreise ist organisiert, und ich werde noch vor Ende des Tages von hier verschwinden.“

„Das haben Sie schon einmal gesagt“, entgegnete der Anwalt verdrießlich, „und dennoch ...“

„Sie haben wohl Angst, ich könnte mich hier herumtreiben wie ein streunender Hund und die neuen Eigentümer in Verlegenheit bringen“, fuhr sie ihn wütend an. „Keine Sorge ...“

„Was für ein Unsinn“, unterbrach Harry sie heftig. Er wandte sich dem Anwalt zu. „Noch ein despektierliches Wort zu Lady Helen, und ich schiebe Ihnen Ihre Worte so tief in den Rachen, dass Sie ein Jahr lang nicht mehr sprechen können!“

Pedlington starrte ihn verblüfft an, presste aber die Lippen fest aufeinander.

Harry drehte sich wieder zu Nell um, die ihn aus großen, überraschten Augen anstarrte. „Ich entschuldige mich für Pedlingtons Benehmen, Lady Helen. Ich bin der neue Eigentümer und Sie sind herzlich willkommen, solange hierzubleiben, wie Sie wünschen.“ Für immer, wenn du willst, fügte er spontan im Stillen hinzu. Wo zum Teufel war dieser Gedanke hergekommen?

Sie starrte ihn an und befeuchtete ihre Lippen. Harry schluckte.

Der Anwalt gab einen erstickten Laut von sich und sagte vorsichtig hoffnungsvoll: „Der neue Eigen… Sie meinen …?“

„Ich meine, ich werde Ihnen ein Angebot machen, obwohl Ihre Kanzlei wenig erbaut darüber sein wird. Doch in dem schlechten Zustand, in dem sich der Besitz befindet ...“ Er zuckte die Achseln.

„Aber ...“

„Gentlemen, ich überlasse Sie Ihren Geschäften“, meldete Lady Helen sich zu Wort. „Mr Morant, Mr Pedlington, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

Harry hielt sie am Arm zurück. „Sie gehen nicht fort.“ Er konnte sie einfach nicht gehen lassen.

Sie sah auf seine Hand, mit der er sie festhielt, und warf ihm einen verwirrten Blick zu. „Nein“, sagte sie nach einer Weile. „Ich komme gleich noch einmal, um mich zu vergewissern, dass die Nachgeburt vollständig herausgekommen ist und dass das Fohlen stehen und bei seiner Mutter trinken kann.“

Pedlington wurde rot.

Harry zwang sich, ihren Arm loszulassen. „Sie bleiben hier!“

Sie sah ihn kühl an, und ihm wurde bewusst, dass er sie angeschnauzt hatte wie einen seiner Männer in der Armee. Und ausgerechnet er hatte Pedlington Respektlosigkeit vorgeworfen!

„Wir müssen noch die Sache mit dem Hut und den Handschuhen besprechen“, fügte er unbeholfen hinzu. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein.

Ihre Miene wurde wieder weicher und ein feines Lächeln huschte über ihre Züge. „Ja, natürlich. Eine wichtige Angelegenheit.“

Mit beinahe schmerzhaftem Verlangen sah er ihr nach. Sie bewegte sich anmutig und ohne Eile. Ihre Figur entsprach nicht dem derzeitigen Ideal, dennoch begehrte er sie mit einer Wildheit, wie er sie noch nie zuvor empfunden hatte.

Neulich hatte er sie mit einer Madonna verglichen – einer Madonna des Waldes. Eine Madonna, von der er geglaubt hatte, sie sei für ihn verloren.

Dieses Mal würde er sie nicht mehr fortgehen lassen.

Auch wenn sie von Adel war.

Harry war von einigen der schönsten Damen der Londoner Gesellschaft umgarnt worden. Er hatte gründlich und schmerzhaft gelernt, was die eleganten Damen von Harry Morant wollten – ein lüsternes Abenteuer, mehr nicht.

Der junge Harry Morant hatte zunächst nicht verstanden ... nicht begriffen, dass er im Bett einer hochwohlgeborenen Dame zwar willkommen war, sie ihn aber niemals heiraten würde...

Doch er hatte seine Lektion gelernt, im zarten Alter von dreiundzwanzig Jahren, als er jung, naiv und zum ersten Mal Hals über Kopf wirklich verliebt gewesen war.

Harry war schon seit Jahren nicht mehr naiv. Er wusste inzwischen genau, was er von vornehmen Damen zu erwarten hatte.

An der Küchentür blieb sie noch einmal stehen und drehte sich zu ihm um.

Wieder durchzuckte ihn ein heftiges Begehren. Sie war weder schön im klassischen Sinne noch sinnlich gebaut, und sie spielte ganz sicher nicht ihre Reize aus, um sich attraktiver zu machen, dennoch konnte er die Augen nicht von ihr lassen. Sobald sie in der Nähe war, reagierte sein ganzer Körper auf sie. Ob Milchmädchen oder Bauerntochter, das war ihm völlig gleichgültig gewesen.

Aber die Tochter eines Earls ... Das war nun wirklich eine unerwartete Ironie des Schicksals.