Leseprobe Im Bann des Dukes

Kapitel eins

Die Nachmittagssonne verschwand hinter dicken grauen Wolken, die rasch den Himmel bedeckten. Der Duft von wilder Erde durchdrang die Luft, und ein kühler Windstoß brachte die goldenen Vorhänge an den offenen Fenstern zum Flattern. Sebastian George Crawford, Duke of Hartford, bemerkte träge, dass es für das Frühjahr ungewöhnlich trüb war. Insgeheim war er jedoch dankbar für die Launenhaftigkeit des Wetters, denn der überraschende Wechsel von sonnig und klar zu düster passte perfekt zu seiner grüblerischen Stimmung, als er im Arbeitszimmer seiner Schwester gegenüberstand, die gerade von einem Ausflug zurückgekehrt war.

Drei kleine Lügen.

Die man einzeln betrachtet als unwichtig erachten könnte, da solche Flunkereien kaum der Rede wert waren. Zusammengenommen ergaben sie jedoch die Summe aller Befürchtungen vieler älterer Brüder. Besonders die eines Bruders, der seiner jüngeren Schwester eines der gefährlichsten Dinge erlaubt hatte, die man in ihrem zarten Alter erwartete – nämlich ihr Debüt auf dem Heiratsmarkt der Londoner Gesellschaft.

Denn dort lauerte die wahre Schattenseite des ton. Ließ man nämlich eine Debütantin aus den Augen, bestand die Gefahr, dass sie einem Wüstling und Casanova in die Hände fiel, der sie mit verführerischem Geflüster und Berührungen in einen verhängnisvollen Skandal verwickeln könnte.

Nur dass er seine Schwester, Lady Perdita, in Sicherheit geglaubt hatte, denn sie war bereits mit einem jungen Gentleman verlobt, den sie von ganzem Herzen liebte. Zumindest hatte sie das Sebastian gegenüber beteuert, als sie ihn angefleht hatte, ihre Verlobung zu erlauben.

Diese drei kleinen Lügen – Kopfschmerzen, um vorzeitig von einem Ball zu verschwinden, jedoch erst Stunden später zu Hause aufzutauchen, ein angeblicher Nachmittagsausflug zum Hutmacher, und jetzt das …

„Der Spaziergang im Park war also schön“, sagte Sebastian in ruhigem, unbekümmertem Ton, jedoch mit einem widerlichen harten Knoten im Magen.

Er wandte sich ihr zu, wobei ihm die aufsteigende Röte auf ihren sanft gerundeten Wangen nicht entging. In Anbetracht ihrer engen Beziehung zum jungen Viscount hatte er sie vor unerwünschten Annäherungsversuchen sicher gewähnt. Die roten Wangen und dieses kurze, unergründliche Funkeln in den ausdrucksstarken graublauen Augen gaben Sebastian Rätsel auf. Warum sollte sie lügen müssen?

„Ja, der Spaziergang im Hyde Park war ganz wunderbar“, sagte Perdie, zupfte an den Bändern ihrer Haube und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Es war sehr entspannend.“

Sebastian verbarg gekonnt den Stich im Herzen, als seine Schwester, sein Ein und Alles, sich aalglatt eine weitere Lüge aus den Fingern sog. Nicht einmal erwachsene Männer, mächtige Lords und jene, mit denen er geschäftlich zu tun hatte, würden es wagen. Und falls sie es doch versuchten, dann bestimmt nicht mit solcher Gelassenheit. Seine Schwester hingegen rutschte weder unruhig hin und her noch wandte sie schuldbewusst den Blick ab. Das konnte nur bedeuten, dass Perdie immer geübter darin wurde und sich damit nicht unwohl fühlte. Die Notwendigkeit war ihm schleierhaft und Sebastian musste sich eingestehen, dass es wehtat.

„Perdie“, begann er unwirsch. „Du weißt doch, dass du mit mir über alles reden kannst?“

Ein kurzer Schauer überlief sie, als sie seinem Blick auswich. „Aber natürlich. Wie seltsam, dass du das sagst, Bruder.“ Wie um ihm zu versichern, dass alles in Ordnung war, eilte sie zu ihm, stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange. „Wenn es dir nichts ausmacht, Seb, verzichte ich lieber auf den Nachmittagstee und das Geplauder. Richtest du Mama bitte aus, dass ich ein Nickerchen mache, um mich für den Ball heute Abend auszuruhen? Der Spaziergang hat mich doch mehr erschöpft, als ich dachte.“

Es lief ihm kalt den Nacken hinunter. „Lord Owen war heute hier.“

Perdie, die sich gerade von ihm abwandte, erstarrte. „Ach ja?“

„Allerdings. Anscheinend hattet ihr vor, mit seiner neuen Kutsche auszufahren. Das Wetter war herrlich, und es gab einiges zu besprechen.“

Ohne sich umzudrehen, erwiderte sie: „Oje, das muss ich wohl vergessen haben! Wie dumm von mir. Ich werde ihm eine Entschuldigung schicken und auf Lady Edgecombes Ball heute Abend zwei Tänze für ihn reservieren.“

Sebastian bemerkte ihre steife Haltung. „Als ich Lord Owen sagte, dass du nicht hier bist, machte er sich auf den Weg zum Hyde Park. Ich war überrascht, als er nach einigen Stunden zurückkehrte und sagte, er habe dich nicht gesehen, obwohl er eine Runde durch den Park gedreht hat.“

Ein leichtes Zittern ergriff ihre zierliche Figur. Sebastian trat mit einem mulmigen Gefühl im Magen ein paar Schritte auf sie zu.

„Perdie?“

Mit hoch erhobenem Kinn und gefasstem Gesichtsausdruck wandte sie sich ihm zu. Sie presste die Lippen zusammen, und in ihren Augen blitzte ein Gefühl auf, das Sebastian nicht benennen konnte. „Der Park muss zu überfüllt gewesen sein. Ein Gentleman hätte einfach einen neuen Ausflug arrangiert, statt mich in den Park zu verfolgen. Wie mittelalterlich von ihm.“

„Er hat dich nicht verfolgt“, sagte Sebastian sanft und verbarg die Überraschung über diese bissige Antwort. „Lord Owen ist schließlich dein Verlobter. Sogar ich hielt es für angemessen, dass er in der Hoffnung, dich zu sehen, zum Hyde Park gefahren ist.“

„Und nur weil er mein Verlobter ist, darf ich nicht allein mit meiner Begleitung spazieren gehen?“

„Selbstverständlich nicht, Perdie.“ Sebastian setzte sich lässig auf die Kante seines Schreibtisches. „Hattest du Streit mit Lord Owen? Du scheinst dem Viscount gegenüber verstimmt zu sein.“

Lord Owen hatte sich vorhin wie ein Narr aufgeführt und darüber geschimpft, ihre Liebe und Aufmerksamkeit verloren zu haben. Sebastian hatte ihm eine Standpauke gehalten und ihn dann nach Hause geschickt.

