Leseprobe Drei Haselnüsse für ein Weihnachtswunder

Kapitel 1

Elli liebte Keramik, und ihr Geschäft. Es war die Erfüllung eines lang gehegten Traums. Der Geruch der handgefertigten Tonwaren in den vollgestapelten Holzregalen kitzelte ihre Nase. Über das Wochenende hatte sie ihre Aussteller zusätzlich mit Lichterketten verkleidet, und Weihnachtsdekorationen aus Keramik zwängten sich in jede freie Lücke. Besonders die handbemalten Keramikkugeln an einem baumförmigen Holzgestell liebte Elli. Sie waren leicht genug für echte Weihnachtsbäume und handbemalt ein richtiger Hingucker.

Leider suchte ihr Kunde nichts dergleichen. Seit einer viertel Stunde maß er Stück für Stück, inzwischen war er beim letzten Unikat ihres Ladens angekommen. Mit vor Aufregung zittrigen Fingern reichte Elli ihm die mintgrüne Vase mit geschwungenen Rändern und goldener Musterung. »Das hier ist ein zeitloses Stück. Es passt in jede Jahreszeit, nicht nur zu Weihnachten. Was denken Sie?«

Mit gerunzelter Stirn, die seine Altersfalten noch tiefer wirken ließ, drehte der Alte die Vase in seinen Händen hin und her. Schließlich entspannten sich seine Gesichtszüge und zarte Lachfältchen umrahmten seine faltigen Augen. »Die ist perfekt. Ich nehme sie«, sagte er und reichte das Stück an Elli zurück.

Am liebsten hätte sie vor Freude gequietscht, doch sie konnte sich gerade noch zusammenreißen und es bei einem entzückten Lächeln belassen. »Sehr gern. Ich packe sie Ihnen ein.«

Während der Mann mit dem schütteren Haupt ihr zur Kasse folgte, taute er endlich auf. »Wissen Sie, ich schenke meiner Frau so gern Blumensträuße; jede Woche einen, seitdem sie in der Pflege ist. Mit dieser Vase kommen die Sträuße noch besser zur Geltung. Sie mag grün; und sie ist mein Goldstück.«

Elli wurde warm bei diesen Worten.

Dreißig Dollar wanderten in ihre Kasse. Der Herr verschwand zur Tür hinaus und brachte das Keramikwindspiel zum Klingen. Der frische Luftzug, der in den Laden strömte, tat gut. Das Geld auch. Das war Ellis Geschäft, ihre Chance auf finanzielle Unabhängigkeit von Cliff. Leider könnte es besser laufen.

Ein weiterer Luftzug folgte, als kurz darauf Ellis Kinder das Geschäft betraten.

»Hey, Mom!«, rief Nathan und warf sich ihr an den Hals.

Behutsam nahm sie ihm den Ranzen vom Rücken, damit er in seinem Übermut nicht die vollgestellten Regale leer räumte.

Brooke schleuderte ihre Tasche daneben. Haarscharf schrammte sie an einem Aufsteller mit handgefertigten Karaffen vorbei und hielt vor einem Regal mit den dazu passenden Tassen. »Wie lange müssen wir hier noch rumhängen?«

Elli stieß die angehaltene Luft aus ihren Lungen, froh darüber, dass nichts zu Bruch gegangen war. »In einer Stunde kann ich schließen.«

»In einer Stunde?« Brooke warf die Arme in die Luft. »Da habe ich ja gar kein Leben mehr. Kann uns Tante Danielle nicht abholen?«

Elli mahnte sich zur Geduld mit ihrer Teenie-Tochter, konnte dennoch einen schärferen Tonfall nicht verhindern. »Tante Danielle hat heute Termine, das weißt du. Nutz die Zeit für deine Hausaufgaben, dann …«

»Hab keine.«

»Okay, dann such dir eine Beschäftigung. Du könntest …«

»Kein Bock.«

»Brooke!« Ellis Tonfall wurde schärfer.

Ihre vierzehnjährige Tochter verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich hab mir nicht ausgesucht, hier sein zu müssen.«

Ehe Elli etwas erwidern konnte, stiefelte Brooke zur Ladentür hinaus. Klingelnd schlug die Tür in die Angeln, worauf das Keramikwindspiel über dem Eingang ein paar schnellere Runden drehte.

Elli starrte ihrer Tochter durch die verglaste Tür hinterher, hinter der Brooke mit verschränkten Armen stehen blieb und schmollend die Kapuze über den Kopf zog. Vielleicht war es besser so.

»Ist das die Pubertät, Mom?«, fragte Nathan.

