Leseprobe Die Verführung der Miss Remington

Prolog

London, Oktober 1820

Den Anfang machte ein Spitzentaschentuch mit einem eingestickten ›R‹ als Monogramm, dem ein Hauch von Moschus und Rosen entströmte; ein Duft, den Decker sein ganzes Leben lang nicht vergessen würde. Sein erster Versuch, etwas zu stehlen.

»Hier, Junge! Gib dir Mühe und zieh es mir aus der Tasche.« Der Trick dabei war natürlich, dies unbemerkt zu tun. Kein einfaches Unterfangen unter den Blicken zweier Augenpaare, die jede seiner Bewegungen genau verfolgten, und nahezu unmöglich, wenn man bedachte, dass Decker Thorne erst vier Jahre alt war.

»Er ist nervös, chéri.« Diese Bemerkung in leicht französischem Akzent machte eine junge Frau, in deren blauen Augen Güte und Besorgnis zu lesen waren. »Außerdem schaukelt die Kutsche so stark. Wie soll er das schaffen?«

Als die schlecht gefederte Kutsche an einem Milchkarren vorbeirumpelte, wurde Decker nach vorn zwischen den Mann und die Frau geschleudert, die ihn wieder auf seinen Platz setzten. Doch gleich darauf holperten die Räder über einen Wurzelstock und der Kleine wurde erneut beinahe aus seinem Sitz geworfen. Er stemmte die kräftigen Beinchen in die Lederpolster, um nicht auf dem Boden der Kutsche zu landen, und erhaschte einen letzten Blick auf Cunningtons Arbeitshaus für Findlinge und Waisenkinder, ehe die Kutsche um eine Straßenbiegung fuhr.

Decker konnte den Namen von Londons alteingesessenem Kinderheim zwar nicht lesen, wusste aber, dass er die letzten vier Monate seit dem Tod seiner Eltern dort verbracht hatte. Er setzte sich wieder aufrecht hin und betrachtete das ihm gegenüber sitzende Paar mit unverhohlen neugierigen Blicken, wie es nur kleine Kindern fertigbringen.

»Seid ihr jetzt meine Eltern?«, fragte er frei heraus.

Die Frage rief Verblüffung hervor. Die Frau blinzelte und der Mann hüstelte. Für den Augenblick war das Taschentuch vergessen. Die beiden wechselten verlegene Blicke. So weit hatten sie nicht gedacht, als sie bei Mr. Cunnington um einen seiner Schutzbefohlenen nachfragten. Sie hatten sich als Missionarsehepaar ausgegeben, um den Heimleiter wohlwollend zu stimmen, was, wie sich schnell herausstellte, gar nicht nötig gewesen wäre. Cunnington hatte großen Eifer an den Tag gelegt, einen passenden Jungen für sie zu finden, und wäre noch zufriedener gewesen, wenn das Paar Deckers älteren Bruder auch noch mitgenommen hätte.

Doch das war nicht möglich. Bevor sie das Waisenhaus aufgesucht hatten, waren sie sich einig darüber, dass ein sorgfältig ausgebildetes Kind Nutzen bringen würde. Ein zweiter Esser mehr hätte sich einfach nicht gelohnt. Womit sie nicht gerechnet hatten, war die Tatsache, dass die Rettung eines Kindes aus Cunningtons Arbeitshaus – und einer Rettung kam die Aktion gleich – auch gewisse Forderungen an sie stellte, wenn schon nicht nach eigenem Dafürhalten, so doch in den Augen dieses Kindes.

Der Knabe sah die Erwachsenen weiterhin unverwandt mit diesem offenen, erwartungsvollen Gesicht an. Sein kleiner Mund war ein wenig geschürzt und gab ihm das Aussehen eines Barockengels, ein Eindruck, der allerdings durch seine ernsten, beinahe weisen blauen Augen wieder wettgemacht wurde.

Die Frau sprach zuerst. »Nun, Eltern nicht gerade«, meinte sie. »Aber deine Familie.«

»Ja«, ergänzte der Mann. »Ganz sicher deine Familie.«

Decker überlegte. Der Unterschied war ihm zwar nicht ganz klar, schien ihn aber einigermaßen zufriedenzustellen. »Einverstanden«, sagte er feierlich.

Der Ernst des Vierjährigen ging der Frau ans Herz. In ihren blauen Augen glitzerten Tränen, die sie heftig zurückblinzelte.

Beim Anblick ihrer Tränen wollte der Mann nach seinem Taschentuch greifen. Der spitzenbesetzte Rand des Tüchleins lugte nicht mehr aus seiner Rocktasche, er grub tiefer und zog die leere Hand wieder heraus.

Und das Paar wurde zum ersten Mal Zeuge von Deckers Lausbubengrinsen und seinem glucksenden Lachen, dem niemand zu widerstehen vermochte. Auch Jimmy Grooms und Marie Thibodeaux konnten sich der reinen, kindlichen Freude nicht entziehen. Decker Thorne stahl ihre Herzen ebenso mühelos, wie er Jimmys Taschentuch gestohlen hatte, das jetzt von seinen feisten, kleinen Fingern baumelte, die er Marie entgegenstreckte.

»Charmantes Kind«, bemerkte Marie lächelnd und nahm das Taschentuch an sich.

Jimmy dachte nicht anders. Sie hatten eine gute Wahl getroffen. Er tätschelte Maries Knie, die sich anmutig die Augen betupfte. »Das hast du gut gemacht, Junge«, meinte er. Aus Jimmy Grooms Mund, der die Kunst des Taschendiebstahls seit seinem achten Lebensjahr beherrschte, war das ein hohes Lob. »Wann hast du …« Er stockte, als die Kutsche plötzlich langsamer fuhr und Decker erneut aus seinem Sitz geschleudert wurde. Jimmy fing ihn auf und setzte ihn sich aufs Knie. »Das war also der Trick, wie?«, meinte er anerkennend. »Du hast es mir aus der Tasche gezogen, als du vorhin vom Sitz geschleudert wurdest. Braver Junge. Ablenkung ist alles bei unserem Handwerk. Das hast du schnell kapiert. Hab ich Recht, Marie?«

Marie schob das Taschentuch in ihren Ärmel und streckte die Arme nach Decker aus, der sich bereitwillig an sie schmiegte. »Ein hübscher Junge«, murmelte sie an seinem Scheitel. Ihr Atem wehte seidige Strähnchen seines dunklen Haares auf, die ihre Lippen kitzelten. »Ein schönes Kind. Das ist er.«

Marie Thibodeaux hatte sich nie Gedanken über ihre Rolle als Mutter gemacht, doch plötzlich befiel sie das überwältigende Bedürfnis, dieses Kind zu beschützen und zu umsorgen. Als Älteste von fünf Kindern hatte sie ihre Geschwister beinahe alleine großgezogen, doch nie zuvor war eine so liebevolle Gefühlsaufwallung in ihr gewesen. Brüder und Schwestern waren ihrer Obhut überlassen, während die Eltern gemeinsam in der Schänke arbeiteten, die sie gepachtet hatten. Und als Marie in den Gassen von Paris mehr Nutzen brachte und als Ersatzmutter ausgedient hatte, wurde sie ebenso selbstverständlich verkauft wie ein Fass Wein, vielleicht mit weniger Bedauern.

Jimmy Grooms hatte sie schließlich von der Straße weggeholt. Bei einem Aufenthalt in Calais, wo er sein Handwerk während eines Sommerfestes ausübte, fiel sie ihm ins Auge. Er stahl zwei Elfenbeinkämme als Köder für ihren Zuhälter. Die beiden verließen noch am gleichen Abend Frankreich. In der für Jimmy Grooms typischen Art schlichen sie sich heimlich an Bord eines Handelsschiffes, das den Kanal überquerte. Marie hatte keine Ahnung, wohin der junge Engländer sie bringen würde, sie wusste nur, woher sie kam, daher fiel ihr die Wahl nicht schwer, sich mit Jimmy Grooms zusammenzutun. In den elf Jahren, die sie nun zusammen waren, hatte er ihr nie Anlass gegeben, diesen Schritt zu bereuen. Maries Vertrauen in Jimmy war grenzenlos.

Und nun hatte er ihr dieses Kind geschenkt. Würde Jimmy ihr jetzt wieder einen Heiratsantrag machen, wäre Marie Thibodeaux bereit gewesen, ihn anzunehmen.

»Wie soll ich euch nennen?«, fragte Decker und hob den Kopf von Maries Busen. Wieder tauschte das Paar fragende Blicke. Auch daran hatten sie nicht gedacht.

Jimmy Grooms rieb sich das Kinn und verzog den Mund. »Tja, das ist eine knifflige Sache«, meinte er nachdenklich. »Onkel Jimmy klingt eigentlich ganz nett. Was denkst du, Liebes? Onkel Jimmy … Tante Marie? Immerhin soll der Junge zur Familie gehören.«

»Onkel Jimmy«, wiederholte sie leise. »Ja, das gefällt mir.« Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Aber mich soll er Mère nennen.«

Jimmy zog die Brauen hoch. Er hörte auf, sich am Kinn zu kratzen, und studierte ihr Gesicht. Marie war nicht eigentlich schön zu nennen, aber sie hatte ein freundliches Lächeln und eine liebenswürdige, besonnene Art, die äußere Schönheit unwichtig erscheinen ließen. »Mère«, wiederholte er in seinem tiefen, melodischen Bariton. »Mutter. Die Leute und auch der Junge werden es für die Kurzform von Marie halten. Wer sollte schon wissen, dass es Mutter bedeutet?«

»Ich weiß es.«

Er begriff, wie wichtig ihr das war, und es war nicht Jimmys Art, Marie etwas abzuschlagen. »Gut, dann soll es Mère sein.« Jimmy gab Decker einen sanften Nasenstüber. »Hast du gehört, Junge? Von jetzt an sind wir Onkel Jimmy und Mère für dich.«

Der Augenblick war für Decker offenbar weniger bedeutungsvoll als für die beiden Erwachsenen. Er nickte nur zerstreut, da seine Gedanken sich längst mit wichtigeren Dingen beschäftigten. »Gehen wir bald auf das Schiff?« Er begann unruhig in Maries Armen zu zappeln, die ihn losließ, worauf er mit bemerkenswerter Geschicklichkeit auf die andere Sitzbank kletterte und sich ans offene Fenster kniete. »Wo ist das Schiff?«

Jimmy warf Marie einen ratlosen Blick zu. »Was meint er, Liebes?«

»Er fragt nach dem Schiff«, erklärte sie geduldig.

