Leseprobe Eine teuflisch verführerische Lady

I

Der Regen trommelte wütend gegen das derbe Holz vom Eingang des Gasthauses ‚Zur Schwarzen Katze‘. Drin waren der Speisesaal, der Schankraum und die Kaffeestuben mit Leuten, die vor dem Gewitter geflohen waren, überfüllt. Von Zeit zu Zeit erleuchtete ein Blitz die Räume mit greller Helligkeit, und die ängstlicheren der Gäste zuckten bei der ohrenbetäubenden Kanonade des Donners, die unmittelbar darauf folgte, jedes Mal erschreckt zusammen.

„Ein abscheulicher Abend, Sir“, sagte Mrs. Tabithy, als sie sich einem ihrer Gäste näherte. „Es werden noch eine Menge mehr Leute kommen“ – sie nickte zu der Gruppe hin, die den Gang bevölkerte – „wenn mich nicht alles täuscht. Wenn Sie auch nur eine Viertelstunde später gekommen wären, hätte ich Ihnen keinen privaten Raum mehr geben können; nicht einmal, wenn es um mein Leben ginge.“

„Sehr freundlich von Ihnen“, sagte der Gast und sah sich abwesend um.

Die Wirtin schaute auf den dicken Band in seinen Händen und lächelte. Seine Miene war die eines Gentleman. Die Qualität und der Schnitt seiner Kleidung deuteten trotz einer gewissen Unordentlichkeit auf Wohlstand hin. Er war ein gut aussehender junger Mann, noch nicht ganz dreißig, wie sie schätzte – und, dem Buch und dem leicht verschleierten Ausdruck seiner grauen Augen nach zu urteilen, einer dieser harmlosen Gelehrten. Von ihm war kein Ärger zu erwarten.

„Durch den Gang“, sagte sie laut. „Dritte Tür links. Ich schicke Sairey zu Ihnen, sobald ich nur kann – aber wie Sie selbst sehen, hat sie gerade alle Hände voll zu tun.“

Der junge Mann nickte andeutungsweise und ging in die Richtung, die sie ihm gezeigt hatte.

Die Wirtin hatte ihn richtig eingeschätzt. Mr. Jack Langdon war ein ruhiger, belesener Mann, der von seinen eigenen Gedanken zu sehr in Anspruch genommen war, um sich für die ihm gewährte Aufwartung zu interessieren. Momentan war er noch mehr in Anspruch genommen oder eher noch verwirrt als sonst. Das lag daran, dass Mr. Langdon vor Kurzem eine Enttäuschung in der Liebe hatte hinnehmen müssen.

Da er von Natur aus zur Zurückgezogenheit neigte, trug er sich ernsthaft mit dem Gedanken, in ein Kloster einzutreten. Unglücklicherweise hatte er jedoch Verantwortung zu tragen. Deshalb suchte er nun die zweitbeste Zufluchtsstätte auf – das friedvolle Landgut seines Onkels Albert in Yorkshire. Sein Onkel, Viscount Rössing, war ein Einsiedler und noch buchbegeisterter als sein Neffe. Jack würde den ganzen Sommer in Rössing Hall verbringen können, ohne auch nur einmal eine Konversation beginnen zu müssen. Und noch besser: er würde – abgesehen vom Hauspersonal – keine einzige Frau zu Gesicht bekommen. Mr. Langdon war in seinen traurigen Gedanken so sehr bei jener besonderen Frau, die einen vernichtenden Frost auf seine sprießende Hoffnung gelegt hatte, dass er sich bei den Türen verzählte und die fünfte öffnete statt der dritten.

Der Raum war äußerst schwach beleuchtet, was ihm unangenehm war. Er würde bei den dicht aufeinanderfolgenden Blitzen nicht gut lesen können. Er hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, als wieder ein Blitz aufzuckte und wie in einer Bühnenszene eine junge Frau sichtbar werden ließ, die eine Pistole gegen die Brust des Earl of Streetham drückte.

Ohne zu zögern und darüber nachzudenken, was geschah, stürzte sich Mr. Langdon auf die junge Frau und warf sie zu Boden und den Earl dabei gegen die Wand. Lord Streethams Kopf krachte an den Fensterrahmen, und Seine Lordschaft sackte bewusstlos auf die Holzdielen.

Die junge Frau blieb jedoch bei Bewusstsein und auch im Besitz ihrer Pistole. Als Jack danach greifen wollte, stieß sie ihn mit einem Ellbogen gegen die Brust und versuchte ihn wegzuschieben. Er drückte ihren Ellbogen weg und wollte noch mal nach der Waffe greifen. Mit ihrer freien Hand packte sie ihn bei den Haaren. Er versuchte sich zu befreien, aber nun griff sie nach seinem Ohr und riss daran so heftig, dass der Schmerz Tränen in seine Augen treten ließ. Während er sich noch abmühte, ihre Finger zu öffnen, hob sie hinter seinem Nacken die Waffe hoch. Gerade als sie den Griff der Pistole auf seinen Schädel niedersausen lassen wollte, ergriff er ihr Handgelenk. Er drückte so heftig zu, dass die Waffe nicht weit von ihrem Kopf zu Boden fiel. Er langte nach der Pistole, aber ihre Nägel gruben sich in seine Kopfhaut und rissen ihn davon weg.

Mr. Langdon wurde zunehmend verunsichert. Eine Frau angegriffen zu haben, war schon gegen seine Natur. Nun schien er keine andere Wahl mehr zu haben, als sie bewusstlos zu schlagen. Er wusste, dass er dies tun hätte können – er war gut trainiert -, und doch war ihm der Gedanke, seine Faust gegen ein weibliches Kinn zu schlagen, widerwärtig.

Während er sich noch mit seinem Anstandsgefühl abmühte, besann sie sich eines anderen und unterstrich ihre Puffer mit einer Serie von erstickten Flüchen, die Mr. Langdon bis ins Innerste schockiert hätten, wenn er darauf hören hätte können. Er musste all seine Kraft aufwenden, um sie am Boden zu halten. Er betete, dass sie bald ermüden würde und ihm die Schande ersparte, sie bewusstlos schlagen zu müssen. Sie aber krümmte sich, stieß mit den Ellbogen, kratzte und puffte mit unverminderter Wildheit weiter.

Mr. Langdons große Geduld begann ihn zu verlassen. Verzweifelt ergriff er ihre Handgelenke und drückte sie auf den Boden. Sie fluchte jetzt vehement, aber ihr sich hebender und senkender Busen ließ erkennen, dass sie nun doch schwächer wurde, obgleich sie nicht aufhörte, sich unter ihm zu drehen und zu wenden. An diesem Punkt ließ seine Konzentration nach.

Die Gestalt unter ihm war stark und biegsam, und er wurde sich ihrer geschmeidigen Muskeln und üppigen Kurven bewusst. Als ihre Bewegungen langsamer wurden, begann eine Wärme, die anders als die Hitze des Kampfes war, über ihn zu kommen. In kürzester Zeit hatte sich diese in sein Gehirn gestohlen; zusammen mit einem Schwarm anderer unpassender Gefühle, die alle ungestüm Beachtung forderten.

Mr. Langdon gehorchte ihnen und hob beunruhigt sein Gewicht von ihr. Seine Widersacherin trieb daraufhin prompt ein Knie in eine besonders empfindliche Gegend seiner Anatomie.

Jack keuchte und rollte auf den Boden. Die junge Frau raffte sich auf, ergriff ihre Pistole und rannte aus dem Raum.