Mit einem Seufzer auf den Lippen riss sie ihren Blick von Brooke los und wandte sich an ihren Neunjährigen. »Ja, aber lass das meine Sorge sein. Du konzentrierst dich schön auf die Elementary School.«

»Ich glaube, ich will keine Pubertät haben«, sagte Nathan und führte im Sitzen auf Ellis Kassendrehstuhl eine Pirouette. »Darf ich mit Ton basteln?«

»Hast du keine Hausaufgaben?«

»Wir bekommen freitags nie welche, weißt du doch.«

Elli schmunzelte. »Dann komm. Ich gebe dir ein Stück Ton, aber bring mir nichts durcheinander. Hinten stehen etliche Stücke, die frisch für die Gala glasiert sind.«

»Ich passe auf, versprochen.«

Der Verkaufsraum war das Herzstück ihres Geschäfts. Dahinter lag ein großer Werkstattbereich für ihren Brennofen und die Lagerregale. Dort schnitt sie Nathan eine Scheibe der weichen Masse von einem Quader und stellte die Töpferscheibe an. Dann ging sie wieder in den Verkaufsbereich und nahm hinter der Kasse Platz. Sie schnappte sich eine rotglasierte Schale, die sie vor dem Feierabend noch mit Mustern dekorieren wollte. Den verwilderten Dutt für ihre dünnen Haare zog sie fest. Bevor sie Pinsel und Farbtöpfchen zur Hand nahm, warf sie einen prüfenden Blick nach draußen.

Brooke stand noch immer vor dem Laden, kickte einen Stein umher und telefonierte – der gelösten Mimik nach zu urteilen mit einer Freundin. Elli und ihre Tochter waren sich einfach zu ähnlich. Nicht nur im Aussehen – blonde Haare, zierlicher Körperbau, ständig bemüht, zwischen allen anderen Menschen nicht kleiner als nötig zu wirken – sondern auch im Charakter – leicht zu verunsichern und voll intensiver Gefühle.

Sie hatte den weißen Farbbehälter kaum geöffnet, da klingelte ihr Handy. Cliff stand auf dem Display.

»Nicht jetzt«, murmelte sie, stellte das Handy auf stumm und legte es zur Seite. Mit dem Haarpinsel setzte sie weiße, schnörkelige Linien auf die rote Schale. Hin und wieder unterbrach sie die Linienführung für winzige Punkte.

Erneut vibrierte ihr Handy. Neugierig lugte sie auf das Display und ärgerte sich sofort. Frustriert legte sie ihr Malwerkzeug zur Seite und nahm ab. »Hallo Cliff, was willst du?«

Draußen vor dem Geschäft wurde es laut. Das Knattern von gepimpten Motoren lenkte Elli ab und zog ihre Aufmerksamkeit vom Telefonat auf Brooke, deren Blick sich hob und verfolgte, wer da näherkam.

»… dir reden?«

»Was hast du gesagt, Cliff?«

Drei Motorräder fuhren vor. Die Jungen, die abstiegen und die Helme abnehmend auf Brooke zuliefen, wirkten alles andere als bodenständig und brav.

»Ich wollte mit dir reden«, knirschte es durch den Hörer. »Es geht um nächste Woche.«

»Sorry, Cliff«, sagte sie ins Telefon, während sie Brooke fixierte, »jetzt gerade ist es ungünstig.«

»Bei dir ist es immer ungünstig. Ich will noch eine Sache mit dir abstimmen.«

Die drei Jugendlichen bauten sich um Brooke herum auf, die in deren Mitte ein paar Zentimeter schrumpfte. Ellis Tochter mühte sich ein Lächeln ab und strich eine blonde Strähne hinter die Ohren.

»Es ist doch alles besprochen«, sagte Elli ins Handy.

»Mach es nicht so kompliziert«, maulte Cliff.

Elli nahm das Handy vom Ohr. »Ich rufe später zurück.« Was er noch sagte, hörte sie nicht mehr. Sie legte auf und das Handy landete auf dem Tresen.

Geradewegs eilte sie nach draußen. Die zehn Grad Außentemperatur pressten sich kalt auf ihre Arme, doch Brookes Wohlergehen war ihr wichtiger als eine Jacke.

»… schon was vor?«, hörte sie einen der Jugendlichen Brooke fragen. Sie kannte ihn vom Sehen. Die gleiche braunhaarige Gelfrisur wie sein ekelhaft überheblicher Vater, größter Immobilienmogul in Washington County und damit auch Woodbury.

Ellis Tochter schüttelte den Kopf, eine Hand am Ellbogen des anderen Arms, als müsste sie sich dort festhalten.

Der Barrow-Junge, offensichtlich Anführer seiner Crew, beugte sich vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Dann zog er seinen Helm wieder über und schwang sich auf sein Motorrad.

»Nimmst du mich mit?«, fragte Brooke. Ihre Stimme trug nur leise bis zu Elli.

»Sorry Babe, sind beschäftigt. Wir sehen uns.« Er legte zwei Finger an das Visier und die drei düsten davon.

Elli war heilfroh, dass sie zügig hinter der nächsten Ecke verschwanden.

Brookes Blick hingegen verfinsterte sich, als sie Elli entdeckte. »Na los, sag schon, was du sagen willst.«

»Jetzt fauch mich nicht an. Ich will nur wissen, wer das war.«

Brooke schob die Hände in die Jeanstaschen. »Das sind Kumpels von mir. Wir kennen uns aus der Schule.«

»Du meinst diese Typen, die wie Machos aussehen und sich auch so benehmen?«

Dafür erntete sie prompt ein bitterböses Funkeln aus den blauen Augen ihrer Tochter. Brooke kam näher und zeigte mit dem Zeigefinger auf sie. »Mom, nicht jeder ist wie Dad.«