»Das habe ich kapiert. Aber welches Schiff?«

»Sein Gedächtnis ist offenbar besser als das deine, chéri. Weißt du nicht mehr, dass du Mr. Cunnington erzählt hast, wir hätten eine Schiffsreise vor? Wir haben uns doch so viel Mühe gegeben, den Heimleiter davon zu überzeugen, dass wir London für lange Zeit verlassen, um das Wort des Herrn zu verkünden.«

»Ach das.« Jimmy schmunzelte. »Wir sollten es dir am besten gleich sagen, mein Junge: Wir haben geflunkert. Es ist traurig, aber wahr: Wir haben das Blaue vom Himmel herunter gelogen.«

Damit hatte er Deckers ungeteilte Aufmerksamkeit gewonnen. »Meine Mama sagt, ich darf nicht lügen. Ich glaube; Papa hat das auch gesagt. Ich bin mir nicht ganz sicher.« Er furchte die Stirn in kindlichem Ernst und dachte angestrengt nach, ob sein Vater ihn je wegen einer Lüge getadelt hatte. »Ja. Einmal habe ich gesagt, Grey hat sich auf Papas Hut gesetzt und ihn zerdrückt. Das war falsch.«

»Tatsächlich?«, meinte Jimmy.

»Ja, Sir. Ich hätte sagen müssen, dass Colin sich auf den Hut gesetzt hat.«

Marie verbarg ihr Lächeln hinter vorgehaltener Hand. Als sie die Frage mit dem nötigen Ernst formulieren konnte, sagte sie: »Und warum hast du gelogen?« Decker schaute sie an, als habe sie Watte in den Ohren. Für ihn war die Antwort sonnenklar. »Weil Grey ein Baby ist und Colin ein großer Junge.«

»Verstehe«, nickte Marie und warf Jimmy einen vielsagenden Blick zu. »Er scheint der Ansicht zu sein, lügen sei ganz in Ordnung, man darf sich nur nicht dumm anstellen.«

»Ein bemerkenswert schlauer Junge. Ich war wesentlich älter, als mir die Wahrheit über die Lüge klar wurde.« Er lachte amüsiert in sich hinein. »Die Wahrheit über die Lüge. Zum Teufel, das hat etwas.«

»Kein Grund zu fluchen, chéri.« Marie achtete nicht auf Jimmys verdutzten Blick, beugte sich vor und sah Decker in die Augen. »Wir besteigen kein Schiff. Vielleicht später einmal. Onkel Jimmy möchte Amerika kennenlernen.« Und mit einem Seitenblick zu ihrem Gefährten fügte sie hinzu: »Vorausgesetzt, man schickt ihn vorher nicht in Van Diemens Land.«

»Nun hör sich einer das an«, mischte Jimmy sich ein. »Kein Grund, über Van Diemen zu reden. Willst du dem Jungen etwa Angst einjagen?« Doch ein Blick zu Decker genügte, um zu wissen, dass der Kleine Maries Bemerkung über die australische Strafkolonie nicht verstanden hatte. Das Kind lauschte nur hingerissen Maries weicher Stimme.

»Ist Grey dein Bruder?«, fragte Marie.

Decker nickte.

»Und Colin?«

Decker nickte erneut und schaute aufmerksam aus dem Fenster, als könne er seinen Bruder unter den Passanten entdecken. Er schob die Unterlippe vor und zog die Mundwinkel nach unten, als er das vertraute Gesicht nicht in der Menge entdecken konnte.

Marie lehnte sich in die Polster zurück. »Ich glaube, er begreift nicht, dass er seine Brüder nicht wiedersehen wird«, flüsterte sie. »Ich wünschte …« Sie formulierte den Gedanken nicht zu Ende. Wie grausam von dem Heimleiter, Decker und seinen älteren Bruder zur Inspektion vorgeführt zu haben. Jimmy hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er nur ein Kind nehmen konnte. Mr. Cunnington aber wollte offensichtlich auch den anderen Jungen loswerden und Marie kannte den Grund. Colin hatte einen kränklichen Eindruck gemacht, als leide er an Schwindsucht. Sie zweifelte daran, ob der Junge, der nicht älter als acht oder neun sein konnte, das Jahr überleben würde. Nein, es wäre ihr und Jimmy nicht möglich gewesen, ihn auch noch zu nehmen, obgleich sie einen Moment im Waisenhaus beinahe der Versuchung erlegen wäre, es dennoch zu tun. »Was ist aus dem Baby geworden?«, fragte sie leise. »Hat Mr. Cunnington es erwähnt?«

»Nur, dass der Säugling bereits abgeholt wurde. Ich glaube, er nannte ihn Greydon.« Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Deckers Kopf zu ihnen herumfuhr, als er den Namen hörte. Da Jimmy nicht weiterredete, wandte Decker sich wieder dem Fenster zu. »Ich scheine den Namen richtig in Erinnerung behalten zu haben«, meinte Jimmy schließlich. »Ein amerikanisches Ehepaar hat ihn mitgenommen. Sie hatten offenbar vor, ihn als ihr eigenes Kind auszugeben. Deshalb haben sie den Knirps und seinen halb verhungerten Bruder abgelehnt.«

»Halb verhungert?« Maries Magen krampfte sich zusammen, ihre Augen verdunkelten sich bekümmert, als sie Decker von Kopf bis Fuß musterte. Er war ein kräftiges, kleines Kerlchen mit dicken Armen und Beinen und ein wenig Babyspeck auf dem Bäuchlein. Dieses Kind hatte nicht Hunger gelitten. Wieso sein Bruder? »Ich hielt Colin für schwindsüchtig.«

Jimmy Grooms schüttelte den Kopf. »Er litt Hunger«, antwortete er leise. »Ich kenne diesen Blick. Ich habe diesen Blick gespürt. Er war so hungrig, dass er seine eigenen Eingeweide aufgegessen hätte.«

»Mon Dieu«, entfuhr es Marie. »Das wusste ich nicht.«

Jimmy bedauerte, es ihr gesagt zu haben. Dadurch würden sich ihre Gewissensbisse, den älteren Jungen zurückgelassen zu haben, nur verstärken. »Wie solltest du auch? Verhungern ist ebenso schlimm wie Schwindsucht. Ebenso tödlich.« Er legte den Arm um sie. »Hör zu, Marie. Wir haben dem Jungen einen großen Gefallen getan, den Kleinen mitzunehmen.«

Marie sah ihn verständnislos an. »Wie meinst du das?«

»Wieso sieht der Kleine so rund und rosig aus? Was meinst du? Hast du noch ein Kind in dem grässlichen Waisenhaus gesehen, das so gesund ausgesehen hat? Sicher irre ich mich nicht, wenn ich dir sage, dass der Bruder dem Kleinen sein Essen zukommen ließ. Da er jetzt bei uns ist, kann Colin nun seine Mahlzeiten selbst essen.«

Decker blickte aus dem Fenster. Mit einer Klugheit, die nichts mit seinem kindlichen Alter zu tun hatte, doch sehr viel mit seiner Erziehung, schwieg er. Mehr noch, er gab vor, nichts von der Unterhaltung gehört zu haben. Er presste eine Hand auf die Tasche seines schwarzen Mantels. Durch den Wollstoff spürte er Colins Abschiedsgeschenk. Decker ahnte noch nicht, was es war. Er war zu aufgeregt und verängstigt, um es anzusehen, als Colin es ihm in die Tasche geschoben hatte. Anfangs hatte er auf etwas zum Essen getippt. Colin hatte ihm immer etwas zugesteckt. Nun aber ahnte er, dass das Geschenk nichts mit Essen zu tun hatte.

Zum ersten Mal war er froh darüber.

Er blinzelte heftig, um die Tränen zurückzudrängen. Sein Kinn bebte leicht. Er hatte nicht geweint, als seine Eltern starben, und später auch nicht. Colin hatte ihm verboten zu weinen, doch das war nicht der eigentliche Grund. Seine Angst war zu groß, um zu weinen. Die Angst gab ihm ebenso viel Kraft, sich nichts anmerken zu lassen, wie der strenge Blick des älteren Bruders.

»Was hast du denn da?«, fragte Jimmy Grooms.

Decker nahm erschrocken die Hand von der Manteltasche. Er sah Jimmy mit Unschuldsmiene an, wenn auch mit dem Anflug eines schlechten Gewissens. »Nichts.«

»Das ist eine faustdicke Lüge«, wies Jimmy ihn zurecht und zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Sei's drum. Irgendwo muss man ja anfangen.« Er streckte die Hand aus. »Zeig mir, was du in der Tasche hast.«

»Lass ihn zufrieden«, lenkte Marie sanft ein. »Und du solltest ihn bei seinem Namen nennen. Er kann nicht immer ›der Junge‹ bleiben.«

Im zweiten Punkt zeigte Jimmy sich kompromissbereit, nicht aber im ersten. »Na schön, Decker. Lass mich sehen, was du in deiner Tasche versteckst.« Diesmal streckte Jimmy ihm nicht die Hand entgegen, sondern kitzelte Decker, bis der Kleine vor Lachen quietschte. Das fröhliche Kinderlachen begleitete das Klappern der Hufe und Rattern der Räder wie eine heitere Melodie. Als Decker wieder atemlos auf seiner Bank saß, grinste Jimmy breit und in Maries Augen glänzten Freudentränen.

Jimmy Grooms hielt den kleinen Gegenstand hoch, den Decker noch vor wenigen Minuten sorgsam versteckt gehalten hatte. Der Kleine wollte danach greifen, doch Jimmy zog rasch die Hand zurück. »Siehst du, so funktioniert das mit dem Ablenkungsmanöver«, meinte er mit einem Anflug von Selbstgefälligkeit.

»Aber chéri«, tadelte Marie ihn sanft. »Wie kannst du nur stolz darauf sein, ein Kind auszutricksen? Wie unfair.«

Jimmy wurde ernst. »Du hast Recht.«

»Das gehört mir!«, erklärte Decker mit lauter Stimme und versetzte die beiden Erwachsenen mit seiner Aufmüpfigkeit in Erstaunen. »Meins.«

Jimmy schloss die Faust um den Gegenstand und blickte Decker unverwandt in die Augen. »Ja, es gehört dir. In ein paar Minuten.« Als Decker sich schmollend in die hinterste Ecke der Bank verkroch, öffnete Jimmy die Faust, um seine Beute näher zu betrachten.

»Ein Ohrring«, rief Marie atemlos.

»Tatsächlich«, murmelte Jimmy. Und was für ein Ohrring. Er hielt ein kostbares Juwel in der Hand, ein Ohrgehänge mit einer großen Perle, von der ein goldener Tropfen hing, in den die Buchstaben ›ER‹ eingraviert waren. Die Perle selbst war mit einer goldenen Krone gefasst. Jimmy gab einen leisen Pfeifton von sich. »Weißt du, was das bedeutet, Marie? Damit können wir um die ganze Welt reisen.«

»Wahrscheinlich gleich in Van Diemens Land«, versetzte sie trocken. »Woher hast du das, Decker?«

Decker zuckte die Achseln.