„Wir haben uns nicht gestritten“, sagte Perdie leise und steuerte die Tür an. „Mir ist gerade eingefallen, dass ich noch einige Briefe schreiben muss. Ich kümmere mich darum, bevor ich mich ausruhe.“

„Du kannst mir alles anvertrauen“, sagte er, während das Unbehagen in seinem Bauch wuchs und sich im ganzen Körper ausbreitete. Sebastian konnte nicht genau sagen, wann seine Schwester begonnen hatte, sich zu verändern. Die Veränderung war zwar verschwindend gering, aber dennoch vorhanden. Sie hatten einander noch nie belogen, und doch tat sie es neuerdings mit solcher Leichtigkeit. „Perdie, warst du wirklich im Hyde Park?“

Sie verkrampfte die Hand um den Türknauf. „Wo sollte ich denn sonst gewesen sein?“

Dann öffnete sie die Tür, stürmte hinaus und schloss sie hinter sich.

Sebastian starrte die geschlossene Tür an und wartete darauf, dass Perdie zurückkam, den Kopf neigte und in ihrer charmant-unbefangenen Art lachte, bevor sie zugab, woanders gewesen zu sein. Die Tür öffnete sich, herein kam jedoch seine Mutter, die Duchess of Hartford, in einem modischen dunkelgrünen Reitkleid aus der neuesten Kollektion und einem Hut mit mehreren Federbüscheln, der keck auf den mahagonibraunen Locken saß. Mit ihren fünfundfünfzig Jahren wirkte seine Mutter zehn Jahre jünger und besaß die Energie einer noch jüngeren Frau.

„Ist Perdie heimgekehrt?“, fragte sie und streifte sich die Handschuhe ab.

„Ich wusste nicht, dass sie vermisst wurde“, gab er trocken zurück.

Seine Schwester hatte nämlich keine Mühen gescheut, um für drei Stunden verschwinden zu können. Und dann deswegen zu lügen. Verdammter Mist. Das war ein potenzieller Skandal, den er sich weder für sie noch für seine Familie wünschte.

„Anna erwähnte, sie sei verschwunden“, sagte seine Mutter, nahm den Hut ab und schüttelte die Federn auf, bevor sie ihn auf das nächstgelegene Sofa warf.

Mrs Anna Harrington war eine Dame aus bescheidenen Verhältnissen, die seiner Mutter als Gesellschafterin diente. Außerdem war sie eine Wichtigtuerin mit einer Vorliebe für Tratsch. Mrs Harringtons Tochter, Miss Felicity, war die Freundin und Anstandsdame seiner Schwester, und die beiden verbrachten viel Zeit miteinander. Was immer Perdie im Schilde führte, Miss Felicity war bestimmt darüber informiert.

„Eure Tochter war nicht verschwunden. Sie behauptet, mit Miss Felicity im Hyde Park gewesen zu sein.“

Seine Mutter zog geziert eine Braue hoch. „Ich bin mindestens dreimal die Rotten Row hinunter und um den Serpentine-See gegangen, um mit Lady Ambury und Lady Landish über die neuesten Entwicklungen zu sprechen. Aber Perdie habe ich nicht gesehen.“

„Ich weiß, dass sie nicht dort war.“

Die Tragweite seiner Worte raubte ihr den Atem, und sie ließ sich langsam auf den gut gepolsterten Sessel vor dem schwach brennenden Feuer sinken. „Perdie hat gelogen?“

„So ist es.“

Sie legte sich eine zitternde Hand auf die Brust. „Seid Ihr sicher, Sebastian?“

„Allerdings.“

„Ich kann es nicht fassen.“

„Eure Tochter hat behauptet, zum Park zu gehen, war aber ganz woanders.“

Ein beunruhigter Ausdruck trat in die hellblauen Augen seiner Mutter. „Warum sollte Perdie so leichtsinnig sein? Und wie habt Ihr davon erfahren?“

„Lord Owen ist vorbeigekommen, weil sie mit seiner neuen Kutsche ausfahren wollten“, sagte Sebastian, ging zum Lehnstuhl und setzte sich. Er erzählte kurz, wie Perdies Verlobter zum Park gefahren und völlig verwirrt zum Stadthaus zurückgekehrt war.

„Wie kann er es wagen, einen solchen Verdacht gegenüber Perdie zu hegen?“, blaffte die Duchess. „Sie sind seit zwei Jahren verlobt und heiraten in drei Monaten. Wie kommt er auf diesen Unsinn, er könnte ihre Zuneigung verlieren? Wem könnte er noch davon erzählen?“

„Um zu erfahren, wo er Perdie hingebracht hat, bin ich mit dem Kutscher hart ins Gericht gegangen.“ Fast schon amüsiert über ihre Kühnheit schüttelte Sebastian den Kopf. „In den letzten Wochen hat sie ein bestimmtes Stadthaus am Berkeley Square aufgesucht. Zum Glück begleitet Miss Felicity sie immer. Aber Perdie hat den Kutscher bestochen, damit er es niemandem erzählt, wenn sie die Kutsche nimmt. Und da die Dienerschaft sie gernhat, ließ er sich dazu überreden. Er wollte zunächst nicht damit herausrücken, doch dann habe ich ihn daran erinnert, wer seinen Lohn zahlt.“

Sebastian verspürte großes Mitgefühl für seine Mutter, die schrecklich blass geworden war.

„Wie bitte?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, in ihren Augen standen Angst und Empörung. „Meine Tochter würde nichts Anstößiges tun, was den guten Namen und Ruf dieser Familie ruinieren würde.“

Eine nervöse Unruhe ergriff Besitz von Sebastian. „Wir wissen nicht, wem das Haus gehört“, erinnerte er sie sanft, obwohl er selbst nicht glaubte, dass etwas Unschuldiges dahintersteckte. Wenn sie über jeden Verdacht erhaben wäre, müsste seine Schwester weder lügen noch den Kutscher bestechen. Er hatte ihr jede Gelegenheit gegeben, mit der Wahrheit herauszurücken.

„Spielt es denn eine Rolle, wem das Haus gehört? Sicherlich handelt es sich bei Perdies Besuchen dort um nichts Anständiges und Seriöses. Lieber Gott im Himmel, was hat sie sich nur dabei gedacht?“

Sebastian wusste nur allzu genau, was in den weniger zivilisierten Köpfen von Männern herumspukte. Was die Gedanken von Damen betraf, hielt er es für leichter, ein mit Fallen übersätes Schlachtfeld zu überqueren, als diese zu verstehen. Er hatte keine Ahnung, was in seiner Schwester vorging und was sie gerade durchmachte, und das verängstigte ihn zutiefst. Dabei war er kein Mann, den man so leicht aus der Ruhe bringen konnte. Denn er war ein Duke, und das bereits seit seinem neunzehnten Lebensjahr. Außerdem war er mehr als Perdies Bruder, nämlich praktisch ihr Vater und Vertrauter. Doch Sebastian konnte spüren, wie sie ihm entglitt, und die damit verbundene Hilflosigkeit war unerträglich.