Und schon entbrannte der nächste Streit zwischen ihnen. Wieso schaffte ihre Tochter es zielsicher, auf Ellis wunde Punkte zu drücken? Sie schluckte ihre aufkeimenden Gefühle hinunter und sah Brooke ernst an. »Das hat mit eurem Dad nichts zu tun. Häng einfach nicht mit denen rum. Das riecht nach Ärger.«

»Mom, ich bin alt genug und kann selbst entscheiden.«

Elli sah das anders. Die gesammelte Familie Barrow zog Ärger an, als wäre sie damit verheiratet. »Nimm dich in Acht. Wenn er nur ein wenig nach seinem Vater kommt, ist dieser Barrow-Junge kein guter Umgang für dich.«

»Mom, Damian ist nicht wie sein Alter! Er ist … viel cooler.«

Elli zwang sich zu einer ruhigen Reaktion, obwohl sie kurz vorm Platzen war. »Wenn du meinst. Pass bitte trotzdem auf, ja?«

Brooke antwortete nicht, sondern marschierte ins Geschäft hinein.

Elli stieß die Luft aus ihren Lungen aus und nahm einen weiteren kräftigen Atemzug. Brooke wollte ein typisches Teenie-Leben führen. Das war ihr klar, und es tat ihr leid, dass ihre Kinder den Laden mittragen mussten. Dieses Geschäft war ihre Chance, endgültig aus der finanziellen Abhängigkeit von Cliff herauszukommen, sich aus der ewigen Bettelei um Unterhalt zu lösen. Für die Kinder war das hart, für sie selbst noch härter. Sie konnte die zahllosen Nächte und Wochenenden nicht mehr zählen, die sie in ihre Selbstständigkeit steckte, damit es schrittweise bergauf ging.

Niedergeschlagen betrachtete sie ihren Laden, den andere vermutlich als noblen Holzschuppen abtun würden. Neben einer geräumigen Scheune gelegen, hatte sie das Objekt Anfang des Jahres günstig anmieten können. Nach wie vor verkaufte sie das meiste online, doch ihre Bekanntheit in der Stadt wuchs.

Dieser Laden war gleich nach den Kindern ihr ein und alles.

Sie ging wieder hinein. Brooke saß inzwischen hinter der Kasse, im Handy versunken.

Nathan kam mit stolzgeschwellter Brust aus der Werkstatt. »Schau mal, Mom. Das kannst du für die Weihnachtsgala in zwei Wochen nutzen.« Er hielt ihr eine Schale hin, die keine fünf Finger hoch und windschief auf seiner Handfläche lag. »Die wäre eine perfekte Bonbonschale.«

»Da hast du recht«, sagte sie und nahm ihrem Sohn die Schale ab. »Mal schauen, ob sie rechtzeitig getrocknet ist. Wir müssen sie erst noch brennen.«

»Können wir dann endlich heim?«, murrte Brooke.

Elli seufzte und gab ihre Ziele für den heutigen Tag auf. Die Zeit rannte, wie sie mit einem Blick auf die Uhr feststellte. Sie hatte kaum etwas geschafft. Wieder einmal würde sie das Wochenende investieren müssen. Eigentlich hatte sie sich ihren morgigen Geburtstag anders vorgestellt; und das erste Adventswochenende in diesem Jahr auch. »Tante Danielle ist in den nächsten zwanzig Minuten hier. Ich räume schon mal auf.«

»Ich helfe dir!«, rief Nathan, was meist hinderlicher ausfiel, als sie sich wünschte.

Brooke knurrte: »Ich nicht.«

Mit einem Lächeln, das als Fassade gerade noch reichte, packte Elli Pinsel, Farben und fünf weitere Schalen in einen Transportkorb sowie ein Set Teller, die als Auftragsarbeit bis Weihnachten fertig bemalt sein mussten. Sie spürte den zunehmenden Druck in ihrem Inneren, den Kindern und ihrem Traum von der Selbstständigkeit gleichermaßen gerecht zu werden. Dazu wollte sie möglichst wenig Belastung für ihre Schwester und deren Frau zu sein. Sie hatte keine Ahnung, wie sie aus ihrem persönlichen Hamsterrad aussteigen sollte, und hoffte im Stillen, der Tag möge einfach enden.

***

Eine Stunde später bogen sie in die Einfahrt von Danielles Haus ein. Wie jeden Tag durchzuckte Elli das schlechte Gewissen, dass sie hier nahezu kostenfrei logierten.

Ellis Schwester fuhr den Pick-up in die geräumige Garage. Kaum stand das Auto, stürmte Brooke ins Haus.

Nathan nahm Ellis Hand und drückte sich an sie. Sie erwiderte die Umarmung und ging mit ihm ins Haus. Die Arbeit der letzten Tage saß ihr in den Knochen. Müde schielte sie in Richtung Couch. Sie sehnte sich nach einer Pause, aber das ging noch nicht.

»Wie weit bist du?«, fragte Danielle, nachdem Nathan im Bad verschwunden war.

