Leseprobe Eine Leiche im Schlepptau

Kapitel eins

Draußen auf dem Meer, kurz vor Snugford, drei Tage zuvor

Auf den Wellen glitzerte die Sonne, strahlend schön und die Urlaubslaune bestens unterstützend, während der Geruch von Himbeeren einem die Nase betörte.

Snugford präsentierte sich von seiner schönsten Seite – indem man es lediglich aus der Ferne ausmachte oder besser den Kirchturm der St. Luke’s Church. Jay Jameson, Detective Chief Inspector des kleinen Städtchens Snugford, das seine Friedlichkeit über den Hochsommer zurückgewonnen hatte, stand an Deck eines Luxusurlaubschiffes und machte zur Abwechslung kein grüblerisches Gesicht, sondern Ferien.

Die hatte er sich laut Maggie Rosenburn und vor allem Liv Oldstep, seine Partnerinnen in Crime, längst verdient. Welch willkommener Zufall, dass die Snugforder am Bingo!-Wettbewerb der letzten Teeparty in Maggies B&B gemeinschaftlich teilgenommen und gewonnen hatten. Und was für ein Gewinn! Zehn Tage auf einem Luxusdampfer die Küste um Cumbria entlang schippern zu können und sich den Annehmlichkeiten des Lebens zu erfreuen, war schon was. Vor allem, weil sie bald die Gesellschaft einer wahrhaftigen Berühmtheit erhalten würden – die Jay nicht kannte, die Snugforder hingegen waren hin und weg von ihr: Tina K. Timpson, Erfolgsautorin und Gewinnerin des Nobelpreises für Literatur, würde die Gewinner dieser Küstenfahrt mit einer Exklusivlesung aus einem ihrer Kriminalromane beglücken.

Jay wusste zwar nicht, ob ihm der Sinn danach stand – er hatte noch nie fiktive Kriminalgeschichten gelesen und hielt nichts davon, sie waren selten realistisch –, aber Zoey Bloom schwärmte für die Bücher dieser Autorin, weshalb er annahm, dass es unterhaltsam werden würde. Denn Zoey, ja, nun, Zoey besaß eindeutig Geschmack. Und Charme. Und Klasse und … Jay räusperte sich und konzentrierte sich darauf, nicht zu ihr herüber zu sehen. Erneut. Das wurde auf Dauer auffällig. Sie war gerade in ein Gespräch mit Maggie und Liv vertieft und sah so wundervoll aus wie eh und je – das wusste Jay, ohne hinzusehen. Was war er froh, sich von den beiden Damen beschwatzt lassen zu haben, an dieser Fahrt teilzunehmen. Der Gewinn erlaubte zwölf Snugfordern den zehntägigen Aufenthalt auf dem Luxusschiff mit Namen Eroina, und eigentlich hatte Jay abgelehnt – wo käme Snugford hin, wenn sich der Mann, der für Recht und Ordnung im Städtchen zu sorgen hatte, einfach beurlaubte? Allerdings waren Maggies und vor allem Livs Gründe durchaus plausibel gewesen: Erstens musste er irgendwann seinen ihm zustehenden Urlaub nehmen, zweitens war Zoey ebenfalls mit dabei und drittens auch Finley! Letzter Grund in Verbindung mit dem vorletzten hatte entscheidend dazu beigetragen, dass sich der Zettel mit Jays Namen plötzlich sehr schnell Richtung Lostopf bewegt hatte. Ein Glück, dass sie tatsächlich alle gezogen worden waren. Es hatten sich nämlich so einige Bewohner auf diesen Urlaub beworben. An Bingo!-Abenden beteiligte sich immer halb Snugford, und die wenigsten traten von einem Hauptgewinn freiwillig zurück. Außer Jay eben. Letzten Endes war er überaus froh über seine zehn bevorstehenden Erholungstage. Zumal ihr neuer Priester, Father Abernathy, ebenfalls zu den Auserwählten zählte, womit die Chance auf ein Verbrechen in Snugford minimiert war, hatten sich die bisherigen Morde schließlich stets um die Priester der Gemeinde gedreht. Dieses trockene Argument stammte im Übrigen nicht von Jay selbst, sondern von Peter Coleman, dem Messdiener in der St. Luke’s Church, gleichfalls mit an Bord und seit ihren letzten gemeinsamen Ermittlungen ein festes Mitglied im B&B-Mordclub – von dem Jay hoffte, er würde nie wieder aktiv werden müssen. Zumindest in den vergangenen zwei Monaten war dies nicht geschehen, und Jay beschloss nun, in diesem Moment an Deck, dass er sich ein klitzekleines bisschen entspannen durfte.

Es war um die Mittagszeit, und da Jay an Ritualen hing, hielt er es wie sonst und unternahm einen kleinen Spaziergang übers Deck. Immerhin kreuzten nahezu dieselben Menschen seinen Weg wie in seiner Mittagspause in Snugford. Baronin von Lockspridge zum Beispiel saß in ihrem eleganten Cocktailkleid an der Schiffsbar und schlürfte … nun ja, Cocktails. Allerdings alkoholfreie, wie sie behauptete.

„Ach, mein lieber Jay, wollen Sie sich nicht zu mir gesellen?“ Sie winkte ihm zu, ihr kleines Kosmetiktäschchen in der Hand.

Jay fing Maggies Blick auf, die sachte den Kopf schüttelte. Sie unterhielt sich zwar auf der Bank unweit der Bar mit Liv und Zoey, das hieß jedoch nicht, dass sie nicht mitbekam, was vor sich ging. Aus ihrer Sicht sollte sich Jay vor der Baronin in Acht nehmen, sie wäre mit allen Wassern gewaschen, und anders als Liv nähme sie keine Rücksicht auf das Ehegelübde. Verheiratet zu sein, würde sie nicht davon abhalten, einen Urlaubsseitensprung zu wagen, vor allem, da sie allein (und damit so gut wie ledig) an Bord gekommen war.

„Du wärest ein aufregender Seitensprung für sie, das kann ich dir versichern“, hatte Maggie erst am Vortag zu Jay gesagt, und dieser war seither auf der Hut. Trotzdem lächelte er verbindlich und als wäre er im Dienst.

„Ach, nun, na ja, vielleicht ein anderes Mal. Mir ist etwas schwummerig vom Wellengang. Daher bevorzuge ich es, mir die Beine zu vertreten“, erklärte er und trat von einem Bein aufs andere, ehe er sich davon machte und die Baronin ihren Cocktails überließ.

„Ich trinke einen mit dir“, hörte er Maggie noch sagen. „Haben Sie hier diesen Porn Star Martini?“

Sehr liebenswürdig von ihr, ihm aus der Patsche zu helfen.

Ein beißender Geruch stieg ihm in die Nase, verflüchtigte sich auch nach einigen Schritten nicht, und so senkte Jay ahnungsvoll den Blick, um zu erkennen, dass er selbst im Urlaub nicht vom desolaten Schließmuskel einer Lady Mortimer gefeit war. Ihr Kot klebte an seinen Schuhen, verfolgte ihn, wie die Unaufmerksamkeit es tat, und zusammen waren sie ein unschlagbares Team.

„Diese blöde Töle ist die reinste Plage“, hörte er jemanden anderen seine Gedanken aussprechen und war überrascht, dass es sich dabei um Mrs Nelson handelte.

Sie lächelte ihm zu und reichte ihm ein Taschentuch. Nicht nur diese Geste verriet ihm, dass sie es ihm verziehen hatte, einst fälschlicherweise davon ausgegangen zu sein, sie habe Lyla Bloom ermordet. Möglicherweise lag es daran, dass er großzügig übersah, was ihr kleiner Sohn Andy so alles mitgehen ließ, um sein Sandspielzeug aufzuwerten. Es waren so unbedeutende Dinge wie das Plastikbesteck an Gemeindefesten oder die ausgedienten Kisten und Kartons vom Dorfladen – nicht der Rede wert für Jay, wenngleich für so manchen hochheiligen Snugforder. Obwohl die Bewohner Snugfords weit entfernt von Hochheiligkeit waren, das wusste Jay spätestens seit seinem letzten Fall. Immerhin hatte er zeitweilig sämtliche Mitglieder des Gemeinderats verdächtigt, den armen Father Smith getötet zu haben. Lieber nicht mehr daran denken, das Ganze war schauerlich genug gewesen, während er mit dem Fall betraut gewesen war. Stattdessen nahm er dankend Mrs Nelsons Taschentuch an.

„Das, vielen Dank, das ist sehr nett.“

„Gern geschehen. Man muss vorsichtig sein, wen man auf ein Luxusschiff lässt. Gegen Lady Mortimer ist ja nichts einzuwenden, aber warum muss das Vieh mit, wenn es schon Probleme beim Kacken hat?“ Sie riss den Mund auf. „Oh, Verzeihung!“

„Mummy hat Kacka gesagt!“, rief Andy und freute sich diebisch darüber, derweil Mrs Nelsons Wangen brannten.

Sie verbrachte diesen Urlaub ohne ihren Mann, ebenso wie Peter ohne seine Frau, weil Letztere weder Mr Nelson noch sich selbst freigegeben hatte. Die Post musste schließlich immer ausgeteilt werden. Etwas, worüber Peter, anders als Mrs Nelson, frohlockte.

„Es bedeutet zehn Tage ohne die Furcht, Gretas Ambivalenz könnte mich von hinten angreifen“, hatte er Jay grinsend mitgeteilt, als er den Zettel mit seinem Namen dem Lostopf beigefügt hatte.

Nun saß er zufrieden neben Father Abernathy, lauschte dessen Ideen zur Gestaltung der Gottesdienste und grinste vor sich hin – wobei er sich eine eigene Meinung verkniff.

Father Abernathy passte in diese Gemeinde, denn er war so hochheilig wie ihre Mitglieder, man durfte annehmen, sogar wirklich. Er schlug Father Custom um Längen, und hätte man im Frühjahr gleich ihn anstelle des blutjungen Father Smith’ eingestellt, wäre jener jetzt noch am Leben, Elinor Moncreif nicht in Haft und ihr Mann mutmaßlich im Paradies.