In den Augen seiner Mutter erkannte er eine ähnliche Angst. Und die Absicht, alles in Ordnung zu bringen, wuchs unerschütterlich in ihm. Seine Pflicht hatte immer der Familie gegolten, und er hatte sie mit Stolz, Liebe und Ehre angenommen. „Macht Euch keine Sorgen, Madam. Ich werde der Sache auf den Grund gehen.“

Sie schüttelte leicht benommen den Kopf. „Wo ist sie? Ich verlange eine Erklärung.“

„Sie soll nicht erfahren, dass wir es wissen.“

Seine Mutter erhob sich. „Ihr macht Euch immer noch Gedanken um ihre Gefühle, obwohl Ihr …“

„Mutter, ich kann weder Perdies Gedanken lesen noch möchte ich sie mit unserem Verdacht konfrontieren, bevor wir nicht wissen, wer in dem Stadthaus lebt und worauf wir uns einstellen müssen. Sie kann äußerst störrisch sein, und ich will nicht, dass sie diesen Schurken warnt und ihm so die Flucht ermöglicht.“

Die Duchess schloss mit schmerzverzerrtem Gesicht die Augen. „Ich muss an all die Gelegenheiten denken, zu denen wir sie nicht im Auge hatten. Es … es ist unvorstellbar.“

Offenbar hatte seine Mutter dieselben Schlüsse gezogen, die auch er befürchtete. Nämlich, dass es jedes Mal, wenn sich seine Schwester tagsüber davonstahl, nur um die Besuche in diesem Haus ging, ebenso wie letzte Woche, als sie gebettelt hatte, den Ball wegen ihrer Kopfschmerzen früher verlassen zu dürfen.

„Wie oft besucht sie diesen … Ort?“, flüsterte sie.

„Mindestens dreimal pro Woche im vergangenen Monat.“

„Und das haben wir nicht bemerkt? Auch wenn sie versprochen ist und Freiheiten genießt, die anderen Debütantinnen nicht gewährt werden, ist sie glücklicherweise immer in Begleitung von Miss Felicity!“ Ihr Gesicht hellte sich erst auf, dann presste sie die Lippen zusammen. „Natürlich hat Perdie Miss Felicity überredet, uns auf diese schändliche Weise zu täuschen! Lord Owen darf nie davon erfahren, Sebastian. Er liebt Perdie sehr, und er stammt aus einer guten, rechtschaffenen Familie. Sollte er von ihren Aktivitäten erfahren …“

Sie schlug die Hand vor den Mund, als könnte sie es nicht ertragen, ihre schlimmste Befürchtung auszusprechen – dass ihre Tochter sich hatte verführen und ruinieren lassen.

„Perdie ist vernünftig“, beruhigte Sebastian sie und verbarg die eigene Aufgewühltheit und die tief in ihm brodelnde Wut. Wer immer sich an seiner Schwester vergriffen hatte, würde es noch bereuen. „Sie ist bestimmt nicht abtrünnig geworden. Vielleicht ist es anders, als wir denken.“

Seine Mutter warf ihm einen verärgerten und enttäuschten Blick zu. „Ich werde so lange schweigen, bis Ihr herausgefunden habt, was es mit der ganzen Sache auf sich hat.“

„Ihr habt mein Wort, dass ich mich umgehend darum kümmere. Erwartet mich heute Abend nicht auf Lady Edgecombes Ball. Und lasst Perdie nicht aus den Augen.“

Die Duchess nickte. „Habt Ihr vor, dieses … dieses Haus heute noch aufzusuchen?“

„Ich habe meinen Bevollmächtigten beauftragt, den Besitzer oder Bewohner des Hauses zu ermitteln. Er sollte die Auskunft morgen bekommen. Allerdings sollte ich den Besuch nicht länger aufschieben.“

Seine Mutter holte ein paarmal tief Luft, wobei es schmerzte, den Kummer in ihren Augen zu sehen. Tief drinnen empfand er dasselbe, da er keine Ahnung hatte, in welchen Blödsinn seine junge, unschuldige Schwester sich gestürzt hatte.

„Der Skandal …“

„Lasst uns nichts überstürzen. Wir wissen schließlich nicht, was sich in dem Haus befindet. Es könnte sich um etwas Unschuldiges handeln.“

„Ihr seid ein Mann von Welt“, blaffte sie. „Ihr glaubt diesen Unsinn doch selbst nicht. Wegen ihrer Rücksichtslosigkeit könnte man euch beiden das Leben sehr schwer machen. Ihr mögt vielleicht ein wohlhabender Duke sein, doch auch Euer Ruf ist von Bedeutung. Der Ruf unserer Familie ist von Bedeutung. Wenn das herauskommt, stehen Eure Chancen bei Lady Edith auf dem Spiel.“

Er starrte seine Mutter an und bewunderte fast die manipulative Leichtigkeit, mit der sie den Namen dieser Dame in das Gespräch hatte einfließen lassen. „Wie ich sehe, glaubt Ihr den Gerüchten im ton, dass ich vorhabe, um Lady Ediths Hand anzuhalten.“

Im White’s lief sogar eine eingetragene Wette, dass er noch diesen Monat oder zum Jahresende Lady Edith einen Antrag machen würde. Wenn er es nicht tat, würde so mancher eine beachtliche Summe verlieren. Als er davon gehört hatte, hatte er nur verärgert gelacht.

Angesichts seines kalten Tons warf seine Mutter ihm einen bestürzten Blick zu. „Möchtet Ihr etwa eine andere heiraten? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es eine Frau gibt, die besser zu Euch passt. Sie wäre die perfekte Duchess, denn sie ist die Tochter eines Marquess, eine sehr gute Tänzerin und spricht drei Sprachen fließend. Euch ist sicher bewusst, dass sie die einzige geeignete Kandidatin war, mit der Ihr in der letzten Saison getanzt habt. Man hat wochenlang nur darüber gesprochen.“

„Das war doch kein Eheversprechen“, erwiderte er, „sondern lediglich ein Tanz.“

„Es war mehr als ein Tanz. Lady Edith ist bekannt dafür, einige gute Partien abgewiesen zu haben. Und wir wissen vermutlich beide, auf wen sie wartet.“

„Das bin hoffentlich nicht ich!“

„Aber natürlich seid Ihr das!“

Obwohl ihm viele Gerüchte zu Ohren gekommen waren, er habe endlich seine Duchess gefunden, war er alles andere als überzeugt davon. Auch wenn Lady Edith tatsächlich eine Schönheit war und man sie während der letzten drei Saisons ganz offen als unvergleichlich bezeichnet hatte. Zudem war sie eine geistreiche Gesprächspartnerin, und es gefiel ihm, dass sie bei Unterhaltungen nicht versuchte, ihre Intelligenz zu verbergen.

