Leseprobe Ein bisschen Cornwall im Herzen

Kapitel 1

Hallo und willkommen bei Rumpel aus der Tonne … oder so ähnlich

Die Türklingel lässt mich hochfahren. Verwirrt blicke ich auf, fahre mir über die müden Lider. Ich muss eingeschlafen sein. Der Fernseher läuft im Hintergrund. Sheldon Cooper stößt gerade mal wieder seine Freunde vor den Kopf und bringt alle gegen sich auf. Die Folge kenne ich beinahe auswendig, kann den Text gedanklich mitsprechen, so oft habe ich diese Serie in den letzten Wochen gesehen.

Erneut klingelt es und ich hieve mich vom Sofa, dabei fällt mir die Chipspackung von der Brust, die ich dort geparkt und vollkommen vergessen habe. Der Dielenboden knarrt bei jedem Schritt bis zur Gegensprechanlage.

»Hallo?«, frage ich in den Hörer und lausche. Straßengeräusche dringen zu mir, Passanten unterhalten sich, Autos fahren im Hintergrund.

»Ich bins«, flötet meine beste Freundin Mimi.

Kurz spiele ich mit dem Gedanken, sie vor der Tür stehen zu lassen und mich tot zu stellen. Das Level an Fröhlichkeit, das sie versprüht, jagt mir bereits eine Gänsehaut über die Arme und ist das Letzte, worauf ich gerade Lust habe.

»Du hast bereits hallo gesagt, Carla. Die Nummer mit dem Totstellen funktioniert nicht mehr«, meint Mimi und ich muss grinsen. Sie kennt mich zu gut. Und hat recht. Deswegen drücke ich den Knopf, der die Eingangstür unten öffnet, und ziehe die Wohnungstür einen Spaltbreit auf. Danach schlurfe ich zurück ins Wohnzimmer, sinke auf die Couch. Durch die großen Fenster scheint die Sonne ins Innere der Wohnung, steht im Kontrast zu meiner schlechten Laune, die gegen minus unendlich strebt.

Aus dem Treppenhaus höre ich Schritte. Mimi betritt die Wohnung, lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Mit einem lauten Knall landet ihre Tasche auf dem Boden, dann streift sie sich die Schuhe von den Füßen und kommt zu mir ins Wohnzimmer.

»Scheiße«, entfährt es ihr. Das Grinsen rutscht ihr einen Moment von den Lippen, bevor sie sich fangen kann. Seit sie Mutter geworden ist, trägt sie häufig bequeme Hoodies, die ihr einige Nummern zu groß sind. Dazu schwarze Leggins. Ihr dunkles Haar hat sie zu einem praktischen Pferdeschwanz zusammengefasst. »Was zur Hölle ist denn hier passiert?«

Ich betrachte das Chaos, das ich in den letzten Tagen hinterlassen habe. Auf dem Couchtisch stapeln sich Kartons vom Lieferservice. Auf dem Boden liegen leere Wasserflaschen und Süßigkeitenverpackungen, dazwischen schmutzige Wäsche. Im Flur häufen sich die Pakete, die seit Montag angekommen sind. Die Motivation, sie zu öffnen, konnte ich einfach nicht aufbringen.

Mimi wischt die Chips, die vorhin aus der Packung gefallen sind, vom Sofa und setzt sich neben mich, seufzt. »Wann hast du das letzte Mal geduscht?«

»Welchen Tag haben wir?«

»Freitag.«

Oh. Wirklich? »Gestern«, lüge ich und streiche mir eine dunkelblonde Strähne aus dem Gesicht. Tatsächlich fühlt sie sich fettig an.

»Sicher«, meint Mimi. »Gelüftet?«

Dieses Mal zucke ich bloß mit den Schultern. Wahrscheinlich sollte es mir peinlich sein, allerdings ist es mir vielmehr egal. Wozu duschen? Wozu lüften? Alles hat seinen Sinn verloren.

