Leseprobe Die Sehnsucht der Highlands

1

Im schottischen Hochland nahe Glenelg, Juli 1379

Endlich war sie Burg Chalamine und der ewigen Nörgelei ihres Vaters entkommen. Ohne Sattel ritt die neunzehnjährige Lady Isobel Macleod selbstvergessen den von Bäumen und Büschen gesäumten Weg am Fluss entlang, der sich durch das Glen Mòr zog, bis er auf den steilen Pfad traf, der hinunter ins Glen Shiel führte. Es war ein herrlicher Tag, und die kühle, salzige Meeresbrise streichelte ihre Wangen. Ringsum in der menschenleeren Wildnis sprossen die Blumen in verschwenderischer Fülle.

Die einsame Insel ihrer Träume, wohin sie sich am liebsten zurückziehen wollte, hatte sie noch nicht gefunden, doch bei ihrem Morgenritt hatte sie zumindest ein ungestörtes Stündchen für sich allein. Sie würde es noch eine weitere Woche auf Chalamine aushalten müssen, bis sie endlich zur Burg Lochbuie auf der Insel Mull zurückkehren konnte, wo sie die vergangenen sieben Jahre verbrachte hatte. Sie vermisste den Laird von Lochbuie und seine Frau, ihre Schwester Cristina, und ebenso deren drei Kinder und ihre eigenen beiden Lieblingskatzen Asche und Ruß.

Obgleich sie bis zu ihrem zwölften Lebensjahr auf Chalamine gelebt hatte, fühlte sich Isobel jetzt, da nur noch drei ihrer sechs Schwestern dort waren, auf der Burg nicht mehr zu Hause. Adela, die älteste von ihnen, war unter der Last der Hausarbeit schon mit zwanzig Jahren zu einer verbitterten Frau geworden. Und Sidony und Sorcha, die beiden sechzehn- und siebzehnjährigen Mädchen, konnten es gar nicht erwarten, einen Ehemann zu finden und ebenfalls fortzuziehen. Isobel dagegen hatte nicht die Absicht, jemals zu heiraten.

Sie konnte nur dankbar sein, dass ihr Vater, Murdoch Macleod von Glenelg, nicht länger darauf bestand, dass die jüngeren Schwestern warten mussten, bis die älteren verheiratet waren. Diesen Aberglauben hatte er nach dem Tod seiner Tochter Mariota abgelegt, zusammen mit den hochfliegenden Plänen für seine Töchter.

Entschlossen verbannte Isobel jeden Gedanken an Mariota oder Macleod aus ihrem Kopf und überlegte sich stattdessen, was sie mit den wenigen gestohlenen Stunden anfangen sollte. Sie konnte zum Glen Shiel und Loch Duich weiterreiten oder einen neuen, unbekannten Weg erkunden.

Während sie noch darüber nachdachte, nahm sie hoch oben auf einem nördlich gelegenen Hügel eine Bewegung wahr. Da Glen Mòr ein enges Tal war – an manchen Stellen hatte nur der rasch dahinströmende Fluss mit dem schmalen Uferpfad Platz in dem engen Talgrund – war der gegenüberliegende Hügel nicht weit entfernt. Daher konnte sie deutlich die beiden Reiter erkennen, die soeben im dichten Unterholz verschwanden. Das erregte Isobels Aufmerksamkeit. Vielleicht gab es dort ja einen Pfad, den sie noch nicht kannte. Mit einem leichten Tippen der Gerte lenkte sie ihr Pferd zu einer flachen Stelle im Fluss, an der sie ohne Gefahr ans andere Ufer gelangen konnte. Drüben trieb sie das Tier bergauf zu der Stelle, wo sie den verborgenen Pfad vermutete. Zehn Minuten später befand sie sich mitten in einem kleinen Wäldchen aus Zitterpappeln, Eichen und Kastanien, durch das sich ein munteres Bächlein dem Fluss entgegenschlängelte. Sie brachte ihr Pferd im Schatten der Bäume zum Stehen und lauschte. Ihr war eingefallen, dass die beiden Männer jeden Augenblick wieder auftauchen konnten, und sie war nicht darauf erpicht ihnen zu begegnen.

