Leseprobe Falling for the Bad Boy

Kapitel 1

-Joanna-

Fünf Jahre später

»Happy Birthday!« Lisa fällt mir so stürmisch um den Hals, sodass ich in meinen High Heels ins Straucheln gerate und mich an der Lehne des Ledersofas festhalten muss. Wir taumeln einige Schritte rückwärts und stoßen mit jemandem zusammen, der sich in diesem Moment an uns vorbeidrängt. Der Club ist heute Abend besonders voll, die Musik fantastisch und meine Freundinnen und ich bestens gelaunt.

»Alles Gute, Süße!« Auch Amy prostet mir zu und leert ihr Sektglas in einem Zug. Ich lächle meine Freundin an, während ich Lisa an den Schultern sanft zurück auf das Sofa schiebe. Sie ist schon eindeutig betrunken, denn sie lässt sich nur schwer zurückdrängen. Erst als ich mich neben sie setze, greift sie zufrieden nach der angebrochenen Sektflasche vor uns auf dem kleinen Tisch und füllt jedes Glas erneut auf. Lachend stoßen wir an und trinken. Ich rücke näher an Lisa heran, die ihren Kopf sofort auf meiner Schulter ablegt und irgendwas Unverständliches murmelt. Es ist kurz nach Mitternacht, und meine beste Freundin und Arbeitskollegin kann kaum noch die Augen offenhalten.

Der Alkohol prickelt in meiner Kehle. Ich bin ebenfalls angetrunken, aber doch ein gutes Stück von betrunken entfernt.

Amy wackelt vielsagend mit den Augenbrauen. »Heute sollten wir richtig tanzen bis zum Morgen. Immerhin wirst du nur einmal fünfundzwanzig.« Sie greift nach der Sektflasche. »Die ist ja schon wieder leer«, stellt sie enttäuscht fest.

»Dann werde ich wohl Nachschub holen«, entgegne ich und erhebe mich. »Pass bitte auf Lisa auf. So wie sie aussieht, wird sie gleich entweder am Tisch einschlafen oder dir vor die Füße kotzen.«

»Wäre beides scheiße«, bestätigt Amy mit einem sorgenvollen Blick auf Lisa, die den Kopf in den Nacken gelegt hat. Ihre dunkle Lockenmähne breitet sich auf der Lehne des Sofas aus, einige Strähnen fallen ihr über die Augen. »Die Türsteher werden sonst auf uns aufmerksam … Ich habe keine Lust wegen ihr den Club verlassen zu müssen.«

Ihren letzten Kommentar höre ich nur gedämpft, denn er geht im Klang der lauten Musik unter. Mit der leeren Sektflasche in der Hand kämpfe ich mich mühsam durch die tanzende Menge zur Bar durch.

Ich lehne mich ein Stück über die Theke und winke den Barkeeper zu mir, dem ich die leere Flasche entgegenhalte.

»Ich hätte gern eine neue«, bestelle ich bei dem Mann. »Oder nein. Ich nehme lieber Tequila.«

»Sicher, dass du den schon trinken darfst?«, fragt mich jemand von der Seite. Ich drehe mich zu dem Typen um, der mich angesprochen hat. Er hat einen Vollbart und das blonde, halblange Haar nach hinten frisiert. Sein eindringlicher Blick aus den tiefblauen Augen wirkt amüsiert, und es ist offensichtlich, dass der Kerl mit mir zu flirten versucht. Lächelnd hebt er das Glas mit Whiskey, prostet mir zu und trinkt es in einem Zug leer.

Ich rümpfe beleidigt die Nase. Sehe ich etwa aus, als wäre ich zu jung für Tequila? Mit einem süßen Lächeln auf den Lippen streiche ich mir eine meiner blonden Strähnen hinters Ohr.

»Klar«, beantworte ich seine Frage über den Lärm der Musik hinweg. »Auch wenn man es mir nicht ansieht, aber heute ist mein 25. Geburtstag.«

Der Mann legt die Stirn in Falten und mustert mich noch einmal über den Rand seines Glases, ehe er es dem Barkeeper rüberschiebt, der es direkt neu befüllt. Die beiden scheinen eine stumme Absprache getroffen zu haben, was die Getränkeauswahl für diesen Abend betrifft.

»Tatsächlich? Ich hätte dich deutlich jünger geschätzt. Dann bring der Lady ihren Tequila«, wendet er sich an den Barkeeper. Während ich auf den Alkohol warte, betrachte ich noch mal das Profil des Mannes. Er ist wirklich sehr attraktiv, auch wenn ich eigentlich nicht auf Typen mit Bart stehe. Ich habe gern Spaß und ich flirte auch, das ist kein Geheimnis. Wenn es zu einem One-Night-Stand kommt, sage ich nicht Nein, aber eine feste Beziehung will ich aktuell nicht eingehen. Ein gebrochenes Herz reicht.

»Sollten wir vielleicht auf deinen Geburtstag trinken?«, schlägt er vor und rückt auf seinem Barhocker etwas näher zu mir rüber. Ohne meine Antwort abzuwarten, ordert der Fremde beim Barkeeper zwei Tequila Shots. Ich werfe kurz einen Blick über die Schulter zu meinen Freundinnen an unserem Tisch. Aus der Ferne erkenne ich, wie Lisa tatsächlich mit dem Kopf auf der Tischplatte eingeschlafen ist. Amy ist in ihr Smartphone vertieft.

»Wollen wir?«, fragt mich der Unbekannte, der bereits das Schnapsglas in der Hand hält. Nickend nehme ich mein Getränk.

»Verrätst du mir deinen Namen, bevor du wie Cinderella vom Ball verschwindest und mich ahnungslos zurücklässt?« Seine Augen funkeln amüsiert im bunten Licht der Clubbeleuchtung. Sein Lächeln ist ziemlich verführerisch, außerdem macht ihn sein Humor sympathisch.

»Cinderella kann ich unmöglich sein, denn es ist weit nach Mitternacht. Aber meinen Namen verrate ich dir trotzdem. Ich heiße Joanna.«

»Chris«, stellt er sich knapp vor. »Alles Gute zum Fünfundzwanzigsten, Joanna.«

Wir stoßen an. Der Alkohol brennt in meiner Kehle, nachdem ich ihn in einem Zug hinuntergekippt habe. Im Gegenteil zum Sekt spüre ich, wie der Tequila mir sofort zu Kopf steigt.

»Noch einen?«

Grinsend schüttele ich den Kopf. »Ich bin mit meinen Freundinnen hier. Sie warten bereits auf mich«, kläre ich ihn auf und deute hinter mich über die Tanzfläche zum VIP-Bereich, wo die Mädels auf mich warten. Er macht ein langes Gesicht und auf einmal will ich gar nicht so schnell zu Amy und Lisa. Dieser Typ hat mit seinem charmanten Lächeln und mit seiner lockeren Redensart mein Interesse geweckt.

»Soll ich sie dir vorstellen?«, frage ich ihn als Vorwand, um ihn von der Bar wegzulocken. Zustimmend nickt er, zahlt die Getränke und ich greife nach seiner Hand, um ihn hinter mir her zwischen die tanzenden Clubbesucher zu ziehen.

»Ich dachte, du wolltest uns Alkohol mitbringen?«, fragt Amy erstaunt, als sie den Blick von ihrem Handy löst und den Mann neben mir sieht.

»Ich habe etwas Besseres«, erwidere ich kichernd und schiebe Chris zum Tisch rüber.

»Und ich habe den Alkohol«, ergänzt er, schwenkt dabei die Flasche Tequila in der Luft, ehe er sie vor Amy abstellt.

»Das ist Chris«, stelle ich ihn meinen Begleiterinnen vor.

»Hey, Chris«, säuselt Amy beschwipst. Ihre Augen huschen über seinen Körper, dann sieht sie mich an und formt ein lautloses ›O mein Gott, ist der Typ heiß‹ mit ihren Lippen. Chris und ich setzen uns zu meinen Freundinnen, und Amy verteilt den Tequila. Nach einigen Runden fühle ich mich entspannter, sodass ich mit Chris gern von hier verschwinden würde. Immer wieder wirft er mir tiefe Blicke zu und streift mit einer Hand wie zufällig meine Finger, wenn er mir das Schnapsglas reicht. Seine Flirtversuche verfehlen ihre Wirkung bei mir nicht, und ich springe in meinem betrunkenen Zustand sofort auf ihn an, denn es ist schon eine ganze Weile her, dass ich einfach Spaß mit einem Mann hatte. Wir reden ein wenig über Kleinigkeiten wie Musik im Club und tanzen zusammen. Amy gesellt sich zu uns, tanzt jedoch in einigem Abstand zu Chris und mir, ehe wir zusammen zurück zu unserem Tisch gehen, um noch etwas von dem Tequila zu trinken. Er ist verdammt attraktiv, weshalb ich es nicht ausschließen würde, mich auf einen One-Night-Stand mit ihm einzulassen, sollte es dazu kommen.