»Scheiße«, keucht Mimi auf einmal und ich wende mich ihr zu. Ihre Augenbrauen berühren beinahe ihren Haaransatz, ihr Mund ist vor Entsetzen verzerrt. Den Blick hat sie auf meine Beine gerichtet. »Seit wann besitzt du eine Jogginghose? Damit ist es offiziell, du hast die Kontrolle über dein Leben verloren.«

Soll ich lachen? Oder besser weinen? Ich entscheide mich für Ersteres und strecke Mimi die Zunge raus. Damit hat sie nur die Worte meines festen Freundes David wiederholt, der diese Meinung vertritt. »Das ist dir erst durch die Jogginghose bewusst geworden?«

Mimi steht auf. »Jetzt übertreibst du.«

»Es waren deine Worte.«

»Nur ein Scherz, Rumpel. Ich wollte einmal klingen wie David.« Allerdings wissen wir beide, dass in jeder Aussage etwas Wahrheit steckt. Und es stimmt, ich habe das Ziel im Leben verloren. Das Wichtigste, das ich hatte. Das Einzige, das mich seit Jahren ausgemacht hat – meine Stimme. Oder besser gesagt: Meine Kreativität ist versiegt. Es gibt nichts mehr, was ich zu sagen habe. Und das als Kolumnistin, Autorin und Influencerin.

Mimi geht zum Fenster, reißt es auf und lässt damit nicht nur warme Sommerluft, sondern auch den Lärm von Frankfurts Innenstadt herein. Brummend ziehe ich mir die Decke über den Kopf und rolle mich auf dem Sofa zusammen. Das schöne Wetter treibt meine Laune weiter in den Keller. Wobei, eigentlich ist sie mittlerweile sowieso beim Erdkern angelangt. Viel tiefer geht nicht.

»Du gehst jetzt duschen, danach sieht die Welt wieder besser aus«, meint Mimi.

»Weil eine Dusche alle Probleme lösen kann.«

Mimi schnaubt. »Wohl kaum. Allerdings wären dir meine Nase und wahrscheinlich sogar die Nachbarn dankbar.«

»Willst du mir durch die Blume sagen, dass ich stinke?«

»Vergiss die Blume. Mädchen, du stinkst wie ein Puma.«

Ich grinse. »Nett, wirklich …«

»So bin ich.« Mimi deutet eine Verbeugung an. »Immer stets zu Diensten, um dir die knallharte Wahrheit direkt ins Gesicht zu sagen. Ich stehe dir 24 Stunden 365 Tage im Jahr zur Verfügung. Bis ans Ende deines Lebens.«

»Wohl eher bis ans Ende deines Lebens«, entgegne ich trocken.

Mimi plustert die Wangen auf. »Ey.«

»Was denn, du wolltest doch die knallharte Wahrheit.«

»Nur aus meinem Mund und anderen gegenüber. Hören will ich sie eher weniger.«

Nun lache ich. »Ach so, ist klar. Aber gut, dann nehme ich deine Dienste in Anspruch – bis ans Ende unseres Lebens.«

»Kannst du«, bestätigt Mimi und scheucht mich von der Couch auf, nachdem ich weiterhin keine Anstalten mache aufzustehen. »Und jetzt: Geh!«

Wie befohlen erhebe ich mich. Im Bad schließe ich die Tür hinter mir und sinke einige Sekunden dagegen. Dann gehe ich zum Waschbecken, stütze mich darauf ab und werfe einen Blick in den Spiegel. Beinahe erschrecke ich vor mir selbst. Müde blicken mir zwei blaue Augen entgegen, unter denen tiefe Schatten liegen. Das Haar hängt mir strähnig ins Gesicht, verdeckt die Sommersprossen auf den Wangen, die jeden Sommer aufs Neue auftauchen, nur um im Winter wieder zu verblassen.

Ich schäle mich aus den Klamotten, schmeiße sie direkt in die Wäsche und steige dann unter den heißen Wasserstrahl. Mit geschlossenen Augen lehne ich gegen den kalten Kacheln und seufze. Meine Gedanken rasen, während ich gleichzeitig keinen davon zu fassen bekomme. Wahrscheinlich ist es Selbstschutz, denn auf keine einzige der Fragen, die mir durch den Kopf gehen, habe ich einen Antwort.