„Ich habe sie in keiner Weise ermutigt …“

Seine Mutter lachte, wobei ihn der Spott in ihren Augen bis ins Mark traf. „Ihr seid dreißig, mein Lieber, und Eure Stimmungsschwankungen in letzter Zeit sind mir nicht entgangen. Ihr zieht in Erwägung, ein Nest zu bauen und die Leere mit dem Getrappel kleiner Füße zu füllen. Außerdem bin ich zufällig auf Eure Liste gestoßen. Deshalb weiß ich ganz genau, dass Lady Edith ganz oben rangiert.“

Verdammter Mist. Er hatte vor Kurzem eine Liste von allen heiratsfähigen Damen der Gesellschaft erstellt. Sebastian hätte sich denken können, dass die gegenwärtige Duchess schnüffeln würde. Jetzt verstand er, wieso sie ihn in den letzten Wochen so unverhohlen an seine Pflicht gegenüber Titel und Land erinnert hatte. „Wenn Ihr mich bitte entschuldigt, Madam. Ich muss mich auf den Besuch am Berkeley Square vorbereiten.“

„Ohne Vorwarnung dort aufzutauchen, dürfte dem Schurken einen gewaltigen Schrecken einjagen. Ich bezweifle doch sehr, dass er Euch empfängt.“

„Ich bin der Duke of Hartford. Wer sollte es wagen, mich abzuweisen?“

Kapitel zwei

Vier Stunden zuvor …

Heiteres und unbeschwertes Gelächter drang durch die Zimmer und Flure eines gewissen Hauses am Berkeley Square 48. Lady Theodosia Winfern, von Freunden Theo genannt, schlenderte barfuß den Flur im ersten Stock entlang, wobei ihr dichtes goldbraunes Haar über ihre Schultern bis zum unteren Rücken fiel. Ihr gelbes Musselinkleid war zerknittert und leicht schmuddelig, dennoch sah es mit den gleichfarbigen eingewebten Satinstreifen und den unzähligen leuchtend gelben Schleifchen sehr hübsch aus.

Durch eine geöffnete Tür drang Gelächter, das sie gleich anlockte. Beim Anblick der fünf Frauen, die es sich auf unschickliche Weise auf dem Teppich beim Feuer bequem gemacht hatten und Karten spielten, musste Theo lächeln und blieb an der Türschwelle stehen. Sobald die Damen das Haus betraten, legten sie die Hauben und Schuhe sowie all das affektierte, perfekte, damenhafte Gehabe ab und lösten ihre kunstvollen Frisuren. Mit Verlassen des Hauses waren sie wieder der Inbegriff der Tugendhaftigkeit. So, wie es sowohl die Gesellschaft als auch ihre Familien erwarteten – prüde, fügsam und mit tadellosem Benehmen.

„Wir haben die Königin gestürzt“, kreischte Lady Anna und streckte die Hände in die Luft, wobei es sie nicht im Geringsten kümmerte, dass sie die Karten auf dem gesamten Aubusson-Teppich verstreute.

„Ihr schummelt doch!“, rief Lady Judith in die Runde und schleuderte schmollend ihre Karten zu Boden, weil sie verloren hatte. „Ihr habt euch gegen mich verschworen, das weiß ich genau!“

Keine der Damen verübelte ihr das unsportliche Verhalten, sondern alle nahmen es mit Humor. Es dauerte nicht lange, bis Judith verlegen kicherte und sie zu einer Revanche herausforderte. Jemand schlug sogar eine Wette vor, worauf Lady Elizabeth aufsprang, zum kleinen Tisch eilte und Papier und Tintenfass holte, um die Einsätze zu notieren.

Theo ging kichernd zum nächsten Raum, wo angestrengtes Ächzen und das Klirren von Degen zu hören waren. Der ortsansässige Fecht- und Bogenschützenmeister, Monsieur Jean-Phillipe Lambert, parierte gerade mit geschmeidiger Anmut Lady Francies Vorstoß.

Ursprünglich war es nicht Theos Plan gewesen, die Mitglieder ihrer Gemeinschaft in der Kunst der Selbstverteidigung zu unterrichten. Doch dann war sie vor einigen Monaten bei einem Ball auf die bitterlich weinende Miss Carlisle gestoßen, deren Kleid an der Schulter zerrissen war. Irgendein Flegel war über sie hergefallen, um sie schändlich ihrer Ehre und ihres Rufes zu berauben und sie somit zu einer Ehe zu zwingen. Ihr hilfloser Blick hatte Theos Zorn geweckt, worauf sie die junge Dame zügig in einen abgeschirmten Bereich geführt, ihre Kleidung gerichtet und ihr innerhalb von Minuten gezeigt hatte, wie man eine Faust machte und einsetzte, falls ihr noch einmal ein Rabauke zu nahe treten sollte.

Das hatte sie dazu inspiriert, die Frauen außerdem mit Fechten und Boxen vertraut zu machen. Auch wenn man inzwischen vielen Frauen diese Sportarten zur leichten körperlichen Ertüchtigung erlaubte, herrschte unter Theos Dach eine härtere Gangart.

Abgesehen von den beiden war der Raum leer, und da sie so konzentriert bei der Sache waren, verweilte Theo nicht länger. Sie liebte es, durch den Flur zu schlendern und nach ihren Mitgliedern zu sehen. Ein Dutzend große Zimmer waren über den ersten und zweiten Stock verteilt, wovon jedes über eine behagliche, warme und einladende Atmosphäre verfügte. Die Räume im Erdgeschoss gehörten zum größeren Gemeinschaftsbereich, wurden zu dieser Tageszeit aber kaum genutzt.

So vielen Frauen diesen ruhigen und angenehmen Ort bieten zu können, erfüllte sie immer wieder mit Freude. Sie waren nicht nur Mitglieder der Vereinigung, sondern Schwestern. Sie fungierten als die Familie, die sie nie hatte. Auch wenn sie eher die Rolle der großen Schwester einnahm, war sie mit vielen der Mädchen befreundet. Einige wenige Mitglieder waren älter als Theo mit ihren sechsundzwanzig Jahren, und mit diesen verband sie eine andere Art von Freundschaft. Sie waren zu ihren älteren Schwestern und Tanten geworden und außerdem ihre engsten Freundinnen.