Elli nahm die außergewöhnlich schönen Teller, die sie vor Jahren selbst gefertigt hatte, aus dem Schrank. Es waren ihrer ersten Erfolge von der Töpferscheibe. Sie liebte die zarten Ringe, die sich unter der Lackierung über die Oberfläche zogen, kombiniert mit dem gefleckten Türkis der Glasur. »Die letzten Stücke für die Gala mache ich am Wochenende fertig. Außerdem wollte ich noch ein paar Krüge lackieren, dann ist alles vorbereitet.«

»Die Leute werden deine Produkte lieben«, sagte Danielle mit einem warmen Lächeln und nahm eine Servierplatte aus dem Schrank. »Wie viele Anmeldungen hast du denn?«

Elli brachte die Teller zum Tisch und kam zurück für Besteck und Gläser. »Erst drei. Ein lokales Unternehmen und zwei Damen aus deiner Kirchgemeinde.«

»Das wird. In zwei Wochen kann noch viel passieren. Erinnere einfach über deinen Newsletter daran.« Danielle stellte die handgefertigte Servierplatte mittig auf den Tisch, der unweit des Tresens in der offenen Wohnküche stand. Die Platte hatte die Form einer Pizza mit gewölbtem Rand und der Andeutung von Pizzastücken im Inneren. Elli hatte sie kurz vor der Eröffnung ihres Onlineshops als Ansichtsexemplar gefertigt; seither war es ihr Verkaufsschlager, wenn man das trotz der bescheidenen Verkaufszahlen so nennen konnte.

»Ich hoffe wirklich, es kommen noch ein paar mehr Anmeldungen rein. Diese Gala ist meine Chance, mich bekannter zu machen und Geschäftspartner zu werben. Meine gesamten Ersparnisse stecken in dem Geschäft.«

»Eben. Mittlerweile kommt zumindest die Miete rein und du kannst erste Gewinne reinvestieren.«

»Das reicht aber lange nicht, um davon leben zu können.«

»Das wird schon.« Danielle schnitt zwei Äpfel auf.

Elli nahm eine getöpferte Schale aus dem Schrank und stellte sie neben das Schneidebrett. »Wenn ich ein paar gute Deals ernte, können wir endlich in eine eigene Wohnung ziehen. Es tut mir echt leid, dass du uns aushalten musst.«

Danielle hielt inne und legte das Messer beiseite. Sie drückte ihre Hände in Große-Schwester-Manier auf Ellis Schultern und sah sie ernst an. »Ihr wohnt so lange hier, wie es nötig ist.«

»Wir liegen euch schon ewig auf der Tasche. Seit der Scheidung kämpfe ich noch stärker um den Unterhalt. Wenn Cliff wenigstens zuverlässig zahlen würde, könnte ich mich häufiger an den Kosten beteiligen.«

Danielles Blick blieb ungebrochen ernst. »Es sind erst zwei Jahre und es dürfen noch einmal zwei werden, wenn es notwendig ist. Wir sind Familie. Wir halten zusammen.«

Ellis Hände zitterten. Sie wollte Danielle nicht auf der Tasche liegen, wünschte für ihre Kinder mehr als ein geteiltes Haus und für sich persönlich finanzielle Sicherheit. Der Laden musste endlich Gewinn abwerfen.

Zaghaft nickte sie und atmete dankbar durch, als Danielle von ihr ließ. Im Eilschritt brachte Elli die geschnittenen Äpfel zum Tisch, einfach um allein zu sein. Wieso war alles derartig verzwickt? Hätte Cliff sich nicht zusammenreißen und die Beziehung mit ihr zusammen retten können?

Mist! Cliff!

Sie zog das Handy aus der Hosentasche und suchte die Nummer im Telefonbuch heraus, als die Eingangstür aufschwang und Danielles Ehefrau Lindsey mit drei Pizzakartons beladen das Haus betrat.

»Warte!«, rief Elli, legte das Handy zur Seite und eilte zu ihr. »Ich nehme dir etwas ab.« Geschickt balancierte sie die heißen Kartons zum Tisch und legte von allen Sorten ein paar Stücke auf die Platte. Dann rief sie die Kinder, während Lindsey die Winterjacke abstreifte und aus den Stiefeln stieg.

Kurz darauf versank Lindsey in einem innigen Kuss mit Danielle, der Elli neidisch werden ließ. So liebevoll hatte Cliff sie in den letzten Jahren nicht geküsst – vielleicht auch noch nie. Arm in Arm verschlungen, standen Danielle und Lindsey vor der Küchentheke. Elli hatte wie jeden Tag alle Mühe, nicht hinzustarren wie ein kleines Kind, das lernen musste, wie es richtig ging.

Sie wandte sich verlegen ab und nahm Platz am Tisch. Kurz darauf saßen alle, und nach einem von angeregten Gesprächen begleiteten Abendessen waren die Pizzen und das Obst bis auf die letzten Krumen gegessen. Die Uhr zeigte weit nach 22 Uhr. Viel zu spät, selbst wenn morgen Wochenende war.

»Es ist Zeit fürs Bett«, mahnte Elli bemüht, ihre Stimme fest klingen zu lassen.

»Mom«, sagte Nathan. »Du hast uns gestern versprochen, dass wir heute noch vorgelesen bekommen.«

Verdammt! Das hatte sie getan, nachdem sie gestern bis in die späten Abendstunden Mails beantwortet und ihre Buchführung auf den aktuellen Stand gebracht hatte. Ihre Schultern sanken nach unten. »Da wusste ich noch nicht, dass sich der Abend ziehen würde.«

»Das ist unfair«, maulte Nathan.