Was soll ich tun? Wie wird es weitergehen? Habe ich den richtigen Weg gewählt? Soll ich ihn weiter gehen oder lieber umdrehen? Neu anfangen?

Neu anfangen?

Wie lächerlich.

Ich bin Ende Zwanzig, langsam sollte ich den Dreh raus haben, sollte wissen, wie das Leben funktioniert, oder? Während meine Freunde heiraten, Kinder kriegen und Häuser bauen, mache ich lustige Videos, die ich im Internet hochlade. Ganz zu Davids Missfallen.

»Carla?« Mimi klopft gegen die Tür. »Hör auf, die Dinge kaputt zu denken.«

Lachend öffne ich die Augen. »Geh weg.«

Zehn Jahre Freundschaft führen wahrscheinlich unweigerlich dazu, dass man sich irgendwann so gut kennt, dass man die Handlungen und Gedanken der anderen voraussagen kann. Wir haben so viel gemeinsam durchlebt, unsere Freundschaft war mal laut, mal leise. Aber wir haben uns nie aus den Augen verloren, im Gegenteil, sind nur enger zusammengewachsen.

Schnell wasche ich mir das Haar, schrubbe die letzten Tage von der Haut und trete aus der Dusche. Tatsächlich fühle ich mich besser. Allerdings ist Mimi die Letzte, der ich das auf die Nase binden würde.

»Noch mehr Jogginghosen?«, stellt Mimi fest, als ich in frischen Klamotten aus dem Schlafzimmer schlurfe. In der Hand habe ich einen pinken Labello, der nach Kirsche riecht, und trage ihn auf die Lippen auf. Der süße Geruch steigt mir in die Nase und ich schließe die Lider eine Sekunde. Wie sehr habe ich das vermisst. Leider bin ich ziemlich süchtig nach den Dingern.

Dann gehe ich zu Mimi, bemerke ihren Blick und erinnere mich an die Frage. Ich zucke mit den Schultern. »Verstecke sie vor David.«

»Wo ist er eigentlich?«

»Hat Nachtdienst diese Woche, deswegen verbringt er die Zeit in seinen eigenen vier Wänden.«

Mimi legt die Stirn in Falten. »Das erklärt die Unordnung.«

»Was soll das denn heißen?« Ich verschränke die Arme vor der Brust.

»David würde es keine fünf Minuten in diesem Chaos aushalten, ohne sich lautstark zu beschweren.« Wohl wahr. »Wobei er sich wahrscheinlich genauso laut über deinen Zustand beklagen würde.« Auch wahr. Deswegen habe ich diese Woche in vollen Zügen ausgenutzt, um in Selbstmitleid zu baden.

Ich blicke mich im Wohnzimmer um. »Oh nein, was ist mit dem Chaos passiert.«

»Habe ich beseitigt.«

»Dabei habe ich mir so viel Mühe damit gegeben.«

Mimi lacht. »Hab ich gemerkt.«

Der Duft von frischem Kaffee dringt zu mir und ich ziehe die Nase kraus. Noch etwas, das es nur dank David in meiner Wohnung gibt – eine Kaffeemaschine. Alleine bei dem Geruch zieht sich mein Magen zusammen. Mimi weiß das, allerdings würde ich es nie wagen, mich zwischen sie und ihre Sucht nach dem braunen Gebräu zu stellen. Da hört die Freundschaft bei ihr nämlich wirklich auf.

Mimi setzt sich aufs Sofa, deutet auf eine große Tasse auf dem Couchtisch. »Deine Kolumne geht also in die Sommerpause?«

»Ja«, bestätige ich und gehe zu ihr, greife nach dem Himbeertee. Der süße Geschmack zergeht auf meinen Geschmacksknospen.