Angst hatte Isobel nicht. Die Leute aus den benachbarten Tälern kannten sie, und einem Fremden brauchte sie nur zu sagen, dass sie Macleods Tochter war. Falls während ihrer Abwesenheit irgendwo eine Fehde ausgebrochen wäre, hätten ihre Schwestern oder ihr Vater es ihr bestimmt erzählt.

Um sie herum war nichts als das Gurgeln des Bächleins und das Pfeifen und Zwitschern der Vögel. Daher ließ sie ihr Pferd weitergehen und stieß bald auf den gesuchten Pfad. Es war kein Wunder, dass sie ihn nicht früher entdeckt hatte, denn er führte jenseits des Baches durch eine enge Spalte zwischen zwei riesigen Felsblöcken bergauf bis zu einer Klamm, wo er zu enden schien. Doch beim Weiterreiten stellte sie fest, dass der Weg hinter der Schlucht wieder breiter wurde und zu einer grasbewachsenen Lichtung in einem Wald führte. Auf der anderen Seite ragte eine kahle Felswand auf.

Da von den beiden Reitern nirgendwo etwas zu sehen war, durchquerte sie das nahezu ausgetrocknete Flussbett, das sich mitten durch die Lichtung zog, um herauszufinden, ob der Pfad auf der anderen Seite weiterging. Dabei genoss sie die Waldesruhe, bis plötzlich der Schrei eines Mannes die Stille zerriss.

Es klang nicht weit entfernt. Sie trieb ihr Pferd an, blickte sich dabei jedoch vorsichtig um und lauschte auf weitere Geräusche. Bald lichtete sich der Wald erneut. Als sie Männerstimmen vernahm, zügelte sie ihr Pferd und flüsterte ihm zu: „Wir sollten wohl besser verschwinden. Das hier geht uns nichts an. Aber andererseits war ich schon immer mit Neugier geschlagen, und das wird sich wohl auch nie ändern.“ Mit diesen Worten rutschte sie behände vom Pferderücken und schlang die Zügel um den Ast eines nahen Baumes. Sie tätschelte dem Pferd die Nase und sagte leise: „Und jetzt keinen Mucks, wenn ich bitten darf.“ Dabei war sie keineswegs sicher, dass die Ermahnung etwas nützen würde. Als sie daran dachte, wie oft ihre Eltern und Pflegeeltern sie schon für ihre Neugier bestraft hatten, schickte sie ein Stoßgebet gen Himmel, dass man sie diesmal nicht erwischen möge. Dann packte sie ihre Reitgerte fester, zog den langen dunkelgrauen Umhang enger um sich, damit er nirgends hängenblieb, und näherte sich den Stimmen mit raschen, lautlosen Schritten.

Hinter einer dicken Kastanie blieb sie stehen und spähte vorsichtig um den Stamm herum. Der Anblick verschlug ihr den Atem.

Sechs Männer umringten einen siebten, der mit seitwärts ausgestreckten Armen an die Äste zweier alter, knorriger Eichen gefesselt war. Er hatte dunkle Haare und trug nichts als eine Hose und Stiefel. Sein muskulöser Oberkörper war unbekleidet, und aus vier tiefen Striemen auf seinen breiten Schultern sickerte Blut. Kaum hatte Isobel begriffen, was dort vor sich ging, hob einer der Sechs eine schwere Peitsche und knurrte grimmig: „Du wirst uns sowieso alles erzählen. Besser du redest jetzt gleich, solange du es noch kannst.“

„Eher sollt ihr in der Hölle schmoren“, erwiderte der Gefesselte mit einer tiefen, volltönenden Stimme, die bis zu Isobel drang. Sie kannte weder ihn noch einen der übrigen Männer, doch er hörte sich an wie ein gebildeter Mann.