 

Als könnte Chris meine Gedanken lesen, spüre ich seine Hand auf meinem Knie. Sogleich beschleunigt sich mein Puls, und meine Handflächen beginnen zu schwitzen. Normalerweise bleibe ich tough, wenn es darum geht, Männer kennenzulernen. Jetzt hingegen bin ich plötzlich aufgeregt, was ich auf den Tequila schiebe.

»Was meinst du? Wollen wir uns einen etwas ruhigeren Ort suchen?«, raunt er mir ins Ohr. Sein warmer Atem sorgt für eine Gänsehaut. Sofort vergesse ich, dass ich eigentlich zum Feiern hergekommen bin, und nicke ihm zu.

»Gute Idee«, antworte ich mit einem verführerischen Lächeln auf den Lippen. Er steht auf und zieht mich an der Hand auf die Beine.

»So, Mädels. War wirklich schön, euch kennenzulernen, aber ich werde euer Geburtstagskind jetzt für eine Weile entführen«, meint er ohne Umschweife. Es erstaunt mich, wie selbstverständlich diese Situation für ihn ist. Doch gerade habe ich nichts dagegen, wenn er die Führung übernimmt, denn der Nebel in meinem Kopf lässt mich nur langsam reagieren. Amy nickt mir zu, als habe sie verstanden. Es kommt nicht selten vor, dass eine von uns mit einem Mann verschwindet. Die anderen feiern dann einfach weiter oder machen sich ebenfalls auf den Heimweg. In dieser Hinsicht haben wir eine Übereinkunft und stehen einander nicht im Weg.

»Viel Spaß, Süße. Ich rufe dich morgen früh an«, flötet sie und winkt mir zum Abschied.

Ungeschickt stolpere ich Chris hinterher in Richtung Ausgang. Nach nur wenigen Schritten wird immer deutlicher, wie der Alkohol meinen Körper kontrolliert. Mein Kopf fühlt sich wie mit Watte gefüllt an und meine Bewegungen sind auch nicht mehr wirklich koordiniert. Ob das eine gute Idee ist, Chris in diesem Zustand mit nach Hause zu nehmen? Viel Zeit, meinen Zweifeln Raum zu geben, habe ich jedoch nicht, denn kaum verlassen wir den Club, presst mich Chris draußen gegen die kalte Hauswand und küsst mich. Seine Offensive überrascht mich genauso sehr, wie sie mich anturnt. Er nimmt mir die Entscheidung ab, den ersten Schritt zu machen. Also denke ich nicht länger darüber nach, was kommt, und genieße den Moment. Er ist betrunken. Ich bin betrunken. Scheiß drauf. Ich schalte meinen Kopf ab und erwidere den Kuss mit derselben Intensität.

***

Ein Taxi bringt uns zu meiner Wohnung. Die Fahrt über haben wir nur wenig miteinander gesprochen, weil Küssen die bessere Alternative war. Und davon versteht Chris ziemlich viel, denn seine Liebkosungen ließen mich alles um mich herum vergessen.

Als sich die Wohnungstür hinter uns schließt, presst Chris mich erneut fest gegen die Flurwand und küsst mich dabei mit solch einer Leidenschaft, dass mir für einen Moment die Luft wegbleibt. Ich gebe mich seiner Zärtlichkeit hin, erwidere sie hingebungsvoll. Schlinge die Arme um seinen Hals und ziehe ihn enger an mich heran.

Wir küssen uns noch eine Weile, ehe wir uns voneinander lösen. Chris sieht mir fest in die Augen. Bei der Vorstellung, was gleich geschehen wird, steigt sofort das Verlangen auf. Mein ganzer Körper beginnt zu kribbeln, weil ich es kaum erwarten kann, ihn zu berühren. In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken, denn ein Funke Vernunft ist immer noch da, der mir sagt, ich solle diese Sache, so schnell es geht, beenden und Chris wegschicken. Die leise Stimme in meinem Hinterkopf ignorierend, zupfe ich mit den Händen am Saum seines Shirts.

Ein Grinsen umspielt seine Lippen, ehe er sich wortlos das Oberteil über den Kopf zieht. Der Flur wird nur durch eine kleine Lampe auf der Kommode beleuchtet, die auf Bewegungen reagiert, dennoch erkenne ich die Konturen seines Körpers genau. Ich schlucke aufgeregt, während ich auf seinen nackten Oberkörper starre. Sein Blick ruht dabei die ganze Zeit auf mir, er verfolgt jede meiner Regungen. Ob es am Alkohol liegt, dass dieser Mann so eine gewaltige Anziehungskraft auf mich ausübt? Ich kann mich ihm nicht entziehen. Dieses eigenartige Gefühl hatte ich noch bei keinem One-Night-Stand.

»Wo ist dein Schlafzimmer?«, raunt er mir zu. Unfähig etwas zu sagen, deute ich mit dem Kopf in die Richtung, in der mein Zimmer liegt.

Chris erobert erneut meine Lippen, und ich erwidere den Kuss sogleich mit derselben Intensität. Wir taumeln mehr durch den Flur, als dass wir gehen. Zum Glück steht meine Zimmertür offen, sodass wir einfach in den Raum stolpern. Seine Zunge in meinem Mund sorgt dafür, dass ich jegliche Zurückhaltung fahren lasse. Ich war selbst auf Sex aus, also warum länger darüber nachdenken, ob mein Handeln richtig ist? Schließlich sind wir beide erwachsen und wissen, was es heißt, eine Nacht zusammen Spaß zu haben. Nämlich, dass wir uns morgen früh trennen und nie wiedersehen werden. Die Nähe zu diesem Mann macht mich ganz schwindelig, und je drängender seine Küsse und seine Berührungen werden, desto heftiger wird das Verlangen in mir.

Chris löst den Kuss, um an seinem Gürtel zu nesteln. Angespannt beobachte ich, wie er sich langsam die Hose auszieht. Einen Moment sehen wir uns atemlos an. Seine Augen ruhen auf meinem Gesicht und machen mich ganz nervös. Mein Herzschlag klingt dumpf in meinen Ohren, es ist das einzige Geräusch in der Stille des Schlafzimmers.

Seine Hose fällt mit leisem Rascheln zu Boden, und ich stoße hörbar die Luft aus. Ich bin immer noch voll bekleidet, während er nur in Shorts vor mir steht. Chris macht einen Schritt auf mich zu, streckt seine Hand nach mir aus und berührt mit seinen Fingern meine Schulter. Erschrocken zucke ich zurück, denn in den letzten Minuten war ich wie gelähmt vor Anspannung. Seine Berührung ist ganz sanft und hat nichts von der Wildheit, mit der er mich noch vor wenigen Sekunden geküsst hat.

»Dreh dich um. Ich helfe dir aus dem Kleid«, murmelt er mit rauer Stimme. Nickend wende ich ihm den Rücken zu und streiche meine Haare zur Seite, damit er besser an den Reißverschluss kommt. Als seine Finger die Haut im Nacken berühren, durchläuft mich ein warmer Schauer. Wie ein Stromschlag, der vom Haaransatz bis in den kleinen Zeh durch den Körper jagt. Langsam zieht Chris den Reißverschluss auf. Wieso lässt er sich plötzlich so viel Zeit? Ich bin es gar nicht gewohnt, bei einem One-Night-Stand so lange hingehalten zu werden und bereits ganz ungeduldig.

»Worauf wartest du?«, frage ich angespannt, weil ich unserer Vereinigung entgegenfiebere. Chris antwortet nicht,

streift stattdessen mit beiden Händen die Träger meines Kleides von den Schultern. Dabei streichelt er mich sanft, dann spüre ich seine Lippen im Nacken. Warm und feucht verteilt er kleine Küsse auf meiner Haut, die mich fast kribbelig machen. Himmel, was tut dieser Kerl nur mit mir?