Marie bemühte sich, ihre eigene Angst zu überspielen, und fuhr beschwichtigend fort: »Hab keine Angst. Ich bin sicher, du hast nichts Schlechtes getan, aber Onkel Jimmy und ich müssen wissen, woher du das hast.«

Jimmy Grooms wusste nicht recht, ob es ihm gefiel, von Marie Onkel genannt zu werden. Ehe er Gelegenheit hatte, eine diesbezügliche Bemerkung loszuwerden, wiederholte Marie ihre Frage. »Colin hat es mir geschenkt«, antwortete Decker wahrheitsgetreu, wenn auch zögernd. Und deshalb wurde ihm kein Glauben geschenkt.

»Colin? Dein Bruder hat dir das geschenkt?«, wiederholte Marie, nur um sich zu vergewissern.

Decker nickte.

»Woher hat er es denn?«

Decker zuckte die Achseln.

»Das ist keine Antwort, Junge«, wies Jimmy ihn zurecht. »Hat er es gestohlen?«

»Nein.« Decker war sich seiner Antwort ganz sicher. Er erkannte den Ohrring, da er ihn schon einmal gesehen hatte, wenn er sich auch nicht an die Umstände erinnern konnte.

Maries Stimme wurde noch sanfter. »Glaubst du, er hat ihn irgendwo gefunden? Vielleicht im Waisenhaus?«

Diesmal gab Decker gar keine Antwort mehr. Er starrte vor sich hin und presste die Lippen aufeinander, als wolle er um jeden Preis verhindern, dass ihm ein Geheimnis entschlüpfte.

Nach langem Schweigen seufzte Marie. »Gib ihm den Ohrring zurück, chéri.«

»Und wenn er den Cunningtons gehört?«, fragte Jimmy. Daran hatte auch Marie beim ersten Anblick des Schmuckstücks gedacht. Die beiden durften auf keinen Fall riskieren, dass der Heimleiter und seine Frau ihnen die Polizei auf den Hals hetzten.

Marie nahm Jimmy den Ohrring ab und hielt ihn Decker hin. Er griff danach und steckte ihn hastig wieder in seine Manteltasche. »Denkst du wirklich, die Cunningtons besitzen ein so kostbares Schmuckstück? Falls dies der Fall wäre, hätten sie nichts anderes damit gemacht als wir.«

Jimmy zog eine zimtfarbene Braue hoch. »Und das wäre?«

»Verkaufen, chéri.« Sie hob einen Finger, um ihn am Reden zu hindern, als sie Hoffnung in seinen Augen aufleuchten sah. »Das würden wir tun, wenn der Schmuck uns gehören würde. Aber er gehört uns nicht. Er gehört Decker. Davon bin ich fest überzeugt, auch wenn du Zweifel daran hast.«

Marie Thibodeaux kuschelte sich an Jimmy. »Wenn das sein Glücksbringer ist, dann ist er auch unserer. Wir gehen guten Zeiten entgegen, du wirst sehen.«

Damit musste Jimmy sich zufriedengeben. Er bezweifelte, dass der Junge den Ohrring je wieder freiwillig herausrücken würde. Und Marie würde Jimmy nie verzeihen, wenn er ihn heimlich an sich nehmen würde. Decker kniete nun am Fenster und schaute hinaus. Soweit Jimmy es beurteilen konnte, hatte das Kind die beiden Erwachsenen völlig vergessen.

»Wen er wohl da draußen sucht?«, fragte Jimmy.

Marie antwortete nicht sofort. Sie konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen. »Seine Brüder, peut-être. Seine Familie. Wer kann schon sagen, was er von ihnen weiß?«

»Cunnington sagte mir, er habe Nachforschungen angestellt, aber niemand hat sich gemeldet. Vermutlich erhoffte er sich eine Belohnung, wenn er Verwandte der Kinder ausfindig macht.« Der Ohrring in Deckers Besitz ließ diesen Schluss zu, und Jimmy war sich sicher, dass der Heimleiter nichts von seiner Existenz wusste. Cunnington hätte ihn als Bezahlung für Kost und Logis der Kinder einbehalten, auch wenn das kostbare Juwel jahrelang für eine ganze Armee Waisenkinder gereicht hätte. Cunnington war bei weitem skrupelloser als Jimmy Grooms. Jimmy hatte wenigstens Marie, die ihn zügelte, wenn die Gier über die Vernunft zu siegen drohte. Mr. Cunnington aber hatte nur seine Frau. Jimmy hatte die Heimleiterin zwar nur kurz zu Gesicht bekommen, doch das hatte genügt, um zu erkennen, dass sie eine Frau ohne Gewissen war.

»Denkst du, er erinnert sich an die Nacht, in der seine Eltern getötet wurden?«, fragte Jimmy im Flüsterton. »Der Kleine war Zeuge. Alle Kinder waren Zeugen.«

Marie schüttelte den Kopf. »Sprich nicht darüber. Es wäre ein Segen, wenn er die Tragödie vergessen könnte.«

Diesen Augenblick wählte Decker, um sich seitlich in die Ecke der Bank zusammenzurollen. Seine Augenlider flatterten ein paarmal, ehe er sie schloss und die dichten, langen Wimpern einen Schatten auf seine Wangen warfen. Sein süßer Kindermund öffnete sich leicht und ein kindlicher Seufzer entfuhr ihm.

»Gott segne dich, mein Kleiner«, flüsterte Marie, dankbar, dass der Schlaf das Kind übermannt hatte.

Doch Decker hatte nichts vergessen. Er zog es nur vor, sich nicht zu erinnern.

Kapitel 1

Boston, November 1844

Ihr Leben war zu einer Farce geworden.

Jonna Remington stand im dichten Nebel an den Docks des Bostoner Hafens und wartete darauf, dass ihr Schiff anlegte.

Sie war erst vierundzwanzig und fühlte sich dennoch ausgelaugt und müde.

Ein eisiger Windhauch fuhr über das Wasser und trieb die weißen Gischtkronen vor sich her. Jonna zog das dunkelgraue Wollcape enger um die Schultern und hüllte sich darin ein, bis der Saum an ihre Beine schlug. Ihr Rock und alle vier Unterröcke wurden gegen ihre schlanke Gestalt gedrückt. Die breite Krempe ihrer Schute klappte plötzlich nach hinten und wurde nur noch durch die breite Seidenschleife unter dem Kinn gehalten. Einen beängstigenden Augenblick lang fürchtete Jonna zu ersticken.

Erdrosselt vom eigenen Hut. Ein äußerst schauriger Gedanke.

In Erwartung des nächsten arktischen Windstoßes hielt sie die Schute mit einer Hand fest. Sie war sich beklommen des lächerlichen Anblicks bewusst, den sie bot, wusste aber auch, dass niemand eine Bemerkung darüber wagen würde – zumindest nicht, solange sie sich in Hörweite befand. Sie war schließlich Jonna Remington, die darauf wartete, dass ihr Schiff anlegte.

***

Decker Thorne, Kapitän auf der Remington Huntress, dem neuesten Schiff der Handelsflotte, rief seinem ersten Offizier Befehle zu, mit ruhiger, klarer Stimme, als habe er solche Befehle in den achtundzwanzig Jahren seines Lebens gegeben und nicht erst in den letzten achtundzwanzig Tagen. Nur eine hochgezogene Braue verriet sein Erstaunen, dass seine Befehle weitergegeben und von der Mannschaft ausgeführt wurden.

Der neben ihm stehende Jack Quincy nickte anerkennend. »Du hast den Bogen schon heraus«, sagte er leise. »Verdammt will ich sein, wenn es nicht so ist.« Er verlagerte das Gewicht und klopfte mit einer der Krücken, auf die er sich stützte, gegen die Deckplanken, um seiner Rede Nachdruck zu verleihen.

»Vorsicht, Jack. Sonst fällst du noch und brichst dir das andere Bein.«

Jack zuckte gleichgültig die Schultern. »Diese Krücken halten mich nicht aufrecht, mein Junge. Es ist der Wind im Rücken und die Gischt im Gesicht.«

Von beidem gab es an diesem Morgen mehr als genug. Der Nebel war dichter, als Decker ihn je erlebt hatte. Jack meinte, es würde noch ärger werden, und Decker nahm ihn beim Wort. Die drei Jahre, die er die Weltmeere durchkreuzte, waren nichts im Vergleich zu Jacks vier Jahrzehnten. Decker gab seinem ersten Offizier eine weitere Anweisung und bemerkte aus dem Augenwinkel Jacks zufriedenes Nicken.

Decker grinste. »Keine Bange, ich setze sie schon nicht auf Grund.«

Das hatte Jack auch nicht befürchtet. Sein Nicken war ein Zeichen der Anerkennung für Deckers selbstbewusste Art, das Schiff zu befehligen. Kurz nachdem der Segler aus Charleston ausgelaufen war, auf der zweiten Etappe seiner Reise nach London, war das Kommando überraschend dem jungen Decker übertragen worden. Jack war auf dem Niedergang unglücklich gestürzt, hatte sich das Bein gebrochen und musste das Bett hüten. Aus diesem Grund hatte er das Kommando seinem Schützling übertragen.

Die Remington Huntress war nicht irgendein Schiff. Sie war nach neuesten Erkenntnissen konstruiert, um der schnellste Klipper auf den Handelsrouten der Ozeane zu werden. Diese Fahrt sollte einen Rekord brechen, nicht aber der Kapitän ein Bein. Nun lag es an Decker Thorne, den Beweis zu erbringen, dass auch er fähig war, Schiff und Mannschaft zu Bestleistungen anzuspornen.

Eine Rekordfahrt war stets ein riskantes Unterfangen und beileibe nicht das Ziel jeder Fahrt. Selbstverständlich war ein Erfolg mit Geld verbunden und trug zum Ruhm von Kapitän und Mannschaft bei, stellte für den Schiffseigner allerdings meist nur einen kurzfristigen Triumph dar. Letztlich war der zuverlässige und wohlbehaltene Transport der Fracht von wesentlich größerer Bedeutung. Wenn die bisherige Rekordzeit nach China oder Liverpool um ein paar Tage, ja selbst um ein paar Stunden unterboten wurde, durfte sich die Mannschaft glücklich schätzen, doch wichtiger war, dass die Ladung den Zielhafen wohlbehalten vor den Konkurrenten erreichte.

Hier lag der Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg. Es ging nicht darum, dass jeder Klipper einen Rekord unterbot, es ging darum, dass die Schiffe schneller waren als andere mit der gleichen Ladung. Der erste Kapitän, der seine Ladung in den Bestimmungshafen brachte, machte den größten Gewinn. Denn dann bezahlten die Händler Höchstpreise und feilschten am wenigsten.