Jay unterbrach sich. Er wollte über diesen Fall ja nicht mehr nachdenken, wirklich nicht, er wollte allgemein weniger denken … Entsprechend gedankenverloren strich er sich übers Gesicht und schmunzelte darüber, dass keine zu kurze Strähne seines Bro Flows ihm die Sicht verdeckte. Seine Haare waren in den letzten zweieinhalb Monaten erfreulich schnell nachgewachsen, sodass er sie zu einem kleinen, aber feinen Pferdeschwanz zurückgebunden trug. Eine Erleichterung – sie ließen sich auf diese Weise sehr viel besser pflegen. Und sie gefielen Zoey.

Jetzt war es doch passiert; er warf einen sehnsüchtigen Blick in ihre Richtung. Liv hatte ihm gedroht, sie werde keinen Ton mehr mit ihm reden, sollte er nach Ablauf der zehn Tage auf diesem Schiff nicht Nägel mit Köpfen gemacht und Zoey seine Liebe gestanden haben. Niemandem wäre es lieber gewesen als ihm, dem nachzukommen. Das Problem war nur, dass sie ihn sprachlos machte. Das war noch nicht mal das Schlimmste, denn – so ehrlich musste er mit sich sein –, wenn er sprachlos war, verhielt er sich halb so närrisch, wie wenn er sprach. Deshalb verkrampfte er in ihrer Gegenwart, gebärdete sich wie ein Stockfisch und brachte kein Wort heraus. Seit sechsundsiebzig Tagen, würde er sie zählen, was er tat, und zwar seit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus, nachdem ihn Mrs Moncreif mit diesem Brieföffner angegriffen hatte. Zoeys Teeladen war der erste Ort gewesen, den er aufgesucht hatte, um dort sprachlos herumzustehen. Das musste sich ändern.

Verbessre deine Sprache, deine Rede, damit sie nicht dein Glück verdirbt. Shakespeare hatte Recht. Liv hatte Recht. Dieser Zustand der verliebten Idiotie oder idiotischen Verliebtheit – beides wahr und beides inadäquat – musste ein Ende haben. Ob er einfach jetzt, auf der Stelle, und ohne zu denken, zu ihr rübergehen sollte und …

„Ah, der DCI. Sind Sie mitgekommen, um sich von Ihren falschen Verdächtigungen zu erholen?“

Jay drehte sich mit gerunzelter Stirn um. Vor ihm stand Rupert Paul, der Gärtner der St. Luke’s Church. Vermutlich hatte er seinen Namen im betrunkenen Zustand in den Lostopf geworfen und war hier an Bord wieder aufgewacht, denn er trug befremdlicherweise seine Arbeitskleidung.

„Und Sie? Haben Sie vor, hier den Kunstrasen zu mähen?“

Diese durchaus amüsante Frage wurde mit einer Stimme gestellt, so liebenswürdig, dass sie würdig war, sich auf der Stelle in sie zu verlieben … Was Jay längst getan hatte und deshalb Zoey mit einem verklärten Ausdruck ansah, während Rupert Paul amüsiert grunzte. Zoey brachte es einfach fertig, mit jedem gut Freund zu sein, und konnte sich solche Spitzen erlauben. Bewundernswert. Rupert Paul tippte sich gegen den nicht vorhandenen Hut, verabschiedete sich und ließ Jay und Zoey allein an der Reling stehen. Zoey lächelte, Jay versuchte es ebenfalls, war sich jedoch sicher, wie ein Vollidiot dabei auszusehen.

„Tja, nun. Hi. Schön hier.“ Wieso sagte er das? Sie waren bereits den zweiten Tag hier, und dass es schön war, hatten sie längst geklärt.

Er spürte Livs erwartungsvollen Blick in seinem Nacken und ahnte, dass Maggies Mund der schmalste aller schmalen Striche war. Er sollte diese Konversation besser nicht versauen – und sich beeilen, Zoey endlich seine Zuneigung deutlich zu machen, ehe dieses Schiff zu voll wurde. In Kürze würden sie die Anlegestelle in Harrington erreichen und weitere Gäste zusteigen. Was Jay schade fand, denn er hasste zu große Menschenaufkommen, und bislang waren einzig die Bewohner Snugfords in Whitehaven an Bord gegangen. Dort hatte die Schifffahrt begonnen, und mit jedem Hafen, den sie ansteuerten, würde das Schiff voller werden. Und es Jay erschweren, unbeschwert mit Zoey „anzubandeln“, wie Liv es nannte. Sie selbst hatte nicht gezögert, das mit gleich zwei Herren des Bordpersonals zu machen, will heißen: intensiv zu flirten. Fein. Mal sehen. Das müsste zu schaffen sein. Er würde eine ungezwungene Bemerkung über das Wetter fallen lassen, Zoeys Tee loben und … Nein, Quatsch, wozu den Tee loben, sie befanden sich ja derzeit meilenweit vom Teegeschäft entfernt. Besser, er machte ihr ein Kompliment. Er räusperte sich.

„Sie … Die Seeluft tut Ihnen gut, wie ich sehe.“

Zoey kicherte. „Ach, wirklich, bin ich sonst so blass?“

Jay spürte die Hitze in seine Wangen steigen. War ja klar, dass das erste Kompliment, an dem er sich versuchte, keines war.

„Oh, äh, nein, so war das nicht gemeint … Ich hatte …“ Jeder andere wüsste sich bestens aus dieser Schlinge zu befreien, nur er stotterte herum. „Was ich sagen wollte …“ Was würde Liv sagen? „Mir scheint, Sie haben innerhalb von einem Tag an Deck enorm viel Sonne getankt und es steht Ihnen ausgezeichnet.“ Wow, da hatte er tatsächlich recht gut die Kurve gekriegt. „Ich selbst kann ewig in der Sonne verbringen und werde allenfalls rot.“

Zoey lächelte geschmeichelt, ehe sie mit einem Anflug von Schalk in der Stimme erklärte: „Vielleicht sollten Sie einfach an die Sonnencreme denken.“

„Ja“, er erwiderte ihr Lächeln, „wohl wahr, das, tja, das sollte ich.“

Dazu müsste er sie sich vorher erst mal anschaffen. Er machte nie so was wie Urlaub. Dies war sein erster, und deshalb wusste er eigentlich überhaupt nicht, wie er auf Sonne reagierte. Aber Tatsache war nun mal, dass er schnell einen Sonnenbrand bekam – wahrscheinlich wegen der fehlenden Creme … Er ließ den Gedanken fallen, verlor sich in Zoeys schönen Augen und der Vorstellung, er würde die Hand nach ihrem Gesicht ausstrecken, um ihr die rotbraune Haarsträhne hinters Ohr zu streichen. Bildete er es sich ein, oder neigte sie sich minimal zu ihm, um ihm die Geste zu erleichtern? Nun denn, wer nicht wagt, der nicht gewinnt! Oder besser ausgedrückt: Und Liebe wagt, was irgend Liebe kann. „Wissen Sie, Zoey, ich wollte Ihnen schon lange …“

… meine innigliche Liebe gestehen?

… einen Kuss geben?

… sagen, dass Sie die schönste Frau auf Erden sind? Du, dass du die schönste Frau auf Erden bist.

Was auch immer davon Jay Jameson in diesem Augenblick gerne gesagt hätte, es kam nicht dazu, weil er erwiesenermaßen vom Chaos verfolgt wurde, und dieses Chaos schlug immer zu, wenn er sich gerade an den Frieden gewöhnt hatte.

In diesem Fall trat es in Form eines gewaltigen Rumms in Erscheinung, der dazu führte, dass Liv laut aufschrie, Baronin von Lockspridge sich mit ihrem Cocktail bekleckerte und Zoey und Jay gegeneinanderstießen. Leider nicht auf die romantische Art, sodass sie in seinen Armen lag, sondern so, dass ihnen beiden der Schädel dröhnte, weil sie mit der Stirn gegen sein Kinn geknallt war.

An Deck herrschte heilloser Tumult, die Gäste riefen aufgeregt durcheinander, das Personal redete beschwichtigend auf sie ein, und Jay entschuldigte sich gefühlte zwanzig Mal für etwas, an dem er keine Schuld trug. Peter unterbrach die Endlosschleife seiner Schuldbekenntnisse schließlich, indem er zu ihnen trat und über die Reling blickte.

„Was ist passiert? Sind wir gegen einen Eisberg gestoßen?“

„Iwo, die Eroina ist bloß etwas zu stürmisch gegen den Anlegesteg geprallt.“ Maggie und Liv waren als einzige völlig ruhig. „Der Kapitän hat seinen Sohn ans Steuerrad gelassen. Es ist sein zehnter Geburtstag, und weil er jetzt die Schwelle zum Erwachsenenalter übertreten hat, durfte er mal ran.“

„Woher weißt du das denn wieder?“, fragte Jay stirnrunzelnd.

Peter grinste. „Es ist Maggie. Sie weiß alles.“ Wieder sah er am Schiff hinab. „Weißt du auch, ob das Schiff dabei Schaden genommen hat?“

„Hat es nicht“, versicherte Maggie.

„Nur der Anlegesteg von Harrington.“ Liv kicherte. „Das bedeutet, die berühmte Schriftstellerin muss mit dem Schlauchboot an Bord gebracht werden.“ Sie überbetonte das Wort „berühmt“ und zwinkerte Jay zu. Liv und er waren vermutlich die einzigen beiden Menschen an Bord, die sich nicht als eingefleischte Fans dieser Krimiautorin bezeichneten.

„Sei nicht sarkastisch, meine Liebe, die Frau schreibt gut und hat einfach innovative Ideen. Ist sie das da vorne?“

„Innovativ sind heutzutage viele. Weshalb genau ist sie berühmt?“, erkundigte sich Jay und folgte Maggies Blick.