Ich bebe regelrecht, als seine Hände über meine Taille wandern und den dünnen Stoff immer tiefer schieben, bis es über meine Hüfte hinab zu Boden gleitet. Mit wild pochendem Herzen stehe ich mit dem Rücken zu ihm und warte auf seinen nächsten Schritt. Selten habe ich bei einem One-Night-Stand völlig die Kontrolle abgegeben wie in diesem Augenblick, doch bei Chris fühlt es sich verdammt richtig an. Nach einem kurzen Kuss auf meine Schulter dreht er mich zu sich um.

»Du bist wunderschön«, flüstert er kaum hörbar. Seine blauen Augen ruhen auf meinem Gesicht. Meine Lippen zittern vor Erregung, jede Faser meines Körpers ist aufs Äußerste gespannt. Mit seinen Worten durchbricht er die knisternde Spannung zwischen uns und küsst mich abermals. Erst sanft, fast schon vorsichtig, dann immer heftiger. Der Zauber des Augenblicks ist gebrochen, jetzt verliert auch Chris keine Zeit mehr. Knutschend taumeln wir zu meinem Bett und sinken auf die weiche Matratze.

***

Am nächsten Morgen erwache ich mit einem mörderischen Kater und schlimmen Kopfschmerzen. Hinter meinen Schläfen pocht es ununterbrochen, sodass es mir schwerfällt, die Augen zu öffnen. Vorsichtig richte ich mich im Bett auf und schlage die Bettdecke zurück. Neben mir liegt ein Mann, den ich nicht kenne. Er hat sich von mir weggedreht, nur notdürftig verdeckt das Federbett seine breiten Schultern und den Rücken. Wer zur Hölle ist das und was ist gestern passiert?

In meinem Kopf befindet sich ein großes, schwarzes Loch, das jegliche Erinnerung an die vergangene Nacht verschluckt hat. Ich wage es kaum, den Typen neben mir genauer zu betrachten, weil mir mein Blackout plötzlich nicht geheuer ist. Habe ich etwa so viel getrunken, dass ich mich nur lückenhaft an meinen One-Night-Stand erinnern kann?

Um ihn nicht zu wecken, schlüpfe ich so leise wie möglich aus dem Bett und schleiche ins Badezimmer. Mein dröhnender Kopf verlangt nach einer Schmerztablette, außerdem meldet sich mein Magen. Augenblicklich überkommt mich furchtbare Übelkeit. Gerade noch rechtzeitig reiße ich den Toilettendeckel hoch, bevor ich Magenflüssigkeit erbreche. Keuchend hocke ich über der Kloschüssel und versuche, meine zerzausten Haare zu bändigen, während ich immer wieder würge. Scheiße, so habe ich mir den Tag nach meinem Geburtstag nicht vorgestellt. Eigentlich war ich heute mit Susan und ihrer Familie zum Bruch verabredet. In meinem jetzigen Zustand werde ich das Treffen jedoch verschieben müssen, denn alles, was lauter als das Piepen der Kaffeemaschine ist, könnte ich nicht ertragen, ohne dass mein Kopf vor Schmerzen in tausend Teile zerspringt. Und Susans Zwillinge sind alles andere als leise, sobald ich zu Besuch komme.

»Ich habe mir eine Flasche Wasser aus deinem Kühlschrank genommen und … Scheiße, geht’s dir gut?«, höre ich eine tiefe Männerstimme hinter mir. Vor Schreck erstarre ich. Nach dieser heißen Nacht, die wir miteinander verbracht haben, darf er mich nicht so sehen: nur in Unterwäsche und kotzend auf den Badezimmerfliesen. Noch peinlicher geht’s nicht!

»Alles okay«, murmele ich verlegen, drehe mich jedoch nicht zu ihm um, damit er mein knallrotes Gesicht nicht sieht. Schritte nähern sich mir, und ich umklammere die Kloschüssel fester, als könne sie mir Halt geben, obwohl ich mich vor Scham am liebsten im Klo ertränkt hätte. Es ist eigentlich nicht meine Art, mich ohne Limit zu betrinken, sodass mein Magen nicht mehr mitmacht. Lag es an seiner Gesellschaft gestern im Club, dass ich dem Tequila mehr zugesprochen habe als nötig? Ich weiß es nicht … dennoch fühle ich mich gerade ziemlich schlecht, weil ich mich unmöglich benehme. Es wäre mir lieber, er wäre bereits heute Nacht verschwunden. Bisher ist kein One-Night-Stand bis zum Morgen geblieben.

»Bist du dir sicher? Kann ich dir helfen?« Ehrliche Besorgnis schwingt in seiner Stimme mit. Seine Hand auf meiner Schulter versengt mich beinahe und sorgt nicht gerade dafür, dass ich mich wohler fühle.

»Bitte geh einfach, okay?«, fahre ich den Typen heftiger als geplant an. Noch nie habe ich mich vor einem One-Night-Stand so gehen lassen wie heute Morgen. Auch wenn wir uns nicht kennen und uns vermutlich nicht wiedersehen werden, sollte ich mich eigentlich für mein ruppiges Verhalten bei ihm entschuldigen. Gerade fällt es mir jedoch schwer, meine Scham zu überwinden, weshalb ich stumm bleibe.

»Okay«, entgegnet der Mann tonlos und entfernt sich von mir. Seine Schritte verklingen im Flur, dann höre ich die Wohnungstür nach ein paar Minuten ins Schloss fallen. Erst als ich sicher bin, dass er meine Wohnung verlassen hat, atme ich erleichtert aus und stütze mich mit den Händen hinter mir ab. Den Kopf in den Nacken gelehnt schließe ich für einen Moment die Augen und konzentriere mich auf eine gleichmäßige Atmung, um die Übelkeit zu vertreiben.

Nachdem ich mich ein wenig gefangen habe, nehme ich eine kalte Dusche und hülle mich in meinen Bademantel. Heute ist definitiv einer dieser Tage, die man faul auf dem Sofa verbringen sollte. Glücklicherweise sind meine Kopfschmerzen nach der Tablette deutlich weniger geworden, leider fühle ich mich immer noch völlig schlapp und ausgelaugt.

Mit einem Kaffee bewaffnet setze ich mich auf die Couch, um fernzusehen, und versuche dabei die unangenehme Szene von heute Morgen so schnell wie möglich zu vergessen. Doch nach nur wenigen Minuten der Ruhe reißt mich das Klingeln meines Handys aus den Gedanken. Murrend erhebe ich mich und folge dem Geräusch. Im Flur stolpere ich über meine Schuhe, die mitten im Weg liegen, hebe sie leise fluchend auf und werfe sie in die Ecke zur Garderobe. Das schwarze Partykleid von gestern Abend liegt im Schlafzimmer zusammengeknüllt neben meinem Bett, darunter finde ich meine Handtasche, aus der immer noch das nervtötende Klingeln dringt.

»Will mir etwa noch jemand zum Geburtstag gratulieren?«, brumme ich und krame mein Smartphone heraus. Ein Blick auf das Display lässt mich aufstöhnen, denn es ist niemand anderes als Amy. Natürlich kann sie nicht abwarten, alles über meinen One-Night-Stand zu erfahren. Kurz überlege ich, nicht dranzugehen, doch wie ich meine Freundin kenne, wird sie mich den ganzen Tag mit Nachrichten bombardieren, bis sie endlich die Information aus mir herausgekitzelt hat, nach der es sie verlangt.

»Wie war’s?«, fällt Amy direkt mit der Tür ins Haus, bevor ich überhaupt ein Wort herausbringen kann.

»Dir auch einen wunderschönen guten Morgen«, begrüße ich sie mit einem unterdrückten Gähnen, statt auf ihre Frage einzugehen.

»Morgen? Schau mal auf die Uhr. Es ist beinahe Zeit fürs Mittagessen.« Amy gluckst. »Und jetzt erzähl mir alles. Ich will jedes schmutzige Detail wissen, Süße. Wie war’s mit Chris?«

Ich lasse mich auf mein Bett plumpsen und streiche müde mit der freien Hand über das zerwühlte Laken. Die Luft in meinem Schlafzimmer ist immer noch drückend von vergangener Nacht, weil ich vergessen habe, das Fenster zu öffnen.

»Wer zur Hölle ist Chris?«, frage ich meine Freundin und massiere mit Daumen und Zeigefinger meine Nasenwurzel. Plötzlich wird der Kopfschmerz wieder schlimmer.