Die Huntress legte mit zwei Stunden Verspätung im Hafen von London an, wobei der Rekord für die gesamte Reise zurück nach Boston immer noch in Reichweite lag. Das wusste die Mannschaft und in erster Linie der Kapitän.

Während er Decker beobachtete, wie er Befehle erteilte, um den Klipper unter Segel zu setzen, war Jack Quincy wieder einmal zufrieden mit seiner Wahl. Deckers sorgloses Lächeln und seine lockere, entspannte Art mochten als Gleichgültigkeit und mangelnder Ehrgeiz missverstanden werden. Jack hatte ihn nie so beurteilt, wusste allerdings, dass andere ihn danach beurteilten. Die Tatsache, dass Decker dieses Vorurteil nicht zu stören schien, war in Jacks Augen ein weiterer Pluspunkt.

Jacks breites Gesicht verzog sich zu einem schiefen Grinsen. War auch er früher so geschmeidig und sehnig wie dieser junge Mann gewesen? Decker Thorne hatte den federnden Gang einer Katze mit einem leichten Schlingern, der sich dem Rollen des Schiffs und der See perfekt anpasste. »Ach, die Jugend«, murmelte Jack in sich hinein und stellte befremdet fest, dass er ein wenig Neid verspürte. Es hatte wenig Sinn, Dingen nachzutrauern, die nicht zu ändern waren. Jacks Alter und die wachsende Liste seiner Gebrechen waren zwei dieser Dinge. Entweder man lebte damit oder man starb daran.

Diese Fahrt würde Jack Quincys letzte sein, das wusste er. Seit zwei Jahren war er nur noch zu Probefahrten auf hoher See. Auf Jonnas Bitten hatte er zugestimmt, die Huntress zu befehligen, obwohl er Jonna dringend ersucht hatte, Decker Thorne mit der Aufgabe zu betrauen. Es war eines der wenigen Male in seiner langen Geschäftsverbindung mit Jonna Remington, dass sie seinen Rat ausschlug. Die Huntress war zu wertvoll, ihr Auftrag zu wichtig, um sie den Händen eines unerfahrenen Kapitäns zu überlassen. Wenn Jack sich nicht dazu bereit erklärte, gab es andere Kapitäne, denen sie vertraute; sie war strikt dagegen, Decker Thorne das Kommando zu geben.

Jack Quincy schnitt eine Grimasse, als der Klipper schlingernd volle Fahrt aufnahm und alle Segel sich im Wind blähten. Er schwankte ein wenig auf seinen Krücken, deren Stützen sich in seine Achselhöhlen gruben. Er umfing die Griffe fester mit seinen großen Händen. Die Schiene an seinem Unterschenkel rieb unangenehm. Er hielt sich schon zu lange auf Deck auf, doch er wollte es sich nicht entgehen lassen, wie Decker die Huntress in den Bostoner Hafen manövrierte.

Mehr noch interessierte ihn Jonna Remingtons Gesicht, wenn sie erfuhr, wer ihren Schnellsegler befehligte. Jack befürchtete, der neue Rekord würde sie nicht milder stimmen. Wieder einmal würde sie ihn mit scharfer Zunge zurechtweisen. »Dafür liest sie mir wieder die Leviten«, murmelte er in sich hinein. »Zum Teufel, wenn ich nicht dafür büßen muss.«

Aber es lohnte sich, nur um ihr verblüfftes Gesicht zu sehen.

Hinter Jonna hatte sich eine Menschenmenge angesammelt. Als sich herumsprach, aus welchem Grund sie zu dieser frühen Morgenstunde im Hafen erschienen war, ließ das geschäftige Treiben erheblich nach. Die Fuhrwerke, die von den Schiffen zu den Lagerhäusern rumpelten, krochen an den Docks entlang, und die Kutscher hielten von ihren hohen Sitzen Ausschau nach der Huntress.

***

Dass die Männer sich die Augen ausguckten, um die dichte Nebelwand zu durchdringen und die Krümmung des Horizonts zu erspähen, ließ Rückschlüsse auf Jonna Remingtons Ansehen zu. Die Eignerin der Remington Schifffahrtslinie konnte nicht sicher sein, ob ihr Schiff in einer Stunde oder in einem Tag einlaufen würde. Die Tatsache aber, dass sie darauf wartete, ließ alle wissen, dass die Ankunft nicht mehr lange dauern würde. Diesen Fahrplan hatte Jonna im Kopf, mit einer Fülle anderer Fakten und Zahlen, Kontenstände, Frachtverzeichnisse sowie vermutlich das gesamte Seerecht. Keiner der Männer, die an diesem Morgen im Hafen arbeiteten, zweifelte daran, dass Jonna Remington den Kurs ihres neuen Schiffes nachgezeichnet und mit erstaunlicher Präzision errechnet hatte. In einem Geschäft, das mit unendlich vielen Risiken verbunden war, wurden Dinge, die geplant und errechnet werden konnten, nicht dem Zufall überlassen.

Jonna wandte nur einmal den Kopf, um die Ansammlung hinter ihrem Rücken zu mustern. Die Männer blieben auf Distanz, ein Zeichen ihres Respekts, aber auch ein Zeichen ihrer Scheu vor Jonna Remington. Sie war nicht unnahbar, aber auch nicht leicht zugänglich. Ihr Auftreten war nüchtern und gesetzt, im Umgang mit Menschen war sie kühl. Sie machte nicht viele Umschweife, arbeitete hart und erwartete von anderen den gleichen Arbeitseifer. Darüber redete sie nicht; sie gab anderen lediglich ein Beispiel. Angestellte, die das nicht begriffen, wurden schnell wieder entlassen. Jonna Remington duldete weder Dummköpfe noch Faulenzer in ihrer Nähe.

Ihr kurzer Blick brachte die Zuschauer zum Schweigen. Alle wussten, dass sie ihre Pflichten vernachlässigten, um auf die Ankunft der Huntress zu warten. Das schlechte Gewissen veranlasste allerdings keinen, zurück an seine Arbeit zu gehen, nur Unbehagen machte sich unter den Männern breit Ein paar Männer wagten es, ihrem Blick trotzig zu begegnen. Wenn sie einen der aufsässigen Blicke bemerkt hatte, überging sie ihn.

Wieder fuhr eine eisige Bö über das Dock und riss ihr erneut die Schute vom Kopf, die nur noch von der purpurroten Seidenschleife gehalten wurde. Diesmal nahm sie den Hut endgültig ab, ließ sich den salzigen Sprühnebel ins Gesicht wehen und sich das Haar vom Wind zerzausen.

An diesem Morgen hatte sie keine Geduld mit ihrer Frisur gehabt. Statt der modischen Kringellöckchen hatte sie sich das Haar glatt nach hinten kämmen und zu einem Nackenknoten binden lassen. Der Wind machte kurzen Prozess mit den Bemühungen ihrer Zofe. Die Nadeln lösten sich, schimmernde schwarze Locken rissen sich los und flatterten im Wind.

Jonna unterdrückte den Wunsch, erneut über die Schulter zu blicken, ob jemand davon Notiz nahm oder ob die Männer immer noch Ausschau nach dem Schiff hielten. In einem seltenen Anflug weiblicher Eitelkeit fragte sie sich, welches von beiden ihr lieber wäre. Sie zog den Umhang enger und drückte die Schute an sich.

Sie war daran gewöhnt, angestarrt zu werden. Doch man starrte sie gewöhnlich nicht aus Gründen an, die sonderlich schmeichelhaft gewesen wären. Als erstes fiel den Menschen ihr hoher Wuchs auf. Die Damen ihres Bekanntenkreises überragte sie mindestens um Haupteshöhe und sie war auch größer als die meisten Herren. Wurde ihre ungewöhnliche Körpergröße ohne entsprechende Bemerkungen hingenommen – obgleich Jonnas Meinung nach niemand das Recht hatte, sich darüber zu äußern, und niemand erwarten sollte, sie habe dergleichen hinzunehmen – so wurde unweigerlich über die Farbe ihrer Augen gesprochen.

Gütiger Himmel, sie sind violett. Wie ungewöhnlich. In Wahrheit waren ihre Augen veilchenblau, doch wenn jemand über die seltsame Augenfarbe erschrak, kam ihm das Wort ›violett‹ in den Sinn. Um die Sache noch schlimmer zu machen, wirkten ihre Augen zu groß für ihr schmales Gesicht und behielten auch nicht immer die gleiche Farbe, sondern wechselten den Farbton in Blaugrau oder Blaugrün, je nach der Farbe ihres Kleides. Bevor sie den Hut und sein purpurfarbenes Band abgelegt hatte, war Jonna sicher, dass ihre Augen violett leuchteten. Nicht, dass das von Bedeutung für sie gewesen wäre. Sie wollte schließlich mit ihren Augen sehen, nicht in sie hineinschauen.

Jonna hob die Hand an die Augen. Hinter dem Nebel verbreitete die Sonne einen diffusen Schein, der sie blendete. Jonna hoffte, die Sonne werde bald endgültig durchbrechen. Sie war eitel genug, um ihren stolzen Klipper bei strahlendem Sonnenschein in den Hafen einlaufen zu sehen.

Bald, dachte sie, lass es bald sein!

***

Die Huntress zog ihre Bahn durch eine Nebelbank und zerschnitt mit vollen Segeln die Wellenberge. Einem Albatros mit weiten weißen Schwingen gleich, flog der elegante Klipper über das Wasser mit einem Tempo, das die Gesetze der Schwerkraft aufzuheben schien. Die rasche Fahrt erfüllte die Männer in der Takelage und an Deck mit sichtlichem Stolz.

»Land in Sicht!«

Auf diesen Ruf hatten alle gewartet. Zwanzig Augenpaare spähten in die Ferne, um zu sehen, was nur einer durch das Fernrohr erblickte. Es dauerte noch zwei lange Minuten, ehe auch die anderen den Küstenstreifen von New England erspähten. Ein ohrenbetäubendes Jubelgeschrei setzte ein und schien die Segel noch kräftiger zu blähen.

Das Fernglas wurde Decker gereicht, der es Jack übergab, ehe er es an die Augen setzte. Er fuhr sich mit der Hand durchs windzerzauste Haar und grinste schief. »Sag mir, ob du sie sehen kannst«, meinte er an Jack gerichtet.

Jack Quincy hob das Fernrohr. Er wusste, dass Decker damit nicht die Küstenlinie meinte, sondern von Jonna Remington sprach. Er ließ ein tiefes Lachen hören, als er das Fernglas ans Auge drückte. »Du hast doch keine Angst vor ihr, wie?«

»Ich zittere vor Angst«, gestand Decker leichthin. Nichts in seiner amüsierten Miene wies darauf hin, ob er es ernst meinte.