„Ja! Das ist sie!“, rief Zoey und lehnte sich über die Reling. Am unverkennbar destruierten Anlegesteg herrschte Stimmengewirr, und inmitten der gestikulierenden Menschen stand eine hochgewachsene Frau mit einem riesigen weißen Sonnenhut, wie man ihn in den Sechzigern getragen hatte, und in einem dazu passenden Kleid. „Und sie hat sich ihrem Kriminalroman entsprechend gekleidet! Wie einfallsreich.“ Ihre Stimme klang plötzlich wie die einer aufgeregten Teenagerin – diese Tina Soundso musste wirklich gut sein, wenn sie so eine Wirkung auf eine gestandene Frau wie Zoey hatte. „Was Ihre Frage angeht, Jay, Tina K. Timpson schreibt wie keine Zweite und ist berühmt dafür, immer ihre Kriminalfälle in einer anderen Epoche spielen zu lassen. Jeder neue Roman spielt zehn Jahre früher in der Zeit, ist das nicht innovativ?“

Dem musste Jay sogar zustimmen. „Und wann spielt ihr neuester Roman?“

„Da es ihr fünfzehnter ist: im Jahre 1873. Ich bin sehr gespannt darauf. Wobei sie uns hier nicht aus ihm vorlesen wird, da er erst an Weihnachten erscheint.“

„Nein, die Lesung auf diesem Schiff wird im Stil der Swinging Sixties gehalten – ‚Mord in der Carnaby Street‘“, ergänzte Maggie. „Einer ihrer schwächeren Romane. Dafür bietet er sich natürlich für Lesungen an, sofern man sie als Kostümfest betreiben will.“

„Ich hoffe, sie wird alt genug, um uns einen Krimi schreiben zu können, der in der Steinzeit spielt.“ Inwieweit Peter seine Begeisterung für diese Frau ernst meinte, war fraglich – das galt bei seinen Bemerkungen ja generell. Jedenfalls formten seine Augenbrauen nun diesen sarkastischen Schwung, und er grinste von einem Ohr zum anderen, als er fortfuhr: „Fest steht, mein Lieber, dass sie in ihrer Popularität deinem Shakespeare Konkurrenz macht.“

Es sah zumindest so aus, denn am Hafen von Harrington hatte sich eine zunehmend größer werdende Menschenmenge versammelt. Der Anlegesteg war nicht so sehr in Mitleidenschaft gezogen, wie man hätte annehmen können, und so galt die Aufmerksamkeit wohl tatsächlich allein Tina K. Timpson. Sie schien weder vom stürmischen Anlegen der Eroina noch von ihren Fans überfordert, winkte ihnen im Gegenteil gut gelaunt zu und wirkte wie eine Filmschauspielerin auf dem roten Teppich. Sie verteilte sogar Autogrammkarten. Neben ihr stand ein breitschultriger Kerl in Kleiderschrankgröße, der sich trotz Hitze in schwarzer Kluft – schwarzes Hemd, schwarze Jeans, schwarze Turnschuhe, Jay würde darin vergehen – zeigte und vermutlich einen Leibwächter darstellte. Doch war es nicht er, der die Menge davon abhielt, der Schriftstellerin zu sehr auf die Pelle zu rücken, sondern eine junge Frau, die zwar erheblich kleiner, dafür stämmiger war als die Erfolgsschriftstellerin und offensichtlich nichts weiter als ruhige Worte benötigte, um die Fans auf Abstand zu halten.

„Das muss ihre Verlegerin sein – ihren Namen habe ich vergessen –, sie ist bei allen Auftritten dabei und regelt das hintenrum. Sie und Tina K. Timpson sind ein Herz und eine Seele“, erklärte Zoey.

Jay konnte sich nur wundern, wie viel sie über diese Person wusste. Er hatte ihr ein hysterisches Fangehabe überhaupt nicht zugetraut. Nun, hysterisch traf genau genommen nicht zu – lediglich sehr angetan. Flüchtig versetzte ihm das einen Stich, weil sie bestimmt nicht dasselbe Funkeln in den Augen trug, wenn sie über ihn sprach … Jay räusperte sich. Er war erwachsen genug, um nicht eifersüchtig auf einen halben Star zu sein. So was war ja lächerlich.

„Harley Hamilton.“ Er schreckte aus seinen Gedanken hoch und sah Maggie an. „So heißt die Verlegerin.“

„Ah“, machte er bloß und bemühte sich, niemanden, vor allem nicht Zoey, anzusehen. Stattdessen richtete er die Aufmerksamkeit zurück auf die Autorin. Wie alle anderen das auch taten.

Als es die Crew der Eroina endlich vollbracht hatte, den Steg begehbar zu machen, warf der Star der Kriminalromane noch einmal segensreiche Kusshändchen in die Menge und wandte sich schließlich um, ging hinter Verlegerin Harley Hamilton und vor Leibwächter Kleiderschrank die Stufen aufwärts zum Schiff und sah dabei zu ihnen herüber. Es war eine Entfernung von vielleicht zwanzig Metern, aber Jay konnte ihre Augenfarbe in diesem Moment genauestens ausmachen. Sie waren lilablau – sehr exotisch –, und sie schien mit diesen Augen direkt zu Jay zu blicken. Das irritierte ihn kurz und entging den anderen nicht.

„Uh, Jay, sie scheint ein Auge auf dich geworfen zu haben“, scherzte Peter und Maggie konnte sich die Galanterie nicht verkneifen, anzumerken: „Das wird sich ändern, wenn sie einmal mit unserem Schussel gesprochen hat.“

„Herzlichen Dank, Maggie“, sagte Jay, der von sich behauptete, keine Spaßbremse zu sein, und über ihre Bemerkung entsprechend schmunzelte. Er kannte inzwischen seinen Ruf.

Sie grinste aus schmalen Lippen. „Gern geschehen.“

„Eher unwahrscheinlich“, kam es von Zoey. Liv warf ihr einen Blick aus hochgezogenen Augen zu – den Hauch von Belustigung überging Zoey. „Denn eigentlich ist sie frisch verlobt.“ Sie deutete auf den Mann, der sich durch die Menge zum Anlegesteg kämpfte. „Alistair Kriston – wie man sieht, ist er zu spät.“

Kannte sie jedes Detail im Lebenslauf dieser Schriftstellerin?

„Alistair?“, unterbrach Peter mit seiner Frage Jays Gedanken. „So heißen Leute noch heute? Klingt wie der Name eines Ritters.“

„Vielleicht ist er das, er soll ihr einen sehr romantischen Antrag gemacht haben.“

„Sie sind ja gut informiert“, rutschte es Jay heraus, woraufhin Zoey auflachte. „Das ist nicht schwer. Tina K. Timpson macht kein Geheimnis um ihr Leben.“

„Höflich ausgedrückt“, ergänzte Maggie, „sie ist die geborene Rampensau. Und sollte es stimmen, dass ihr Verlobter Alistair Kriston ist, wird sie einen gebürtigen Snugforder heiraten. Wie interessant.“

In der Tat. Ebenso wie der Auftritt der Schriftstellerin, die unter Beweis stellte, wie sehr Maggies Worte zutrafen, indem sie nicht wartete, bis sie an Bord gegangen waren, sondern ihren Verlobten vor aller Welt demonstrativ küsste. Ob sie ihm unter Deck eine Szene für sein Zuspätkommen machte, würde keiner von ihnen erfahren. Jay war noch uneins mit sich, wie sympathisch ihm diese Bestsellerautorin war.

Dem frisch verlobten Paar folgte nun ein eher kleinwüchsiger Bursche, der auf einem Zahnstocher herumkaute und der einen Mann mit sich winkte, der eine viel zu große Kamera mit sich trug, als dass es rückenfreundlich hätte sein können. Würde die Lesung gefilmt werden? Das bereitete Jay Unbehagen. Ebenso der Anblick der zwölf Bingo!-Gewinnerinnen Harringtons. Es waren ausnahmslos Frauen, und sie alle trugen ein T-Shirt derselben Farbe: blau-apricot-gestreift.

„Junggesellenabschied oder Cheerleader?“, rätselte neben ihm Peter, und Liv kicherte.

„Buchclub, da wette ich drauf.“

Und wenn Maggie auf etwas wettete, konnte man davon ausgehen, dass sie recht behielt.

Eine Stunde später, im Speisesalon, der sich innerhalb der Aufbauten des Oberdecks befand, hatten sie Gewissheit. Es handelte sich bei den zwölf Damen nicht nur um einen Buchclub, es handelte sich um eine exklusive Form, den T.K.T-Fan-Buchclub (will heißen Tina-K.-Timpson-Club), und die Damen besaßen jeweils vierzehn T-Shirts in den Farben der vierzehn Cover von erschienenen Bestsellern der Autorin. Jay musste seine Meinung revidieren. An Zoey war absolut nichts hysterisch. Verglichen mit den Buchclub-Ladys war sie sogar staubtrocken.

„Und plötzlich nimmt dieser Hauptgewinn rapide an Attraktivität ab“, raunte Peter Jay zu und sah zu den giggelnden und gackernden Frauen hinüber. Liv fand sie irgendwie süß, Zoey hielt ihre Meinung zurück, und Maggie verriet sie einzig durch die sehr schmalen Lippen. Jay waren sie im Grunde gleichgültig. Solange sie ihn in Frieden ließen, wollte er sich nicht beschweren.

„Ich weiß nicht, Peter, ein paar attraktive Clubmitglieder gibt es da schon“, flüsterte Liv und grinste verschwörerisch.

Peter lachte. „Zu dumm, dass ich verheiratet bin.“

„Und auch noch glücklich obendrein.“ Dieser Bemerkung Livs schenkte er ein müdes Lächeln, das nicht kommentiert wurde, stattdessen seufzte sie. „Wie schade, dass es kein Herrenclub ist, ich hätte nichts gegen zwölf gut aussehende Kerle einzuwenden gehabt.“

„Dann Gott sei gedankt, dass es ein Weiberclub ist“, murmelte Maggie. „Wo ist eigentlich Finley?“

Ehe Jay sich zurückhalten konnte, fanden seine Augen Zoey, die jedoch seelenruhig ihr Abendessen vertilgte. Roastbeef mit Baked Potatoes und Gemüse. Zwar hatten sich seine Befürchtungen, zwischen Finley Odell und ihr könnte sich eine Liebesbeziehung anbahnen, verflüchtigt, nachdem Zoey ihm von dem Grund ihrer häufigen Zusammenkünfte im Teeladen berichtet hatte (der mit Cannabis versetzte Kräutertee schmeckte tatsächlich nicht schlecht), aber das hieß nicht, dass sie sich vollständig auflösen konnten.

„Finley wurde gestern Abend fachmännisch vom Kapitän und Rupert Paul unter den Tisch getrunken“, erklärte Peter mit einem Grinsen. „Bei einer Partie Karten. Ich war bis zehn Uhr dabei, danach wurde es mir zu viel.“ Er senkte die Stimme. „Und Father Abernathy wäre bestimmt ungehalten über einen Messdiener, der zu tief ins Glas blickt. Selbst wenn er das in seinem Urlaub tut.“

„Für Father Abernathy ist es ja keiner“, sagte Liv mit einem Blick zu Baronin von Lockspridge und Lady Mortimer. Die Damen hatten sich eine tägliche Exkursion durch das Alte Testament gewünscht und trafen sich daher jeden Morgen um zehn Uhr dafür an Deck, um Father Abernathys ruhiger Stimme zu lauschen, wie er von Abraham und Co sprach.