»Na, der blonde Unbekannte, mit dem du aus dem Club verschwunden bist«, hilft Amy meinem Gedächtnis auf die Sprünge. »Du weißt schon, der ein bisschen ausgesehen hat wie der Schauspieler von Thor. Chris Hemsworth heißt er, glaube ich. O Gott, er ist sogar sein Namensvetter!« Amy kichert vergnügt, während ich Mühe habe, die Wände in meinem Zimmer an Ort und Stelle zu halten. Scheiße, wie viel habe ich gestern getrunken?!

»Den habe ich heute Morgen rausgeworfen«, informiere ich monoton, als würde ich ihr die Morgennachrichten vorlesen. Entsetzt schnappt meine Freundin am anderen Ende der Leitung nach Luft.

»Du hast was? Bist du total bescheuert!? Der Kerl war verdammt heiß! Den hätte ich nie im Leben von der Bettkante gestoßen.«

»Habe ich doch auch gar nicht«, entgegne ich genervt. »Ein One-Night-Stand ist noch lange kein Grund, den Typen zum Frühstück einzuladen. Das war eine einmalige Sache und ich werde diesen Chris sowieso nie mehr wiedersehen. Also was soll’s?«

»Ich verstehe dich manchmal wirklich nicht, Jo«, kommt es vom anderen Ende der Leitung und ich kann Amys Kopfschütteln förmlich vor mir sehen. Sie ist eine hoffnungslose Romantikerin.

»Mach nicht so ein Drama draus«, erwidere ich mit einem Augenrollen. Schließlich weiß Amy nur zu gut, warum ich mich so strikt gegen eine Beziehung wehre. Seitdem bin ich nicht mehr auf der Suche nach der großen Liebe. Und gerade sind andere Dinge auch wichtiger. Ich möchte meine Karriere als Journalistin vorantreiben, was bisher viel zu sehr auf der Strecke geblieben ist.

Amy seufzt. »Wieso hakst du die Sache mit Sebastian nicht endlich ab? Es kann nicht sein, dass der Kerl immer noch dein Leben und dein Denken bestimmt. Nicht jeder Mann ist so ein Arschloch und –«

»Meine Entscheidung hat nichts mit Sebastian zu tun. Eine feste Beziehung ist nichts für mich. Also lass es gut sein, ja?«, schneide ich ihr das Wort ab, denn jedes Mal, wenn jemand meinen Ex-Freund erwähnt, wird mir ganz mulmig zu Mute. Zwar habe ich ihn längst abgehakt, doch manchmal tut die Erinnerung noch weh.

Kapitel 2

-Chris-

»Herzlichen Glückwunsch, sie werden heute offiziell entlassen«, sagt Dr. Clark mit fröhlicher Stimme, während er die Ergebnisse der Untersuchung in den Computer eingibt. Murrend steige ich von der Untersuchungsliege und schlüpfe in meine Sneakers.

»Kann ich jetzt gehen?«, frage ich den Arzt, der auf der Tastatur herumtippt. Dieser nickt, immer noch in seine Notizen vertieft.

»Ja … natürlich.« Dann dreht er sich zu mir um und erhebt sich von seinem Stuhl hinterm Schreibtisch. »Beinahe bin ich ein wenig traurig, dass Sie nicht mehr wiederkommen werden, Mr Bennett«, sagt er mit mildem Lächeln, als er mir zum Abschied die Hand schüttelt. Darauf erwidere ich nichts, denn ich bin froh, hier nicht mehr monatlich vorstellig werden zu müssen. Dr. Clark hat mich vor gut zwei Jahren operiert und danach meine Reha begleitet. Nach Abschluss der Behandlung wollte er mich öfter als mir lieb war zu einer Kontrolle sehen, um mein Knie weiterhin zu untersuchen. Doch all seine Mühen waren vergebens. So wie früher wird es nicht werden, diese Illusion hat er mir bereits nach der OP genommen. Mein Knie ist ein Wrack, auch wenn ich froh bin, überhaupt noch gehen zu können. Das leichte Hinken werde ich nie wieder los.

»Brauchen Sie einen neuen Termin?«, ruft mir eine der Arzthelferinnen zu, als ich am Empfangstresen vorbei zum Ausgang der chirurgischen Praxis gehe.

»Nein. Bin endlich entlassen«, rufe ich über die Schulter, während ich die Tür aufschiebe.

Ich bin wirklich froh, dieses Kapitel hinter mir zu lassen. Keine Ahnung, warum sich Dr. Clark so sehr um mich und mein kaputtes Knie bemüht hat. Jeden anderen Patienten hätte er sicher nach gelungener Operation entlassen, ohne die vielen Nachsorgeuntersuchungen zu machen. Bestimmt hat mein Dad eine Stange Geld bezahlt, um mich so lange behandeln zu lassen. Dabei hat er mich und meine Karriere längst aufgegeben, das spüre ich bei jedem unserer Zusammentreffen. Nach meiner Verletzung werde ich sowieso nie wieder spielen können!

Wütend balle ich die Faust und verlasse den Fahrstuhl, als sich die Türen mit einem leisen Klicken im Erdgeschoss öffnen. Ich hasse es, dass ich während meiner achtundzwanzig Jahre kaum eine Entscheidung selbst treffen konnte. Alles in meinem Leben wurde durch meine Familie beeinflusst. Wäre mein Dad nicht der Coach, hätte ich es vermutlich nicht einmal ins Team geschafft. Doch er hat mich von klein auf gepusht und hart trainiert, dass ich keinen anderen Weg einschlagen konnte, als Footballer zu werden. Bis zu dem Tag vor zwei Jahren, der meine Karriere – und damit auch den Traum meines Vaters – für immer beendet hat.

Missmutig krame ich den Schlüssel aus der Hosentasche und entriegle meinen Sportwagen, den ich auf dem Parkplatz vor der Praxis geparkt habe. Ich starte den Motor und drehe die Musik laut auf, um ein wenig auf andere Gedanken zu kommen. Nach jedem Arztbesuch verfalle ich in tiefe Verzweiflung, die sich nur schwer abschütteln lässt.

Mein Leben ist am Arsch. Was nutzt mir das ganze Geld, wenn ich nicht das tue, was ich liebe? Wenn ich nicht mehr mit meinen Freunden auf dem Platz stehen kann? Kein Superbowl mehr, kein gemeinsamer Aufstieg in der NFL, nichts! Alles, wofür ich gelebt habe, ist für mich unerreichbar geworden. Meinen Traum aufzugeben war das Schlimmste, was ich bisher durchmachen musste. An zweiter Stelle trat die Trennung von meiner damaligen Freundin Mia, die mir ebenfalls den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Statt mich während der Rehabilitation zu unterstützen, ist sie nach Australien abgehauen, um Kängurus zu fotografieren. Aber vielleicht war es besser, sie nicht zu sehen, um nicht jedes Mal an ihren Seitensprung und die Trennung erinnert zu werden. Zu dem Zeitpunkt war ich ein seelisches Wrack, was die Genesung nicht gerade beschleunigt hat.

Ich werde mein Knie nie wieder zu 100% belasten können, das hat mir Dr. Clark unmissverständlich klargemacht. Die NFL ist Geschichte, ein Wechsel zu den Seattle Seahawks unerreichbar. In wenigen Sekunden auf dem Spielfeld habe ich alles verloren, woran ich jemals geglaubt habe.

Der Verkehr fliegt nur so an mir vorbei, während ich über den Highway zu meiner Wohnung in East Hollywood fahre. Trotz der lauten Musik, die aus den Boxen der Soundanlage dröhnt, kann ich meine Gedanken nicht vertreiben, die sich immer wieder um meinen Unfall drehen. Die Behandlung ist offiziell abgeschlossen, doch sie hat nichts an meinem Zustand verändert. Die Verletzung, die ich mir bei einem Testspiel zugezogen habe, hat mich in ein tiefes Loch der Verzweiflung gestürzt. Die Therapeuten, zu denen meine Eltern mich immer wieder gedrängt haben, konnten mir nicht helfen, weil ich mich zu Beginn völlig verschlossen habe. Ich habe alles gehasst! Alles, was mich an meinen Traum erinnert hat, denn ich konnte es nicht ertragen, nach der Operation wochenlang nicht aufstehen zu können, um mich wie vorher zu bewegen. Als Vollkontaktsportart ist Football nun mal etwas, bei dem Muskel- und Knochenverletzungen keine Seltenheit sind. Dieses Risiko bin ich über Jahre eingegangen und hatte tatsächlich geglaubt, mich würde es nicht treffen. All die Jahre bin ich mit leichten Prellungen oder einer Gehirnerschütterung davongekommen. Bis mich das Glück von jetzt auf gleich verlassen hatte.