Brooke nickte. »Dad hat auch immer etwas versprochen und es nie gehalten.«

Die Dad-Erpressertour. Elli spürte, wie ihr Widerstand innerhalb von Sekunden in sich zusammenfiel. Natürlich war das nicht wirklich vergleichbar mit Cliffs ständigen leeren Versprechungen, aber sie wollte sich nicht die Blöße geben, so zu sein wie er.

»Also gut. Was wollt ihr denn …«

»O Popelce«, grölte Nathan.

Brooke schüttelte entsetzt den Kopf. »Bloß nicht die alte Kamelle.«

»Das ist keine Kamelle«, sagte Nathan. »Das ist ein Erbstück von Uroma, und wir haben die Geschichte lange nicht gehört.«

Brooke pickte einen Pizzakrümel von ihrem Teller und schob ihn in den Mund. »Nein, keine Lust.«

Elli räumte die ersten Teller vom Tisch in der Hoffnung, die beiden mochten eine Einigung finden.

»Bitte Brooke«, bettelte Nathan.

»Was kriege ich«, entgegnete sie, »wenn wir deinen Vorschlag nehmen?«

»Ich bringe die nächsten Tage den Müll für dich raus.«

»Nö, zwei Wochen lang.«

Nathan verschränkte die Arme. »Niemals! Vier Tage!«

»Zehn«, hielt Brooke dagegen.

Nathans Augen wurden kleiner. »Na gut, fünf.«

»Sieben«, sagte Brooke. »Letztes Angebot.«

Nathan hielt einen Moment inne, dann streckte er Brooke die Hand entgegen. »Deal.«

Okay, das war nicht ganz die Einigung, an die Elli gedacht hatte, aber es war akzeptabel. Sie gab sich große Mühe, die aufkeimende Müdigkeit zu bekämpfen. Der Tag war zu lang gewesen, genau wie die letzten.

Danielle lächelte. »Such das Buch raus, Elli. Ich übernehme das Vorlesen.« Sie stand vom Tisch auf und sank mit einem Ächzen neben ihrer Frau in die Polster. Binnen weniger Herzschläge saß Nathan neben ihr. Brooke nahm im Schlurftempo neben Lindsey Platz.

Ihre Kinder wirkten gar nicht müde – im Gegensatz zu Elli. Sie könnte im Stehen einschlafen. Gott sei Dank war morgen Wochenende und sie musste nicht aus dem Haus.

Ergeben ging sie zum Regal, öffnete die Glasfront und zog das Buch hervor. Ein alter, mit Goldlettern verzierter Einband mit tschechischen Märchen. O Popelce war ihrer Urgroßmutter das liebste gewesen. Immer wenn Elli und Danielle sie besucht hatten, las sie es vor. Die gebürtige Tschechin war im Zweiten Weltkrieg in die USA geflüchtet mit nichts als diesem Buch unter dem Arm und ihrer Kleidung am Leib. Auf diese Weise beschrieb sie es stets. Deshalb hatte das Buch einen Ehrenplatz im Herzen der Familie und war nach dem frühen Tod ihrer Eltern an Elli und Danielle gewandert.

Elli trug es mit einem Lächeln zur Couch, wo Danielle es ebenso ehrfürchtig in ihren Schoß legte und vorsichtig öffnete. Dort, wo O Popelce in altmodischen Lettern verziert mit einem Haselzweig geschrieben stand, lagen handgeschriebene Blätter zwischen den Seiten. Die Übersetzung der Geschichte aus dem tschechischen Original.

Danielle begann mit ihrer angenehm tiefen Stimme zu lesen und Elli nahm neben Brooke Platz, um noch einen schönen Moment zwischen ihnen beiden zu schaffen.

»Ich hätte auch gern ein paar magische Haselnüsse«, sagte Nathan, den die Müdigkeit endlich einfing. Immer tiefer rutschte sein Kopf auf Danielles Schoß. Die Augen wurden kleiner, aber er kämpfte gegen den Schlaf.

»Die hätte ich auch gern«, seufzte Elli. An manchen Tagen fühlte sie sich wie Aschenputtel. Über hübsche Kleider oder die Liebe brauchte sie nicht nachzudenken, stattdessen klebte sie jeden Abend vor Dreck und Arbeit, die Hände ausgetrocknet, das Gesicht befleckt. Zum Glück hatte sie eine viel warmherzigere Familie, daran änderten nicht einmal die Dauerreibereien mit Brooke etwas.

»Vor mir Nebel, hinter mir Nebel, über mir die Sonne«, murmelte sie die Passage mit, die Danielle nun vorlas.

Ein paar Seiten später war das Happy End geschafft und die Uhr zeigte mittlerweile kurz vor Mitternacht. Deutlich zu spät.

Sie schälte sich von der Couch, bereit, Brooke und Nathan in ihre Zimmer zu schicken. »Das war eine absolute Ausnahme, ihr zwei«, sagte sie.

Die beiden warfen sich einen Blick zu, der sie an ihre eigene Kindheit mit Danielle erinnerte. Ehe Elli einen Ton sagen konnte, waren die beiden in ihren Zimmern verschwunden. Als sie ihnen folgen wollte, hielten Danielle und Lindsey sie jedoch zurück.