»Und der Verlag hat dein neues Buch abgelehnt?«

Dieses Mal schüttle ich den Kopf. »Nicht ganz.«

»Was soll das heißen?«

»Es gab ein Angebot. Allerdings werde ich wohl ablehnen.«

Mimi legt die Stirn in Falten. »Du wirst ablehnen?«

»Werde ich … die Idee war einfach Mist.«

»Die Idee war Mist?«

Ich nicke, trinke erneut einen großen Schluck, behalte den Tee einige Sekunden im Mund, bevor ich schlucke. Eine dumme Angewohnheit. Kurz ist es still, dann beugt Mimi sich ein Stück zu mir. »Aber war es nicht deine Idee?«

»Deswegen war sie ja Mist.«

Verwirrt mustert Mimi mich. »Soll das Sinn ergeben?«

Wie soll ich ihr etwas erklären, das ich selbst kaum verstehe? »Es hat sich falsch angefühlt.«

»Es hat sich falsch angefühlt?«, wiederholt sie erneut meine Worte und ich verdrehe die Augen.

»Mutierst du gerade zum Papagei?«

»Bloß weil du dir alles aus der Nase ziehen lässt und ich gar nichts verstehe.«

»Da sind wir schon zwei«, murmle ich in die Tasse und sauge den süßen Geruch nach künstlichen Himbeeren auf. »Keine Ahnung, Mimi. Es fällt mir schwer, es zu erklären. Ich habe in den letzten Jahren über so viele Dinge geschrieben, so viele Videos gedreht und ständig das getan, was meine Agentur mir geraten hat. Irgendwie habe ich das Gefühl, mir gehen die Themen aus … Worüber soll ich denn schreiben? How to survive as Millenial ist tot … im wahrsten Sinne des Wortes. Oder zumindest stirbt es langsam.«

»Bist du irre? Oder verschließt du einfach gerne die Augen vor der Wahrheit?«, fragt Mimi und stellt ihre Kaffeetasse auf dem Couchtisch ab. »Dein Blog ist unfassbar erfolgreich. Der Instagram-Kanal dazu floriert und es vergeht kein Tag, an dem du nicht mehrere Kooperationsanfragen bekommst. How to survive as Millenial war auf der Spiegel-Bestsellerliste und dein Verlag möchte an einem neuen Roman mit dir arbeiten … ehrlich, wo ist dein Problem?«

Seufzend drehe ich das Gesicht von ihr weg. Sie versteht es nicht, das tut niemand. Mich selbst eingeschlossen. Trotzdem kann ich die Panik im Inneren, die Leere, jedes Mal wenn ich vor dem Laptop sitze, nicht ignorieren. »David hat recht …«

»Mit diesen Worten beginnt nie etwas Gutes«, sagt Mimi und greift nach ihrer Tasse. Ich wende mich ihr zu, hebe fragend die Augenbrauen. »Es ist kein Geheimnis, dass David deinen Job hasst, oder?« Stimmt, er hält alles, was ich schreibe, für Zeitverschwendung. Genau das hat er mich erst letzte Woche wieder spüren lassen.

»Es ist nicht der Job«, entgegne ich. »Nur die Richtung, die ich eingeschlagen habe. Journalismus ist solide. Satire dagegen … weniger. Vor allem dann, wenn man sich über eine ganze Generation lustig macht.«

»Du machst dich nicht über unsere Generation lustig. Im Gegenteil. Deine Videos geben vielen Menschen das Gefühl, verstanden zu werden.«

Ich winke ab. Es spielt keine Rolle, ändert nichts an der Tatsache, dass meine Muse verschwunden ist. »Jedenfalls hat David mir vorgeschlagen, mich auf andere Themen zu konzentrieren. Durch seine Beziehungen hat er mir ein Bewerbungsgespräch bei der Frankfurter Allgemeinen besorgt.«

»Und du hast vor hinzugehen?«, fragt Mimi und ich nicke. Hab ich eine andere Wahl? Wer weiß schon, wann die Kreativität zurückkommt. »Das ist ein Scherz. Dein Talent wäre vollkommen verschwendet. Ein neuer Job ist das Letzte, was du brauchst. Gut, du bist ausgebrannt. Das sind wir alle mal. Das ist kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken.« Mimi legt mir die Hand auf den Oberarm, betrachtet mich mitleidig und ich würde am liebsten kotzen. Dann quietscht sie plötzlich. Ich zucke zusammen, weiche vor ihr zurück. »Erinnerst du dich, wie planlos du warst, bevor dir die Idee zu How to survive as Millenial kam? Es war das Ende unseres Studiums. Ich hatte meine Zusage für den Master und du hattest keinen Schimmer, wie es weitergehen sollte. Wir saßen auf deinem Balkon, und haben ein oder zwei Flaschen Wein getrunken.«

Ich schnaube. »Ein oder zwei Flaschen. Ist das die Umschreibung für wir waren vollkommen betrunken? Den Kater am nächsten Tag werde ich niemals vergessen.« Allein beim Gedanken daran dröhnt mir der Schädel.