Jack ließ das Fernrohr sinken, warf Decker einen scharfen Blick zu und hob das Glas wieder. »Verfluchter Lügner«, brummte er. »Eine Sekunde lang hätte ich dir beinahe geglaubt. Dabei verstehe ich gar nicht, wieso die Leute Angst vor Jonna haben. Zugegeben, sie wird nicht so recht warm mit Menschen und ich weiß manchmal nicht, ob sie andere vor den Kopf stößt oder umgekehrt.«

Decker schwieg. Er hatte seine eigene Meinung und nicht die Absicht, sie preiszugeben.

»Sie wird wahnsinnig werden wie meine Großtante Lottie«, sagte Jack.

»Wahnsinnig wie verrückt?«, fragte Decker. »Oder wahnsinnig wütend?«

»Lottie war beides.« Jack hob den Kopf, als Decker leise stöhnte. »Hab ich dir nie von ihr erzählt?«

Decker nahm das Fernrohr an sich. »Nein. Und im Augenblick habe ich keine Lust, mir eine deiner Geschichten anzuhören.«

Jack fuhr unbeirrt fort. »Lottie drohte der Sonne mit der Faust, wenn sie zu heiß brannte, und zog sich nackt aus, wenn ihr danach zumute war.«

Decker zog eine dunkle Braue hoch und bedachte Jack mit einem tadelnden Seitenblick.

Jack Quincy lehnte sich schwer auf eine Krücke und bekreuzigte sich hastig. »Ich schwöre es.«

Decker setzte das Glas an und bemerkte trocken: »Das tut sie mit Sicherheit nicht.« Er hatte Jonna Remington noch nie wirklich wütend erlebt. Aufgeregt und enttäuscht, gereizt und verärgert, das schon. Aber sie hatte sich stets zu sehr in der Gewalt, um echten Zorn zuzulassen. Wenn er darüber nachdachte, wurde sie eher kühl denn erhitzt. Und dass sie sich die Kleider vom Leib reißen würde, war ein völlig abwegiger Gedanke. Die Eignerin der Remington Schifffahrtslinie behielt vermutlich auch in der Badewanne das Unterhemd an.

Durch das Fernrohr zeichnete sich die Küstenlinie scharf am Horizont ab. Sobald die Sonne die letzten Nebelschwaden vertrieben hatte, würden die Segel der Huntress das grelle Licht wie Spiegel reflektieren. Wenn Jonna ihre Ankunft erwartete, würde sie ihr Schiff bald erspähen.

***

Jonna stellte sich auf Zehenspitzen. Nichts rührte sich auf dem Dock, nur die Männer reckten die Hälse, um besser sehen zu können. Die Fuhrwerke waren nun endgültig zum Stehen gekommen. Kein Frachtstück wurde mehr entladen. Vor wenigen Minuten waren die letzten Arbeiter aus den Lagerhäusern an die Kaimauer geströmt. Wenn die weißen Segel in der Ferne tatsächlich der Remington Huntress gehörten, dann wurde in diesem Augenblick Geschichte gemacht.

Jonna wusste, dass es sich um ihr Schiff handelte, ehe die anderen es wussten. Jonna kannte die Baupläne, hatte die Konstruktion überwacht und sämtliche Decks inspiziert. Sie kannte jeden Mann, der beim Bau des Schiffes beteiligt war, bis zu dem Tag, an dem das Schiff die Remington Werft nördlich von Boston verließ. Die erste Probefahrt hatte Jonna in ihrer Equipage entlang der Küstenstraße begleitet und im Hafen von Boston hatte sie die Huntress getauft und sie auf ihre erste große Fahrt geschickt.

Jonna Remington hatte alles getan, nur auf ihr gesegelt war sie noch nicht. Nie äußerte sie ihr Bedauern darüber. Sie war ein verschlossener Mensch, doch in diesem Fall lag ihr Schweigen weniger daran, ihre Gedanken für sich zu behalten, als in der Tatsache, dass es niemanden gab, dem sie ihre Schwäche hätte eingestehen können. Ihr engster Vertrauter Jack Quincy hätte ihr Bedauern nicht nachvollziehen können. Auch Grant Sheridan, der Mann, der sie immer wieder mit seinen Heiratsanträgen bedrängte, hätte nicht verstanden, warum sie sich weigerte, ihr Schiff zu besteigen, und hätte höchstens darüber gelächelt. Verschwiegenheit hatte ihren Preis.

Jonna verdrängte ihre trüben Gedanken und blinzelte in die Sonne. Ja, es war ihr Schiff. Die Huntress. Sie hatte den Namen mit ebensolcher Sorgfalt gewählt, wie sie die Position und Neigung von Spanten und Kiel beaufsichtigt hatte. Dies sollte der letzte Großsegler der Remington Schifffahrtslinie sein und Jonna wollte ein perfektes Schiff, das alle bisherigen Schiffe an Schnelligkeit und Eleganz in den Schatten stellte. Sie hatte an Diana gedacht, die Göttin der Jagd, als der elegante Schwung des Rumpfes unter ihren Augen Gestalt annahm.

Bald würden Schiffe aus Stahl und Eisen die Meere befahren, das war Jonnas große Befürchtung. Es wurden bereits schwerfällige Ungetüme aus Eisen und Holz gebaut, Zwitterwesen, die mit Kohle geschürt wurden und Segel nur bei gutem Wind einsetzten. Diese Schiffe hatten weder Eleganz noch eine ansprechende Form und arbeiteten nicht mehr im Einklang mit der Natur, sondern strebten danach, sie zu übertreffen.

Jonnas nüchterner Geschäftssinn ließ sie ahnen, dass eines Tages sämtliche Schiffe ihrer Reederei mit Dampf betrieben würden, doch Geschäftssinn hatte nichts mit ihrer Leidenschaft zu tun. Und ihre Leidenschaft galt den eleganten Segelschiffen.

***

An Bord der Huntress setzte ein geschäftiges Treiben ein, das in der Präzision seiner Abfolge einer einstudierten Choreographie glich. Die knappen Befehle von Captain Thorne wurden rasch weitergegeben und ebenso rasch ausgeführt. Männer kletterten flink in die Takelage, um die Segel zu reffen und die Kraft des Windes zu brechen. Ein Beben fuhr durch den schnittigen Rumpf, als der Segler rasch an Fahrt verlor.

Durch die Erschütterung wurde Decker gegen Jack Quincy gedrückt, der allerdings noch nie erlebt hatte, dass sein Schützling aus dem Gleichgewicht geraten wäre, auch nicht bei schwerer See und Windstärke zwölf, und das war momentan beileibe nicht der Fall. Als Decker das Fernrohr, das in Jacks Gürtel gesteckt hatte, wieder in der Hand hielt, wusste der alte Seebär den Grund. Decker Thorne ließ sich nicht aus dem Gleichgewicht bringen, es sei denn, es lag in seiner Absicht.

»Wie hast du das geschafft?«, knurrte Jack. »Soll ich etwa in meinen Taschen kramen, ob mein Kleingeld noch da ist?«

»Ach? Hattest du welches eingesteckt? Ich habe zwei Scheine gezählt, aber keine Münzen.«

Jacks Gelächter dröhnte wie Donnergrollen. »Das traue ich dir wahrhaftig zu.« Er machte ein neugieriges Gesicht. »Stimmt es, dass du einer Dame das Korsett ausziehen kannst, wenn sie noch im Kleid steckt?«

Decker hob das Glas ans Auge. »Welchen Sinn hätte das wohl? Ich müsste ihr das Kleid doch ausziehen. Ich halte nichts davon, einer Frau unter die Röcke zu gehen. Du solltest nicht alles glauben, was über mich gemunkelt wird, Jack. Was nicht direkt eine Lüge ist, ist vermutlich auch nicht die ganze Wahrheit.«

Jack nickte. »Da magst du Recht haben. Aber sag, wie konntest du mir das Fernrohr unbemerkt aus dem Gürtel ziehen?«

Decker fuhr fort, den Hafen durch das Glas abzusuchen. Er konnte die Menschenmenge am Kai ausmachen, nicht aber einzelne Gestalten. Er zuckte die Achseln. »Zauberei.«

Jack brummte unzufrieden.

»Manche nennen es Fingerfertigkeit«, setzte Decker hinzu.

Diesmal schnaubte Jack verächtlich.

»Die Richter pflegen es Diebstahl zu nennen.«

»Ja, davon habe ich gehört«, sagte Jack. »Gib mir das Glas endlich wieder.«

»Gleich.« Nun waren sie nahe genug und das Glas erfasste Jonna Remington. Decker lächelte schief. Die Ankunft ihres Schiffes war ein großer Moment, doch ein Eisberg hätte dem großen Ereignis einen wärmeren Empfang bereitet als diese Frau. Lediglich ihr Standpunkt ganz vorne am Rand der Kaimauer verriet ihre Erregung. »Verdammt«, murmelte er zwischen den Zähnen.

»Was ist?« Jack streckte die Hand aus. »Gib mir endlich das Ding! Was siehst du?«

»Sie trägt keinen Hut.« Decker reichte ihm das Glas. »Miss Remingtons Haare fliegen im Wind. Vorsicht, Jack. Vielleicht ringt sie sich sogar ein Lächeln ab.«

Jack Quincy kannte Jonna Remington seit ihrer Geburt. Er hatte für ihren Vater gearbeitet und nach Johns Tod die Geschäfte geleitet, bis sie die Leitung des Unternehmens mit Erreichen der Volljährigkeit selbst übernahm. »Sie war noch ein Kind, als ihre Mutter starb«, verteidigte Jack sie. »Und erst fünfzehn, als sie auch den Vater verlor. Sie nimmt ihre Pflichten sehr ernst und das solltest du dir hinter die Ohren schreiben. Da du in ihren Diensten stehst, fühlt sie sich auch für dich verantwortlich.«

»Jonna Remington hat keinen Grund, Verantwortung für mich zu übernehmen«, entgegnete Decker und in seiner Stimme lag keine Spur von Heiterkeit.

»Da magst du Recht haben«, stimmte Jack ihm zu. »Ich sage nur, dass sie so empfindet. Daran kannst du nichts ändern. Eher könntest du die Windrichtung ändern als Jonna von ihrer Meinung abbringen.«

Darauf hatte Decker nichts zu erwidern. Er wandte sich ab.