Ein verzweifelter Seufzer ließ sie durch eine angelehnte Tür spähen. Eine junge Frau, eines der neuesten Mitglieder, saß am Fenster mit Blick auf die Gärten, die Ellbogen auf die Fensterbank gestützt. Obwohl sie ein gelbes Kleid trug, das ihre schlanke Figur betonte und ihr durch seine Helligkeit ein fröhliches Aussehen verlieh, schien sie zu Tode betrübt. Theos Herz verkrampfte sich. Die junge Frau gab ein reizendes Bild ab. Ihre wehmütige Pose wirkte so natürlich, und das Fenster komplettierte das Bild, da es sie in dem allzu unschuldigen elfenbeinfarbenen Kleid umrahmte, das so bieder war, als wollte sie in ein Nonnenkloster eintreten.

Sie hatte sich so sehr für diesen Ort eingesetzt, damit die Damen des ton, die man praktisch zu Perfektion in allen Bereichen drängte, eine Zuflucht hatten, wo sie sich entfalten konnten, ohne Verurteilung oder Tadel zu fürchten. Innerhalb des Hauses wurden die Mitglieder dazu angehalten, sich von den Erwartungen der Gesellschaft zu befreien und einfach sie selbst zu sein.

Theo klopfte leise an, worauf die Frau ruckartig den Kopf drehte. Es war tatsächlich Lady Perdita, und sie hatte geweint. Sie wischte sich hastig die Tränen aus dem Gesicht und lächelte. Dann presste sie die bebenden Lippen zusammen und hob das Kinn.

„Lady Theo“, sagte sie, sprang auf und machte einen Knicks.

„Du weißt doch, dass wir hier keinen Wert auf Etikette legen, Perdie“, sagte sie sanft und betrat den Salon, der mit nur wenigen Möbeln aus ziseliertem Silber geschmackvoll eingerichtet war. Es gab eine Chaiselongue, zwei Ohrensessel mit hoher Lehne und einen Hocker, alle in prachtvollen violetten und fliederfarbenen Tönen gepolstert. Alle Räume waren großzügig und einladend gestaltet und vermittelten so Offenheit und eine entspannte Atmosphäre.

Theo ließ sich nicht nieder, sondern ging zu Lady Perdita. „Soll ich Tee bringen lassen?“

Perdita stieß ein kleines Lachen aus, und selbst mit den vom Weinen geröteten Augen war sie hinreißend schön. „Ich habe bereits gehört, dass du mit Tee einfach alle Probleme löst. Allerdings habe ich es bisher für eine Lüge gehalten.“

Theo lächelte. „Mein Glaube an die heilende Wirkung des Tees war wohl Gesprächsthema.“

„Hin und wieder erwähnt man auch den Whisky.“

Theo lachte. „Der ist für die nervenaufreibendsten Zeiten reserviert. Es scheint, als wären all meine Geheimnisse gelüftet.“

„O ja, jeder bewundert und liebt dich“, murmelte Perdie mit abgewandtem Blick.

Wieder einmal spürte Theo, wie sie von dieser Wärme ergriffen wurde. „Wir haben momentan zwar nur siebenunddreißig Mitglieder, aber ich hoffe, dass wir eine besondere Art von Schwesternschaft haben, bei der wir einander vertrauen und uns aufeinander verlassen können.“

Die junge Frau lächelte. „Soll das eine Einladung sein, dir mein Herz auszuschütten?“

„Nur, wenn du glaubst, dass ich dir helfen kann. Und nur, wenn ich dir die offensichtliche Last von den Schultern nehmen kann.“

Sie straffte die besagten schmalen Schultern und schluckte schwer. „Ich bin doch erst seit sechs Wochen Mitglied des Klubs“, sagte sie heiser. „Und hier werden alle … sämtliche Hoffnungen erfüllt, die ich in so eine Gemeinschaft gesetzt hatte. Ich habe so viele wundervolle Frauen kennengelernt, mit denen ich bei gesellschaftlichen Anlässen nie ins Gespräch gekommen wäre.“

Theo runzelte die Stirn. Nur Ladys des ton gehörten dem Klub an. Es war ein großes Wagnis, zu tolerant bei der Auswahl der Mitglieder zu sein, da sie für den Ruf der Frauen, die sich ihr anvertrauten, Sorge tragen musste. Trotz der gesellschaftlichen Verbindungen und der Bekanntheit ihrer Familien fühlten sich einige Frauen wie Außenseiter, weil man sie für belesene Mauerblümchen hielt. Theo akzeptierte nur selten Debütantinnen, doch nach einigen zwanglosen Gesprächen hatte sie manchen von ihnen erlaubt, beizutreten. In der Regel waren die potenziellen Mitglieder völlig ahnungslos, dass sie ein Aufnahmegespräch führten. Man schlug Theo mögliche passende Kandidatinnen vor, worauf sie deren Eignung überprüfte. Manche wurden abgelehnt, weil sie zu ungesellig waren. Es waren weder abfällige Bemerkungen erlaubt noch Plappermäuler gern gesehen, da diese ihre Geheimhaltung in Gefahr brachten. Einige hatten es so weit auf die Spitze getrieben, dass sie sogar Theos Toleranzschwelle überschritten hatten.

Sie hatte Perditas Worte noch gut in Erinnerung, die sie sehr berührt und davon überzeugt hatten, sie trotz ihrer heiklen Herkunft aufzunehmen.

„Ich verzehre mich danach, von den Zwängen meines Lebens befreit zu werden. Bin ich denn selbstsüchtig, weil ich ohne Anstandsdame in den Park gehen will? Ist es so verwerflich, mit offenem, im Wind wehendem Haar spazieren zu gehen?

Theo hatte ihre Hand genommen und erwidert: „Nein, meine Liebe. Und ich kenne einen Ort, wo Ihr die ersehnte Freiheit ein Stück weit genießen könnt.“

Perdies Augen hatten erwartungsvoll gefunkelt. „Bitte tadelt Lady Millicent nicht, aber sie erwähnte, dass Ihr Besitzerin und Schirmherrin eines äußerst exklusiven Klubs für Ladys seid. Ich hoffe so sehr, dass Ihr mich aufnehmt.“

Ihre Ernsthaftigkeit und der Anflug von Elend in ihren Augen hatten Theo gerührt. „Mein Klub ist allerdings ein wenig skandalös. Wir schließen gewagte, aber reizvolle Wetten ab. Ich unterrichte die Frauen in Kampfkunst und zeige ihnen, wie sie sich vor unerwünschten Annäherungsversuchen schützen können. Wir lesen aufregende Bücher, von denen die Männer glauben, wir könnten nicht damit umgehen. Wir besprechen politische Themen und tragen sogar unser Haar offen.“

Mit einem breiten Lächeln war Perdita in Tränen ausgebrochen. Theo hatte es nicht übers Herz gebracht, sie abzuweisen, und hatte seitdem drei weitere Debütantinnen aufgenommen. Solange sie weder Standort noch Details des Klubs verrieten, waren sie mehr als willkommen.