»Genau das ist es, was du brauchst.«

»Einen heftigen Kater?«, frage ich ungläubig.

Mimi schüttelt den Kopf. »Entspannung. Damals war das der erste Moment seit Wochen, in dem du abgeschaltet hast.«

Leider ist das leichter gesagt als getan. »Entspannt war ich das letzte Mal 1995.«

»Da warst du kaum geboren.«

»Ja, eben deswegen.«

»Ach, Carla«, sagt sie lachend. Dann verändert sich auf einmal ihr Ausdruck, sie legt die Stirn in Falten. »Aber gestern hast du gepostet, dass du bei Starbucks sitzt und neue Ideen für deinen Roman notierst.« Ich schüttle den Kopf. »Waren die ganzen Videos und Storys, die du hochgeladen hast … »

»Vorgedreht«, unterbreche ich sie. »Oder glaubst du, ich gehe in dem Zustand vor die Kamera?«

»Vielleicht solltest du das? Es gehört auch zur Wahrheit eines Millenials.«

Vorsichtig nippe ich an dem Tee. Leider ist er mittlerweile kalt, deswegen trinke ich einen großen Schluck, genieße die Süße, die auf der Zunge explodiert. »Die Leute wollen keine Wahrheit, Mimi. Sie wollen Unterhaltung.«

»Die Leute wollen dich. Sie wollen deine Wahrheit, dein Leben.«

Vehement schüttle ich den Kopf. »Nein, das ist ein Irrglaube. Sobald ich ernstere Themen anspreche, verliere ich Follower. Oder wenn ich mich politisch äußere … was glaubst du, was für Nachrichten ich da bekomme? Niemand will meine Meinung wissen.«

»Jetzt bist du zu hart. Zu hart zu dir und deinen Followern.«

Seit Jahren sind die Sozialen Medien mein Arbeitgeber. Ach was, mein Zuhause. Dort verbringe ich den Großteil meiner Zeit, habe stets die Follower und den Content im Kopf. Deswegen bin ich mir hundertprozentig sicher, was der Community gefällt. Ich weiß, welche Kommentare ich zu welchen Themen zu erwarten habe. Einige Follower kenne ich sogar mit Namen. Eigentlich liebe ich diesen Job. Er hat mir gegeben, was ich viele Jahre gesucht habe – Freiheit. Die Chance, mich kreativ auszuleben, selbstbestimmt zu arbeiten und trotzdem Geld zu verdienen. Außerdem erfüllt es mich, den Leuten ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Egal, wie unnötig manche Menschen die Videos finden mögen, ich drehe sie gerne. Zumindest bisher. Gerade jedoch fällt mir selbst das Atmen schwer. Zumindest fühlt es sich so an.

»Wann warst du das letzte Mal im Urlaub?«, fragt Mimi und ich sehe von der Tasse auf.

»Erst über Weihnachten, die Wienreise.«

Mimi stellt ihren Kaffee auf den Esszimmertisch. Dabei weht ein Schwall des Geruchs zu mir rüber. »Das kannst du wohl kaum Urlaub nennen. Du warst bei der Eröffnung eines Szenehotels und wurdest dafür gebucht.« Zu unmotiviert, um zu widersprechen zucke ich mit den Schultern. »Gut, ich präzisiere: Wann hast du das letzte Mal für mehr als zwei Wochen keinen Finger gerührt, Instagram und Co abgeschaltet und das Leben genossen?«

»1995?«, scherze ich, spüre den Funken Wahrheit allerdings bitter auf der Zunge. »Gab es damals schon Smartphones?«

»Carla.«

»Nur ein Spaß«, winke ich ab und versuche, mich ernsthaft zu erinnern. »Keine Ahnung.« Tatsächlich ist da nichts. »Wie stellst du dir das vor? Sobald ich länger abwesend bin, langweilen sich die Follower, suchen sich neue Seiten, die sie unterhalten.«

Mimi verschränkt die Arme vor der Brust. »Zwei Wochen sind kein Weltuntergang. Jeder braucht Urlaub.«

Wahrscheinlich fällt gerade irgendwo ein selbstständiger Autor, Grafiker oder auch eine alleinerziehende Mutter vor Lachen tot um.