Einen Moment später, als Jack versuchte aufzustehen, hörte er ein tiefes Stöhnen und sah, wie der Earl sein schmerzverzerrtes Gesicht vom Boden hob. Jack kroch zu ihm hin. Blut rann an Lord Streethams Ohr vorbei und über sein Kinn.

„Mylord, Sie sind verletzt“, sagte Jack. Er suchte in seiner Jacke nach einem Taschentuch.

Lord Streetham brachte sich selbst in eine sitzende Position und fasste sich an den Kopf. „Verdammtes wahnsinniges Frauenzimmer“, murrte er. „Woher soll ich wissen, dass sie nicht – was tun Sie denn da?“, schrie er.

„Ihr Kopf, Mylord …“

„Kümmern Sie sich nicht darum! Suchen und finden Sie lieber diesen Weibsteufel! Ich werde sie lehren – nun, worauf warten Sie noch?“

Von seiner frühesten Kindheit an war Jack Langdon im Haus des Earl gewesen und war ebenso behandelt worden wie Tony, der Sohn Seiner Lordschaft. Jack hatte mit Tony gespielt, mit Tony gelernt und zusammen mit Tony gelegentlich Prügel bezogen. Wenn daher Tonys Vater Jack etwas auftrug, dann tat Jack dies auch.

Er mühte sich auf seine Füße und stolperte aus dem Raum.

„Nun, Delilah, was hast du diesmal vorgehabt?“, fragte Mr. Desmond, als er kühl die aufgelöste Erscheinung seiner Tochter studierte.

Delilah warf einen Blick auf den dicklichen kleinen Mann, der schwitzend neben ihrem Papa stand. „Oh, nichts“, sagte sie mit leichthin vorgebrachter Gleichgültigkeit gegenüber der gewalttätigen Szene, die sie soeben verlassen hatte. „Ein Missverständnis mit einem anderen Gast. Zwei, genau genommen“, fügte sie mehr zu sich selbst noch hinzu.

„Lieber Himmel, Miss Desmond, es scheint aber eine Menge mehr als nur das gewesen zu sein. Ich hoffe, dass sich nicht einer der Gentlemen unzivilisiert benommen hat. Eine schreckliche Sache, diese öffentlichen Gasthäuser“, sagte der schwitzende Mann. „Sie hätten wirklich nicht ohne Begleitung hierherkommen sollen. Ihr Mädchen …“

„Mein Mädchen hat starke Kopfschmerzen, Mr. Atkins, obwohl ich ihr mehrmals gesagt habe, dass nur gesellschaftlich hochstehende Damen sich den Luxus einer Migräne erlauben dürfen. Ich fürchte, sie strebt nach Höherem.“ Miss Desmond wischte sich ungeduldig die schwarzen Locken aus ihrem Gesicht.

„Mr. Atkins hat recht, meine Liebe. Du hättest nicht herkommen sollen.“

„Doch, Papa. Die Sache betrifft mich auch; ich hoffe, du hast es Mr. Atkins erklärt.“ Sie wandte sich dem kleinen Mann zu. „Ich nehme an, dass Papa Sie bereits über die geänderten Pläne unterrichtet hat. Deswegen kann ich gar nicht verstehen, warum Sie diese sinnlose Reise überhaupt gemacht haben.“

„Oh, Miss Desmond; sicher nicht unnütz. Wie ich Ihrem Vater gerade erklärt habe …“ Mr. Atkins brach mitten im Satz ab, denn jetzt flog die Tür auf.

Die Frau, die Jack suchte, stand mit dem Rücken zur Tür. Als er seine verbliebenen Kräfte zu einem zweiten Angriff sammelte, hörte er eine tiefe, gedehnte Stimme sagen: „Ah, der fragliche Gast, nehme ich an.“

Mr. Langdon hielt mitten im Schritt inne, als sein Blick sich in Richtung der Stimme wandte. Es waren noch andere Leute im Raum. Zwei andere.

Einer war eine kleine, plumpe, aufgeregte Kreatur mit einem feuchten, runden Gesicht. Er wischte sich gerade nervös mit einem Taschentuch über die Stirn.

Der andere – der Besitzer der Stimme – war ein großer, kräftig gebauter Mann mit einem dunklen, gutgeschnittenen Gesicht und grünen Augen. Er stand mit kühler Unbewegtheit und beinahe gleichgültig dem Eindringling gegenüber. Und doch war seine Gleichgültigkeit drohend. Der unheimliche Mann strahlte Kraft, Gefahr und noch etwas für Jack Undefinierbares aus.

„Verzeihen Sie die Störung“, sagte Jack, „aber ich wurde geschickt, um diese Frau zu ergreifen.“

„Sie haben mich schon einmal ergriffen“, sagte sie. „Und zwar sehr hartnäckig.“

„Ah, es ist also der Gast“, sagte der satanisch aussehende Mann. Er tat einen Schritt auf Jack zu und lächelte. Das Leuchten seiner weißen Zähne war nicht sehr tröstlich. „Mein liebe junger Herr, Sie müssen sich die Verfolgung meiner Tochter aus dem Kopf schlagen. Sie mag es nicht, wenn sie von Gentlemen verfolgt wird, die ihr nicht vorgestellt wurden. Sie mag es absolut nicht. Sie könnte auf Sie schießen.“

„Das bezweifle ich nicht“, sagte Jack. „Sie hat soeben versucht, den Earl of Streetham zu erschießen.“

„Großer Gott!“, rief der kleine Mann aus. „Lord Streetham? Oh, Miss Desmond, das wird nicht gut gehen!“

„Nein, das wird es nicht“, sagte der Mann, der behauptete, ihr Vater zu sein, zustimmend. „Wie oft habe ich dir gesagt, Delilah, du sollst die Earls in Ruhe lassen? Wirklich, meine Liebe, das ist eine sehr schlechte Angewohnheit. Sieh zu, dass du sie loswirst! Mr. Atkins hat völlig recht: Das wird nicht gut gehen.“ Er wandte sich Jack zu. „Mein lieber Freund, es tut mir sehr leid, aber wir haben mit diesem Unhold nichts zu tun gehabt. Ich werde später deutliche Worte mit meiner Tochter sprechen. Ich hoffe, Sie schaffen sich keine weiteren Probleme deswegen. Guten Abend.“

Obgleich diese Antwort nicht sehr befriedigend war, lag eine so große Sicherheit in der Stimme des Mannes, dass Jack, der sich einen Moment lang wie ein Schauspieler in einer Komödie vorkam, seinem Wink schon Folge leisten wollte, als er den Blick der jungen Frau auf sich fühlte. Er schaute sie an und erstarrte.

In der Hitze des Gefechts war ihm ihre Wohlgeformtheit bewusst geworden. Jetzt sah er, dass ihr schweres schwarzes Haar ein ovales Gesicht einrahmte, das ihn in seinem hellen Kontrast, in seiner Glätte und Klarheit an das kostbare Porzellan seiner Mutter erinnerte. Ihre Augen – das Graugrün einer stürmischen See- gingen leicht schräg nach oben. Als sie sein staunendes Gesicht beobachtete, formte ihr voller Mund sich zu einem rätselhaften, lockenden Lächeln, das sein Herz taumeln ließ. Jack brauchte plötzlich Luft. Trotzdem war es ihm nicht möglich, sich zurückzuziehen. Diese junge Circe versuchte das schlimmste aller Verbrechen an ihm.

„Es tut mir sehr leid, Sir, aber ich bin dazu verpflichtet, mir Probleme zu machen“, sagte Jack und versuchte ähnlich lässig zu wirken. „Ich fürchte, das ist eine Angelegenheit für die Polizei.“

„Du lieber Gott!“ Mr. Atkins sank auf einen Stuhl.