»Warte, wir haben noch eine Kleinigkeit für dich.«

Elli war kurz davor, aus Müdigkeit die Geduld zu verlieren, als Nathan und Brooke überraschend zurückkehrten. Ihr Sohn verbarg die Hände geheimnisvoll hinter dem Rücken. Da schwenkte die Wohnzimmeruhr auf Mitternacht und gab einen zarten Gong von sich.

»Happy Birthday to you!«, trällerte Lindsey los und die Kinder fielen in den Chor ein.

»Happy Birthday to you.« Ein vierstimmiger Reigen ergoss sich in Ellis Ohren.

»Happy Birthday dear Mom.« Diesmal war es Nathan, der besonders laut betonte, für wen das Lied bestimmt war.

»Happy Birthday to you.« Nathan kuschelte sich an sie und schlang die Arme fest um ihren Rücken.

Sie gab ihm einen Kuss auf den blonden Haarschopf. »Danke, Mäuschen.« Dann nahm sie Brooke in den Arm. »Danke auch dir.« Sie hauchte ihrer Tochter ebenfalls einen Kuss auf den Kopf, die das deutlich verhaltener entgegennahm.

»Übertreib es nicht, Mom.«

»Entschuldige. Ich wollte gebührend Danke sagen.«

Auch Danielle und Lindsey nahmen sie in eine feste Umarmung. »Herzlichen Glückwunsch, Schwesterlein. Möge es ein erlebnisreiches und erfolgreiches neues Jahr werden.«

»Danke.«

»Nun pack schon aus!«, rief Nathan und wedelte einen Umschlag vor Ellis Nase herum. Darauf prangte ein buntes Bild von hohen Häusern und einem Gefährt, das an eine Kutsche erinnerte.

»Was ist das?«

»Dein erstes Geschenk«, sagte Danielle.

Brooke nahm Nathan den Umschlag aus der Hand und drückte ihn Elli direkt in die Arme. »Öffne ihn.«

Elli setzte sich auf die Couch und öffnete das Kuvert. Darin fand sie einen Gutschein für …

»Seid ihr verrückt?«

Danielle grinste. »Nicht, dass ich wüsste.«

»Ihr könnt mir keinesfalls eure Reise nach New York schenken! Das war euer Gewinn aus der Woodbury-Weihnachts-Lotterie!« Ellis Finger schwitzten. In ihrem Kopf überschlug sich die Zeit, die dafür so kurz vor der Gala ins Land gehen würde. Die Anreise war bereits am Montag, die Abreise erst am Freitag.

Lindsey klopfte ihr auf die Schulter. »Du darfst dich bei einem glücklichen Zufall bedanken.«

Nathan hüpfte mit dem Po auf die Couchpolster. »Tante Danielle darf nicht mitfahren.«

Danielle nickte. »Eigentlich war alles safe, bis mein Chef letzte Woche den Urlaub wieder gestrichen hat. Ich habe mit ihm diskutiert, leider führte kein Weg vorbei.«

»Und nun soll ich deinen Platz einnehmen?«

Lindsey strich ihren dunkelbraunen Pony aus der Stirn. »Der Trip ist auf zwei Leute ausgelegt, und ich würde echt ungern allein fahre. Wenn du mitkommst, könntest du mal richtig durchatmen und eine Pause von dem Stress des letzten Jahres machen. Du hattest seit der Ladeneröffnung kaum frei.«

»Ja, aber fünf Tage?«

»Ich halte hier die Stellung«, versprach Danielle und nickte heftig. »Das Geschäft kommt ein paar Tage ohne dich aus, und an zwei Nachmittagen könnte ich für zwei oder drei Stunden öffnen. Dann ist es nicht ganz geschlossen. Was denkst du?«

Elli war hin- und hergerissen. »Aber klappt das denn? Die Kids sollen Montag Nachmittag zu ihrem Vater.«

»Der sagt bestimmt eh noch ab«, maulte Brooke. »Wie immer.«

»Dein Vater hat es dieses Mal fest versprochen.«

»Und die letzten drei Male auch. Mom, wann kapierst du es endlich? Er denkt nur an sich. Wenn sich Dad meldet, dann nicht, weil er sich für uns interessiert.«

»Aber er will uns doch wieder sehen«, sagte Nathan, »stimmt’s Mom?«

»Träum weiter!« Brooke rauschte davon, die Treppe hinunter in das Kellergeschoss und kurz darauf knallte ihre Zimmertür.

Elli durchzuckte ein Stich. Es tat ihr leid, dass Brooke keine Lust auf Cliff hatte. Bedauerlicherweise hatte er sich die kommende Woche mit den Kindern auf derart unterirdische Weise richterlich erstritten, dass sie wenig dagegen machen konnte, außer die Kinder zu animieren, es mit ihrem Dad zu versuchen.