***

Die Huntress lief um zehn Minuten nach acht Uhr früh im Hafen von Boston ein. Die Gesamtzeit ihrer Fahrt von Boston über Charleston nach London und zurück betrug dreiunddreißig Tage und sechzehn Stunden. Das waren neunzig Minuten weniger, als Jonna ausgerechnet hatte, und volle drei Stunden besser als ihre günstigste Schätzung beim Auslaufen des Klippers. Jonnas zeitiges Erscheinen am Kai an diesem Morgen aber hatte weniger mit ihrem Wunschdenken zu tun als mit ihrer Unfähigkeit, länger zu schlafen.

Als das Schiff am Kai festgemacht hatte, missachteten die Hafenarbeiter die Distanz, die sie bislang zu Jonna eingehalten hatten, und drängten nach vorn, als die Gangway heruntergelassen wurde und Decker Thorne an der Heckreling erschien. Jonna hatte die Hand bereits gehoben, um Jack Quincy zuzuwinken, und erstarrte mitten in der Bewegung. Sie neigte den Kopf seitlich, ihre veilchenblauen Augen verdunkelten sich verwirrt. Sie blickte über Decker Thornes Schulter hinweg und sah Jack auf Krücken an die Reling humpeln.

Von ihrer Position an der Kaimauer konnte sie nicht erkennen, welcher Art seine Verletzung war. Was sie allerdings genau sehen konnte, so deutlich wie den Schein eines Leuchtturms in dunkler Nacht, war Decker Thornes unverschämtes Grinsen.

Jonna presste die vollen Lippen zusammen, wodurch sein Lächeln noch breiter wurde. Sie nickte knapp, stellte fest, dass sie die Hand immer noch erhoben hielt und ließ sie hastig sinken. Auch das schien ihn zu amüsieren.

Es gab wenig, was Decker Thorne nicht erheiterte, überlegte Jonna, während sie von den Männern angerempelt wurde, die sich hinter ihr drängten. Als zwei Hände flach gegen ihren Rücken drückten und ihr einen heftigen Stoß versetzten, war ihr letzter Gedanke beim Sturz in das Hafenbecken, dass Decker Thorne auch dies ungemein erheiternd finden würde.

***

Nur zwei Männer bewegten sich. Der eine tauchte in der Menge unter und verschwand unbemerkt. Der andere riss sich das Jackett vom Leib und sprang ins eisige Wasser.

Jack Quincy umklammerte den wollenen Gehrock, den Decker ihm zugeworfen hatte, und starrte hilflos auf die Stelle, wo Jonna noch vor wenigen Sekunden gestanden hatte. Ihr Sturz und Deckers Rettungsversuch lähmten ihn. Quincy stand an der Reling der Remington Huntress, doch in Gedanken wurde er plötzlich in die Vergangenheit zurückversetzt. Vor beinahe einem Viertel]ahrhundert hatte er an ähnlicher Stelle eines anderen Schiffes der Remington Schifffahrtsgesellschaft gestanden. Damals hieß der Klipper Sea Dancer, und auf der Kaimauer stand eine Frau, die auf die Ankunft des Schiffes und seines Kapitäns wartete.

Jack sah in aller Deutlichkeit, wie die Dinge sich damals zugetragen hatten. Charlotte Reid Remington stand am Pier und wartete in freudiger Erregung darauf, ihren Gemahl John in die Arme zu schließen. John eilte auf sie zu. Er hatte sie seit beinahe drei Monaten nicht gesehen und sein einziges Kind sollte er zum ersten Mal sehen.

Jack wusste nicht, warum Charlotte das Gleichgewicht verlor. Plötzlich taumelte sie und stürzte ins Hafenbecken. Ihr Gemahl sprang augenblicklich hinterher und zog sie aus dem Wasser. Die versammelte Menge jubelte begeistert über die geglückte Rettung, und Jack wurde warm ums Herz, als Charlotte lebend an Land gezogen wurde.

Es war der junge Kabinensteward neben Jack, dem auffiel, was den anderen entgangen war. John Remington war es gelungen, seine Frau an Land zu ziehen, ihr aber war es nicht gelungen, ihr Baby im Arm zu halten.

Bevor Jack begriff, was Charlottes verzweifelte Schreie bedeuteten, war das Bürschchen ins Wasser gesprungen, um nach der kleinen Jonna zu suchen. Jack hatte sich über die Verbissenheit und Ausdauer des Jungen gewundert, mit der er immer wieder nach dem Bündel Decken und dem Baby getaucht war. Jack erinnerte sich, dass er beim Bezahlen des Jungen in Cunningtons Arbeitshaus für Findlinge und Waisen befürchtet hatte, ihn auf See bestatten zu müssen, ehe sein Schiff Boston erreichte. Der Junge hatte behauptet, zehn Jahre alt zu sein; der Heimleiter hatte gesagt, er sei zwölf. Wenn er neun war, wäre Jack trotzdem erstaunt gewesen.

Der magere Bursche hatte Jack allerdings in Erstaunen versetzt. Er fand Gefallen an dem Schiff und dem Meer, und jeder Tag, der ihn weiter von London entfernte, schien ihn ein wenig zu kräftigen. Seine Arbeit als Kabinensteward war zwar erniedrigend, aber nicht zu schwer, und John Remington war kein Tyrann und kein Zuchtmeister. Die frische Luft mochte etwas zur Erholung des Knaben beigetragen haben, aber in erster Linie war es wohl das reichliche Essen.

Als Jack den kleinen Colin Thorne zum ersten Mal sah, wusste er, dass der Junge halb verhungert war.

Jack Quincy wurde jäh in die Gegenwart zurückgeholt, als Decker mit leeren Händen auftauchte. Selbst aus der Entfernung, aus der Jack die Rettungsversuche beobachtete, konnte er Deckers bleiche Wangen und blaue Lippen erkennen. Man würde ihn aus dem Hafenbecken fischen müssen, um zu verhindern, dass auch er im eisigen Wasser umkam.

Noch während Jack dies dachte, tauchte Decker wieder unter.

Jonnas Wollumhang und ihre Röcke saugten das Wasser auf wie ein Schwamm und zogen die wild um sich Schlagende erbarmungslos in die Tiefe. Irgendwie schaffte sie es, den Verschluss ihres Capes zu öffnen und es abzustreifen, ohne den erwünschten Erfolg zu erzielen, da sie nicht schwimmen konnte.

Der Wellengang schleuderte sie gegen die Stützpfähle; ihre Schulter schlug hart gegen das mit Muscheln überkrustete Holz. Vor Schmerz riss sie den Mund auf, woraufhin ihre Lungen sich mit eisigem Wasser füllten. Dunkelheit trübte ihr Gesichtsfeld, sie verlor die Orientierung, wusste nicht, wo oben und unten war. Und mit einer Klarheit, die sie verwunderte, wusste sie, dass sie das Bewusstsein verlor und sterben würde.

***

Etwas trieb an Deckers Gesicht vorbei. Er griff blind danach. Jonnas Umhang. Es war ihr gelungen, ihn loszuwerden. Er stieß sich zur Oberfläche, warf das Cape den Schaulustigen zu, achtete nicht auf die Ruder, die ihm hingehalten wurden, auch nicht auf die ausgestreckten Hände, tauchte erneut unter und wusste, dass es das letzte Mal sein würde.

Die Strömung schlug ihn gegen die Pfähle, diesmal ließ er es geschehen, statt sich dagegen zu wehren. War Jonna ebenfalls dagegen geschleudert worden? Er stieß sich kraftvoll weiter in die Tiefe, ohne etwas zu sehen. Seine Lungenflügel brannten vor Luftmangel, das eisige Wasser drang ihm unter die Haut. Seine Knochen schmerzten vor Kälte. Seine Gliedmaßen waren so taub, dass er das erste Streifen ihrer Hand an seinem Bein beinahe nicht bemerkt hätte.

Instinktiv wich Decker vor der fremden Berührung zurück und zog die Knie an die Brust. Dann erst begriff er, tauchte wieder und griff nach dem Etwas, das ihn flüchtig gestreift hatte. Seine Hand krallte sich um Jonnas Unterarm. Er zog ruckartig daran, brachte sie nah an sich heran, packte sie bei den Schultern und begann sich nach oben zu stoßen. Es war, als ziehe er einen Anker hoch. Sie lag wie ein totes Bleigewicht in seinen Armen. Der Gedanke fuhr ihm eisiger ins Herz als das kalte Wasser.

Ein totes Gewicht.

Als Decker mit Jonna auftauchte, streckten sich viele hilfreiche Arme aus. Er stieß ihren leblosen Körper auf das kleine Boot zu, das zu Wasser gelassen worden war, und wartete, bis sie an Bord gezogen war, ehe er sich hochstemmte und zusammenbrach.

Er hatte eine verschwommene Erinnerung daran, in Decken gewickelt zu werden, ehe er auf die Kaimauer getragen wurde. Er erinnerte sich, den Kopf gedreht und Jack Quincy gesehen zu haben, der sich unbeholfen, das geschiente Bein schräg abgewinkelt, über Jonna beugte und seine flachen Hände auf ihren Rücken presste. Menschen umringten ihn und Jonna. Sie wurde aus seinem Gesichtsfeld gedrängt, dann verlor er das Bewusstsein.

Decker erwachte in einer fremden Umgebung, ahnte allerdings, wo er sich befand. Er war nicht das erste Mal in einem luxuriös ausgestatteten Schlafzimmer, als Gast oder als Eindringling, um die kostbaren Möbel und die Bettwäsche aus Damast nicht zu erkennen. Er befand sich im Haus der Remingtons. Und das wiederum bedeutete: Er befand sich auf Beacon Hill.

Decker setzte sich auf und schob die Bettdecke von sich. Er trug ein Nachthemd, das um die Schultern spannte, ein fremdes Nachthemd, dem ein Hauch von Zedernduft entströmte, woraus zu schließen war, dass es längere Zeit in einer Schublade gelegen hatte. Seine Kleider konnte er nirgends entdecken. Auch seine Stiefel fehlten. Vermutlich waren irgendwo im Haus Dienstboten damit beschäftigt, seine Sachen zu waschen und zu bügeln.

Im Kamin brannte Feuer und verbreitete eine wohlige Wärme. Der Schein der Flammen spiegelte sich in der polierten Wandtäfelung und den gedrechselten Pfosten des breiten Bettes. Über dem Kamin hing ein Ölgemälde. Decker beugte sich vor, um es eingehend zu studieren. Das Porträt eines Paares. Eine Hand des hoch aufgerichteten, glatt rasierten, jungen Mannes ruhte auf der Schulter einer sitzenden Frau. Die dunkelhaarige Schönheit hielt den Blick nicht dem Betrachter zugewandt, sondern zu dem Mann an ihrer Seite erhoben. Ihr Antlitz und ihre Augen strahlten Ruhe aus, einen Ausdruck inniger Zärtlichkeit, der auf ein liebendes Herz schließen ließ.