„Wie Sie wünschen“, sagte Miss Desmond. „Auch ich möchte mit einem Constable sprechen. Vielleicht kann er mir erklären, wieso es Ihrem Lord Streetham gestattet ist, in einem öffentlichen Gasthaus wehrlose junge Frauen zu überfallen. Er kann ja nicht sehr erfolgreich dabei sein, wenn er noch Komplizen dazu braucht. Ich würde ihm raten, dass er sich ein Steckenpferd zulegt, das besser seinen begrenzten Fähigkeiten entspricht.“

„Sie überfallen? Sie haben eine Pistole auf sein Herz gerichtet.“

„Ah, jetzt verstehe ich. Ist Seine Lordschaft ein großer Mann?“, wollte Mr. Desmond wissen.

„Ja, aber das …“

„Da haben Sie es. Sie konnte ihm die Pistole nicht an den Kopf halten. Das ist richtig peinlich. Wie Sie selbst sehen, ist Delilah nicht viel mehr als mittelgroß.“

„Das ist jetzt wohl kaum die richtige Zeit für Späße“, sagte Jack aufgebracht. „Lord Streetham liegt blutend ein paar Türen weiter.“

„Da täuschen Sie sich“, sagte Delilahs Vater. „Er blutet ein wenig, aber er steht direkt hinter Ihnen.“

Jack wirbelte herum. Und tatsächlich lehnte sich Seine Lordschaft gegen den Türrahmen und presste ein Taschentuch an eine Seite seines Kopfes.

Mr. Atkins rannte auf den Earl zu. „Mylord, Sie sind verletzt. Hier, nehmen Sie mein Taschentuch! Soll ich nach einem Arzt schicken? Soll ich Wasser holen lassen? Soll ich Brandy bringen lassen?“ Der Mann fuhr fort zu plappern und wischte dabei abwechselnd dem Earl und sich selbst über das Gesicht.

„Wer ist diese Person?“, verlangte der Earl zu wissen. „Warum wedelt er mit diesem dreckigen Fetzen in meinem Gesicht herum?“ Er nickte Jack zu. „Entfernen Sie ihn, Jack! Dies ist eine Privatsache.“

Mr. Atkins wartete nicht darauf, entfernt zu werden. Er schoss an dem Earl vorbei und aus dem Zimmer.

Lord Streethams eisiger Blick fiel jetzt auf den dunklen Gentleman, der wieder ein Grinsen zeigte. Die aufgebrachte Haltung des Earls bekam etwas Zauderndes. „Sie sind es also, Desmond“, sagte er. „Als ich Ihre Stimme hörte, war ich mir sicher, dass es mit mir vorbei war. Wo sonst als im Hades könnte man erwarten, Sie wieder zu sehen?“

„Sicher nicht da, wo Sie erwarten können, sich selbst wiederzufinden, wie, Marcus?“, entgegnete Mr. Desmond. „Sie sind, das versichere ich Ihnen, immer noch in dieser traurigen Welt, und dieses armselige Wirtshaus ist wohl kaum jene andere Welt, obgleich der Teufel selbst hier Schutz vor dem Gewitter sucht.“

Lord Streetham brachte ein steifes Lächeln zustande. „Darf ich dann annehmen, dass diese junge Frau zu Ihnen gehört?“

Die grünen Augen glitzerten. „Junge Dame, wenn ich bitten darf. Dies ist meine Tochter, Delilah.“

„Tochter?“, wiederholte der Earl schwach.

Die Spannung in der Luft war fühlbar. Jack atmete wieder tief durch.

Zu seinem Erstaunen verschwand der Zorn des Earls völlig und wich einem ziemlich blassen Ausdruck der Besorgnis. „Meine verehrte junge Dame, ich bitte tausendmal um Entschuldigung“, sagte er. „Das schwache Licht und meine Augen sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Ich habe Sie mit jener kessen Maid verwechselt. Ein schreckliches Missverständnis.“

Miss Desmond starrte ihn nur kalt an.

„Fast fatal, in der Tat“, sagte ihr Vater. „Ich glaube, ich muss Sie jetzt bestrafen. Wie mühsam.“

„Viel zu mühsam, Papa“, sagte Miss Desmond. „Seine Lordschaft hat sich entschuldigt, und ich bin unverletzt.“ Seine Lordschaft war es offensichtlich nicht, aber die junge Dame unterließ taktvollerweise, es zu erwähnen. „Wenn sich jetzt sein Komplize auch noch entschuldigt“, fügte sie mit einem amüsierten Blick auf Jack hinzu, „dann können wir alle friedlich unseren Geschäften nachgehen.“

Jack war sich sicher, dass dem Vater von der Tochter irgendein Signal übermittelt wurde, konnte aber nicht erkennen, was es war. Ein Zucken eines Augenlids – eine unmerkliche Bewegung – oder sogar – unmöglich – niemand konnte die Gedanken eines anderen lesen.

Er schaute fragend zu dem Earl hin.

„Ein Missverständnis, Jack“, sagte Lord Streetham. „Das ist alles.“

Alles? Er, Jack Langdon, hatte die unschuldige junge Dame angegriffen, die nur versucht hatte, ihre Ehre zu verteidigen. Er wünschte, dass der Fußboden sich öffnen und ihn verschlingen möge, aber da Fußböden nur selten auf diese Weise zu Gefallen sind, errötete er stattdessen demütig.

„Ich – ich bitte um Verzeihung, Miss Desmond“, stotterte er. „Es tut mir wirklich sehr leid – und – und –“ Plötzlich fielen ihm wieder die Gefühle ein, die sie in ihm geweckt hatte. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht verletzt.“

„O nein“, antwortete sie schüchtern, obschon ihre Augen amüsiert glänzten. „Und ich hoffe, ich habe Sie nicht verletzt.“

Mr. Langdons Röte wurde tiefer. „N-nein. Natürlich nicht.“

„Also gut, Mr–“

„Langdon“, warf der Earl ungeduldig ein. „Jack Langdon. Ich kenne ihn schon seit seiner Kindheit. Er tut keiner Fliege etwas zuleide.“

„Also gut, Mr. Langdon. Ihre Entschuldigung ist akzeptiert.“

Mr. Langdon zog sich zurück.

Er fand diesmal den richtigen Raum und saß bereits eine halbe Stunde lang vor sich hinstarrend an seinem Tisch, als ihm einfiel, dass er sein Buch bei dem Gemenge mit Miss Desmond fallen hatte lassen. Unwillig, ein Zusammentreffen mit den Zeugen seiner Demütigung zu riskieren, schickte er eine Bedienung, um das Buch wieder zu bekommen.

Als er es wieder in Händen hielt, entspannte sich Jack ein wenig, und es war ihm sogar möglich, sein Dinner zu bestellen, ohne zu stottern. Er aß sein Mahl, ohne es wirklich zu schmecken und las in seinem Buch, ohne eine Silbe zu begreifen. Das Gewitter tobte mit unverminderter Stärke weiter, aber er hörte nichts. Stunden später, als es überall still war, schlich er auf sein Zimmer und starrte bis Tagesanbruch an die Decke.

Während Mr. Langdon vergeblich versuchte, Ablenkung durch sein Buch zu finden und Miss Desmond ihre Abenteuer ihrem Papa erzählte, milderte Lord Streetham seine Frustration auf Kosten des glücklosen Mr. Atkins. Nachdem er ihm zunächst gnadenlos Vorhaltungen gemacht hatte, weil er beinahe ihre Verbindung verraten hatte, ging Seine Lordschaft zu einer unfreundlichen Analyse ihrer Beziehung über.