„Das heißt, Finley liegt den ganzen Tag mit einem Kater in seiner Kajüte?“, erkundigte sich Zoey, und Peter nickte. „Wow, dann muss es ein wahres Saufgelage gewesen sein.“

Jay sagte nichts dazu. Er dachte bloß. In Shakespeareversen. Ich schätze seine völlige Abwesenheit sehr.

Zoey fing seinen Blick auf und schmunzelte. Hatte er etwa laut gedacht?

Die Frage konnte nicht mehr beantwortet werden, da in eben dem Moment die Tür zum Speisesaal aufgestoßen wurde und die berühmte Tina K. Timpson hereinplatzte. Keine übertriebene Formulierung, denn sie trat mit lautem Gekicher und Gegluckse ein, untergehakt bei ihrem Verlobten auf der einen Seite und ihrer Verlegerin auf der anderen. Alle Augen richteten sich auf die drei, die im Türrahmen stehen geblieben waren. Augenblicklich nahm Tina K. Timpson eine andere Haltung ein. Sie streifte den voluminösen Hut vom Kopf und strahlte mit ihren knallroten Lippen in die Runde – der Hut flog in Richtung Garderobenständer und verfehlte ihn knapp. Er wurde von Rupert Paul gefangen, mehr zufällig als freiwillig, und in dieser Sekunde hätte vermutlich nahezu jeder im Raum gerne mit ihm getauscht.

„Ein fröhliches Hallo allerseits!“, rief die Erfolgsautorin. „Ich wollte nicht stören, essen Sie ruhig weiter.“

Eine unmögliche Aufforderung, vor allem, weil sie so unfassbar ins Auge stechend gekleidet war. Sie war eine hochgewachsene Frau um die dreißig, ohne spektakuläre Rundungen am Körper, und doch wölbten sich die bescheidenen Formen in ihrem eng anliegenden, weiß gepunkteten Kleid anschaulich hervor. Ihr Strahlen in die Runde war breit, sie legte beim Lachen ihren Kopf in den Nacken, und die dunklen Haare, nach Art des Hair Flips der Sechziger gestylt, flossen über ihre Schultern. Ein Klicken und Klackern am anderen Ende des Raumes verriet, dass ihr Kameramann bereits Fotos nach Leibeskräften schoss, derweil neben ihm der Knabe mit dem Zahnstocher auf einen Block kritzelte. Er hatte sich beim Betreten des Speisesalons als Journalist vorgestellt, der von Tina K. Timpson persönlich anlässlich ihrer Auftritte engagiert worden war. Die unscheinbare Verlegerin registrierte all das mit einem einzigen Blick.

„Guten Abend“, grüßte sie die Versammelten. Sie lispelte ganz leicht, die Stimme klang leise, dennoch bestimmt – allein anhand ihrer roten Wangen ließ sich erkennen, dass es ihr mehr Mühe machte als ihrer Autorin, vor Menschen zu sprechen. „Miss Timpson freut sich außerordentlich über die Möglichkeit, hier zu sein und ihr Buch zu präsentieren. Trotzdem bitten wir Sie, Fragen und Anliegen einzig während der Lesung und dem Meet & Greet an sie heranzutragen. Den Rest der Zeit ist sie eine Urlauberin wie Sie. Vielen Dank.“

„Nun, nicht ganz wie Sie.“ Tina K. Timpson kicherte, und ehe jemand den Verdacht hegen konnte, sie würde sich über den Rest der Gäste stellen, erklärte sie: „Ich bin grottenschlecht im Bingo! und hätte entsprechend niemals eine solche Reise gewonnen.“

Sie lachte laut, ihre Verlegerin leise und ihr Verlobter, der Mann mit dem Namen eines Ritters, küsste sie lang und intensiv. „Nein, du bist der Gewinn.“

Dieser Bemerkung folgte Applaus von Seiten der entzückten Buchclubtruppe, und an Jays Tisch wurde ebenfalls geklatscht. Tina K. Timpson lachte noch einmal, ehe sie sich mit einem „Guten Appetit“ abwandte und Alistair Kriston zu einem der freien Tische zog. Im Vergleich zu ihr sah er fast unspektakulär aus, obwohl die Damenwelt ihn gewiss für attraktiv hielt. Er trug einen dunklen Anzug und ging darin wie ein eitler Pfau, die schwarzen Locken glitzerten unter der Pomade. Jay und Peter wechselten einen Blick und mussten kein Wort sagen. Peters Mundwinkel zuckten. Jay fand, dass Typen wie der die geborenen Verbrechervisagen besaßen. Das war gleichwohl nicht von Belang. Nicht jetzt.

Als Harley Hamilton dem Paar an den Tisch folgte, hatten sich alle wieder ihrem Essen zugewandt, und niemand bemerkte die Verlegerin wirklich. Außer Jay. Weil ihm Leute, die nicht auffielen, immer ins Auge stachen. Paradox, aber so war es. Sein Mentor hatte einmal zu ihm gesagt, dass dies womöglich seine größte Ressource sei. Ein Ausspruch, den Jay nie als Kompliment verstanden hatte und bestimmt auch keines gewesen war, doch mit der Zeit hatte sich ihm offenbart, dass es zumindest keine schlechte Sache war. Egal. In diesem Fall nicht von Bedeutung. Er war ja nicht im Dienst und musste nicht auf seine Observationsvorzüge zurückgreifen. Damit wandte er sich seinem Roastbeef zu und entspannte sich. Das war sein Urlaub. Und er musste ihn anständig nutzen. Musste er wirklich. Ehe Zoey dieser Tina Timpson einen Antrag machte …

Zunächst allerdings herrschte ein bisschen Chaos beim Verlassen des Speisesalons, weil niemand die Worte Harley Hamiltons so recht beherzigen wollte und alle versuchten, gleichzeitig mit der Autorin aufzustehen, um zufällig mit ihr ins Gespräch zu kommen. Weshalb Jays Versuch, zufällig mit Zoey ins Gespräch zu kommen, gründlich missglückte, denn während er mit einem halben Dutzend Gäste in die eine Richtung des langen Flurs gespült wurde, geschah dasselbe mit Zoey in die andere. Sechs Buchclubmitglieder sorgten laut schnatternd dafür, dass Jay aufs Deck stolperte, jemand rempelte ihn zur Seite, derweil irgendwer oder irgendetwas ihn am Hinterkopf erwischte. Sein Haargummi löste sich aus dem winzig kleinen Zöpfchen, das ihm seine Haare erlaubten, und so bückte er sich, um danach zu suchen. Zu dumm, die Abendsonne flutete das Deck, und er kniff die Augen zusammen, suchte halb blind nach dem Haargummi … Nur um Haaresbreite verfehlte eine blaue Ballerina-Sandalette mit orangenem Schleifchen seine Hand. Er zog sie rasch zurück, und eine Frauenstimme nuschelte eine Entschuldigung. Die Urheberin war jedoch schneller verschwunden, als er nach oben sehen und ein „Kein Problem“ erwidern konnte. Das Problem war viel eher, dass sein blödes Haargummi verschwunden blieb und er sich da unten auf den Dielen die Knie wund rieb.

„Was machen Sie da auf dem Boden, Jay?“

Zoey!

Er verschluckte sich und schoss in die Höhe, hustete wie ein Idiot und versuchte, mit beiden Händen seine wirren Haare aus dem Gesicht und hinter die Ohren zu befördern. Zweifellos bot er ein perfektes Negativbeispiel von Attraktivität.

„Oh, also, tja, ich habe … Wie es aussieht, helfe ich dem Bordpersonal beim Wienern des Bodens … mit meinen Hosen.“ Ärgerlich das Ganze, er hatte an kein Ersatzexemplar gedacht. Kurzsichtig wie immer.

Zoey lachte herrlich klangvoll und pustete sich sehr elegant eine kastanienrote Strähne aus den Augen. Eindeutig bot sie das perfekte Musterbeispiel von Attraktivität. „Ich mag Ihren Humor.“

Hatte er einen Witz gemacht? Vielleicht. Meistens war er unfreiwillig komisch oder bemerkte nicht, dass er etwas Amüsantes gesagt hatte. Im Grunde wollte er nichts Amüsantes sagen, er wollte endlich das Richtige sagen. Wo sie einander jetzt gegenüber standen, das Deck von der Abendsonne geküsst wurde und es romantischer nicht hätte werden können. Sein Herz schlug laut in der Brust, wie es das immer tat, wenn er sie sah. Es würde zu schmerzhaft werden, sollte er nicht bald loswerden, was er ihr zu sagen hatte.

„Zoey, ich wollte, ich meine, ich sollte, angesichts der Umstände, und weil wir uns nun lange genug kennen …“ Wie sollte er es bloß formulieren? Er hätte Liv noch einmal nach dem korrekten Wortlaut einer Liebeserklärung fragen sollen. „… wirklich lange genug, um …“

„Ja.“

Jay blinzelte und verstummte. „Wie bitte?“

Zoey lachte. „Ich dachte, ich beschleunige das mal. Denn, ja, das sehe ich genauso. Wir kennen uns wirklich schon zu lange, um nicht endlich etwas zu ändern.“

„Meinen Sie das Ernst?“ Jay konnte sein Glück kaum fassen.

„Selbstverständlich.“

„Oh. Ja, nun. Das … das freut mich außerordentlich. Sehr.“ Er redete Stuss …

„Es war längst überfällig.“

„Richtig, ja.“ Hätte er sich nur eher getraut, es anzusprechen.

„Und mit allen anderen halte ich es ja auch längst so.“

Sie war wunderschön.

„Ja, richtig … Was?“ Er runzelte die Stirn. Was hielt sie mit allen anderen ebenfalls so?

Zoey schenkte ihm dieses unfassbar süße Lächeln und zerstach mit ihrem nächsten Satz seinen in der Brust anschwellenden Glücksballon. „Diese Förmlichkeit zwischen uns wurde allmählich seltsam. Dass ‚Du‘ fühlt sich unter Freunden wesentlich schöner an als das ‚Sie‘. Wir sind doch Freunde, oder?“

Nicht direkt. Jay musste sich sehr um sein Lächeln bemühen. „Ja, sicher sind wir das. Oder …“ Oder ein klitzekleines bisschen mehr?