Decker hatte diesen Ausdruck schon einmal gesehen. Wenn Marie Thibodeaux nicht wütend auf Jimmy war, hatte sie ihren Geliebten so angesehen. Mit diesem Blick hatte sie Jimmy auch ein letztes Mal angesehen, erinnerte Decker sich, ehe dieser am Galgen baumelte und die Falltür unter ihren eigenen Füßen sich öffnete. Marie hatte Jimmy Grooms mit der gleichen Hingabe und Innigkeit geliebt wie die Frau auf dem Gemälde ihren Gatten.

Decker wandte den Blick vom Kamin. Er zweifelte nicht daran, dass das Familienporträt in dem schweren Goldrahmen Charlotte Reid und John Remington darstellte.

Jonnas Eltern.

Er konnte nicht länger vorgeben, nicht an sie zu denken. Mochten seine Augen auch durch das Zimmer schweifen, Schrank, Kommode und Frisiertisch mit den kunstvollen Schnitzereien aufnehmen, den kostbaren Orientteppich bewundern, seine Gedanken wanderten durchs Haus auf der Suche nach ihr. Er horchte auf Geräusche vom Korridor her, denen er entnehmen könnte, was mit Jonna geschehen war, nachdem er sie aus dem Wasser gezogen hatte.

Was hatte diese tiefe Stille zu bedeuten? Eine Totenwache? Ein Haus in Trauer?

Auf dem Nachttisch stand ein Silbertablett mit Teegeschirr. Decker hätte etwas Stärkeres als Milch in seinen Tee bevorzugt, dennoch schenkte er sich eine Tasse ein. Er setzte sich an den Bettrand und trank Tee. Zum ersten Mal, seit er in das Hafenbecken gesprungen war, hatte er das Gefühl, von innen warm zu werden.

Er stand auf. Wenn niemand kam, um nach ihm zu sehen …

»Und wohin wollen Sie, wenn man fragen darf?« Die barsche Stimme gehörte Mrs. Davis, Jonna Remingtons Haushälterin. Sie hielt sich eine Wärmepfanne vor die Brust, als wolle sie damit in die Schlacht ziehen. Von untersetzter Statur, hatte sie dennoch eine militärische Art an sich, auch wenn sie nicht in Harnisch war wie eben jetzt. Gewöhnlich war ihre Schürze ebenso steif wie ihre Körperhaltung. Die Knitterfalten wiesen darauf hin, dass Mrs. Davis nervös die Hände gerungen hatte. Ihr blütenweißes Häubchen saß ein wenig verrutscht auf ihrem grau melierten Haar und ihre Augen wirkten leicht geschwollen. Die Spitze ihrer schmalen Nase war gerötet. Ein Taschentuch formte eine sichtbare Beule unter dem Ärmel ihres Kleides. »Marsch, ins Bett mit Ihnen!«, befahl sie. Keine Widerrede duldend, näherte sie sich mit der Wärmepfanne.

»Miss Remington?« Er erschrak, wie schwach seine Stimme klang, war nicht einmal sicher, ob die Haushälterin ihn gehört hatte.

Die Kummerfalten in Mrs. Davis’ Gesicht vertieften sich, als sie sich beeilte, die heiße Kupferpfanne gegen jene unter der Bettdecke auszutauschen, um Zeit zu gewinnen, ihre Fassung wiederzuerlangen. »Der Arzt war hier«, sagte sie schroff.

Und was wollte sie damit sagen? »Dann ist Miss Remington …«

»In ihrem Zimmer.« Mrs. Davis schüttelte die Kissen auf, glättete die Bettdecke und zwang Decker mit sanftem Schulterdruck, sich wieder hinzulegen. Sie bekam feuchte Augen, als sie seine abgezehrten Gesichtszüge musterte. Seine Kieferpartie war angespannt und in seiner Wange bewegte sich ein Muskelstrang. Sie dachte an sein sorgloses Lächeln, nur weil es ihr fehlte. »Sie müssen sich ausruhen, Mr. Thorne«, sagte sie leise. »Obwohl ich jetzt wohl Captain sagen muss. Mr. Quincy hat uns erzählt, dass Sie das Kommando übernommen haben, nachdem er sich das Bein gebrochen hatte.« Mrs. Davis fingerte nach dem Taschentuch in ihrem Ärmel. Die Tränen drohten überzuquellen. »Er sagte uns, was Sie im Hafen getan haben … dass Sie Ihr Leben riskiert haben, um Miss Remington zu retten. Wir sind Ihnen sehr dankbar.« Eine Träne, die sich nicht zurückblinzeln ließ, rollte über ihre faltige Wange. »Das wollte ich Ihnen nur sagen.« Röte stieg ihr in die Wangen. Sie gab die Suche nach dem Taschentuch auf und wandte sich eilig zum Gehen.

Decker stützte sich auf die Ellbogen. »Da, Mrs. Davis. Ich glaube, das haben Sie gesucht.«

Sie drehte sich um und sah ihr Taschentuch, das Decker zwischen Daumen und Zeigefinger hochhielt. Sie hatte Geschichten über ihn gehört wie alle im Haus. Kein günstiger Zeitpunkt, feststellen zu müssen, dass ein Körnchen Wahrheit dahinter steckte. Ihre Tränen versiegten. Sie würde die Mädchen anweisen, das Silber zu zählen, solange er Gast im Hause war. Mrs. Davis nahm das zerknitterte Tuch an sich. »Wie haben Sie das angestellt?«

Nun war sein unverbesserliches Grinsen wieder da. »Reine Gewohnheit.«

Decker wartete ein paar Minuten, ehe er in den Morgenmantel schlüpfte, den er im Schrank gefunden hatte, und auf den leeren Korridor trat. Er kannte das Haus der Remingtons von zwei Besuchen mit Jack Quincy in geschäftlichen Angelegenheiten, doch im ersten Stock war er noch nie gewesen. Das große Herrenhaus bestand aus zwei getrennten Flügeln. Wenn er das Porträt über dem Kamin richtig deutete, so hatte man ihn im Schlafgemach des Hausherrn und seiner Gemahlin untergebracht. Lag Jonnas Zimmer im selben Flügel?

Decker dachte an die Dame auf dem Gemälde. Charlotte Reid sah aus, als wollte sie ihr Kind in ihrer Nähe wissen. Im Begriff, die Tür zum Nebenzimmer zu öffnen, verharrte er. Jonna hatte in ihrer Jugend gewiss auf Unabhängigkeit gepocht, dessen war Decker sich sicher. Leise schloss er die Tür wieder und tappte auf bloßen Füßen zum Westflügel.

Er hatte nicht wirklich gehofft, ihr Zimmer zu erreichen, ohne einer Menschenseele zu begegnen, und hatte keinesfalls erwartet, sie allein vorzufinden. Doch im Flur hielt ihn niemand auf, und als er ihr Schlafzimmer erreichte, war niemand bei ihr.

Decker schloss die Tür hinter sich und näherte sich dem Bett. Sie lag auf dem Rücken, bis zur Brust zugedeckt, und trug ein schlichtes, hochgeschlossenes Nachthemd mit langen Ärmeln. Ihre Arme lagen auf der Bettdecke in irgendwie unnatürlicher Haltung. Ihre langen Finger waren bleich, die Nägel schimmerten bläulich. Das Haar, zu einem langen Zopf geflochten, lag über ihrer rechten Schulter und schimmerte im Schein der Petroleumlampe schwarzblau im starken Gegensatz zu ihrem wachsbleichen Antlitz.

Vor dem Kamin stand ein Schaukelstuhl. Das Feuer war heruntergebrannt. Decker legte zwei Scheite nach, zog den Stuhl ans Bett und setzte sich. Er sah sie unverwandt an, bis ihm die Lider schwer wurden.

Mit Jonna Remington konnte er Frieden schließen, aber wie sollte er Colin die Nachricht überbringen?

***

Jonna richtete sich jäh auf, als sie begriff, dass sie nicht allein war.

Durch Jonnas jähes Erwachen von den Toten wurde Decker aus dem Schlaf gerissen, der einen erschrockenen Laut von sich gab.

Jonna entfuhr ein Entsetzensschrei.

Decker sprang auf die Füße und starrte ungläubig auf sie herab.

Jonna blinzelte verdutzt und starrte zu ihm auf. Diesmal wirkte Decker Thorne keineswegs amüsiert. Seine Verwirrung belustigte Jonna. Der Anflug eines Lächelns schwebte um ihre vollen Lippen. »Sie schauen mich an, als hätten Sie ein Gespenst gesehen«, sagte sie.

Decker streckte die Hand aus und berührte mit drei Fingern ihre Stirn, ehe Jonna es verhindern konnte. Als sie zurückzuckte, legte er die Hand an ihren Hals. Zwei Finger fanden den Puls an ihrer Kehle. Ihre Haut fühlte sich bei weitem nicht so kalt an wie sie aussah und ihr Puls schlug schnell und kraftvoll.

Decker trat einen Schritt vom Bett zurück, ehe sie seine Hand wegstoßen konnte.

»Sie sind am Leben«, sagte er.

Sie berührte ihre Kehle. Hatte er die Absicht gehabt, sie zu erwürgen? »Nun ja«, entgegnete sie gedehnt und verwirrt. »Natürlich bin ich am Leben. War das nicht der Grund, warum Sie mir ins Hafenbecken nachgesprungen sind?«

In ihrer Stimme lag nicht der geringste Anflug von Sarkasmus. Sie stellte die Frage völlig unschuldig. Decker fuhr sich nervös durchs Haar, worauf die dunkle Locke ihm genau wie zuvor in die Stirn fiel. »Ja«, erklärte er. »Deshalb habe ich Ihr Zimmer betreten. Aber ich …« Er schüttelte den Kopf.

»Heißt das, Sie sind in mein Zimmer gekommen, weil Sie dachten, ich sei tot?«, fragte sie. Ein befremdlicher Gedanke.

»Ich war nicht sicher. Mrs. Davis gab keine klare Antwort auf meine Frage, also wollte ich es selbst herausfinden. Und als ich Sie so liegen sah … Nun, Sie sahen aus …« Seine Brauen zogen sich zusammen. »Schlafen Sie immer in dieser Haltung? Auf dem Rücken mit angelegten Armen wie aufgebahrt?«

Jonna blinzelte. Ihre dichten Wimpern senkten sich langsam über ihre veilchenblauen Augen und hoben sich wieder. Die Frage schien ihr ungebührlich persönlich. »Wie soll ich wissen, wie ich schlafe?«, antwortete sie. »Schließlieh schlafe ich.« Sie schob sich ein Kissen in den Rücken. Der Schmerz weckte unangenehme Erinnerungen.