»Ich will zu Dad«, warf Nathan dazwischen. »Wir waren ewig nicht mehr bei ihm oder er bei uns. Wieso meldet er sich nicht?«

Elli holte tief Luft. »Weil er …« Sie blies die angehaltene Luft aus ihren Lungen. »Weil er Versprechen nicht gut halten kann.«

»Und wenn es mir bei Dad nicht gefällt?«

Elli zog Nathan enger zu sich heran. »Dann komme ich persönlich aus New York zurück und hole dich ab.«

Nathan nickte und erhob sich träge. Die Augen fielen fast von allein zu. »Gute Nacht, Mom.«

»Gute Nacht, mein Engel. Schlaf gut.«

Danielle strich ihr über den Rücken. »Ich fahre die beiden Montag nach der Arbeit hin. Wir schaffen das.«

»Das geht mir zu schnell, Danielle. Kann ich eine Nacht darüber schlafen?«

»Wieso?« Danielle musterte sie aus dem gleichen blauen Augenpaar, das sie von ihrem eigenen Spiegelbild kannte.

»Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn die Kinder zu Cliff sollen und ich so weit weg bin.«

Danielle drückte sie an sich, wie sie es früher immer getan hatte, wenn es Elli nicht gut ging. Ihr Trost strahlte tief. »Du fährst nur bis nach New York. Schlaf eine Nacht drüber, Schwesterherz, und morgen sagst du zu.«

Elli nickte und löste sich aus der Umarmung. In ihrem Bett angekommen, zog die Müdigkeit sie innerhalb von Sekunden in die Matratze hinein.

***

Ein Handyklingeln riss Elli ihrem Gefühl nach viel zu zeitig wieder aus dem Schlaf. Ihr Smartphone vibrierte lautstark und spielte die nervige Melodie, die sie vor Cliff warnte. Samstag, kurz nach halb neun. Was zum Teufel wollte er jetzt? Sie versuchte, es zu ignorieren und weiterzuschlafen. Dann fiel ihr ein, dass sie längst hatte zurückrufen wollen. Mist!

»Ja?«, meldete sie sich mit müder, verkratzter Stimme.

»Danke fürs Rangehen«, sagte Cliff mit vorwurfsvollem Tonfall.

»Es tut mir leid. Ich war zu eingespannt gestern Abend.«

»Ach wirklich? Die Kinder sind mittlerweile alt genug. Das macht bestimmt kaum noch Arbeit.«

»Das erzählst ausgerechnet du mir?« Ellis Müdigkeit war umgehend wie weggeblasen. Was bildete Cliff sich ein?

»Werd nicht gleich ausfallend, Elli. Bleib locker.«

»Ich bin locker, Cliff. So locker, wie man am eigenen Geburtstag sein kann.«

»Hör zu, ich muss dringend mit dir reden.«

Elli schluckte ihre Enttäuschung darüber, dass er nicht einmal zu einer höflichen Gratulation angesetzt hatte, hinunter. Das war einfach nicht zu erwarten. »Du hast zwei Minuten, Cliff.«

Sie hörte, wie er sich am anderen Ende räusperte. »Ich kann die Kinder nicht zu mir nehmen.«

Elli glaubte, sich verhört zu haben. »Sag das noch einmal«, hauchte sie in den Hörer.

»Ich kann die Kinder nicht nehmen.«

»Ist das dein Ernst?«

»Ja«, antwortete er kleinlaut. »Mein Chef schickt mich zu einem wichtigen Meeting nach Chicago. Ich kann wirklich nichts dafür.«

Elli bebte. »Du kannst nie etwas dafür! Was soll ich denn Nathan sagen?«

»Sag ihm, dass ich mich auf unsere nächste Chance freue.«

»Und wann soll das sein?«

»Das klären wir danach. Ich muss los, tschüss.«

Die Leitung knackte und das Telefonat endete.

Elli sank mit dem Kopf zurück auf ihr Kopfkissen und schloss die Augen. Draußen stand die Wintersonne flach über dem Horizont, der Nachbarhund bellte und aus der Küche drang das Klappern von Porzellan an ihr Ohr.

Bestimmt bereiteten alle fleißig das Geburtstagsfrühstück vor. Elli musste gute Miene zum bösen Spiel machen, so lange wie irgend möglich. Sie wusste jetzt schon, wie es lief: Brooke würde Luftsprünge machen, Nathan weinen und der New York-Trip, zu dem sie sich innerlich durchgerungen hatte, war Geschichte.

Happy Birthday to me.

***

Elli sah auf ihre Geschenke, die sie am Frühstückstisch unter neugierigen Blicken ausgepackt hatte. Ihre Hände zitterten, während sie den Fotorahmen mit einem Bild von sich und den Kindern besonders ausgiebig betrachtete, nur um mit der Wahrheit über Cliff nicht rausrücken zu müssen. Irgendwann konnte sie es nicht mehr zurückhalten.

Mit einem kräftigen Seufzer lehnte sie sich nach hinten und sah ihre Kinder an. »Ich muss euch etwas sagen. Euer Dad hat mich vorhin angerufen und … die gemeinsame Woche mit euch abgesagt.«

»Ich wusste es!«, rief Brooke aus und rollte mit den Augen, während Nathans Gesicht in sich zusammenfiel. Im Gegensatz zu seiner Schwester sehnte er sich nach seinem Vater und hatte noch immer nicht verstanden, weshalb er ständig versetzt wurde und dass das nichts mit ihm persönlich zu tun hatte.

»Bin ich froh«, setzte Brooke nach, »dass wir da nicht hinmüssen.«

Nathan kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen. »Ich bin nicht froh!« Er legte sein dickbeschmiertes Schokoladenbrot zurück auf den Teller. Die Kinderlippen des Neunjährigen bebten.