Die Schwere meines Kreuzbandrisses war so gravierend, dass die Heilung nur langsam vorangeschritten ist. Es war das zweite Mal, dass dieselbe Stelle in Mitleidenschaft gezogen wurde. Auch ohne die Diagnose zu kennen war mir bereits klar, dass ich nie wieder spielen werde. Es jedoch aus dem Mund des Arztes zu hören, hat mich fertiggemacht. Zu Beginn meiner Behandlung wollte ich niemanden sehen, geschweige denn mit jemanden reden. Meine Familie sorgte dafür, dass ich zu den besten Ärzten des Landes ging, aber auch die Medizin war machtlos und konnte mir meinen Traum nicht zurückgeben.

Irgendwann habe ich aufgehört, wütend auf Gott und die Welt zu sein. Eine Art Starre überkam mich, ich schloss meine Gefühle über die verpatzte Chance in mir ein und betäubte sie mit Alkohol, Partys und Frauen. Die Beziehung zu meinen Eltern, vor allem zu meinem Vater, kühlte durch mein plötzliches Karriereende weiter ab, bis wir uns nur noch anschwiegen oder stritten. Sie sahen mich stets als einen Sportler, der nach einem eher mäßigen Collage-Abschluss nicht mehr als einen muskulösen Körper vorzuweisen hatte. Mein älterer Bruder Kevin jedoch hatte während seiner Schulzeit eine Auszeichnung nach der anderen für seine außerordentlichen Leistungen und den Einsatz in zahlreichen Clubs bekommen. Deshalb ist er jetzt erfolgreicher Sportmediziner und ich arbeitslos.

Nach dem Unfall versuchte Kev mir immer wieder ins Gewissen zu reden, doch ich ignorierte jeden seiner Versuche, mich stets auf Kurs zu bringen. Wenn ich schon keinen Football mehr spielen kann, dann sollte ich wenigstens Spaß haben!

Ich parke den Wagen in der Tiefgarage des Wohnhauses und nehme den Aufzug zu meiner Penthousewohnung. Diese Wohnung habe ich mir kurz nach der Verletzung gekauft, denn wenn ich schon in L.A. feststeckte, dann zumindest mit einem atemberaubenden Ausblick auf die Stadt.

Ich gebe die Zahlenkombination am Touchpad neben meiner Wohnungstür ein und betrete den Flur.

»Hey, du kommst spät«, ruft mir Kevin aus der Küche zu, nachdem ich meine Schuhe von den Füßen getreten habe. Seiner Stimme folgend gehe ich in die geräumige Wohnküche.

»Was machst du schon wieder hier?«, entgegne ich murrend. Mein großer Bruder steht am Herd und rührt summend in einem Topf. Es kommt nicht selten vor, dass er unangekündigt bei mir auftaucht. Eigentlich stört es mich nicht, zumindest nicht nach durchzechten Partynächten. Dennoch begrüße ich es, wenn er mir vorher wenigstens eine kurze Nachricht schicken könnte. Erschöpft lasse ich mich auf den Hocker an der Frühstückstheke sinken.

»Ich habe mir gedacht, dass wir den Abschluss deiner Behandlung feiern sollten. Deshalb habe ich deine Lieblingssuppe gekocht«, erklärt er in feierlichem Ton, während er unbeirrt weiterrührt. Kevin achtet stets auf gesunde Ernährung und hat gerade leichte Suppen für sich entdeckt, die er mir immer wieder versucht, schmackhaft zu machen. Sie sollten so gut für Leib und Seele sein, wie er jedes Mal aufs Neue betont.

»Du hättest mir wenigstens eine Nachricht schicken können. Stell dir vor, ich hätte gerade eine Frau hier«, beschwere ich mich halbherzig, doch mein Einwand prallt wie immer an Kevin ab. Seit meinem Unfall vor zwei Jahren habe ich keine Frau mehr in meine Wohnung gebracht. Kevin sieht sich grinsend um.

»Hast du aber nicht«, stellt er schulterzuckend fest, dann nimmt er den Topf vom Herd und holt zwei Teller aus dem Schrank heraus, um die Suppe darauf zu verteilen. Vorsicht balanciert er sie zum Tisch und setzt sich mir gegenüber. »Außerdem würde ich mich freuen, wenn du mal Damenbesuch hättest, der länger bleibt als für eine Nacht.«

»Nein Mann, kein Interesse.«

»Ja, ich weiß, dein Herz gehört dem Football«, meint mein Bruder seufzend, schiebt mir den Teller mit Suppe rüber und tunkt den Löffel in seinen eigenen. »Aber so ein Ball kann die Lücke in deinem Herzen nicht füllen, weißt du? Früher oder später wirst du einsam sein.«

Sein besorgter Blick trifft mich. Ich kann es nicht leiden, wenn mich jeder so ansieht, als wüsste er, wie es mir geht. Doch das versteht niemand. Keiner hat das durchgemacht, was ich durchgemacht habe. Kevin musste seinen Traum nicht aufgeben, für den er jahrelang, ach was, sein ganzes Leben lang hart gearbeitet hat!

Schweigend löffele ich die Suppe, die wie immer verdammt lecker ist. Vermutlich hätte er besser Koch statt Sportmediziner werden sollen.

»Du musst mich nicht bemuttern, Kev. Hast du kein eigenes Leben?«, will ich schließlich von ihm wissen und schiebe den leeren Teller beiseite. Heute wäre ich gern allein statt in seiner Gesellschaft.

»Und ob ich das habe, kleiner Bruder«, entgegnet er und legt seinen Löffel weg. »Ich werde Ella bald heiraten und mit ihr eine Familie gründen. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich dich deshalb vernachlässigen werde. Schließlich muss sich jemand um dich kümmern, wenn du es schon selbst nicht –«

»Gott, du redest, als wäre ich total lebensunfähig«, brause ich auf. »Ich bin achtundzwanzig und ein erwachsener Mann«, entgegne ich genervt und verdrehe die Augen.

»Mit Anpassungsschwierigkeiten, depressiver Neigung und ohne Ausbildung. Ach, und du hast einen starken Hang zu übermäßigem Alkoholkonsum und ausschweifenden Frauengeschichten. Soll ich noch weitere Dinge aufzählen? Warst du nicht erst kürzlich wieder in den Nachrichten, weil du dich auf einer Party geprügelt hast?«

»Danke«, brumme ich verstimmt. »Stich das Messer ruhig noch tiefer in die Wunde.«

»Seit zwei Jahren sehe ich mir mit an, wie du immer tiefer in den Abgrund stürzt. Aber irgendwann musst du doch selbst einsehen, dass deine ganzen Eskapaden keinen Sinn haben, oder?« Er sieht mich sorgenvoll an und umfasst meine Hand, die ich ihm sogleich wieder entziehe.

»Daher weht also der Wind. Hat Dad dich geschickt, um mir erneut ins Gewissen zu reden? Damit ich aufhöre, seinen guten Ruf als Footballcoach in den Dreck zu ziehen? Ein Sohn, der nichts draufhat und sich lieber einen hinter die Binde kippt, statt für sein Geld zu arbeiten?«, zische ich und springe vom Stuhl auf. Das sind keine Eskapaden … ich genieße mein Leben, das ist alles! »Außerdem habe ich genug Geld in meiner aktiven Zeit als Quarterback der Rams verdient. Sag ihm das. Und wenn er das nächste Mal etwas von mir will, soll er gefälligst selbst kommen.« Mit diesen Worten verlasse ich die Küche, schnappe mir meine Autoschlüssel und knalle beim Hinausgehen wütend die Wohnungstür hinter mir zu.

Kapitel 3

-Joanna-

Am Montag bin ich die Erste in der Redaktion. Nicht, weil ich gern früh aufstehe, sondern weil ich vergangene Nacht nicht so gut schlafen konnte. Schuld daran waren die Kopfschmerzen nach meiner Geburtstagsfeier, die trotz Aspirin nicht verschwinden wollten.

»Jo, ich habe ganz tolle Neuigkeiten für dich!«, verkündet meine Freundin, nachdem sie die Tür zu meinem Büro schwungvoll aufgerissen hat. Verwirrt sehe ich vom Bildschirm auf. Wenn Lisa am frühen Morgen so ankommt, kann es nichts Gutes bedeuten. Meine beste Freundin ist nicht nur meine Kollegin, sondern auch dafür verantwortlich, Aufträge von oben weiter an die anderen Kollegen zu verteilen. Außerdem trennt sie Berufliches und Privates strikt, weshalb ich nicht auf Gnade ihrerseits hoffen kann, falls es um eine unglaublich gute oder ziemlich miese Story handelt.