Die Öffentlichkeit kannte den Lord als einen enthusiastischen Sammler von Büchern. Mr. Atkins kannte ihn als stillen Teilhaber seines Verlages. Dass dies ein sorgsam gehütetes Geheimnis war, lag vielleicht an der Tendenz der Firma, der britischen Öffentlichkeit die unartigsten Bücher, die je unter Matratzen versteckt oder in Schubläden weggeschlossen wurden, anzubieten. Trotz der bedauerlichen Vorliebe der Leserschaft für anatomische Handbücher und solche über Prostituierte und für Anleitungen zur Verführung ging das Geschäft in letzter Zeit nicht besonders gut – wie der Earl jetzt deutlich machte.

Atkins war offensichtlich ein Versager und vielleicht sogar ein Schwindler, bemerkte Seine Lordschaft. Aber sei es wie es sei, er könne von nun an alleine dem Bankrott zusteuern. Um es kurz zu machen: Lord Streetham wollte nicht mehr länger gutes Geld hinauswerfen.

„Aber Mylord, jetzt aufgeben – wo doch ein glänzender Erfolg praktisch schon in meiner Reichweite ist – eigentlich in den Händen des Druckers.“ Mr. Atkins kniff seine Augen zusammen und biss sich auf die Unterlippe. „O nein. Ich wollte ja gar nicht – o Gott!“

Lord Streetham hielt das Glas, das er gerade an seine Lippen führen wollte, in der Luft und betrachtete das Gesicht seines Kompagnons. Dann setzte er das Glas ab und fixierte den Verleger mit seinen blassblauen Augen.

„Was wollten Sie gar nicht?“, fragte er.

Der Mann starrte nur sprachlos und entsetzt zurück.

„Sie sollten es lieber sagen, Atkins! Meine Geduld ist so ziemlich am Ende.“

„My-Mylord, ich k-kann nicht. Ich bin zur Verschwiegenheit verpflichtet.“

„Vor mir haben Sie keine Geschäftsgeheimnisse. Nun reden Sie schon!“

Der Verleger schluckte. „Die Memoiren, Mylord.“

„Ich bin nicht in der Stimmung, Ihnen alles aus der Nase zu ziehen, Atkins, und Sie provozieren mich.“

„Seine Memoiren“, sagte der Verleger kläglich. „Mr. Desmond hat seine Memoiren geschrieben, und ich habe dafür bezahlt – teilweise; ich meine als Anreiz für ihn, sie schnell fertigzustellen. Deswegen bin ich hier. Ich habe erfahren, dass er unterwegs nach Rossingley ist, um Verwandte zu besuchen, also bin ich hierhergekommen, um ihm die Mühe zu ersparen, sie mir zu bringen.“

„Seine Memoiren hat er geschrieben?“ fragte Lord Streetham und schenkte geistesabwesend noch mehr Wein in sein fast noch volles Glas.

„Ja, Mylord. Ich habe sie selbst gesehen – zumindest einen Teil davon. Er hat mir geschrieben, ob ich daran interessiert sei, und natürlich, da mir sein Ruf bekannt ist – wem ist er es nicht – beeilte ich mich, das Werk zu begutachten. Ich musste die lange Reise bis nach Schottland machen, aber sie hat sich gelohnt, das kann ich Ihnen versichern. Alle Leute aus der Gesellschaft werden die Geschichte des Teufels Desmond lesen wollen. Wir werden sie in mehreren Folgen herausbringen und …“

„Und haben Sie sie bekommen?“, fragte Seine Lordschaft.

Mr. Atkins war gezwungen, zuzugeben, dass das nicht der Fall war, weil Mr. Desmond Schwierigkeiten machte.

„Natürlich macht er die“, sagte der Earl. „Wenn Sie seinen Ruf kennen, dann sollten Sie wissen, dass man dem Teufel Desmond kein Geld gibt, ohne dafür einen Gegenwert in die Hände zu bekommen. Sie sind ein Narr. Diese Memoiren existieren überhaupt nicht. Er hat Ihnen ein paar Blätter gezeigt, die er zu diesem Zweck beschrieben hat, und Sie haben sich prellen lassen.“

Der Verleger wandte ein, dass das Manuskript existieren müsse, sonst hätte Miss Desmond sich nicht so eifrig bemüht, sein Zusammentreffen mit ihrem Vater zu unterbrechen. „Er möchte es veröffentlichen“, erklärte Atkins, „aber sie will das verhindern. Sie hat Angst vor einem Skandal. Das Mädchen hält Ausschau nach einem Ehemann, wissen Sie. Deswegen ist Mr. Desmond nach England zurückgekehrt.“

Der Earl sagte spöttisch: „Des Teufels Tochter? Einen Ehemann? Die Göre muss den Verstand verloren haben. Ich nehme an, sie will sich einen Lord suchen – oder einen Duke vielleicht?“ Lord Streetham kicherte. „Dummes Ding, was bedeutet schon ein Skandal mehr für sie? So, wie es ist – aber nein, alte Geschichten langweilen mich. Trotzdem, die Öffentlichkeit ist ganz wild nach solch erbärmlichen Geschichten, da haben Sie recht. Diese Memoiren, wenn sie wirklich existieren, werden sicherlich sehr populär werden. Unglücklicherweise …“ Er machte eine Pause und trommelte mit seinen Fingern leicht auf die Tischplatte.

„Mylord?“

„Die Leute ändern sich, Atkins“, sagte der Earl, ohne aufzusehen. „Manche von jenen, mit denen Desmond in seiner schlimmen Jugend Umgang hatte, sind an ihren Exzessen schon gestorben. Diejenigen, die überlebt haben, sind heute angesehene, respektierte Männer. Sie werden diese Bloßstellung ihrer jugendlichen Torheiten nicht gerade freundlich aufnehmen. Wenn Sie nicht vorsichtig sind, wird man Sie wegen Verleumdung verklagen.“

„Mylord, ich versichere Ihnen …“

Lord Streetham beachtete den Einwand nicht und fuhr fort: „Und des Weiteren, verleumderisch oder nicht, es könnten Informationen dabei sein, die den Frieden unschuldiger Familien zerstören. Das können wir nicht verantworten.“ Seine Lordschaft schlürfte mit einem Anflug von Mitgefühl seinen Wein.

Mr. Atkins bekam es mit der Angst zu tun. „Oh, Mylord. Aus Furcht vor ein wenig häuslichem Zwist möchten Sie der Welt diese Erinnerungen vorenthalten? Ich verspreche Ihnen, man wird uns jedes Mal die Türen einrennen, wenn eine neue Folge angekündigt wird. Ich bitte Sie, Mylord, es noch einmal in Erwägung zu ziehen.“ Tränen traten in die Augen des Verlegers.

Lord Streetham dachte einige quälende Minuten lang nach, und Mr. Atkins wischte sich seine Augen und wartete.