„Ich …“, setzte Perdie an. Dann holte sie mehrmals tief Luft. „Ich werde bald heiraten.“

Damit hatte Theo nicht gerechnet. Mit neunzehn Jahren zählte die junge Frau zu den jüngsten Mitgliedern und war ein kleines Licht innerhalb der Gesellschaft. Tatsächlich hatte Theo sie bisher auf keinem Ball gesehen. Das erste Mal waren sie sich in den Räumen des British Museums über den Weg gelaufen, ein paar Tage später in der Leihbücherei und dann im Hyde Park. Abgesehen von der Anstandsdame war Lady Perdita allein gewesen. Theo hatte es ungewöhnlich gefunden, dass die Damen ohne Diener unterwegs waren, aber vermutet, ihre Familie wäre vielleicht nicht so wohlhabend.

Auch wenn das Kleid der jungen Frau von bester Qualität gewesen war und man nicht daran gespart hatte. Theo hatte keine Nachforschungen angestellt, denn sie wusste genau, wie weit manche Familien gingen, um den Schein zu wahren. Sie warfen mit Geld um sich, obwohl sie in Wahrheit kurz vor dem Bankrott standen. Theos Mutter hatte einmal ein neues Ballkleid für sie gekauft, obwohl sie Kohlen für den Winter dringender benötigt hätten.

„Du wirkst nicht gerade glücklich“, murmelte Theo.

„Ich … ich liebe ihn doch.“

„Ich höre ein Aber heraus.“

„Ich liebe Owen. Aber ich glaube, ich bin noch nicht bereit für die Ehe, Theo. Doch er scheint es kaum erwarten zu können. Er redet nur noch von unserer Vermählung, die in elf Wochen und drei Tagen in Berkshire stattfinden wird.“

„Ich vermute, du bist schon länger verlobt?“

Perdie warf ihr einen fragenden Blick zu, worauf Theo fortfuhr.

„Es gab in letzter Zeit keine Bekanntmachungen auf dem Heiratsmarkt. Und ich weiß, welche Paare sich in der letzten Saison gefunden haben.“

Perdita seufzte schwer. „Ich kenne Lord Owen seit meinem fünfzehnten Lebensjahr. Ich schwöre, es war Liebe auf den ersten Blick. Er hat um meine Hand angehalten, als ich siebzehn war. Ich fand es so romantisch, als er sagte, dass er, um mich nicht zu verlieren, mein Herz erobern wolle, bevor ich mein Debüt auf dem Heiratsmarkt gebe. Meine Mutter war überglücklich und sogar mein Bruder, den man nur schwer zufriedenstellen kann, schien erfreut. Dennoch ermutigte er mich, an einer Saison teilzunehmen, ehe ich über eine Vermählung nachdachte. Doch ich war fest entschlossen, den Mann zu heiraten, den ich liebe. Ich befürchte, es war töricht von mir, so jung eine Ehe eingehen zu wollen. Mein Bruder war mit der Verbindung einverstanden, nachdem ich einer Verlobungszeit von zwei Jahren zugestimmt hatte.“

Theo gefiel gar nicht, dass Perdie alles andere als erfreut klang, sondern eher ernüchtert und enttäuscht. „Inwiefern wurden deine Erwartungen nicht erfüllt?“

Perdita schluckte schwer. „Ich … ich musste nicht mit den anderen Debütantinnen auf dem Heiratsmarkt konkurrieren, weil ich glücklich verliebt bin. Ich benötigte keine Saison und war zufrieden damit.“ Perdie begann, unruhig auf und ab zu gehen. „Ich bin nur mit Mama nach London gefahren, um den Brautausstatter aufzusuchen. Dann war ich auf einigen Bällen, im Theater, besuchte Museen und fuhr mit dem Boot auf der Themse … Und unerklärlicherweise bin ich eines Morgens mit dem Gefühl aufgewacht, als ob ich nicht gelebt hätte, aber schon heiraten müsste. Plötzlich fühlte ich mich eingeengt und bekam keine Luft mehr. Ich fühlte mich gefangen!“ Ihre Stimme brach und sie schlug die Hände vors Gesicht. „O Theo, ich fühle mich so elend! Ich will noch so viel erleben, bevor ich Kinder bekomme.“

Eines der Dienstmädchen erschien mit dem Teewagen. Theo verscheuchte sie und füllte Perdies Tasse. „Hast du mit deinem Verlobten darüber gesprochen?“

Perdie gab einen ärgerlichen Laut von sich. „Mit ihm ist keine vernünftige Unterhaltung möglich! Er redet nur noch von seiner Liebe zu mir und wie erpicht er darauf ist, eine Familie zu gründen.“ Sie runzelte die Stirn und sagte leise: „So kurz nach der Vermählung will ich noch nicht Mutter werden. Ich wünsche mir ausgedehnte Flitterwochen, vielleicht die Möglichkeit, noch die eine oder andere Ballsaison zu genießen, oder sogar eine Reise ins Ausland. Wir sind beide so jung. Ich bin erst neunzehn und er einundzwanzig. Ich war der Meinung, er sähe es genauso, doch er hat vollkommen andere Vorstellungen. Nichts, was ich sage, scheint ihn von seinem Ziel abbringen zu können.“

Perdie brach in Tränen aus, worauf Theo sie rasch in die Arme nahm. So verweilten sie einen Augenblick.

„Es ist so schön hier“, sagte sie stockend. „Ich … ich will nicht aufs Land zurückkehren und heiraten. Zumindest noch nicht. Aber ich habe solche Angst, dass er nicht auf mich warten will. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“

Theo streichelte ihr beschwichtigend die Schultern. „Du solltest mit ihm über deine Angst reden. Mir ist bewusst, dass man Frauen nicht ermutigt, ihre Meinung zu äußern. Allerdings sollte man eine Ehe nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sie ist lebenslang bindend, Perdie. Bis dass der Tod euch scheidet, wie man so schön sagt. Und welchen Sinn ergibt die ganze Sache, wenn du nicht mal deinem Mann gegenüber ehrlich sein kannst?“

Perdie nickte und wirkte etwas ruhiger. Nachdenklich nippte sie an ihrem Tee. „Was, wenn er mir nicht zuhört?“

„Aus deinen Erzählungen schließe ich, dass dein Bruder in dich vernarrt ist.“

Sie vergrub die Zähne in der Unterlippe. „Einigermaßen. Er ist wie ein Vater für mich.“

„Also ist er wesentlich älter als du?“

„Ja, allerdings.“

„Ist er kompromisslos in seinem Auftreten?“

Die junge Frau seufzte. „Ja, teilweise schon. O Theo, ich glaube nicht, dass mein Bruder der Auflösung zustimmt. Der Skandal wäre … er wäre grauenvoll und Mama würde es mir nie verzeihen.“

Theo hegte den Verdacht, dass Perdies Familie im ton keinen großen Einfluss hatte, ansonsten könnte ihr Bruder den Ärger mit Lord Owens Familie sicherlich beilegen. Obwohl es deren gutes Recht war, sie wegen Bruchs des Eheversprechens zu verklagen, schien die erweiterte Gesellschaft nichts von der Verlobung zu wissen. Mit ein wenig Überzeugungskraft könnte man wohl zu einer gütlichen Einigung kommen.