Das auszusprechen gelang ihm aus zwei Gründen nicht mehr. Erstens, weil er so entmutigt war, dass es ihm die Zunge verknotete, und zweitens, weil in diesem Moment sein Störenfried Nummer eins die Treppe zum Deck hochpolterte.

„Hey, hey, hey, meine Freunde – was geht ab? Ich fasse es nicht, dass ich einen Tag verpasst habe!“ Finley Odell besaß die enervierende Eigenschaft, immer dort aufzutauchen, wo er nichts zu suchen hatte, und dabei nicht vollkommen unsympathisch zu sein. Sogar meistens gar nicht unsympathisch, was es einem erschwerte, ihn zu hassen. Gerade setzte er sich seine Ballonmütze auf den Kopf und grinste Zoey und Jay breit an. „Ich sage euch, trinkt niemals einen zu viel mit diesem Rupert. Der gießt die Blumen scheinbar mit Alkohol, kein Wunder, dass der Kirchgarten so blüht.“ Er legte den Kopf in den Nacken. „Ha. Jetzt fühle ich mich dafür wieder wie das blühende Leben“, behauptete er mit einem Zwinkern. „Hey, wusstet ihr, dass übermorgen Tag des Schiffes ist?“

„Ach was, echt? Was heißt das?“, erkundigte sich Zoey, und Jay spürte, wie seine Nervenstränge zu kitzeln begannen.

„Das heißt, dass den ganzen Tag Schiffe unterwegs sein werden. Für unsere Strecke ist sogar ein Motorbootrennen geplant. Wenn wir Glück haben, können wir von hier aus zusehen. Die fangen schon um fünf Uhr nachts mit dem Spektakel an. Vielleicht schaffe ich es, mich aus dem Bett zu schälen und nach ihnen Ausschau zu halten. Was meinst du, Zoey?“

Jay öffnete den Mund, um irgendetwas zu erwidern, von dem er nicht wusste, was es werden würde, aber Hauptsache, er tat es vor Zoey, als ihm Liv unerwartet aus der Patsche half. „Vorausgesetzt du hast dich nicht wieder unter den Tisch saufen lassen, was?“ Ihr Lachen klang laut und schön, zog die Aufmerksamkeit im Nu auf sich.

Finley grinste und hob einen Finger. „Ich rühre kein Glas mehr in Rupert Pauls Gegenwart an, das schwöre ich feierlich.“

„Ein vortrefflicher Vorsatz. Nun lass hören, was genau hat es mit diesem Tag des Schiffes auf sich, dass du dafür mitten in der Nacht aufstehen würdest?“

Das Timing dieser Frau war einfach bemerkenswert. Jay sah ihr lächelnd hinterher, wie sie sich bei Finley unterhakte und ihn in ein angeregtes Gespräch über den Tag des Schiffes verwickelte, nur um diesen von Zoey fernzuhalten und Jay den Weg zu ihrem Herzen zu ebenen. Jetzt durfte er es erst recht nicht versauen. Konnte er sie irgendwie an einen Ort lotsen, der weniger frequentiert war und wo sie ungestört reden konnten?

„Ja, also, da das nun geklärt ist … Vielleicht können wir uns ein wenig die Beine vertreten?“ Und dabei bestenfalls ans andere Ende vom Schiff gelangen, wo nicht alle Welt versuchte, möglichst unauffällig in der Nähe von Tina K. Timpson ein Buch zu lesen oder sich die Nägel zu lackieren oder Cocktails zu trinken … Er hoffte inständig, dass es nicht Zoeys ebenso inniglichster Wunsch war, dieser Autorin nah zu kommen.

Zu seinem Glück nickte sie, und so schlenderten sie über Deck in die entgegengesetzte Richtung der Fantraube. Schweigend. Weil Jay seine Gedanken ordnen musste. Sie gingen an einem der Toilettenräume vorüber, und er dachte fieberhaft nach. Wetter, Tee, Kompliment, Date … Wieso Date? Sie waren ja gemeinsam hier, also eher …

„Ich finde übrigens, die längeren Haare stehen dir ausgezeichnet.“

Dieses Kompliment von Zoey kam so unerwartet, dass Jay stehen blieb und sie fast ungläubig ansah, ehe sich die Röte auf seine Wangen stahl und er verlegen antwortete: „Oh, ach je, wirklich? Das … Danke.“ Gute Güte. Er konnte weder Komplimente formulieren noch damit umgehen. Er räusperte sich. „Ja, ich trage sie lieber so. Deine Haare mag ich übrigens auch sehr.“ Er stellte sich wirklich dämlich an. „Schon immer.“ Und es wurde nicht besser. „Was ich damit sagen will“, erklärte er und ließ ungeachtet seiner Dämlichkeit alle Vorsicht fahren, denn sie waren jetzt weit genug von allen anderen entfernt, und Zoey hatte ihn immerhin ermutigt. „Ich fühle …“

Lautes Klackern von Stöckelschuhen ließ ihn zusammenfahren und Zoey blinzeln. Hinter ihnen tauchte Tina K. Timpson auf und lehnte sich gegen die Toilettentür, ein Handy am Ohr und leicht ungehalten. „Ist das nicht ein bisschen lächerlich, dass du mich anrufst? Wir sind auf demselben Schiff.“ Sie hatte eine sehr angenehme Stimme, selbst beim Echauffieren. Nicht zu hoch und nicht zu tief, sie betonte alle Wörter elegant und würde ihren Roman bestimmt perfekt vorlesen. Zoeys Miene hatte sich verändert, und es lag auf der Hand, dass sie ihr Gespräch unterbrechen mussten, um unauffällig das dieser Schriftstellerin zu belauschen. Das akzeptierte Jay. Er war ja ein Gentleman. Oder versuchte, es zumindest zu sein.

„Tja, komm rauf und du erfährst es. Ich bin hier schrecklich gelangweilt.“ Sie stöhnte in einer Mischung aus Gereiztheit und Laszivität. Jay musste ihr zustimmen, warum rief ihr Verlobter sie an, wo sie beide an Bord waren? „Nein, nein, aber mein Liebster liest die ganze Zeit aus diesem … Na, wie heißt das Schmierblatt, das die gehobenere Gesellschaft so gerne liest?“ Jay runzelte die Stirn. Wenn ihr Liebster hier an Deck die „Guardian“ las, mit wem unterhielt sie sich so, nun ja, flirtoffensiv? „Mag sein, es langweilt mich trotzdem. Da stürze ich mich lieber in die Höhle der Fanlöwen.“ Sie lachte. „Ist nicht mein Ausdruck, Harley hat ihn erfunden … Das fragst du besser auch sie. Schließlich ist sie diejenige mit dem Studium.“ Wieder ein Lachen, dieses Mal etwas kehliger. „Ein guter Plan, dann bis dann, mein Honigbär.“ Sie beendete ihr Gespräch und warf das Handy achtlos in ihre Tasche, wühlte darin herum und überließ es Jay, darüber nachzugrübeln, mit wem sie gesprochen hatte. Sie sah auf, und in dem Moment, in dem sich ihre Blicke trafen, wurde Jay bewusst, dass es ihn nichts anging. Er senkte rasch den Blick. Zu spät, denn irgendwie schien sie sich eingeladen zu fühlen, ihre Zweisamkeit zu stören.

„Hey, entschuldigen Sie die Störung, Sie haben nicht zufällig Zigaretten in Ihrer Hemdtasche?“

Jay blickte an sich herunter zu seiner Hemdtasche und schüttelte langsam den Kopf.

„Tut uns sehr leid, wir sind wohl überzeugte Nichtraucher.“ Zoey konnte sehr viel charmanter Konversation führen als er. Oder besser, sie konnte es überhaupt und er eben gar nicht.

Tina K. Timpson wandte ihre Augen Zoey zu und grinste. „Ja, das ist gut. Sollte ich im Grunde auch.“ Sie rollte theatralisch mit den Augen. „Sie wissen schon, man hat mir eingeredet, dass es zum Image einer Künstlerin passt und so, also mache ich es.“

Jay runzelte die Stirn. War das ein Grund? „Künstlerin?“

Sie sah ihn an. „Ja, Künstlerin.“

„Mir war nicht bewusst, dass das Schreiben von Krimis Kunst ist“, murmelte er.

„Ach so. Laut Harley, also meiner Verlegerin, ist das so. Ich persönlich meinte den Rest, denn ich singe und tanze auch.“

„Wie überaus faszinierend.“ Zoey klang nicht so, als wollte sie ihr schmeicheln, es klang aufrichtig.

„Ja, nicht wahr?“ Die Autorin lächelte versonnen. „Das kann ich im Grunde besser als die Krimis. Ich meine, ganz ehrlich, wer will ständig mit Verbrechen zu tun haben?“

„Da haben Sie recht“, rutschte es Jay heraus, und Zoey lachte.

„Sie stehen hier einem Kriminalbeamten gegenüber, müssen Sie wissen. Einem Detective Chief Inspector persönlich.“

Jay errötete leicht. „Der lieber nicht so genannt wird.“

Zu spät.

„Wirklich?“, fragte Tina K. Timpson. „Wie spannend. Ich habe noch nie einen echten Kriminalisten getroffen. Vielleicht sollten wir uns mal zusammensetzen. Sie haben sicher ein paar tolle Infos für Harley und mich. Für den neuesten Roman.“ Sie sah von Zoey zu ihm. „Ja, wisst ihr was?“ Sie verzichtete übergangslos auf die Förmlichkeiten. „Was haltet ihr davon, dass wir uns morgen vor dem Mittagessen treffen?“

Zoey strahlte, Jay nickte unbehaglich. Er würde mit Sicherheit nichts zu sagen haben, das einen Roman aufwertete. Aber wenn sie unbedingt ihren Bestsellerstatus aufgeben wollte. Er sah zu Zoey. Und wenn es diese glücklich machte …

„Gern“, hörte er sich sagen.

„Wir freuen uns“, ergänzte Zoey, und das sah man ihr an.

„Klasse, wie heißt ihr beiden?“

Jay war zu versteinert, um zu antworten, Zoey stellte sie beide vor.