„Also gut“, sagte der Earl schließlich. „Es wäre falsch, es der Öffentlichkeit zu entziehen. Er hat ein ganz außergewöhnliches Leben gelebt. Verlegen Sie das Werk meinetwegen, wenn Sie können – aber unter einer Bedingung.“

„Jede, Mylord.“

„Ich muss das Material zuerst gutheißen. Hier und da ein wenig zu redigieren, wird nicht schaden, aber vielleicht manchen meiner Kollegen allerhand Kummer ersparen.“

Da er ja schon jeglicher Bedingung zugestimmt hatte, konnte Mr. Atkins gegen diese bescheidene Forderung kaum etwas einwenden. Etwas später jedoch, als er sich zu Bett begab, beklagte er das grausame Geschick, das Lord Streetham in diesen verfluchten Gasthof gebracht hatte. Wenn Seine Lordschaft seine Billigung zu den Memoiren des Teufels Desmond gegeben haben würde, dann würden sich diese wie eine Sammlung von Predigten ausnehmen, und Mr. Atkins würde sich glücklich schätzen müssen, wenn sie wenigstens die Methodisten kauften.

Lord Streetham legte sich schlecht gelaunt in sein Bett. Er hätte wissen können, dass dies ein Abend der bösen Vorzeichen war, nachdem schon seine Mätresse nicht erschienen war. Und als Desmonds Göre in seinen Privatraum eingetreten war, hatte er sie mit der anderen verwechselt und deswegen beinahe sein Blut vergossen. Danach war er nur knapp dem sicheren Tod durch den Teufel Desmond entgangen und hatte vor dem Ungeheuer zu Kreuze kriechen müssen – Jack Langdon, dieses Muster an Redlichkeit, war Zeuge der schäbigen Szene gewesen. Und das Schlimmste waren diese verdammten Memoiren, deren Seiten sicherlich seine eigenen Geheimnisse dem gefühllosen Londoner Mob preisgeben würden.

Seine Lordschaft hegte auch nicht gerade freundliche Gedanken gegenüber dem Verleger. Die Wahl zwischen Erfolg und Ruin ist nicht weiter schwierig, und ein verzweifelter Mann ist kein geduldiger Mann. Angenommen, Atkins würde ihn verraten und sich mit dem Manuskript aus dem Staub machen? Angenommen, er täte das nicht, und das Buch fiel so unflätig aus, dass selbst das Redigieren nichts mehr half? Vielleicht war es am sichersten, das Werk völlig zu zerstören. Mit diesen und einer Menge anderer beunruhigender Fragen vertrieb sich Lord Streetham die lange, trübselige Nacht.

II

Hoffend, ein Zusammentreffen mit den anderen Reisenden vermeiden zu können, stahl sich Jack kurz nach der Morgendämmerung aus seinem Zimmer. Als er gerade um die Ecke in Richtung Treppe gehen wollte, hörte er ein Geräusch, das aus einem in der Nähe liegenden Zimmer kam. Jack drehte sich genau in dem Moment danach um, in dem ein anderer Herr um die Ecke eilte. Die beiden stießen zusammen, und Mr. Langdon taumelte gegen die Wand.

„Eh – Verz- Jack!“, rief der Herr. „Bist du es wirklich?“

Er streckte eine Hand aus, um Jack zu helfen, aber der hatte sein Gleichgewicht bereits wiedergefunden, obwohl er noch ein wenig benommen war. Er schaute in ein Gesicht, das die meisten Frauen als Engelsgesicht bezeichnet hätten. Es war ein Gesicht, das Botticelli gemalt haben könnte, so klassisch schön waren seine Proportionen, so fein gemeißelt jeder seiner Züge, so klar, blau und unschuldig seine Augen, so golden die Locken, die es krönten.

Dies war jedoch nicht nur das Gesicht eines sterblichen Mannes, sondern auch das eines höchst unseriösen Mitglieds dieses Geschlechts. Lord Streethams Sohn, der Viscount Berne, war auf dem besten Weg, der gefährlichste Wüstling zu werden, den der britische Adel je hervorgebracht hatte. Er war auch Jacks ältester Freund.

„Ja, ich bin es – zumindest bilde ich mir das ein“, sagte Jack, schnitt eine Grimasse und massierte seinen Hinterkopf.

„Was bringt dich denn hierher – und zu dieser gottlosen Stunde schon auf die Beine? Und wie immer schaust du nicht, wohin du gehst. Ich habe dich in meiner Eile fast umgerannt.“

„Das ist schon in Ordnung, Tony“, sagte Mr. Langdon. „Ich gewöhne mich allmählich daran, auf die Nase zu fallen.“

Lord Bernes unschuldiger Gesichtsausdruck nahm sofort etwas Bedauerndes an. „O ja, ich habe schon davon gehört. Schade, das mit Miss Pelliston.“

Mr. Langdon zuckte zusammen. Er hatte nicht gewusst, dass sein Misserfolg schon zum allgemeinen Klatsch geworden war.

„Das sind die Wege der Liebe“, sagte der Viscount tröstend. „Sie versetzt einem immer wieder mal einen Schlag. Das Geheimnis liegt darin, sich zusammenzunehmen und in den nächsten Kampf zu marschieren. Wir Zivilisten müssen unsere Lektion von Wellington lernen.“

Er legte einen Arm um die Schulter seines Freundes und ging mit ihm die Stufen hinunter. „Zuerst brauchst du eine Stärkung. Wir frühstücken zusammen. Dann musst du mit mir zu einem langen Besuch zum Sitz meiner Vorfahren kommen. Ich bin gezwungen, aufs Land zu gehen, weil ich Lady Jane Gathers den Hof machen muss. Natürlich wird sie eine vorbildliche Ehefrau abgeben. Die Urteilskraft meines Herrn Vaters ist untrüglich, wie er mir unaufhörlich zu verstehen gibt.“

Lord Berne tendierte dazu, seine Monologe über Stunden auszudehnen, wenn sie nicht unbarmherzig unterbrochen und auf den Punkt gebracht wurden.

Deswegen sagte Jack schnell: „Man verländlicht normalerweise nicht in Gasthöfen – zumindest nicht, wenn sie so nahe an zu Hause liegen. Was bringt dich denn hierher?“

„Ein Frauenzimmer natürlich. Was sonst? Vielleicht hast du die flotte blonde Sarah noch nicht kennengelernt? Macht nichts. Ich habe sie auch kaum gesehen, denn ich war gerade in der Kaffeestube, als ich eine andere erspähte, die alleine und unbeachtet inmitten des sturmgeschüttelten Pöbels saß. Was blieb mir anderes übrig, als dem dunkelhaarigen Dämchen zu Hilfe zu kommen?“

„Lady Jane wird diese Art von Ritterlichkeit wohl kaum schätzen“, sagte Jack, als sie den Gang im Erdgeschoß erreichten.

„Lady Jane ist entschlossen, nichts über solche Dinge zu wissen, was sehr schicklich für sie ist. Ich wünschte nur, dass ihr Gesicht auch schicklicher wäre. Aber das macht nichts. Wir werden beide um sie werben, du und ich“, bot Tony an.

Er steuerte seinen in Gedanken verlorenen Freund gewandt in den Speiseraum. „Vielleicht nimmst du sie mir weg. Wirklich Jack, ich wünschte, du würdest es tun. Sie ist sehr in Ordnung, aber ich bin noch nicht bereit – großer Gott! Wo kommt die denn her? Mit meinem noblen Herrn Vater! Wo kommt der denn her?“

Mr. Langdon folgte dem Blick seines Freundes über einen großen Gemeinschaftstisch hinweg, in eine ruhige Ecke in der Nähe des Kamins. Dort saßen Mr. Desmond und seine Tochter zusammen mit dem Earl of Streetham beim Frühstück.

Obgleich das Letzte, was Jack auf dieser Welt wollte, ein Zusammentreffen mit ihnen war, konnte er von Tony kaum erwarten, dass er seinen eigenen Vater ignorierte, vor allem dann nicht, wenn er in Gesellschaft einer schönen jungen Frau war. Es gab kein Entrinnen, denn Tony hatte den Arm seines Freundes in festem Griff und schob ihn auf den Tisch zu.