„Ist das dein Wunsch? Die Verlobung aufzulösen?“

Erneut traten Perdie Tränen in die Augen. „Ich weiß es nicht. Er lässt mein Herz höherschlagen. Ich schwöre, ich träume immer nur von ihm! Und vom Tag unserer Vermählung, von unserer zukünftigen Familie. Doch ich will auch so sein wie du!“

Theo zuckte zusammen. „Wie ich?“

Große Augen fixierten sie mit grimmiger Entschlossenheit. „Ja. Du bist so unglaublich schön und frei. Wenn du lachst, dann bebt dein ganzer Körper und es kümmert dich nicht, was andere denken. Du hast diesen wundervollen Klub, diese perfekte Oase. Ich hatte noch nie so viel Selbstvertrauen wie unter diesem Dach. Du nimmst an den besten Bällen teil und besuchst die schönsten Theater. Ich habe dich sogar im Herrensitz durch den Park reiten sehen! Du bist offensichtlich reich und eine stilvolle, modische Frau, und bestimmt kannst du keinen Tag älter als dreißig sein.“

„Ich bin erst sechsundzwanzig“, erwiderte Theo trocken. Mit einem Lächeln nahm sie Perdies Hände in ihre. „Perdie, ich kann dir die Entscheidung nicht abnehmen, falls du das gehofft hast. Ich wirke vielleicht frei, und in vielerlei Hinsicht bin ich das auch. Doch du scheinst etwas zu haben, das ich nie kannte.“

Sie runzelte skeptisch die Stirn. „Das bezweifle ich.“

„Die Liebe, von der du sprichst, habe ich nie erleben dürfen“, erwiderte sie aufrichtig. „Es gab nie einen Gentleman, der mein Herz zum Rasen brachte oder in meinen Träumen erschien.“

Perdie schnappte nach Luft. „Niemals?“

„Niemals.“

„Aber du bist doch verwitwet.“

„Mein Gemahl war ein gütiger Mann. Und in der Güte liegt auch Liebe, doch nicht die Art Liebe, wie du sie spürst. Ich habe auch keine …“ Theos Hals wurde eng, und einen Moment lang war ihre Brust wie zugeschnürt. Der Viscount hatte keine Anstalten gemacht, mit ihr intim zu werden, und sie unverblümt darauf hingewiesen, dass sein hoher Alkoholkonsum sowohl Manneskraft als auch Leidenschaft stark beeinträchtigte. Anfangs war Theo erleichtert gewesen, doch dann hatte sie begriffen, dass es ein Leben ohne Kinder, Geborgenheit und Intimität bedeutete. „Ich habe keine Kinder und weiß nicht, ob ich jemals welche bekommen werde. Eventuell lerne ich eines Tages einen Gentleman kennen, der dafür Verständnis hat, dass ich diesen Klub besitze und leite. Und der sich nicht daran stört, dass damit unser Ruf auf dem Spiel steht. Eventuell. Meine beste Freundin Prue meint, es wäre einfacher, auf den sagenumwobenen Drachen zu treffen. Überlege dir gut, was du aufgeben willst und ob du mit den Konsequenzen leben kannst.“

Ein Schluchzen stieg in Perdie auf. „Ich bin so durcheinander. Der Gedanke, Owen nicht zu heiraten, bricht mir förmlich das Herz. Aber allein die Vorstellung, zu heiraten und eine Familie zu gründen, fühlt sich an, als würde man mir ein Kissen aufs Gesicht drücken.“

Bei der Erinnerung an ähnliche Qualen, als die Umstände sie gezwungen hatten, einen Mann zu heiraten, der dreimal so alt war wie sie, verkrampfte sich Theos Herz. Sie war jung und naiv gewesen und hatte geglaubt, nur von ihrer großen Liebe zum Altar geführt zu werden. Damals hatte sie sich verzweifelt nach einer anderen Lösung oder zumindest einem offenen Ohr gesehnt.

„Du musst dich zuerst deiner Familie anvertrauen. Sag ihnen, wie du dich fühlst. Dann wirst du merken, ob sie dir den Rücken stärken. Löse die Verlobung nicht vorschnell auf, denn wahre Liebesheiraten gibt es selten. Dennoch benötigst du Zeit und es ist wichtig, dass dein Verlobter deine Gefühle versteht und ernst nimmt.“

Perdie warf sich in Theos Arme und drückte sie fest. „Vielen Dank, Theo!“

Lachend erwiderte sie die Umarmung. „Ich bin immer da, wenn du reden möchtest.“ Dieser Moment erinnerte sie daran, warum es ihr so wichtig gewesen war, den Klub entgegen allen Widrigkeiten zu eröffnen.

Sie tranken den Tee aus und plauderten fast eine Stunde, bis Perdie schließlich ging. Ihre Niedergeschlagenheit war zwar nicht vollständig gewichen, sie wirkte jedoch viel gefasster.

Und mehr konnte Theo im Augenblick nicht verlangen.

Ein paar Stunden später …

Theo sah von ihrem Buch auf, als sie ein leises Räuspern hörte. Die verlegene Miene des Butlers verriet, dass er mehrfach versucht hatte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen Er wirkte besorgt, was ungewöhnlich für ihn war, denn in diesem Haus hatte er schon so manchen Schabernack erlebt und war damit zurechtgekommen. „Ja, Dobbs?“

„Seine Gnaden, der Duke of Hartford, verlangt ein Gespräch, Mylady.“

Theos Kehle verengte sich vor Schreck. Sie stellte das Glas Sherry mit einem Klirren auf dem kleinen Tisch ab, bevor sie das Buch beiseitelegte. „Seine Gnaden?“

„Jawohl, Mylady.“

Sie hatte das Gefühl, von allen guten Geistern verlassen worden zu sein. „Der Duke of Hartford?“

„Jawohl, Mylady.“

Sie nahm die Karte vom Butler entgegen und starrte sie an. Du lieber Himmel. Was wollte der denn hier? Niemand außerhalb der exklusiven Damengesellschaft hatte jemals diese Adresse aufgesucht. Die Anwesenheit des Dukes warf selbst in den Ballsälen einen gewaltigen Schatten, weshalb Theo die Erregung des Butlers nachvollziehen konnte. Auch wenn sie ihm noch nie begegnet war, hatte Theo bereits von ihm gehört.