„Wow, Zoey Bloom. Was für ein klangvoller Name. Darf ich vielleicht meine nächste Romanfigur nach dir benennen?“

Zoey strahlte, als hätte sie in der Lotterie gewonnen. „Solange es nicht das Mordopfer ist.“

Tina K. Timpson lachte. „Auf keinen Fall.“ Sie zwinkerte. „Dann ist es abgemacht, was? Wir sehen uns.“ Und sie schlenderte davon, ließ eine strahlende Zoey und einen grübelnden Jay zurück.

Zoey wandte sich ihm zu. „War das nicht großartig?“

Jay nickte lahm. „Ja, durchaus …“

„Weißt du, ich dachte ja erst, als ich sie am Telefon gehört habe, sie ist weniger sympathisch als gehofft, aber sie hat gerade noch die Kurve gekriegt.“

Unverhofft schlang sie die Arme um Jays Hals und lachte. Er war so überrumpelt, dass sich die Freude über dieses Geschenk erst in ihm entfaltete, als Zoey ihn wieder losließ. Hatte sie ihn umarmt? Warum? Weil sie …?

„Was für eine Aufregung! Komm, das müssen wir unbedingt den anderen erzählen!“

Tja. Nun. Wahrscheinlich hatte sie ihn eher aus Glückseligkeit über das Treffen mit Miss „Wundervoll und berühmt Tina K. Timpson“ umarmt. Er ließ sich von ihr zu Maggie und Liv schleppen, und obwohl sie dabei seine Hand hielt, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es ein Händchenhalten unter Freunden war. Wie konnte er Liv so unter die Augen treten?

Kapitel zwei

Maggie nuckelte an ihrem Strohhalm. Dieser Cocktail war nicht zu verachten, und da es nach fünf Uhr war und sie ihren Nachmittagstee bereits hinter sich hatte, fand sie es in ihrem Urlaub vertretbar, jetzt schon Alkohol zu trinken. Vor allem, da es das Einzige war, das sie wirklich an Urlaub erinnerte. Im Grunde fühlte es sich fast wie zu Hause in Snugford an. Dieselbe Sonne, die verhalten, aber immerhin da, hinter ein paar Wolken hervorlugte und ihre Haut angenehm wärmte. Dieselben Gerüche wie bei einem Spaziergang über den Marktplatz – das Parfüm einer Baronin von Lockspridge mischte sich in krassem Kontrast mit dem Kackhäufchen einer Lady Mortimer. Dieselben Missetaten und Verschrobenheiten, bedachte man, dass Andy Nelson gerade die metallenen Strohhalme an der Cocktailbar mitgehen ließ. So was. Was musste seine Mutter einen Vierjährigen denn noch auf dem Arm rumtragen? Natürlich grapschte sich der dann alles, was auf Erwachsenenhöhe rumstand. Wenn sie nicht aufpasste, würde er noch an eines der Cocktailgläser reichen und seinen ersten Rausch bekommen.

Maggie kicherte bei dem Gedanken und wandte den Kopf, weil sich ihr Kichern mit dem ihrer besten Freundin vermischte. Sie mochte den Klang, obwohl sie nicht sicher war, ob sie es mochte, auf wen sich Liv gerade einließ. Auf den Poolboy nämlich – und er war verdammt jung. Womit Liv mit ihren Prinzipien brach und gegen ihr Beuteschema verstieß, sich einen Kerl zu angeln, der älter als sie war. Unverkennbar war das dieser Junge nicht. Gut, ein Junge war er streng genommen ebenso wenig, lediglich gemessen an ihrem Alter. Er dürfte in den Mittdreißigern sein, lief den ganzen Tag in Badehosen rum und kennzeichnete sich nur mittels seiner umgehängten Personalkarte als Mitglied der Crew aus. Das Haar trug er blond und schulterlang, seine Zähne hatte er bestimmt in Hollywood richten lassen, und mit dem Blau seiner Augen konnte nicht mal das Meer mithalten. Wahrscheinlich hielt er Liv für reich, sodass er so hingebungsvoll mit ihr flirtete, und Liv dachte sich vermutlich, da die Auswahl überschaubar war, warum nicht mal etwas Neues, Junges ausprobieren? Er war immerhin der attraktivste Kerl auf der Eroina. Maggie sah sich an Deck derselben um. Wie immer konnte sie es nicht lassen. Liv hätte die Augen über sie verdreht, dass sie alles und jeden analysieren musste – in ihrem Urlaub! Maggie hingegen hielt es für einen zu faszinierenden Zeitvertreib, um damit – vor allem in ihrem Urlaub – aufzuhören. Es war zudem kein gewünschtes Freimachen gewesen, denn eigentlich herrschte Hochbetrieb im B&B, und sie ließ es ungern allein. Ihren Namen hatte sie in den Lostopf gegeben, weil Liv sie bekniet hatte, und war fast ein bisschen sauer gewesen, als er gezogen wurde. Liv konnte sich bei Mrs Wolverton bedanken, dass Maggie nun hier war. Die Frau des Bürgermeisters hatte sie nämlich darum gebeten, ihrem Sohn einen Ferienjob im B&B zu verschaffen und sich gleich mit – ihr jahrelanges Hausfrau- und Mutterdasein hänge ihr so sehr zum Hals heraus. Also hatte Maggie sich bequatschen und überzeugen lassen, ihr zehn Tage lang die Verantwortung ihres B&Bs zu übergeben. Es machte sie zwar etwas kribbelig, dennoch wusste sie, dass Mrs Wolverton ihre Sache gut machen würde, und es handelten sich ja bloß um zehn Tage. Schließlich hatte sie sogar Jay zwanzig Tage darin allein gelassen. Ob sie alt wurde, weil sie den zweiten Urlaub in kürzester Zeit verlebte?

Unsinn.

Entschlossen stellte sie ihr Cocktailglas ab und erhob sich aus dem Liegestuhl, um ihre Beobachtungen im Gehen fortzuführen. Das war ihr dritter Tag auf dem Schiff und noch war es auszuhalten. Platztechnisch. Erst am nächsten Tag würden sie in Workington weitere zwölf Bingo!-Gewinner aufgabeln, und so lange gehörte ihnen das Schiff noch fast allein. Die Eroina bot eine Vielzahl an Zerstreuungsmöglichkeiten, die die Snugforder in vollen Zügen genossen. In ihrem verschlafenen Alltag kamen sie ja eher selten dazu, auf hohem Niveau zu schlemmen. Hier, im Bug des Schiffes und auf dessen Oberdeck, ließen es sich alle gut gehen, und es spielte sich das hauptsächliche Geschehen ab. Denn man konnte sich an der Cocktailbar und am Swimmingpool – inklusive Poolboy – vergnügen. So auch Tina K. Timpson, die begnadete Kriminalautorin, die sich im echten Leben einen feuchten Dreck um die Beredtheit scherte, die sie in ihren Büchern bewies. Sie posierte im Pool auf einem dieser Klischee-Schwimmmatten, um mit dem Cocktail in der Hand und dem Hut auf dem Kopf von ihrem Fotografen in sämtlichen Posen abgelichtet zu werden. Ihr Leibwächter stand zwei Meter entfernt und beobachtete alles durch seine Sonnenbrille. Maggie musste gestehen, dass sie von der Autorin minimal enttäuscht war. Bei einem so scharfen Verstand hatte sie keine Poserin erwartet, die jede Chance nutzte, um auf sich aufmerksam zu machen. So war das wohl mit Idolen. Im echten Leben verhielten sie sich vollkommen entgegengesetzt zu ihrer beruflichen Professionalität, und man wünschte sich plötzlich, ihnen besser nicht begegnet zu sein. Zwar konnte Maggie diese Dinge gut voneinander trennen, trotzdem würde sie beim Lesen der Krimis von nun an immer dieses Bild einer strahlenden Diva im weißen Bikini vor Augen haben. Und das passte einfach nicht zusammen. Ihr Verlobter unterhielt sich unterdessen mit Harley Hamilton, der Verlegerin ohne Ausstrahlung. Bestimmt hatte sich die Timpson bewusst so jemanden unscheinbaren ausgesucht, der hinter ihr im Schatten verschwand. Bei ihrem Verlobten hatte sie das zwar gelassen, er war ihr an Attraktivität ebenbürtig, sonnte sich jedoch nicht so sehr im Rampenlicht und überließ ihr höflich die Show. Maggies Wissens nach war er Tennisspieler, allerdings eher aus Leidenschaft, da er gerade mal den 99. Platz auf der Weltrangliste der Herren ausmachte.

Maggie spazierte an der Backbordseite weiter in Richtung Schiffsaufbauten und an den Toiletten vorbei, wo Jay und Zoey auf einer Bank saßen – scheinbar hielt es Jay für ein besonders romantisches Plätzchen, denn sie hatte die beiden schon abends zuvor dort stehen sehen. Oder es war die einzig freie Bank gewesen. Mit einem Schmunzeln stellte Maggie fest, dass Zoey ihm aus einem der Romane Tina K. Timpsons vorlas, er aber bestimmt nicht ein Wort davon mitbekam, sondern in schmachtender Erstarrung an ihren Lippen hing. Sie ließ die beiden hinter sich und schloss mit sich selbst die Wette, ob es Jay am Ende dieses Urlaubs gelungen sein würde, seiner Angebeteten den Hof zu machen. Eigentlich waren alle Stimmen in ihr derselben Meinung: Nein.

Als Maggie die Heckseite der Eroina erreichte, entfuhr ihr ein Lachen. Zoey und Jay waren nicht die Einzigen, die sich gerade mit dem Roman Tina K. Timpsons beschäftigten, obwohl sie noch heute Abend ihre erste Lesung halten würde. Der T.K.T-Fan-Buchclub saß auf Bänken, die im Quadrat aufgestellt worden waren, und ein jedes Mitglied hielt seinen Roman in Händen, um daraus zu rezitieren. Alberner Haufen in diesen T-Shirts, die sie täglich wechselten und damit Eindruck auf die Autorin machen wollten, die sie im Gegenzug links liegen ließ. Maggie fand diese Uninformiertheit bemerkenswert. Im Grunde stach unter ihnen keine einzige Frau heraus, sie hätten ebenso ein und dieselbe sein können, und wurden daher von Maggie nur als „Der Buchclub“ betrachtet. Sie schlenderte entsprechend desinteressiert weiter. In wenigen Stunden würde nach dem Abendessen, da das Wetter es zuließ, im vorderen Bereich des Hecks die erste Lesung stattfinden. Zu diesem Zweck wuselten bereits etliche Crewmitglieder hin und her, um die Bühne und zusätzliche Sitzmöglichkeiten und Stehtische aufzubauen. Es versprach noch ein viel größeres Event zu werden, als Maggie angenommen hatte, jetzt, wo sie Tina K. Timpson kannte und wusste, dass sie sich bestimmt nicht mit simplem Lesen befasste. Das verrieten die großen Boxen, die herangeschleppt wurden und für musikalische Untermalung sorgen sollten.