Jack verbrachte die nächsten Minuten mit dem offensichtlich faszinierten Betrachten einer Landschaftsmalerei mit böse blickenden Schafen, die nur wenig über Miss Desmonds Kopf an der Wand hing. Gedämpft hörte er Worte des Bekanntmachens und solche, von denen er sicher war, dass es sich um Lügen handelte, als der Earl und sein Sohn sich gegenseitig ihre Anwesenheit in der Schwarzen Katze erklärten.

Mr. Langdon zwang sich zu aufmerksamem Zuhören, als der Earl die Desmonds wiederholt einlud, doch seine Gäste in Streetham Close zu sein. Da Seine Lordschaft sein Ersuchen hauptsächlich an die Tochter richtete, nahm Jack an, dass sie von beiden die Widerstrebende war. Im nächsten Moment jedoch steuerte Tony noch seine Überredungskünste bei, und Miss Desmond kapitulierte, wie zu erwarten war.

Nachdem sie ihre Mahlzeit beendet hatten, verließen die drei Personen den Speiseraum, und eine davon wurde von Lord Berne mit solch verzehrenden Blicken verfolgt, dass der Kellner vor lauter Eile auf dem Weg zu ihrem Tisch zwei Stühle umstieß, weil er annahm, dass der junge Gentleman kurz vor dem Verhungern sei.

Mr. Langdon, der an die romantischen Anfälle seines Gefährten gewöhnt war, kümmerte sich nicht weiter darum. Ihr Frühstück wurde schnell serviert, und während sie aßen, erklärte Jack ruhig, warum er Streetham Close nicht besuchen könne. Sein Onkel erwarte ihn, sagte er. Er sei nicht in der Stimmung, gesellig zu sein. Er habe schon monatelang kein Buch mehr zu Ende gelesen. Diese und andere lahme Entschuldigungen wurden von Viscount Berne schnell abgetan.

„Du willst dich nur irgendwo verstecken und selbst bedauern, Jack, und das ist ungesund. Sich zu wünschen, woanders zu sein, während diese exotische Blume unter meinem Dach weilt, ist doch der Beweis für deinen geistigen Verfall. Wir müssen dich wieder in Ordnung bringen. Wenn ihre grauen Augen deine Männlichkeit nicht wieder herstellen, dann weiß ich auch nicht …“

„Sie sind grün“, sagte Jack.

„Grau.“

„Grün. Und ich brauche nicht von den Augen von irgendjemandem wiederhergestellt zu werden. Ich will meinen Frieden und meine Ruhe, Tony, und ich muss dir sagen, es liegt nichts Friedfertiges in ihren Augen.“ Jack war schon drauf und dran, sein Abenteuer vom Vorabend zu offenbaren, als sein Freund ihm ins Wort fiel.

„Ich erwarte gar nicht, dass sie so friedfertig sind“, meinte Lord Berne. „Weißt du denn nicht, wer das ist? Devil Desmond, der infamste Schurke der Christenheit. Abenteurer, Scharlatan und – wenigstens bis zu seiner Hochzeit – ein Verderber weiblicher Tugendhaftigkeit, wie es seit Casanova keinen mehr gegeben hat. Seine Eroberungen würden …“

„Danke, Tony. Das genügt schon.“

„Er ist schon zu Lebzeiten eine Legende, sage ich dir. Ich hätte nicht gedacht, dass er nach diesem Duell mit Billings nach England zurückkehren würde – aber das liegt ja schon eine Ewigkeit zurück.“

Mr. Langdon schlürfte seinen Kaffee. „Dann wundert es mich, dass dein Vater ihn unter das Dach seiner Vorfahren einlädt.“

„Seine Lordschaft wird mit zunehmendem Alter ein wenig kindisch. Vielleicht will er den Teufel bekehren. Aber was interessiert mich der Grund? Delilah!“ Lord Berne seufzte. „Ihr Name allein ist schon voll sündiger Verheißung. Sie hat noch kein Haar meines Kopfes berührt, und doch spüre ich bereits die Kraft meiner Nerven dahinschwinden.“

Sein Freund seufzte innerlich. Tony verliebte sich täglich, manchmal stündlich, und die Resultate häuften sich – aus der Sicht von manchen – zu einer nationalen Tragödie an. Die traurigen Überreste der Herzen, die Lord Berne zerbrochen hatte, bedeckten den Weg von London bis Carlisle. Eines mehr würde den Gang der Geschichte nicht ändern, obgleich – wenn Jack sich nicht sehr täuschte – Miss Desmonds Herz aus einem derberen Material war.

Für einen Philosophen würden sich interessante Studien daraus ergeben, aber Mr. Langdon war nicht in der Stimmung zu philosophieren. Er bestand stur darauf, zu seinem Onkel zu fahren.

Lord Berne spielte seine Trumpfkarte aus: „Du musst mit mir kommen, Jack, um mich vor mir selbst zu retten!“

„Die Rettung ist nicht meine Sache“, kam die irritierte Antwort.

„Aber wer sonst kann mich davon abhalten, von einem harmlosen Flirt in gefährliche Tiefen abzugleiten? Sehr gefährliche, das kann ich dir sagen. Du wirst doch nicht mitansehen wollen, wie der Teufel eine Kugel durch mein zartes Herz jagt, oder doch?“

„Dann behalte deine Hände bei dir!“

„Aber Jack.“ Lord Berne schaute seinen Freund mit großen Augen an. „Du weißt doch, dass ich das nicht kann.“

Mr. Desmond und seine Tochter reisten in ihrer eigenen Kutsche; der Earl ritt ihnen voraus. Nachdem sie eine Weile schweigend gefahren waren, bemerkte Mr. Desmond: „Dieser junge Mann interessiert mich.“

„Welcher junge Mann, Papa?“

„Meine Liebe, du wirst doch nicht glauben, dass ich diesen närrischen Flachskopf interessant finde? Ich habe diesen Typ durch Generationen schon überall auf der Welt getroffen. Ich meine den Gast. Den unglücklichen jungen Mann mit dem zerzausten braunen Haar und den poetischen grauen Augen.“

„Ich habe ihn nicht poetisch gefunden.“

„Aber sicher hast du das. Du hast sogar Mitgefühl für ihn gehabt. Ich war ganz erstaunt darüber.“

Miss Desmond schaute mit steinerner Miene geradeaus. „Auch das habe ich nicht. Deine Augen werden schwächer, Papa, genau wie die von dem armen Lord Streetham.“

„Du bist sehr unleidig heute, Delilah. Ist es, weil sich der junge Mann als der mutmaßliche Erbe des Viscount Rössing herausgestellt hat und du deine Entscheidung bedauerst?“

Miss Desmonds Kopf flog so abrupt zu ihrem Vater hin, dass ihr ihre Kappe über ein Ohr rutschte. Während sie sie wieder zurechtrückte, sagte sie zornig: „Ich werde keinen Mann zwingen, mich zu heiraten, weil irgendetwas ausposaunt wurde. Das ist absurd.“

„Er hätte es aber getan.“

„Weil er ein harmloses Kind ist. O Papa, so möchte ich nicht beginnen – aber es gibt keinen Neubeginn, nicht wahr? Meine Füße berühren kaum englischen Boden, und schon werde ich in eine garstige Sache hineingezogen. Ich wünschte, ich könnte mich wie eine Lady verhalten. Aber wie es scheint, kann ich alles andere bis auf das“, sagte sie klagend.