Resigniert seufze ich. Klar, Mimi versucht, mich aufzumuntern und zu motivieren. Leider bewirkt sie das Gegenteil. Statt neue Hoffnung zu schöpfen, bin ich frustriert. Denn eigentlich reicht es mir, dass ich jeden Tag gegen David kämpfe, der weder versteht, was ich tue, noch den Beruf als eben solchen anerkennt. Für ihn ist das ein nettes Hobby. Dabei wäre es schön, wenn er nur einmal einen Artikel von mir lesen würde und stolz darauf wäre. Auf die Arbeit und Mühe, die ich in das Ganze gesteckt habe. Aber dafür muss ich wohl Karriere bei einem angesehenen Magazin oder einer Tageszeitung machen.

Erneut seufze ich. »Vielleicht ist es der beste Weg, das Bewerbungsgespräch anzunehmen. Einfach mal zu schauen, was passiert. Wahrscheinlich lehnen die mich sowieso ab, weil ich zu wenig Erfahrung habe.«

»Zu wenig Erfahrung?« Mimi blickt empört auf. »Ist dir eigentlich klar, was du dir selbst aufgebaut hast? Die können froh sein, wenn du für sie arbeitest.«

Nachdem ich den letzten Schluck des Himbeertees getrunken habe, stelle ich die Tasse auf den Tisch. Stattdessen greife ich nach einem Kissen und drücke es mir an die Brust. Sollte ich den Job wirklich bekommen, müsste ich aufhören, meine Kolumne zu schreiben. Auch Instagram, TikTok und der Blog würden darunter leiden. Wahrscheinlich würde ich Follower verlieren, da ich weniger Beiträge und Videos drehen könnte. Tatsächlich ist es ziemlich zeitintensiv, ständig Content zu liefern. Ich drücke das Kissen fester zusammen, versuche, die plötzliche Übelkeit damit zu verscheuchen.

Mimi beugt sich zu mir und legt mir den Arm um die Schulter. »Ist es das, was du willst?«

»Hm?«, entgegne ich verwirrt, habe den Faden verloren.

»Willst du bei der Zeitung arbeiten? Dann geh zu dem Gespräch und zeig denen, wie gut du bist. Willst du lieber weiter an deinem Roman schreiben und die Leute mit witzigen Videos erheitern? Dann tu das. Du bist jung, dir steht die Welt offen.«

Ich zwinge mich zu einem Lächeln, blinzle die Tränen hinter den Lidern weg. Die Welt hat momentan keinen Platz für eine Influencerin in der Schaffenskrise. Dieses Gefühl verschweige ich Mimi jedoch. Allein bei dem Gedanken, mich zu erklären, erschaudere ich.

»Egal, wofür du dich entscheidest, Carla, es ist der richtige Weg.«

»Danke«, murmle ich. Die letzten Tage habe ich in Selbstmitleid gebadet, mich kaum unter Leute gewagt, geschweige denn mit jemandem gesprochen. Nun fühle ich nur Leere. Das Gespräch mit Mimi und die ganzen Emotionen dahinter haben mich ausgelaugt. Deswegen brauche ich etwas Entspannung. »Gilmore Girls?«, werfe ich in den Raum. Es ist unsere Comfort-Serie. Wann immer das Leben zu viel wird, flüchten wir uns nach Stars Hollow. Genau das, was ich gerade brauche.

»Gilmore Girls!« Mimi greift nach ihrer Tasse. »Dafür brauche ich aber eine neue Portion Kaffee. Und was hältst du von Mac and Cheese?«

»Viel«, antworte ich und stehe auf, folge Mimi in die Küche.