»Fehlt Ihnen etwas?« Decker wusste, dass er gehen müsste. Offensichtlich fühlte sie sich in seiner Gegenwart unbehaglich, und er hatte nicht die Absicht, sie zu kompromittieren. Doch das schmerzliche Zucken in ihrem Gesicht hatte ihn zu der Frage bewogen.

»Es ist nichts.« Sie war eine schlechte Lügnerin und Decker zog skeptisch eine Braue hoch. »Meine Schulter«, gestand sie zögernd. »Ich wurde gegen einen Holzpfahl geschleudert. Dr. Hardy meint, ich hätte Glück gehabt, mir nichts gebrochen zu haben.« Das entsprach zwar der Wahrheit, war aber keine ehrliche Antwort auf Deckers Frage. Zwei Hände, die ihr von hinten einen harten Stoß versetzt hatten, wären eine ehrliche Antwort gewesen.

Decker bemerkte, wie sie ihre linke Schulter schonte, als sie sich gegen das Kopfende des Bettes lehnte. Der Wellengang hatte auch ihn gegen die Holzpfähle geschleudert, deshalb klang ihre Antwort glaubwürdig. Aber da sie es vermied, ihn direkt anzusehen, wurde er stutzig. Als Untergebener stand ihm freilich nicht das Recht zu, sie zu einer aufrichtigen Antwort zu nötigen. Er wandte sich zum Gehen.

»Dieser Morgenmantel gehörte meinem Vater«, stellte sie fest.

Er warf ihr einen Blick über die Schulter zu. »Das dachte ich mir. Ihre Haushälterin hat mich im Schlafzimmer Ihrer Eltern untergebracht.«

Jonna nickte. »Vermutlich wollte sie, dass Sie es bequem haben.«

»Vielleicht auch, weil ich im Schrank etwas zum Anziehen finden würde.« Er blickte an sich herunter. »Meine Kleider sind wie von Geisterhand verschwunden.«

Jonna lächelte dünn. »Sie werden Ihre Sachen wiederbekommen, Captain Thorne.«

Sein Kopf schnellte hoch, seine blauen Augen wurden schmal, als er Jonna fixierte.

»Ich weiß, was ich gesagt habe«, erklärte sie. »Es war kein Versehen. Mr. Quincy teilte mir mit, dass er Ihnen das Kommando der Huntress übertrug und die Rekordfahrt Ihnen zu verdanken ist.«

»Ich habe es nicht alleine geschafft«, entgegnete Decker.

Sie tat seine Bescheidenheit mit einer Handbewegung ab. Die kleine Geste ließ sie zusammenzucken. Ein stechender Schmerz fuhr ihr von der Schulter bis ins Handgelenk, doch sie sprach weiter, als sei nichts gewesen. Es hätte ja auch weitaus schlimmer kommen können, dachte sie. Ohne Decker Thorne würde sie kalt und tot in diesem Bett liegen und gar nichts mehr spüren. »Sie wissen, dass Sie nicht meine Wahl als Kapitän der Huntress waren«, fuhr sie fort. »Entgegen Mr. Quincys Empfehlung hielt ich Sie für zu unerfahren. Im Übrigen denke ich, dass Ihnen bei dieser Rekordfahrt das Glück beigestanden hat.« Sie bemerkte, wie Decker einen Mundwinkel nach oben zog. Die meisten Männer hätten sich vehement verteidigt und ihrer Meinung entschieden widersprochen. Decker Thorne hingegen wirkte eher belustigt als gekränkt. Jonna bezwang ihre Irritation. »Nicht, dass ich eine gute Portion Glück nicht zu schätzen wüsste. Glück ist eine Kraft wie Wind und Feuer und Wasser, und manche Menschen wissen eben, sich das Glück zunutze zu machen. Meiner Ansicht nach sind Sie so ein Mensch, Captain Thorne. Und wenn ich ganz ehrlich bin, muss ich sogar gestehen, dass ich Sie darum beneide. Sie sehen also, ich bin der Meinung, Sie verdienen es, Kapitän genannt zu werden.« Und um sicherzugehen, dass er sie nicht falsch verstand, fügte sie hinzu: »Und das hat nichts mit Ihrem heldenhaften Einsatz am Hafen zu tun. Dafür danke ich Ihnen.«

Decker nickte bedächtig. Eine faszinierende Frau. Sie war ohne jeden Argwohn, wies einen bemerkenswerten Mangel an Taktgefühl auf, und dennoch empfand er ihre Art erfrischend wie einen kühlen Sommerregen. In einem Atemzug erklärte sie, er sei zu unerfahren, um ihr Schiff zu kommandieren, und im nächsten Augenblick räumte sie ein, dass er sich sein Glück zunutze zu machen wusste. Und damit er keinen Zweifel daran hatte, dass sie ihn für seine Rettung belohnen wollte, dankte sie ihm auch noch dafür.

Jonna tippte sich mit dem Zeigefinger an die Nasenspitze. »Wieso sehen Sie mich so seltsam an?«, fragte sie, als er den Blick nicht von ihr wandte.

Decker blinzelte. Ob sie wusste, dass sich neben ihrem Mundwinkel ein Grübchen bildete, wenn sie die Lippen aufeinanderpresste?

»Aus keinem besonderen Grund, Miss Remington«, beeilte er sich zu versichern. »Ich bin nur froh, dass Sie wohlauf sind.«

Er machte auf dem Absatz kehrt und ging.

***

Grant Sheridan nahm zwei Stufen auf einmal, als er die Treppe hinaufstürmte, ohne auf Mrs. Davis' Protest zu achten, die an der untersten Stufe stehen blieb und hörte, wie er im ersten Stock Türen auf- und zumachte, auf der Suche nach Jonnas Zimmer.

Jack Quincy humpelte, auf eine Krücke gestützt, aus der Bibliothek, mit einem Glas Brandy in der freien Hand. »Was gibt's, Mrs. Davis? Was soll der Lärm?«

Die Haushälterin strich sich die Schürze glatt. »Es ist wegen Mr. Sheridan. Er hat von dem Vorfall am Hafen heute Morgen gehört und macht seine Aufwartung, um sich zu überzeugen, dass Miss Remington wohlauf ist.«

Jack blickte die Treppe hinauf und knurrte: »Wieso kommt er erst jetzt? Wenn ich die Absicht hätte, Jonna zu heiraten, wäre ich längst hier gewesen.« Er vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter zur Kaminuhr in der Bibliothek. »Es sind beinahe zwölf Stunden vergangen, seit sie ins Hafenbecken gestürzt ist. Wo war der Kerl so lange?«

Diese Frage hatte Mrs. Davis sich bereits vor Stunden gestellt, sorgte sich nun aber um etwas anderes. »Dr. Hardy verordnete Miss Remington absolute Ruhe. Es besteht immer noch Gefahr einer fiebrigen Erkältung, meint er. Und an der Schulter hat sie einen schlimmen Bluterguss. Sie braucht Ruhe, keine ungebetenen Besucher.«

Jack nahm einen kräftigen Schluck. »Soll ich nach oben gehen und ihn rauswerfen?«, fragte er nur halb im Scherz.

Mrs. Davis beäugte sein geschientes Bein, als würde sie seinen Vorschlag ernsthaft abwägen. »Nein«, meinte sie schließlich. »Sie sollen Ihr Bein hochlegen. Das hat der Doktor auch gesagt.«

»Ich habe die ganze Zeit mein Bein hochgelegt«, erwiderte er. »Bis ich Sie hier draußen krakeelen hörte.« Bevor sie sich über seine Äußerung entrüsten konnte, legte er ihr den Arm um die Schultern. »Wenn Sie nun so liebenswürdig wären und mich wieder zu meinem Sessel begleiten, dann wollen wir Mr. Sheridan ein paar Minuten bei seiner Verlobten gönnen, bevor wir ihr zu Hilfe eilen.«

Die Haushälterin wartete ab, bis sein Arm sicher um ihre Schultern lag, ehe sie mit besorgter Miene zu ihm aufblickte. »Es gab keine offizielle Ankündigung. Also ist er nicht wirklich Miss Remingtons Verlobter.«

Jack nickte weise. »Dann wollen wir ihm etwas weniger Zeit geben, Mrs. Davis, um Sitte und Anstand zu wahren.«

***

Jonna schlief, als Grant das Schlafzimmer betrat. Er näherte sich und setzte sich an die Bettkante. Er berührte ihre Wange mit den Fingerspitzen und streichelte sie sanft. Obwohl er wusste, wie erschöpft sie sein musste, konnte er nicht widerstehen, sie zu wecken.

»Jonna«, flüsterte er, beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. Ihre Haut war warm und vom Schlaf rosig angehaucht. »Jonna, Liebes. Ich bin es, Grant.« Sie bewegte sich im Schlaf, ohne aufzuwachen. Er versuchte es erneut. Diesmal legte er ihr die Hand auf die Schulter und rüttelte sie sanft.

Jonna schlug die Augen auf und stöhnte leise. Der stechende Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. Ein Schrei entfuhr ihr, auf den Grant in einer ihr unerwünschten Weise reagierte. Er nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. Seine zärtlichen Worte verfehlten ihre Wirkung. Jonna schrie wieder vor Schmerz und begann zu schluchzen. Sie versuchte, sich aus seinen Armen zu winden, wodurch der Schmerz ins Unerträgliche stieg und ihr beinahe das Bewusstsein raubte.

»Um Himmels willen, Mann, lassen Sie Miss Remington los!«

Grant drehte sich jäh auf dem Bett um und erkannte Decker Thorne, dessen Anwesenheit in Jonnas Schlafzimmer ihn verwirrte und erzürnte. »Was haben Sie hier zu suchen?«, fuhr Grant ihn an. »Holen Sie den Arzt! Sie hat Schmerzen.«

Empört durchquerte Decker das Zimmer und zerrte Grant von Jonna weg, was gar nicht einfach war. Sheridan war genauso groß wie Decker, aber dreißig Pfund schwerer, und keines dieser Pfunde war überflüssiges Fett. Ihn vom Bett hochzuziehen kostete Decker alle Kraft, die er noch besaß.

»Miss Remington?« Er wandte sich an Jonna, nachdem er Grant beiseitegestoßen hatte. »Wie fühlen Sie sich?«

Er sah es in ihren Augen. Eine Sekunde ehe der Schlag ihn traf, wusste er, dass er kommen würde. Sein geschwächter Zustand verminderte sein Reaktionsvermögen, er duckte sich nicht schnell genug, um dem mächtigen Schwinger auszuweichen. Grant Sheridan kam von hinten, seine Faust traf Deckers Schläfe mit voller Wucht. Decker wurde gegen den Schaukelstuhl geschleudert und verlor das Bewusstsein, ehe er auf dem Fußboden lag.

Er hörte nicht mehr, wie Jonna Remington seinen Namen rief.