Was weiß ich über ihn?

Sie war ihm in den letzten Jahren bei keinem der gesellschaftlichen Anlässe, die sie besucht hatte, über den Weg gelaufen. Es gab Gerüchte, er habe weder Interesse an den Vergnügungen der Saison noch am Heiratsmarkt, da er seit Langem mit einer bestimmten Familie verbunden sei. Alle gingen davon aus, dass der Duke irgendwann die Tochter des Marquess of Bamforth heiraten würde. Lady Edith selbst schritt mit dem Auftreten und der Arroganz einer zukünftigen Duchess umher.

Ich weiß nicht genug, um aus einem Treffen mit diesem Mann als Siegerin hervorzugehen.

„Hat er namentlich nach mir gefragt?“

„Nein, Mylady. Der Duke hat nach dem Hausherrn verlangt. Ich dachte, es wäre ein Fehler, seinen Wunsch zu missachten.“

Oje. „Wir können Seine Gnaden nicht hereinbitten.“

„Aber es regnet, Mylady.“

Theo schloss kurz die Augen. „Verflixt und zugenäht! Lassen Sie den Duke wissen, dass ich nicht zu Hause bin und baldmöglichst auf ihn zukomme.“

Sein verhärmtes Gesicht verzog sich, und der ansonsten unerschütterliche Butler fummelte nervös an seiner Krawatte. „Ich glaube wirklich nicht, dass der Duke diese Antwort akzeptieren wird, Mylady. Er machte einen doch sehr herrischen Eindruck.“

„Höre ich da etwa Bewunderung heraus, Mr Dobbs?“

Aufgrund ihres kalten Tonfalls senkte er die Brauen noch weiter.

„Der Duke wird nicht gehen, bevor er nicht mit dem Hausherrn gesprochen hat.“

Wenn Mr Dobbs nicht schon so lange für sie arbeiten würde und nicht so souverän mit ihren Mätzchen zurechtkäme, hätte Theo ihn auf der Stelle entlassen. Ein guter Butler wusste, wie man unerwünschte Besucher abwimmelte, auch wenn es sich um einen Duke handelte. „Haben Sie Seine Gnaden in den gelben Salon gebracht?“

Mr Dobbs wirkte irritiert, worauf sie das Gesicht verzog. In Theos Augen gab es kein anderes geeignetes Zimmer in dem großzügigen Stadthaus, um Herrenbesuch zu empfangen. In Wahrheit war es alles andere als ein gewöhnliches Stadthaus und völlig ungeeignet für den Empfang von angesehenen Besuchern aus der Gesellschaft. Da erkannte Theo, dass sie auf diesen Moment nicht vorbereitet war, obwohl sie gewusst hatte, dass er eines Tages eintreten könnte.

„Nun?“

„Lady Hatfield und Miss Lavinia befinden sich noch im Salon. Sie besprechen das Kapitel aus Robinson Crusoe, das sie gemeinsam gelesen haben.“

Der Roman hatte es auf ihre Bücherliste geschafft, da der Vormund von Lady Sylvia ihr die Lektüre unter dem dummen Vorwand verboten hatte, sie könnte aufgrund ihrer schwachen Nerven einen hysterischen Anfall erleiden. Es kam nicht infrage, die lebhafte Debatte der Damen über die Themen des Buches zu unterbrechen. Außerdem hatte Theo keine Ahnung, wo sie die beiden unterbringen sollte, da die meisten Räume belegt waren. Dass Seine Gnaden hier erschien, war eine Katastrophe. Für wie schlau hatte sie sich gehalten, den Damenklub vor aller Augen zu betreiben?

„Und wo ist der Duke?“

„Er … steht noch vor der Tür, Mylady“, erwiderte der Butler sichtlich verstört. „Er ist unser erster Herrenbesuch, und alle Zimmer sind belegt.“

„Sie haben einen Duke draußen stehen lassen?“

„Jawohl, Mylady.“

„Auch noch im Regen?“

„Deswegen habe ich erwähnt, dass es regnet, Mylady.“

„Ach du liebe Güte!“ Auch wenn Theo den Duke keiner bestimmten Familie zuordnen konnte, wusste sie von Hartfords berüchtigter Macht und seinem Einfluss. Den Duke ließ man nicht vor der Tür stehen, schon gar nicht im Regen. Theo sprang auf, rannte an Mr Dobbs vorbei und durch die geöffnete Tür ihres Privatsalons in den langen Flur, um abrupt stehen zu bleiben.

Ein großer, kräftiger Mann stand in der Eingangshalle, nahm den Hut ab und blickte sich mit erschreckender Unbekümmertheit um. Wenn das der Duke war, dann hatte er sich selbst hereingelassen. Sie musste ein Geräusch von sich gegeben haben, denn er wandte ruckartig den Kopf, bevor er erstarrte.

Die wilde Schönheit dieses Mannes raubte Theo den Atem. Sein dunkles Haar war vom Wind zerzaust und musste dringend geschnitten werden. Er presste die Lippen entschlossen zusammen, wodurch er Selbstsicherheit und Zielstrebigkeit ausstrahlte. Als er sich seines Mantels entledigte, verteilte er Wassertropfen auf dem Boden. Der Butler eilte an ihr vorbei, um Hut, Mantel und Spazierstock des Mannes entgegenzunehmen.

Der Duke trug makellose hellbraune Reithosen, ein weißes Hemd, eine burgunderrote Weste und eine Jacke. Zu ihrem Entsetzen hatte er auf die Krawatte verzichtet, die Hosen und die kniehohen Stiefel ließen vermuten, dass er hergeritten war. Selbst auf die Entfernung waren seine umwerfend blauen Augen deutlich zu erkennen. Und was für ein überwältigendes Blau es war. Diese Augen blickten unerbittlich und äußerst unanständig, als er sie völlig ungeniert von Kopf bis Fuß musterte.

Theo nahm seine Neugier ebenso wahr wie ihr Herz, das ihr bis zum Hals schlug. War das etwa der Duke? Oder hatte jemand anders unaufgefordert das Haus betreten? Die Nerven gingen beinahe mit ihr durch, als sie ihr dunkelgelbes Kleid glatt strich und die kühlen Fliesen unter den Füßen spürte.

Den Augen des Dukes entging nichts, sie verweilten an Stellen, wo ein Gentleman mit gutem Benehmen nicht hinschauen sollte. Sein vorwurfsvoller Blick blieb an ihren nackten Füßen hängen. Er starrte ihre Zehen an, die sie reflexartig auf den kühlen Mosaikfliesen einrollte. Fast wäre Theo errötet, stattdessen reckte sie das Kinn in der Hoffnung, kühle Gelassenheit zu vermitteln. Dennoch breitete sich eine eigentümliche Wärme in ihrem Bauch aus.

Du lieber Himmel, was soll der Unsinn?