„Wenn du dich wie eine hilflose Frau – das ist doch wohl deine Definition einer Lady – verhalten hättest, dann wärst du von diesem scheinheiligen alten Heuchler entehrt worden.“

„Wenn ich auf mein Mädchen gewartet hätte oder in meinem Zimmer geblieben wäre, hätte ich ihm keinen Anlass gegeben, sich unzivilisiert zu benehmen.“

Mr. Desmond lächelte; ein viel milderes Lächeln, als es Mr. Langdon am vorhergehenden Abend gesehen hatte. „Du warst besorgt, dass Mr. Atkins’ Ersuchen mein empfindsames Herz erweichen könnte? Eine ganz natürliche Besorgnis, meine Liebe, aber völlig überflüssig. Ich habe in der Tat lange darüber nachgedacht. Vielleicht sollte ich meine erbärmlichen literarischen Produkte vernichten, sodass wir mit ruhigem Gewissen dieses Unternehmen starten können. Ich weiß, ich habe einen großen Fehler gemacht, mit Atkins deswegen Verbindung aufzunehmen. Aber ich wollte den Wert der Arbeit sicherstellen. Was wäre, wenn ich plötzlich sterben würde?“

Delilah schauderte. „Sag nicht so etwas, Papa!“

„Es hätte vor einem Jahr leicht passieren können. Du und deine Mama, ihr hättet völlig mittellos dagestanden und ohne Aussicht auf Hilfe von einer unserer dickfelligen Familien. Sicherheit, dachte ich. Ein Nestei im Falle einer Kalamität. Natürlich musste ich sicherstellen, dass das Ei ein goldenes war.“

„Das hast du ja auch wirklich getan. Und bitte kein Wort mehr vom Vernichten deiner wundervollen Geschichte nach all diesen Monaten der Arbeit. Wie du selber sagst, kommen Unglücksfälle vor. Ich werde vielleicht nie einen Ehemann finden.“

„Oder du wirst dich vielleicht in einen jungen Mann ohne einen Penny verlieben.“

Miss Desmond schniefte geringschätzig. „Ich habe nicht die Absicht, mich in irgendjemanden zu verlieben. Man kann nicht einen klaren Kopf behalten und sich zur selben Zeit verlieben. Meine Heirat erfordert einen klaren Kopf.“

„Du meinst einen kühl kalkulierenden, nehme ich an.“ Der Vater seufzte. „Ich fürchte, deine Mama und ich haben bei deiner Erziehung auf bedauerliche Weise versagt.“

„O Papa.“ Miss Desmond umarmte ihren Vater, was ihre Kappe wieder verschob. „Du hast nie versagt. Ich hoffe nur, dass mein Kopf klar genug ist, einen Mann zu finden, der auch nur halb so großartig ist wie du.“

„Das, meine Liebe, erfordert ein aufgewühltes Herz. Was für ein törichtes Mädchen du doch bist. Aber wenigstens hast du deine Gereiztheit wieder abgelegt. Ich werde die Torheit ertragen.“

Welche Einwände Lady Streetham gegen die Einladung des berüchtigten Teufels Desmond auch immer hatte, sie wurden von ihrem Herrn und Meister unbarmherzig hinweggefegt.

„Ich habe gute Gründe dafür“, sagte er, „die hochgradig politischer und vertraulicher Natur sind. Du wirst ihm höflich begegnen oder du wirst meine Aussichten für das Kabinett durchkreuzen. Du hast die Wahl.“

Nachdem er seine Frau zurechtgewiesen hatte, rief Lord Streetham diejenigen aus seiner Dienerschaft, denen er am meisten vertraute, zu sich und beauftragte sie wieder unter Heranziehung der nationalen Sicherheit, Desmonds Sachen zu durchsuchen.

Während Lord Streetham und seine Vertrauten zum Besten des gefährdeten Königreichs arbeiteten, ritt Lord Berne mit seinen Gästen im Park spazieren. Mr. Langdon war auch mitgekommen, obwohl er jeden Stock, jeden Stein und jedes Kaninchenloch darin kannte. Er hatte sein Buch dabei, und immer, wenn die Gruppe eine Pause machte, holte er es heraus und starrte auf die Seiten.

Miss Desmond fand sein Verhalten sehr seltsam. Als sie zum Haus zurückkehrten, fragte sie Lord Berne: „Hat er immer ein Buch bei sich?“

„Immer“, sagte Lord Berne und warf einen Blick zurück zu seinem Freund. „Sogar in der Stadt, bei den prächtigsten Bällen, Gesellschaften und Musikaufführungen wird man Jack Langdon mit einem Buch antreffen, das er dann ebenso unfehlbar irgendwo liegen lässt und es natürlich wieder aufstöbern muss. Er macht die Damen wütend damit. Nicht, dass ich es ihnen übelnehmen könnte. Es kann einen schon verbittern, wenn man gerade ein wenig zu flirten anfängt und seine Augen zu glänzen beginnen und man dann sehen muss, wie er sich entfernt und dabei zu sich selber spricht.“ Sein eigener verständnisvoller Blick wanderte von ihren Augen zu ihren Lippen. „Obschon ich in diesem Fall sein Verhalten überhaupt nicht verstehen kann.“

„Ich kann das sehr gut verstehen“, antwortete Miss Desmond. „Welche Frau kann schon mit Plutarch konkurrieren?“

Der Viscount öffnete seinen Mund zu einer Antwort, aber sie fügte schnell hinzu: „Und es ist ein zu leicht zu gebendes Kompliment; Sie glauben doch nicht etwa, dass ich danach geangelt habe?“

„Sie brauchen nicht nach Komplimenten zu angeln, Miss Desmond“, kam die prompte Antwort.

Die Art der Ermutigung wurde abgestumpft, und Lord Berne war weise genug, seine Taktik zu ändern.

„Genaugenommen“, sagte er und senkte seine Stimme, „ist Jack mehr als sonst in sich gekehrt, weil er“ – er machte eine dramatische Pause – „eine Enttäuschung hinnehmen musste.“

Miss Desmonds Interesse war geweckt. „Wirklich? Was für eine? Es kann sich ja nicht um Liebe gehandelt haben, da er, wie Sie sagen, sich weiblicher List entzieht. Um was hat es sich also gehandelt?“

„Das zu offenbaren, wäre schimpflich.“

„Dann haben Sie bereits schimpflich gehandelt, indem Sie es überhaupt erwähnten“, erwiderte sie und warf dabei ihren Kopf zurück. Das hatte zur Folge, dass ihr die Bieber-Reitkappe über die Stirn rutschte und mehrere schwarze Locken sich selbstständig machten. Ungeduldig schob sie diese unter die Kappe zurück, und Lord Berne beobachtete sie dabei mit Entzücken.

„Nun, da ich mir diesen Vorwurf schon zugezogen habe, kann eine weitere Indiskretion nicht mehr viel ausmachen“, sagte er, als Haar und Kappe wieder in Ordnung waren. „Ja, es war eine Dame im Spiel. Erstaunlich, nicht wahr?“

„Sie muss sehr außergewöhnlich gewesen sein, wenn sie ihn von seinen Büchern ablenken konnte.“

„Nein, überhaupt nicht. Nach dem, was ich gehört habe, war sie eine graue Maus, die viel auf Anstandsformen gab – und ein Blaustrumpf. Ich glaube ja, er ist noch einmal davongekommen, wenn es auch keinen Sinn hätte, ihm dies zu sagen. Ein Freund ist verpflichtet, Mitgefühl zu zeigen und Trost zu spenden.“

„Dann halte ich Sie von Ihren Verpflichtungen ab, Mylord. Sie müssen sich um Mr. Langdon kümmern.“ Und damit ritt sie ihrem Vater nach.