»Was ist es diesmal?«, frage ich mit skeptischem Blick auf den Zettel, den sie in ihrer Hand hin und her schwenkt. »Soll ich über einen entlaufenen Welpen berichten? Oder den neusten Tratsch der hiesigen Wahlvereinigungen?«

Lisa grinst mich breit an und rückt ihre Brille zurecht. Im Büro ist sie der Meinung, mit Brille viel seriöser rüberzukommen, aber in ihrer Freizeit trägt sie fast ausschließlich Kontaktlinsen. Sie wedelt mit dem Papier durch die Luft, um die Spannung noch ein wenig zu steigern, ehe sie ihn mir auf den Tisch legt und in einem der Sessel vor dem Schreibtisch Platz nimmt. Dann schlägt sie die Beine übereinander, faltet die Hände im Schoß und sieht mich erwartungsvoll an.

Ich betrachte das Foto eines jungen Mannes mit strahlend blauen Augen, rappelkurzem blonden Haaren und einem sympathischen Lächeln. Dieser selbstsichere Blick kommt mir irgendwie bekannt vor.

»Wer ist das?«, will ich irritiert von Lisa wissen und lehne mich ebenfalls in meinem Stuhl zurück.

»Christopher Bennett«, entgegnet sie knapp, als würde dieser Name all meine Fragen beantworten, aber weil ich sie immer noch unwissend ansehe, seufzt sie auf.

»Gott, Jo, lebst du hinterm Mond, oder was? Du kennst ihn nicht? Vielleicht solltest du öfter die sozialen Medien checken oder einen Blick in ein Frauenmagazin werfen.« Lisa schüttelt den Kopf und streicht sich einige Strähnen aus der Stirn, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst haben. Dabei weiß sie ganz genau, dass ich nichts auf den Klatsch der Hollywoodstars gebe, zu denen dieser Kerl möglicherweise gehört. Bestimmt ist er ein Z-Promi aus irgendeiner neuen Sitcom.

Weil ich immer noch nicht wie gewünscht reagiere, beugt sie sich vor und lächelt verschwörerisch.

»Christopher Bennett ist der Stern schlechthin am Footballhimmel. Der Quarterback der LA Rams. Also, er war es zumindest bis zu seinem Unfall vor zwei Jahren«, klärt sie mich mit bedeutungsschwerer Stimme auf, in der Hoffnung, mir würde endlich ein Licht aufgehen. »Außerdem ist er ein bekannter Influencer. Klingelt es jetzt bei dir?«

»Ich habe genauso viel Ahnung von Football wie der Hund meiner Schwester«, entgegne ich entschuldigend, weil ich Lisas Euphorie für diesen Mann nicht teilen kann. Vermutlich hat sie gedacht, ich würde vor Freunde in die Luft springen, denn dieser Christopher scheint ziemlich bekannt zu sein – nur eben nicht für mich. Ich interessiere mich wenig für irgendwelche Stars, schon gar nicht für Sportler. Und mit Football verbinde ich immer die Erinnerung an Sebastian, was meine Abneigung für diesen Sport noch steigert. Mein Ex war ein passionierter Footballfan, der zu jedem Spiel seines Lieblingsvereins ins Stadion gerannt ist.

»Das solltest du wirklich mal ändern. Immerhin leben wir im einundzwanzigsten Jahrhundert, meine Liebe«, ist ihr Kommentar dazu, wie üblich, wenn ich nicht up to date bin.

»Was genau möchtest du nun von mir?«, lenke ich das Gespräch auf das ursprüngliche Thema zurück.

»Christopher ist sozusagen dein Freifahrtschein aus diesem Büro heraus«, verkündet sie überschwänglich und wackelt vielsagend mit den Augenbrauen.

Lisa hat recht, dieser Arbeitsplatz und meine Position in der Redaktion ist alles andere als vielversprechend, aber jeder hat einmal klein angefangen. Irgendwann kommt mein Tag und dann werde ich aus diesem Hinterzimmer eine Etage höher versetzt.

»Eigentlich mag ich dieses Büro sehr gern«, gebe ich zurück, obwohl es eine billige Ausrede ist. Seit nun mehr als zwei Jahren arbeite ich bei der LA Times. Mein absoluter Traumjob, für den ich während des Studiums wirklich alles gegeben habe.

Bisher bin ich jedoch so etwas wie das Mädchen für alles und mehr die Sekretärin für meine Kollegen als eine richtige Journalistin. Tatsächlich habe ich nur deshalb einen eigenen Raum zugewiesen bekommen, weil mein Telefon fast rund um die Uhr klingelt und die übrigen Angestellten bei der Arbeit stört.

Ich weiß nicht, wie mir ein Ex-Footballspieler dabei helfen sollte, mir beim Chef endlich Gehör zu verschaffen, damit er meine Qualitäten als Journalistin erkennt. Dass ich eine richtige Story schreiben will, steht für mich jedoch fest. Also sehe ich mir das Foto noch mal genauer an. Dieser Christopher hat ein Grübchen auf der linken Wange, das mir bekannt vorkommt. Ob ich ihn nicht schon mal irgendwo gesehen habe? Vielleicht in einer der zahlreichen Fernsehshows, die Amy so sehr liebt? Ich krame in meiner Erinnerung, aber da ist rein gar nichts, was ich mit diesem Mann in Verbindung bringen könnte.

»Der Chefredakteur will einen Sonderartikel im Sportteil. Sein Bild soll auf die Titelseite der nächsten Ausgabe. Die Fans wollen alles über ihn erfahren: sein Leben, seine Vorlieben, alles eben. Vor allem seine Karriere und der damit verbundene Ausstieg aus der NFL ist für die Leser interessant. Natürlich gibt es bereits unzählige Artikel über sein Karriereende, doch die sind alle alt und Schnee von gestern. Wir wollen etwas Neues bringen. Etwas, das Chris wieder ins rechte Licht rückt. Dieser Typ ist ein richtiger Draufgänger, habe ich gelesen. Ziemlich beliebt bei Frauen, auf jeder Party anzutreffen und nicht gerade ein sonniger Geselle, wenn du verstehst, was ich meine. Er ist nach seiner Verletzung abgestürzt, doch niemand weiß den wirklichen Grund für dieses extreme Verhalten. Nicht selten bleibt sein Auftauchen ohne Ärger und die sozialen Netzwerke platzen vor negativer Publicity. Als unser Chef mich vorhin zu sich bestellt hat, war er ganz begeistert von der Idee, ein Interview mit Christopher zu führen. Deshalb habe ich dich als Kandidatin für die Story vorgeschlagen, da alle anderen bereits ausgelastet sind. Und ja, er will dir endlich eine Chance geben, um zu zeigen, was du draufhast, Jo.« Sie zwinkert mir zu. »Das ist jetzt der Moment, in dem du mir dankend um den Hals fallen kannst, weil ich dir diese Möglichkeit verschafft habe.«

Skeptisch drehe ich das Foto in meinen Händen. Dieser Christopher sieht wie ein typischer Sonnyboy aus. Attraktiv, keine Frage, aber so besonders, dass Lisa wegen des Interviews mit ihm regelrecht ausflippt, ist er nun auch wieder nicht. Da war mein One-Night-Stand von Samstagnacht deutlich ansprechender. Natürlich wirkt sein freches Lächeln extrem sexy und anziehend, ist jedoch noch lange kein Grund, den ganzen Sportteil mit ihm zu füllen. Warum will der Chef gerade die Story eines Footballspielers herausbringen, der nicht einmal mehr aktiv ist?

»Also, ich weiß nicht recht …«

Lisa erhebt sich und stützt ihre Hände auf die Tischplatte. »Unser Chef will dieses Interview, also bekommt er dieses Interview.« Sie wedelt mit dem Zeigefinger vor meinem Gesicht wie eine strenge Mom bei einem Kind, das unartig gewesen ist.

»Vermutlich möchte er Bennett-Senior einen Gefallen tun, um seinen jüngsten Spross wieder ins Gespräch bringen, keine Ahnung. Negative Publicity ist zwar auch Publicity, aber sein Dad will, dass Christopher in der Sportbranche erneut Fuß fasst, statt sich durch wilde Partyexzesse und Frauengeschichten in den Medien unbeliebt zu machen«, meint sie schulterzuckend und setzt sich wieder auf den Stuhl mir gegenüber. Na großartig! Das klingt wirklich so, als habe ich einen großen Fisch an der Leine. Ich trauere jetzt schon meinen Kolumnen über entlaufene Haustiere hinterher.