„Wird ’ne große Sache heute Abend. Sind Sie gespannt?“

Maggie drehte sich überrascht um. Sie hatte den Presseheini zwar wahrgenommen, wie er den Aufbau der Bühne mitverfolgte und hin und wieder etwas auf seinem Block notierte, allerdings nicht damit gerechnet, von ihm angesprochen zu werden.

„Ach wirklich? Größer als ihre sonstigen Lesungen?“

Der Kerl lachte und schob seinen Zahnstocher vom linken in den rechten Mundwinkel. „Nope, das nicht. Tina macht immer eine große Showeinlage. Ich meinte, größer als Lesungen von Normaloautoren.“

Normaloautoren, so, so. Maggie musterte ihn prüfend. „Daniel Mirrey“ stand auf seinem Presseausweis, den er wie die Crewmitglieder laminiert und an einem Band um den Hals trug. Er besaß eine blonde Föhnwellenfrisur und Hasenzähne. Um den Anblick perfekt zu machen, hätte nur noch die Hornbrille gefehlt. „Das heißt, Tina K. Timpson ist keine ‚normale‘ Autorin?“

„Finden Sie irgendwas an ihr normal?“, fragte er.

Maggie zuckte mit den Schultern. „Ich kenne mich nicht aus mit dem Verhalten von Erfolgsautoren.“

„Tja, ich schon, und ich sage Ihnen, an der Frau ist nichts normal.“ Er lachte meckernd, der Zahnstocher vibrierte in seinem Mundwinkel. „Eigentlich bezahlt sie mich nicht gut genug, dafür, was man alles mit so einer mitmacht.“

Das klang ja interessant. „Was macht man denn so mit?“

Das Grinsen des Daniel Mirrey wurde so breit, dass der Zahnstocher Gefahr lief, ihm aus dem Mund zu fallen. „Sie bezahlt mich so gut, dass ich nichts ausplaudere, was nicht explizit von ihr gewünscht wäre.“

Maggie nickte verstehend. Mit anderen Worten, die Autorin diktierte ihm auf, welche Lobesworte er in seinen Kritiken über sie fallen lassen durfte. Ob das normal unter ihresgleichen war, wusste Maggie nicht, aber es überraschte sie nicht.

„Bevor Sie das missverstehen, ich bin nicht bestechlich und mag die Frau enorm.“ Das klang nach Rechtfertigung. „Und Sie dürfen gespannt sein auf alles, was Sie heute von der strahlenden Miss Timpson hören und sehen werden.“

„Ich missverstehe Sie bestimmt nicht, guter Mann“, versicherte Maggie lächelnd, „und ich bin sehr gespannt.“

Damit verabschiedete sie sich und ging weiter Richtung Steuerbordseite des Schiffes. Spannende Unterhaltung. Es würde Maggie wirklich interessieren, was er ihr wohl erzählte, wenn er ein paar Cocktails zu viel hatte … Das dachte sie sich in eben dem Moment, als ihr die Erfolgsautorin entgegenkam – alles andere als strahlend und gefolgt von Harley Hamilton.

„Ja, ja, stress mich nicht so“, rief sie über die Schulter zu dieser zurück. „Wir haben noch massenhaft Zeit.“

„Eine Behauptung, die korrekt wäre, würdest du …“ Harley Hamilton bemerkte Maggie und senkte die Stimme, sodass diese nicht verstehen konnte, was sie der Autorin ins Ohr raunte.

Es konnte ihr nicht gefallen haben, sie rollte mit den Augen und erklärte: „Ist klar, ist klar. Lass jetzt bloß nicht wieder dein Studium raushängen.“

Die beiden gingen durch die Tür und die Treppen abwärts zu den VIP-Gästekabinen.

Maggie zögerte. Selbstverständlich wäre es indiskret, ihnen zu folgen, einer Berühmtheit schon zweimal … Dann zuckte sie mit den Schultern. Maggie war nun mal Maggie und ihre Nase zu neugierig, um nicht zu schnüffeln. Daher ging sie ebenfalls die Stufen abwärts unter Deck. Sie konnte die Stimmen nur noch leise hören, folgte ihnen gespannt. In diesem Bereich des Schiffes war sie bislang noch nicht gewesen, denn ihre Kabine befand sich auf der anderen Seite, einem definitiv schlichter gehaltenen Flur. Hier lebte die Oberklasse, unverkennbar, der Boden war mit einem roten Teppich ausgelegt, der am Rand mit Goldfäden vernäht worden war, und überall stand dekorativer Schnickschnack auf schmalen Sideboards herum. Maggie war hier eindeutig fehlplatziert, wie sie noch in der Minute gespiegelt bekam.

„Verzeihung, die Dame, kann ich Ihnen helfen?“ Es war ein Crewmitglied, besonders gelackt gekleidet und höchstwahrscheinlich extra für den VIP-Flur zuständig. Verbindlichkeit war jedoch ein Muss und so lächelte der Knabe gerade noch so, während sie in seinen Augen lesen konnte, dass sie hier bereits rein äußerlich nichts zu suchen hatte. Liv wäre es mit ihrer ausgewählt schicken Kleidung vielleicht gelungen, nicht aufzufallen, Maggie indes war, wie sie war, und das bedeutete, sie trug keine Designerklamotten.

„Nein“, erwiderte Maggie höflich und bestimmt, „ich sehe mich um.“

„Das müssen Sie woanders machen. Hier sind die Unterkünfte der …“

„Schönen und Reichen, ich weiß, ich weiß. Und eben das möchte ich mir genauer ansehen. Ich bin vom Qualitätsmanagement.“

Sie war selbst überrascht, wie prompt er diese Lüge schluckte. „Oh.“ Er nickte verstehend. „Das ist natürlich etwas anderes. Kann ich Ihnen …?“

„Machen Sie sich keine Mühe und posaunen Sie es bitte nicht herum, sonst kann ich mir hier kein unverfälschtes Bild mehr machen. Das verstehen Sie sicher.“

Er nickte geflissentlich. „Selbstverständlich.“

Maggie lächelte. Er lächelte. Beide standen sich noch einen Augenblick im Weg. „Nun, Sie haben sicher irgendetwas Wichtiges zu erledigen, möchte ich annehmen.“

„Selbstverständlich“, wiederholte er und machte sich daran, eben das zu tun.

Maggie grinste zufrieden. Liv mochte wie eine Schauspielerin aussehen, aber Maggie besaß das Talent einer solchen. Sie ging weiter, dezent verärgert darüber, dass sie die Spur der Autorin verloren hatte, und mit dem Gedanken spielend, dass ihre Observation so ihren Reiz verloren hatte, als sie einen lauten Knall hörte. Unmittelbar darauf wurde eine Tür am anderen Ende des Flurs aufgerissen und die Stimme Tina K. Timpsons wehte zu Maggie hinüber: „… war doch deine Idee! Und jetzt lass mich in Ruhe, ich muss noch mal die Szene anschauen.“

Worte, denen Harley Hamilton prompt nachkam, allerdings fehlte es ihr dabei an der üblichen Ausgeglichenheit. Jedenfalls vergleichsweise. Etwas schien sie zu belasten, denn ihre Schritte waren schnell, die Wangen gerötet, und anders als dem Bordpersonal war es ihr vollkommen einerlei, dass Maggie in ihrer schlichten Aufmachung hier unten herumschnüffelte. Sie hastete an ihr vorbei und die Treppen hinauf aufs Oberdeck. Maggie sah ihr stirnrunzelnd nach. Wie es aussah, waren die beiden nicht immer ein Herz und eine Seele.

Kapitel drei

Hach. Sommer, Sonne, süße Hintern! Gab es etwas Schöneres? Liv liebte diese Art von Leben, in dem alles zielsicher auf ein Happy End zusteuerte. Das B&B war in guten Händen, ihr Rücken ebenfalls, nämlich in denen eines jungen Kerls namens Jamie, der verflucht gut massieren konnte und bei dem es einer Schande gleichkam, dass er hier nur für den Pool zuständig war. Natürlich würde ihre kleine Liebschaft diese zehn Tage nicht überdauern, aber dafür war ein Urlaub schließlich da. Sie hatte es mit festen Beziehungen versucht, und die hatten sich als komplette Reinfälle entpuppt. Jamie war amüsant, ungebunden und unkompliziert, und sie beide wussten, dass es nichts Ernstes war. Klar. Sie würde nie ernsthaft einen Typen daten, der halb so alt war wie sie. Als Urlaubständelei hingegen eignete er sich perfekt. Und wenn alles glatt lief, wäre am Ende dieser Küstenfahrt sogar Jay-Jay mit seiner liebsten Zoey vereint – das reichte vollkommen. Liv konnte ihr Glück auch andernorts finden.

Sie genehmigte sich einen versonnenen Blick zu den beiden rüber. Es lag diese kollektive Spannung in der Luft, weil die erste Lesung dieser Fahrt in wenigen Augenblicken beginnen sollte. Doch am meisten prickelte es um Jay und Zoey herum. Liv konnte die elektrisierende Energie beinahe sehen. Sie saßen am Tisch ganz in der Nähe des Podests für die Autorin, sie mit roten Flecken auf den Wangen und dem Blick zur Bühne, er mit einer Hand keusch auf der Lehne ihres Stuhles, ohne die Geste vollkommen auszuführen. Nun, er hatte ja noch etwa zwei Stunden Zeit, um die Hand dort zu platzieren, wo sie hingehörte.