Elli strich ihrem Sohn zärtlich über den Rücken. Wie immer fand sie kaum Zeit, selbst auf Cliff sauer zu sein. »Ich bleibe einfach bei euch«, sagte sie.

Nathan schüttelte den Kopf zeitgleich mit Lindsey. »Das kommt nicht infrage«, sagte die Frau ihrer Schwester und reichte Nathan seine Tasse heißen Kakao. »Du fährst schön nach New York und atmest ein bisschen frische Luft.«

»Aber …«

»Kein Aber«, fuhr Lindsey bestimmt dazwischen. »Ich verzichte gern und bleibe mit den Kindern hier. Wir machen uns ein paar richtig schöne Tage.« Sie zwinkerte Nathan zu, der sich ein tapferes Nicken abrang und die Nase im Ärmel säuberte.

»Mit Chips vorm Fernseher.«

»Natürlich mit Chips vor dem Fernseher. Und Popcorn.«

Das entlockte ihm ein Lächeln. »Müssen wir trotzdem in die Schule?«

»Natürlich«, blaffte Brooke von der Seite. »Das hätten wir auch bei Dad gemusst.«

Elli streichelte Nathan über den Kopf. »Mäuschen, die Schule lasst ihr auf keinen Fall ausfallen. Aber wenn ich nächstes Wochenende zurück bin, machen wir es uns noch mal richtig gemütlich, ok?«

»Na gut.«

Gemeinsam räumten sie ab. Als die Kinder danach in ihren Zimmern verschwunden waren, nahm Elli Lindsey und Danielle noch einmal zur Seite. »Ihr seid sicher, dass ich das machen darf? Ich fühle mich, als würde ich euch die New-York-Reise wegnehmen.«

»Tust du nicht«, sagte Danielle. »Wir haben sie dir nämlich geschenkt. Sie gehört dir.«

»Vielleicht habe ich keine Lust, allein zu fahren?«

»Klar hast du die. Du bist nicht der Typ, der sich abends noch ewig unterhalten will. Genieß die Ruhe. Die hast du ohnehin zu selten.«

Elli drückte Danielle und Lindsey erleichtert an sich. »Danke.«

Endlich fand sie in einen entspannten Zustand zurück. Der restliche Tag verging wie im Flug, ebenso der erste Adventssonntag.

Ehe sie richtig darüber nachdenken konnte, stand sie am Montagmorgen mit gepackten Taschen im Haus und verabschiedete sich von Nathan und Brooke, die in die Schule mussten.

Brooke krampfte die Finger um die Träger ihres Rucksacks, die Kapuze tief in die Stirn gezogen. »Hey Mom, versprich mir, dass du nicht an deinem schlechten Gewissen stirbst.«

Elli lachte und unterdrückte damit erfolgreich einen aufkommenden Schluchzer. »Ich fürchte, das kann ich nicht, aber ich gebe mein Bestes. Passt gut auf den Laden auf.«

»Das machen wir«, sagte Nathan. »Ich zeige den Leuten alles, während Tante Lindsey die Kasse hütet.«

Tränen sammelten sich in Ellis Augen. »Ich bin stolz auf euch.«

»Komm jetzt«, sagte Brooke und zog ihren jüngeren Bruder mit sich zur Tür hinaus. »Bevor Mom noch eine Riesenszene daraus macht.«

Als die Tür zufiel, sah Elli ihre Schwester an. »Ich weiß nicht, ob ich das kann.«

»Nun krieg dich wieder ein. Wie oft willst du das noch sagen? Verzichte zur Abwechslung wirklich auf dein schlechtes Gewissen und genieß die Auszeit.« Danielle zog sie in eine feste Abschiedsumarmung. »Vielleicht hält New York ja ein Wunder für dich bereit.«

»Schön wäre es«, sagte Elli leise und lächelte.

»Wunder passieren denen, die daran glauben.« Danielle zwinkerte ihr zu, schwang die Jacke über und griff ihre Aktentasche. Dann verschwand sie ebenso nach draußen.

Lindsey hingegen schnappte die Autoschlüssel und nahm Ellis Koffer mit sich. »Bevor du es dir anders überlegst«, flötete sie und trug ihn hinaus zu ihrem Wagen.

Elli entschied, das schlechte Gewissen zu vergraben; ganz tief und ohne jede Rückkehrchance. Sie hatte sich diese Auszeit verdient und dankte Lindsey und Danielle von ganzem Herzen für die Unterstützung. Ihre Familie war ein Goldstück. Auf sie war Verlass. Sie hielt inne: Dass Cliff abgesagt hatte, machte es ihr unterm Strich leichter, Nathan und Brooke zurückzulassen.

Den Laptop hatte sie dabei, über die Homepage und ein Schild an der Ladentür war die Kundschaft über die eingeschränkten Öffnungszeiten in der kommenden Woche informiert; die Galaanmeldungen liefen ohnehin per Mail und die letzten Werkstücke hatte sie gestern noch fertiggestellt. Ihre Auszeit lag also in trockenen Tüchern.

Mit aufkeimender Vorfreude stieg sie zu Lindsey ins Auto und fuhr mit ihr zum Bahnhof.