»Wenn du so gut informiert bist, dann kannst du mir bestimmt einen Tipp geben, wie ich an dieses Interview herankomme? Wird der Typ auf einen Kaffee vorbeikommen, oder wie läuft das?«, frage ich meine Freundin ergeben. Die älteren Damen, die wegen ihrer besonderen Tortenrezepte hier gewesen sind, waren kein brisantes Storymaterial. Dementsprechend hat ein Anruf meinerseits genügt und sie sind voller Vorfreude in der Redaktion aufgelaufen. »Wie soll ich an ihn herankommen?«

»Du könntest ihn observieren. Lass dir was einfallen, schließlich bist du Journalistin«, schlägt Lisa glucksend vor.

Genervt verdrehe ich die Augen.

»Der Kerl ist wie ein offenes Buch. Im Grunde bräuchtest du ja nicht einmal persönlich mit ihm zu reden, um einen Artikel über ihn zu schreiben. Alles, was du brauchst, findest du online.«

»Du stalkst ihn also bereits«, stelle ich amüsiert fest, und Lisa grinst nickend.

»Warum setzt der Chef denn nicht wie üblich Mike auf die Story an? Er ist doch immer für den Sportteil zuständig«, frage ich nachdenklich. Ein Blick auf die Uhrzeit am Bildschirmrand zeigt mir, dass ich eigentlich längst zu meinem Termin in den Tierschutzverein müsste. Ungeduldig lasse ich meine Sachen in der Handtasche verschwinden. Das Foto von Christopher Bennett stecke ich ebenfalls ein.

»Mike hat keine Brüste«, entgegnet Lisa mit wackelnden Augenbrauen.

»Bitte? Was haben denn meine Brüste mit dem Interview zu tun?«, empöre ich mich, fahre ich den Computer herunter und erhebe mich vom Stuhl. »Du hast gerade selbst gesagt, ich müsste den Kerl nicht einmal persönlich treffen …«

»Christopher Bennett gilt als absoluter Playboy. Vor allem nach seinem Karriereende soll er es ganz schön wild getrieben haben. Er steht auf Blondinen mit üppiger Oberweite. Und hier kommst du ins Spiel …«

Lisas Grinsen wird immer breiter, während ich sie nur fassungslos anstarren kann. Beste Freundin hin oder her – das ist jedoch zu viel des Guten! Ich dachte, ich bekomme eine reelle Chance, weil ich eine gute Journalistin bin und nicht wegen meiner weiblichen Vorzüge!

»Wenn er also nicht mit dir reden will, könntest du deine Reize spielen lassen und dann …«, fährt sie kichernd fort.

»Du spinnst ja!« Ich zeige ihr einen Vogel und verlasse meinen Platz hinterm Schreibtisch.

»Wieso denn?«, fragt Lisa mit Unschuldsmiene. »Du bist sonst nicht gegen den ein oder anderen Flirt abgeneigt.«

»Da war ich betrunken. Berufliches und Privates trenne ich prinzipiell«, entgegne ich harsch.

»Wie dem auch sei. Um das Interview kommst du trotzdem nicht herum, weil ich keine Kapazitäten für diesen Monat mehr frei habe. Du solltest diese Chance nutzen und was draus machen, Süße. Nähere Infos werde ich dir später mailen, okay? Wir sehen uns dann morgen.«

Seufzend winke ich ihr zum Abschied, ehe ich den Fahrstuhl nach unten in die Lobby nehme. Kaum habe ich das Verlagsgebäude verlassen und die Straße überquert, piept schon mein Handy. Und obwohl ich es mir nicht eingestehen will, bin ich neugierig auf die Story hinter Christopher Bennett. Eine Datei ist der Mail angehängt, die ich mir zu Hause in Ruhe ansehen werde. Ich rufe mir das Foto von ihm wieder ins Gedächtnis. Lisa hat recht, er ist ein Blickfang. Wäre er mir auf der Straße begegnet, ich hätte nicht vermutet, dass der Typ so ein berühmter Sportler ist.

***

Seit Stunden sitze ich vor dem Rechner und recherchiere für den Artikel. Über diesen Kerl habe ich schon so viel Material zusammen, um locker ein ganzes Buch schreiben zu können. Die sozialen Medien und das Internet sind voll von Artikeln, Fotos oder Postings. Jedoch weiß ich nicht wirklich, wo ich anfangen soll. Es muss ein Artikel werden, der Christopher Bennett von seiner besten Seite zeigt – und genau das ist das Problem. Alles, was ich über ihn gefunden habe, macht ihn mir wenig sympathisch. Es gibt reißerische Schlagzeilen über Alkoholexzesse, etlichen Shitstorm und brisante Liebesaffären. Wie soll ich also aus diesem ganzen Mist etwas Positives schreiben?

In seiner aktiven Zeit als Quarterback ist er hingegen nur wenig aufgefallen, hat hart trainiert, war erfolgreich – auf dem Spielfeld und in der Werbebranche. Nach dem verheerenden Kreuzbandriss schien es, als sei er zu einem ganz anderen Menschen geworden. Hat ihn der Gedanke, nicht mehr spielen zu können, so sehr zerstört?

Seufzend klappe ich den Laptop zu und strecke mich kurz, um meine Glieder zu dehnen. Dann erhebe ich mich vom Schreibtischstuhl. Die Arbeit kann bis morgen warten. Ich sollte meine Schwester anrufen und mich bei ihr entschuldigen, weil ich Sonntag nicht zum Brunch erschienen bin. Hoffentlich ist sie nicht mehr so sauer auf mich. Jedes Mal macht sie mir Vorhaltungen, dass ich mich kaum noch bei meiner Familie blickenlasse. Niemand wollte, dass ich nach der Trennung von Sebastian nach L.A. ziehe, aus Sorge, ich würde nicht allein zurechtkommen. Doch der Umzug hat mir endlich die Augen geöffnet, dass es so viel mehr im Leben gibt, als ich bisher geglaubt habe.

In der Küche stelle ich die Kaffeemaschine an und warte, bis die braune Flüssigkeit durchgelaufen ist, während ich auf dem Smartphone meine Social-Media-Konten checke. Ich nutze Instagram und Facebook hauptsächlich, um bei meinen Freunden auf dem neuesten Stand zu bleiben, statt selbst täglich Input zu liefern. Ich bin keine dieser Influencerinnen, die irgendwelche Modeoutfits oder Bilder von angesagten Partys posten, und wollte es auch nie sein. Amy nutzt Social Media gezielt, um neue Leute – und vor allem Männer – kennenzulernen.

Ehe ich die Nummer meiner Schwester aus dem Telefonbuch heraussuche und wähle, nehme ich einige Schlucke von dem schwarzen Kaffee. Der Koffeinkick tut gut und sorgt dafür, dass mein Hirn wieder einigermaßen funktioniert. Auch wenn ich sechs Wochen Zeit habe für den Artikel, stresst mich die Tatsache, ein Interview mit dem Quarterback organisieren zu müssen, um irgendetwas Positives über den Menschen schreiben zu können.

Ich nippe an meinem Kaffee und spiele ein wenig mit dem Smartphone, als es plötzlich klingelt.

»Wenn man vom Teufel spricht«, melde ich mich lachend.

»Ach, mit wem hast du denn über mich gesprochen?«, fragt meine Schwester sogleich überrascht.

»Nein, ich habe nur gerade daran gedacht, dich anzurufen. Aber du bist mir zuvorgekommen«, erkläre ich ihr und gehe rüber ins Wohnzimmer, um es mir auf der Couch bequem zu machen.

»Wie schön, dass du deine große Schwester nicht vergessen hast, meine Liebe«, meint Susan. Aus ihrer Stimme höre ich den Sarkasmus heraus. Okay, sie ist doch sauer auf mich. »Es gefällt mir nicht, wie du dich verändert hast.«

»Ich bin einfach nicht mehr das schüchterne und naive Mädchen von früher, Su. Das ist alles.«

Susan seufzt in den Hörer. »Wie dem auch sei. Kommst du kommenden Samstag zum Mittagessen? Steven möchte noch seinen Cousin einladen und –«

»Du willst mich schon wieder verkuppeln, habe ich recht?«, falle ich ihr ins Wort. Es kommt nicht selten vor, dass irgendwelche Freunde ihres Mannes ganz plötzlich am Familientisch auftauchen, sobald ich zu Besuch bin. Susan ist der Meinung, ich könnte wieder einen netten Mann in meinem Leben gebrauchen, der für mich sorgt. Dabei verdiene ich bei meinem Job mehr als genug und komme wunderbar allein zurecht.