„Du hast ja gesehen, wozu ich fähig bin“, sagte der mit der Peitsche. „Mann, du hast ja schon nach dem vierten Schlag geschrien. Bist du sicher, dass ich weitermachen soll?“

Als sein Opfer schwieg, erhob er erneut die Peitsche.

Der Gefangene spannte alle Muskeln an, und auch Isobel verkrampfte sich, als der Schlag fiel. Wieder zerriss sein Schmerzensschrei die Luft.

„Nanu, was haben wir denn da?“

Sie fuhr herum und riss die Reitpeitsche hoch, doch eine große Hand packte mit hartem Griff ihren Unterarm. Ein Mann mit einem schwarzen Bart knurrte: „Lass die mal schön fallen, Mädchen, und sei froh, dass du mich nicht getroffen hast.“ Zu den übrigen Männern gewandt rief er: „He, seid doch mal still! Wir haben hier ein vorwitziges Schätzchen. Mit dem werden wir uns mal ein bisschen amüsieren!“

Isobel seufzte. Ihr Stoßgebet war also nicht erhört worden. Kein Wunder, dachte sie, denn sie selbst hielt keineswegs alles, was sie Gott im Gegenzug für die Erfüllung eines Wunsches versprach.

Widerstandslos ließ sie sich von dem stämmigen Kerl auf die Lichtung ziehen, doch als er sie vorwärtsstieß, bis sie vor dem Mann mit der Peitsche stand, hatte sie sich wieder gefasst. „Ich weiß ja nicht, wer Ihr seid“, zischte sie empört, „aber ich bin die Tochter Macleods von Glenelg. Und Ihr habt hier nichts zu suchen. Wenn dieser arme Mensch dort ein Gesetz gebrochen hat, muss man ihn vor das Gericht des Lairds stellen und ihm einen gerechten Prozess machen.“

„Ja, sicher“, erwiderte der Mann mit der Peitsche. „Aber das kommt immer darauf an, wessen Gesetz er gebrochen hat, nicht?“

„Das einzige Gesetz, das hier zählt, ist das Macleods und vielleicht noch das des Lords der Inseln“, widersprach Isobel. Sie hatte die Männer für ein paar Raufbolde aus der Gegend gehalten, die einen Gentleman überfallen hatten, doch als sie die Stimme ihres Anführers – die Stimme eines vornehmen Mannes – hörte, stellte sie fest, dass sie sich geirrt hatte. Daraufhin sah sie sich die Fremden genauer an. Zwei von ihnen besaßen Schwerter, um die sie die Gefolgsleute ihres Vaters beneidet hätten, und der Mann mit der Peitsche trug ein vorzüglich geschnittenes schwarzes Samtwams und eine seidene Pluderhose. Obwohl sie allmählich Angst bekam, befahl sie mit fester Stimme: „Bindet den armen Mann auf der Stelle los!“

„Na, Mädchen“, erwiderte der Anführer, „für jemanden, der keine Armee dabeihat, bist du aber ganz schön dreist.“ An seine Männer gewandt setzte er hinzu: „Die ist bestimmt einmalig im Bett.“

„Lasst sie gehen!“, stieß der gefesselte Mann hervor. „Sie hat mit der ganzen Sache nichts zu schaffen. Und außerdem ist sie eine edle Dame, nach der man bestimmt suchen wird. Vielleicht ist ihre Eskorte sogar irgendwo in der Nähe.“

Isobel blickte ihn an. Obwohl er finster dreinschaute, fand sie sein Gesicht sehr anziehend, doch sein Blick erinnerte sie an den furchterregenden Laird von Lochbuie, wenn er wütend war.