„So schnell schon gelangweilt?“, fragte Mr. Desmond. „Ich habe dir gesagt, er ist ganz gewöhnlich.“

„Im Gegenteil. Er ist ein wunderbarer Schwätzer. In weniger als einer Stunde habe ich den Klatsch der ganzen vergangenen Saison erfahren.“

„Dann ist die Konversation sicherlich zu heiß für deine jungfräulichen Ohren geworden.“

Delilah warf ihm einen ungläubigen Blick zu. „Seine Lordschaft war höflich amüsant, nicht mehr. Und trotzdem, wenn die Beute zu leicht zu fassen ist, verliert der Jäger den Geschmack daran, wie du mir schon tausendmal gesagt hast.“

Der Vater grinste. „Ich habe natürlich immer recht. Du konzentrierst dich also auf Streethams Erben?“

Delilah schüttelte ihren Kopf. „Seine Eltern würden ihm das nie verzeihen. Ich war über die Einladung Seiner Lordschaft überrascht. Ich glaube nämlich nicht, dass er dich mag, Papa.“

„Er verabscheut mich“, antwortete der Teufel leichthin. „Und doch will er seinen Fauxpas nicht ausposaunt wissen – und nicht einmal ich bin ein solcher Halunke, dass ich über meinen großzügigen Gastgeber tratschte.“

„Was für ein alter Heuchler er doch ist. Natürlich kommt sein Sohn nicht infrage.“ Sie lächelte der sonnenerleuchteten Ferne entgegen. „Als Ehemann, meine ich. Aber als ein Verfolger könnte er sich ganz nützlich erweisen. Es wäre ganz nett, wenigstens einen Freier zur Hand zu haben, wenn die kleine Saison beginnt. Hoffen wir, dass er mich bis nach London verfolgt.“

Glücklicherweise war Lord Streetham nicht abergläubig, sonst hätte er glauben müssen, dass seit seinem Überschreiten der Türschwelle der ‚Schwarzen Katze‘ ein Fluch auf ihm lag. Eine eingehende Durchsuchung der Sachen der Desmonds, einschließlich ihrer Kutsche, hatte nichts zutage gebracht.

Lord Streetham standen jetzt zwei Möglichkeiten offen. Er konnte Desmond eine enorme Summe für seine Memoiren bieten. Obschon der Earl ein Geizkragen war, hätte er sich einer so wichtigen Sache wegen überwunden. Das Problem dabei war, dass er Desmond bezahlen musste – und sich der Gnade dieses Kerls auszusetzen, war undenkbar für ihn. Die zweite Möglichkeit – die Hilfe seines verantwortungslosen Sohnes zu erbitten – war beinahe ebenso undenkbar. Und doch war das eine der wenigen Unternehmungen, in denen sich Tonys begrenzte Talente als nützlich erweisen könnten. Also ließ Lord Streetham, gleich nachdem die Gruppe zum Haus zurückgekehrt war, seinen Sohn zu sich kommen.

„Ich vermute, du bist auf dem besten Weg, Miss Desmond zu erobern“, sagte der Earl, nachdem die Tür geschlossen war.

Tony trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. „Ich habe nur versucht, sie zu unterhalten. Das ist man seinen Gästen schuldig.“

„Ich werde dich über deine Schuldigkeiten aufklären“, schnauzte der Earl. „Ich habe sie nicht zu deinem Vergnügen hierhergebeten, und ich will sie so bald wie möglich wieder loswerden. Deine Mutter hat immer noch Zustände, dabei weiß sie noch nicht einmal die Hälfte der Dinge.“ Lord Streetham erzählte seinem Sohn das Ganze – oder das meiste davon, denn er offenbarte nicht, welche Enthüllungen er befürchtete. Er hielt sich stattdessen mit der Ignoranz der Öffentlichkeit und der Missgunst der politischen Rivalen auf. Die letzteren, so sagte er, würden gierig nach allem greifen, was ihn in schlechten Ruf bringen könnte.

„Sie werden eine Haarspalterei betreiben und mich als Mitglied der Regierung ungeeignet erscheinen lassen“, erklärte er steif. „Was du oder ich als Männer von Welt als jugendliche Torheit abtun, werden sie völlig übertrieben als Charakterschwäche darstellen. Simple Jugendstreiche werden zu abscheulichen Verbrechen gemacht werden.“

Er drehte sich gerade im richtigen Moment vom Fenster um, dass er das Grinsen seines Sohnes sehen konnte. Das Grinsen wurde schnellstens unterdrückt.

„Es freut mich, dass du das so amüsant findest“, sagte Lord Streetham kalt. „Deine Mutter wird das zweifellos auch, besonders wenn sie sich nicht mehr in der Öffentlichkeit sehen lassen kann, weil sie sich vor dem Kichern hinter den vorgehaltenen Fächern ihrer ehemaligen Freundinnen fürchtet, oder – und ich bin sicher, dass das besonders erheiternd sein wird – vor der Bezeugung des Bedauerns.“

Lord Berne wurde gebührend ernsthaft. „Es tut mir leid, ich wollte nicht …“

„Ich werde dir sagen, was du willst, du Windbeutel. Du willst Desmond um dieses verdammte Manuskript erleichtern!“

„Ich?“

„Das Mädchen, du Idiot. Wenn du schon mit ihr schäkern musst, dann sollst du das aus gutem Grunde tun. Ich kann die Memoiren nirgendwo finden. Das wundert mich nicht. Desmond ist schlau. Das ist sie vielleicht auch – ihre Mutter ist es ganz bestimmt – aber sie ist eine Frau, und alle Frauen können verleitet werden.“

Da Lord Berne noch nie eine junge Frau getroffen hatte, die er nicht verleiten hätte können, konnte er an dieser Beurteilung nichts Fehlerhaftes finden. Und da er ausreichend intelligent war, begriff er auch, was sein Vater wollte.

„Du glaubst, dass ich sie dazu überreden könnte, mir das Manuskript zu geben?“, fragte er.

Lord Streetham gab einen verdrossenen Seufzer von sich. „Warum sollte ich es wohl sonst deinem verdorbenen Gehirn auferlegen? Natürlich wünsche ich es. Jetzt geh und tue es!“, befahl er.

Lord Berne verließ ihn und war über seinen Auftrag nicht gerade erfreut – was eigentlich seltsam war, wenn er in Betracht zog, dass dies das erste Mal war, dass sein Vater ihn mit einer wichtigen Sache betraute. Und was weiter auf dem Spiel stand, war Macht, und der Viscount hatte selbstsüchtige Gründe, es vorzuziehen, dass die seines Vaters nicht abnahm. Lord Streethams Einfluss hatte seinen Sohn mehr als einmal vor einer unerwünschten Heirat gerettet, von lästigen Befragungen durch die Polizei ganz zu schweigen.

Das Problem war, dass der Sohn es gewohnt war, Vergnügungen um ihretwillen nachzugehen. Obwohl es ihn entzückt hätte, mit der hinreißenden Miss Desmond zu tändeln, war das, wenn es als Mittel zum Zweck angestrebt wurde, wie Arbeit, und seine aristokratische Seele schauderte bei so einem Gedanken.

Aber, so dachte er, sein nobler Herr konnte ja nicht von ihm erwarten, dass er noch in dieser Minute damit anfing. Folglich begab sich Lord Berne zum Wasserturm, nahm ein kaltes Bad und blieb nachsinnend zwei Stunden lang dort.