Die Sonne verschwand orangerot im Meer, der Tag ging zu Ende, und die gefühlt abertausend elektrischen Lichter auf der Eroina tauchten den Bug des Schiffes in romantisches Licht. Ein Gong ertönte, und die Versammelten beendeten ihre Unterhaltungen, alle Augen richteten sich gespannt und atemlos auf die Bühne. Liv kicherte über das Raunen, das entflammte, als Tina K. Timpson mit einem Mikrofon in der Hand und in ein rot-weiß-gestreiftes Rockabilly-Kleid ins Scheinwerferlicht trat. Ein Blick zur Technik und die bisherige Hintergrundmusik verstummte, um einem wohlbekannten Hit der Swinging Sixties Platz zu machen – Sister Morphine. Und selbst Liv musste zugeben, dass Tina K. Timpson den Song beinah besser rüberbrachte als damals Marianne Faithfull. Die Menge johlte, allen voran dieser Buchclub, der den Beifall zum Crescendo anschwellen ließ und unter dessen Fußgetrappel das Schiff schon fast ins Schwanken kam. Zoey klatschte begeistert Beifall. Jays Hand bewegte sich nicht vom Fleck. Die Autorin strahlte mit den Lichtern ringsumher um die Wette, als sie sich verneigte, und genoss die Begeisterungsstürme sichtlich. Ihre Augen flirteten mit dem Publikum, ihr Lachen klang laut und frei.

Plötzlich veränderte es sich, wurde zu einem Röcheln, die Augen traten hervor, und sie griff sich an die Kehle. Livs Atem ging schneller. Krachend fiel das Mikrofon zu Boden. Ein unangenehmer Quietschlaut erfüllte das Deck, der jedoch in dem Entsetzensschrei der Zuschauer unterging, als Tina K. Timpson zu Boden sank. Die ersten, geistesgegenwärtigen Helfer sprangen von ihren Sitzen hoch, Panik wallte auf, Maggie und Liv tauschten einen Blick – und dann wurde es vollkommen still. Weil aus Tina K. Timpsons Kehle kein Sterbenslaut herausbrach, sondern ein Lachen, dass die Bodendielen erzitterten. Sie erhob sich ohne Mühe und schenkte ihnen allen ihr Strahlen.

„Reingelegt!“, rief sie kichernd. „Was Sie hier sehen, ist kein Ableben, sondern der perfekte Auftakt zu meiner Lesung, in der es nämlich zu einem kaltblütigen Mord an einer Sängerin kommen wird.“

Einen Moment noch herrschte Stille, ehe jemand durch die Zähne pfiff und die Erleichterung ihres Publikums der Hysterie wich. Der Beifall war sicherlich bis nach Snugford zu hören. Liv entspannte sich, und Maggie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Baronin von Lockspridge schürzte die Lippen und stürzte ihr Weinglas hinunter, während sie etwas halblaut murmelte, das den hinter ihr sitzenden Peter zu amüsieren schien. Der allgemeinen Begeisterung schloss sie sich nicht an. Genauso erging es Jay, der immer noch kreidebleich war, und sogar Zoey schien der Scherz etwas zu makaber.

„Geben Sie es zu, das war ein bombiger Einstieg in den Abend!“ Die Zuschauer, angeführt vom Buchfanclub, brüllten eine Bestätigung, und Tina K. Timpson grinste geschmeichelt. „Das war die Idee meiner Verlegerin, Harley Hamilton, und wie immer brillant. Um Welten besser als ihre Ansage, die wir stattdessen zu hören bekommen hätten – obwohl ihr Lispeln unsagbar charmant ist.“

Sie zwinkerte Harley Hamilton zu. Das Publikum lachte. Harley lächelte und ließ nicht erkennen, was sie dachte. Liv fand es nicht sehr liebenswürdig von Tina K. Timpson, einen Scherz auf Kosten ihrer Verlegerin zu machen, doch mit dieser Meinung war sie allein. Empathie war nun mal nicht jedermanns Stärke. Oder es lag daran, dass Liv schlicht als einzige kein verblendeter Fan war.

Ob Bewunderer oder nicht, in den folgenden sechzig Minuten wurde Liv von der dynamischen Leseart der Autorin bestens unterhalten. Sie musste ihr zumindest lassen, dass sie es verstand, ihr Buch sehr effektvoll zu präsentieren. Vielleicht hätte sie ahnen müssen, dass ihr Anfall bloß Show war, denn dieser Leibwächter hatte sich nicht von der Stelle gerührt.

„Talent hat die Gute, das muss ich schon sagen“, sprach Maggie nach der Lesung Livs Gedanken laut aus. „Und außerdem einen Hang fürs Dramatische. Gute Güte, ich dachte kurz, das wird eine Geschäftsreise für unseren armen Jay!“

Dem stimmte er vermutlich zu, betrachtete man seinen immer noch etwas entrückten Blick (oder lag es daran, dass Zoey ihn so ermutigend ansah?), und so waren sie allesamt dankbar für das Partyflair, das nach der Lesung und den gefühlt stundenlangen Fragen zum Roman aufflammte. Dieser Buchclub hatte nicht zum Ende kommen wollen und es nur dank Harley Hamilton schließlich müssen.

„Tut mir leid, die Zeit ist um. Stattdessen laden wir Sie herzlich zur ‚Afterwordsparty‘ ein.“

Wozu niemand Nein sagte und das Schiff unter dem Beat der Musik zu beben begann. Während sich Maggie einen neuen Cocktail gönnte und Zoey Jay dazu überredete, zu tanzen (kein wirklich romantischer Anblick, das Linkische würde sie ihm noch abgewöhnen müssen), saß Liv mit überschlagenen Beinen auf ihrem Stuhl und bemühte sich um gelangweilte Attraktivität, bis Jamie sie zum Tanz auffordern würde. Seine Schicht war um zweiundzwanzig Uhr beendet, und es sollte nicht mehr allzu lange gehen …

„Klick!“

Diesem blödsinnigen Wort folgte ein tatsächliches Klicken und Liv fuhr zusammen, als sie erkannte, dass Tina K. Timpsons Fotograf sie gerade ungefragt porträtiert hatte. Nicht, dass es sie stören würde … Aber in dem Fall störte es sie eben. Der Name dieses Burschen war Bobby, und er nervte allmählich mit seinem ewigen Geknipse. Er besaß eine gigantische Auswahl an Kameras, diese hier war klein und handlich, offenbar für den schnellen Überfall.

„Oh, ja, oh, là, là, Sie sind äußerst fotogen, meine Teuerste.“

Liv rang sich ein Lächeln ab. „Danke. Auch, wenn ich ungern mal eben abgelichtet werde. Ende ich damit im Artikel über die heutige Lesung von Tina K. Timpson?“

Bei der Erwähnung ihres Namens huschten die Augen des Fotografen flink in deren Richtung. Sie sah zurück, breit lächelnd, während ihre Augen furchteinflößend kalt waren.

„Nun, ich …“

Doch Liv erhob sich geschmeidig von ihrem Stuhl. „Würden Sie mich entschuldigen?“

Das Letzte, wonach sie sich verzehrte, war ein Konkurrenzkampf mit dem Star des Abends. Aus den Augenwinkeln nahm Liv wahr, wie Alistair Kriston versuchte, seine Verlobte zum Tanzen zu motivieren. Sie ließ ihn abblitzen. Die Augen ruhten auf dem Fotografen, der gerade für eine halbe Minute mit einem anderen Modell fremdgegangen war. Eine Diva, die ihresgleichen suchte. Zum Glück las Liv keines ihrer Bücher, sonst wäre sie jetzt von ihrem Idol enttäuscht. Alistair trug ihre Zurückweisung mit Fassung und forderte stattdessen Harley Hamilton auf – was mit Sicherheit noch Ehekrach geben würde.

Und gerade als Liv sich fragte, ob sie nun gezwungen wäre, sich ebenfalls wie Maggie mit Cocktails abzuschießen, nahte endlich ihr Retter und Vertreiber der Langeweile. Jamie sah einfach zu sexy aus in seiner Badehose, über der er nach Dienstschluss ein offenes Hawaiihemd trug. Er zögerte nicht lange, sondern griff nach ihrer Hand und zog sie, ohne ein Wort zu sagen, zur mit Scheinwerfern in buntes Partylicht getauchten Tanzfläche. Worte machte er generell nicht viele, aber hey, er konnte tanzen! Liv hatte das Gefühl, an seiner Seite wieder zur Jugendlichen zu werden. Sie spürte den Beat durch ihre Adern pulsieren, versank im Blau von Jamies Augen und reagierte wie elektrisiert auf seine Bewegungen. Wie ein Magnet zog es sie zueinander, sie lachten und tanzten, tanzten und lachten; sie tranken und knabberten, nicht allein an Salzstangen und Erdnüssen, sondern vor allem aneinander, und sie fand sich kein bisschen unanständig.

Nicht im Vergleich zu Tina K. Timpson, die eine Showeinlage der nächsten folgen ließ und dafür regelmäßig beklatscht wurde, selbst wenn es noch so geschmacklos war, was sie tat – und dazu gehörte nicht, dass sie um Mitternacht mit dem sturzbetrunkenen Rupert Paul auf dem Podest tanzte.

Jedenfalls achtete so niemand auf Liv und ihren etwas zu jungen Poolboy. Der Abend wurde zu einem verzückenden Meer aus Farben und Klängen, denen sich Liv glücklich hingab. Sie war leicht angetrunken, oder womöglich etwas mehr, als sie gegen zwei Uhr in der Nacht zu ihrer Kabine tänzelte. Gestützt von Jamie, der verführerisch nach Schweiß und Alkohol roch.

„Huch“, kicherte sie, als sie erkannte, dass sie sich auf der falschen Seite des Schiffes befanden, bei den VIP-Kabinen, „du verwechselst mich mit einer Berühmtheit. Wir gehören rüber in die Holzkiste … äh … Klasse.“

Sie gluckste, und er lachte, beides wurde vom nächsten Kuss gedämpft. Sie öffnete die Augen und sah in sein Gesicht. Sie hatte viele Halbgötter geliebt, aber dieser war vermutlich das Original. Eine verbotene Frucht, weil viel zu jung und so …

„Oops!“ Sie zuckte zusammen, als sich die VIP-Tür öffnete, und noch einmal, als sie erkannte, dass es Silvia Nelson war, die hinter ihr zum Vorschein kam. „O je, hast du dich auch in der Tür geirrt?“

Silvia Nelson nickte bloß und wünschte eine gute Nacht, ehe sie weiter und zu ihrer wahren Kabine eilte. Liv versank bereits im Meer der Augen ihres Halbgottes und dachte sich verzückt, dass dieser Urlaub zu schön war, um wahr zu sein.