Der Anführer machte eine Kopfbewegung zu der Stelle, wo sie Isobel aufgegriffen hatten, und sagte: „Geh mal nachsehen, Fin.“

„Aber ich habe niemanden gesehen“, erklärte der Angesprochene. „Sie war ganz alleine.“

„Schau trotzdem nach. Er hat recht, ein solches Mädchen ist schwerlich alleine unterwegs.“ Dann befahl er den übrigen Männern: „Schneidet ihn erst einmal ab und sperrt die beiden in die Höhle, bis wir uns vergewissert haben. Ich kann nicht noch mehr Überraschungen gebrauchen.“

Zwei Männer zerrten Isobel, die sich heftig sträubte, zu einem schmalen Spalt in der Felswand, dem Eingang zu einer unterirdischen Höhle, in der es pechschwarz wie im Höllenschlund war. Isobel schloss die Augen und versuchte sich einzureden, dass das Ganze nur ein aufregendes Abenteuer war.

Einer der Männer entzündete eine Fackel, bevor sie sich durch den engen Spalt zwängten. Der Hohlraum dahinter, bei dem es sich offensichtlich um eine natürliche Höhle handelte, besaß eine hochgewölbte Decke aus Granit und war größer als erwartet. Erstaunt blickte Isobel sich um. Die Höhle lag nicht weit von Chalamine entfernt, doch sie hatte noch nie davon gehört.

Als sie Schritte hinter sich vernahm, drehte sie sich um. Zwei weitere Männer trugen ihr Opfer herein und stießen es neben Isobel, der sie ebenfalls Hände und Füße gefesselt hatten, auf den harten Boden. Dann gingen sie davon und ließen die Gefangenen in der Dunkelheit allein.

„Ich wünschte, dieser schreckliche Kerl hätte mir nicht den Umhang abgenommen, als er mir die Hände zusammengebunden hat“, murrte Isobel. „Es ist schrecklich kalt hier. Aber wahrscheinlich muss ich froh sein, dass sie uns nicht auch noch geknebelt haben.“

„Hier drinnen würde uns sowieso keiner hören“, kam seine gelassene Stimme aus der Dunkelheit.

Sie antwortete nicht, sondern zerrte versuchsweise an ihren Fesseln. Sie konnte die Hand nicht vor den Augen sehen.

„Dafür, dass Ihr so in der Patsche steckt, seid Ihr ganz schön ruhig“, fuhr er fort. „Habt Ihr wirklich eine Eskorte dabei?“

Sie seufzte. „Leider nicht. Ich bin alleine, und in den nächsten Stunden wird mich auch niemand vermissen. Doch wenn ich zu lange fortbleibe, schicken sie bestimmt einen großen Suchtrupp los.“

„Ist Euer Vater denn so mächtig?“

„Ja, schon“, antwortete sie und verzog vor Schmerz das Gesicht, als das Seil ihr in die Handgelenke schnitt. „Er sitzt im Rat der Inseln. Doch der Mann meiner Schwester ist noch einflussreicher. Er ist für mich wie ein Pflegevater, denn bei ihnen habe ich die letzten sieben Jahre gelebt. Der wird uns mit Sicherheit finden, wenn uns diese niederträchtigen Halunken nicht vorher umbringen.“

„Wieso ist Euer Pflegevater noch mächtiger als ein Ratsmitglied?“, erkundigte er sich mit einem Anflug von Belustigung.

„Es ist Hector der Grimmige“, erwiderte sie nur.

Ihr Mitgefangener nahm die Auskunft schweigend auf. Als er wieder sprach, klang seine Stimme ernst: „Ich glaube, Ihr solltet unseren Gastgebern besser nichts davon erzählen.“

„Aber warum denn nicht? Die meisten Männer haben Angst vor Hector.“

„Ach, nur so“, erwiderte er.

Sie dachte über seine Worte nach, dann sagte sie: „Ihr habt wohl Angst, dass sie mich beiseiteschaffen. Aber dann müssten sie Euch auch töten, damit Ihr nicht redet.“

Er gab keine Antwort.