»Es schadet auch nicht, wenn du dir Eric einmal anschaust. Du musst ihn ja nicht gleich heiraten«, entgegnet Susan nachdrücklich. Sie weiß genau, dass ich auf das Thema Hochzeit sehr empfindlich reagiere. Und ich weiß, dass meine Schwester nicht nachgeben wird, ehe ich nicht zu diesem Treffen zugestimmt habe.

»Aber ich bleibe wirklich nur zum Essen, dann fahre ich wieder, okay?«

»Natürlich«, sagt sie zufrieden. »Bis Samstag.«

***

»Und, konntest du schon etwas herausfinden?«, fragt mich Lisa neugierig, nachdem wir gemeinsam aus der Mittagspause kommen. Statt sich wieder auf ihren Arbeitsplatz zu begeben, hat sich meine Kollegin mit ihrem Kaffee zu mir ins Büro gesellt. Ich stelle meinen Kaffeebecher neben den Computerbildschirm, dann lasse ich mich auf den Bürostuhl sinken. Es stehen einige Telefonate an, die ich am Vormittag vor mir hergeschoben habe.

»Noch nicht wirklich«, entgegne ich nachdenklich. »Die Infos aus dem Internet bringen mich nicht weiter. Ich kenne nur die allgemeinen Eckdaten: Er ist achtundzwanzig Jahre, war Quarterback seit der Highschool, ehe er zu den L.A Rams gewechselt hat. Mit fünfundzwanzig hatte ihn ein Scout entdeckt und für die Seattle Seahawks angeworben, was für ihn ein enormer Karrieresprung gewesen wäre. Kurz vor der Übernahme erlitt er einen zweiten Kreuzbandriss am rechten Knie, wurde operiert und genießt sein Leben derzeit auf den wildesten Partys«, leiere ich das runter, was ich gefunden habe.

Lisa legt die Stirn in Falten. »Ich habe null Ahnung von Football. Sind die Seahawks wirklich so gut, dass er die Rams für sie verlassen wollte?«

Sie schlägt die Beine übereinander, sodass ihr enger Bleistiftrock etwas hochrutscht. Selbst hier auf der Arbeit kleidet sie sich so, als würde sie ausgehen. Ich hingegen hatte heute Morgen überhaupt keine Lust, mich zu stylen, deshalb trage ich Bluejeans und einen dünnen Baumwollblazer über der Bluse. Gedankenverloren trommele ich mit den Fingernägeln auf dem Schreibtisch.

»Vielleicht solltest du dich mit ihm treffen«, schlägt Lisa vor. Ich rucke zu ihr herum und sehe sie völlig entgeistert an.

»Was?«, frage ich perplex, weil ich ihr nur mit halbem Ohr zugehört habe.

»Na ja, eigentlich ist es üblich, dass man den Menschen persönlich kennenlernt, über den man schreiben will.« Lisa lacht ein glockenhelles Lachen und rückt ihre Brille zurecht. Skeptisch lege ich meine Stirn in Falten und überlege einen Moment.

»Du magst recht haben … Aber ich kann schlecht vor seiner Haustür auftauchen und um ein Interview bitten.«

»Zuerst könntest du ihn anrufen und einen Termin vereinbaren«, erklärt sie mit einem Zwinkern. »Ruf ihn an, okay?« Sie erhebt sich und geht um den Schreibtisch herum.

»Etwa jetzt gleich?«, entfährt es mir und sofort schnellt mein Puls in die Höhe, weil ich eigentlich gedacht habe, mich noch mental auf diesen Anruf vorbereiten zu können. Schließlich ist dieser Mann irgendwie doch ein Promi …

»Klar, was spricht dagegen? Das ist dein Job.« Sie beugt sich vor und tippt seinen Namen in die Suchmaschine des Browsers ein. »Es gibt sicher eine Telefonnummer. Wenn wir nichts finden, dann rufst du bei seinem ehemaligen Verein an. Vielleicht machen sie ja eine Ausnahme und geben uns seine Nummer durch.«

Weil wir tatsächlich vergebens im Internet suchen, müssen wir schlussendlich unseren Chef mit dieser Frage behelligen. Es überrascht mich, dass ich keine zehn Minuten später eine Mail mit der Nummer in meinem Postfach habe.

»Da hätten wir uns die Suche auch sparen können«, meint Lisa schulterzuckend und greift nach meinem Telefon, wählt und hält mir dann den Hörer entgegen. »Na los, mach schon.«

Mit einem mulmigen Gefühl presse ich den Hörer ans Ohr und lausche den Geräuschen. Es klingelt mehrmals, und ich will bereits auflegen, als sich eine tiefe Männerstimme meldet.

»Hallo?«

Ein Schauder durchläuft mich und für einen Moment bekomme ich keinen Ton heraus, weil ich plötzlich furchtbar aufgeregt bin.

»Ähm …«, beginne ich völlig unprofessionell, denn der Klang seiner Stimme bringt mich kurz aus der Fassung. »Hier ist Joanna Miller von der LA Times. Ich rufe an, um –«

»Ich habe kein Interesse.«

Und schon ist die Leitung tot. Fassungslos starre ich auf den Hörer in meiner Hand.

»Er hat einfach so aufgelegt«, erkläre ich Lisa. Diese zuckt nur die Schultern.

»Ruf noch mal an«, fordert mich meine Kollegin auf.

Da mir nichts anderes übrig bleibt, wähle ich die Nummer erneut. Dieses Mal dauert es nicht so lange, bis er ans Telefon geht. Bevor er jedoch etwas sagen oder abermals auflegen kann, falle ich ihm direkt ins Wort.

»Mr Bennett, ich rufe von der LA Times an. Wir würden gern ein exklusives Interview mit Ihnen durchführen. Der Artikel soll auf die Titelseite. Es wird einen ganzen Sportteil zu Ihrer Person geben«, erzähle ich in freundlichem Ton. Nachdem ich geendet habe, warte ich angespannt auf seine Antwort. Mein Herz schlägt viel schneller als üblich. Neben mir trommelt Lisa mit ihren Fingernägeln ungeduldig auf der Tischplatte. Stille herrscht in der Leitung, doch er legt nicht auf, was mir sein leises Atmen verrät.

»Mr Bennett, sind Sie noch dran?«

»Ja«, brummt er schlecht gelaunt. »Aber wie ich schon sagte, ich habe kein Interesse. Lassen Sie mich in Ruhe.« Abermals legt er auf.

»Wir scheinen bei ihm wohl kein Glück zu haben«, erkläre ich meiner Kollegin. Seine harsche Abfuhr überrascht mich zwar nicht, trotzdem habe ich gehofft, mit diesem Thema schnell durchzukommen. Außerdem kam mir seine Stimme tatsächlich irgendwie bekannt vor, obwohl ich nicht weiß, woher.

»Bestimmt hast du ihn schon mal im Fernsehen gesehen«, mutmaßt Lisa nachdenklich, nachdem ich meine Vermutung äußere. Ich schüttele den Kopf. Jetzt will ich erst recht wissen, warum ich nach diesen wenigen Worten so durcheinander bin. Ich bin mir sicher, dass ich diesen Typen irgendwoher kenne!

Meine Freundin lässt mich allein, um noch einen ihrer eigenen Artikel zu Ende zu schreiben. Den Rest des Nachmittags verbringe ich damit, einige alte Aufträge durchzusehen, die aufgeschobenen Telefonate zu tätigen und über Christopher Bennett nachzudenken. Ein seltsamer Kerl. Er ist zwar bekannt wie ein bunter Hund, zieht sich trotzdem aus der Öffentlichkeit zurück, wie es auf mich den Anschein hatte. Liegt es daran, dass er nach dem Karriereende ständig von Journalisten und Pressesprechern belagert wurde?

Auch wenn ich gern würde, komme ich nicht drum herum, persönlich mit ihm zu sprechen. Denn ich will mit ihm reden und ihn kennenlernen. Der Ehrgeiz hat mich gepackt und ich will jetzt erst recht nicht aufgeben, um meinem Chef zu beweisen, dass ich das Zeug zu einer guten Journalistin habe.