„Wer seid Ihr eigentlich, dass sie ein so großes Interesse an Euch haben?“

„Nennt mich einfach Michael“, sagte er.

„Ganz wie Ihr wollt, aber so wie Ihr redet, habt Ihr bestimmt einen längeren Namen als nur Michael. Warum haben sie Euch das angetan?“

„Das geht Euch nichts an“, entgegnete er.

„Wenn sie uns schon beide umbringen, hätte ich doch gerne gewusst warum!“

„Sie werden mich nicht umbringen, jedenfalls noch nicht.“

„Ihr könnt Euch wohl denken, dass mich mein eigenes Schicksal wesentlich mehr interessiert als das Eure“, erwiderte sie schnippisch. „Glauben die denn, ich könnte ihnen gefährlich werden?“

„Nur wenn sie den Namen Hector Reaganach hören“, sagte er. „Mich fürchten sie nicht, weil ich ihnen keinen Grund dazu gegeben habe.“

„Dieser Mann vorhin wollte, dass Ihr ihm etwas verratet“, sagte sie, als sie an die Szene auf der Lichtung zurückdachte.

Er seufzte. „Das habt Ihr also auch mitbekommen? Wenn Ihr klug seid, sprecht Ihr auch darüber nicht.“

Man hatte sie schon oft altklug genannt, doch das war es wohl kaum, was er meinte. Sie hatte die Bezeichnung sowieso nie als Kompliment aufgefasst. „Warum sagt Ihr ihm nicht einfach, was er wissen will?“, fragte sie.

„Weil ich es nicht kann.“

„Dann sollten wir wohl besser zusehen, dass wir hier rauskommen.“

Ihr Gefährte lachte, dass es von den Wänden der Höhle widerhallte.

„Ich weiß wirklich nicht, was daran so komisch ist“, sagte sie pikiert. „Wenn man erst einmal erkannt hat, was notwendig ist, sollte man einen Plan machen und ihn entschlossen in die Tat umsetzen.“

„Dann beeilt Euch mal lieber mit dem Umsetzen, Mistress, denn sie werden bald zurückkommen.“

Ihre scharfen Ohren verrieten ihr, dass es noch nicht so weit war. Also blieb ihr noch Zeit, weiter an ihren Fesseln zu rucken, um sie zu lockern, auch wenn ihre Handgelenke von den vergeblichen Versuchen bereits ganz wund waren. In ihrem Kopf jagten sich die Gedanken.

Auf einmal fiel ihr ein Vorfall aus ihrer Kindheit wieder ein. Damals war sie ihrer Schwester Kate so lange mit ihrem Geplapper auf die Nerven gegangen, bis die genug hatte und Isobel die Hände auf dem Rücken zusammenband. Doch sobald Kate sich umgedreht hatte, hatte die kleine, wendige Isobel die gefesselten Hände unter ihrem Hinterteil, den Beinen und zuletzt den Füßen hindurchgezogen. Dann hatte sie den Knoten mit den Zähnen gelöst, war lautlos auf bloßen Füßen ihrer Schwester nachgeschlichen und hatte ihr unversehens mit zwei Fingern in die Seiten gepikt. Kate wäre vor Schreck beinahe aus der Haut gefahren.

Ob ihr der Trick wohl auch jetzt noch gelingen würde? Einen Versuch war es auf jeden Fall wert. Ihre Hüften waren mittlerweile zwar breiter, doch ihre Arme dafür länger, und mit ein wenig Drehen und Wenden gelang es ihr, sich rücklings auf ihre Hände zu rollen. Dann hob sie das Hinterteil hoch und zerrte die Hände darunter hindurch. Sie zuckte zusammen, als sie sich die Haut an dem felsigen Untergrund aufschürfte.

Jetzt war sie ganz froh, dass der Schuft ihr den Umhang abgenommen hatte, denn der wäre ihr jetzt nur im Weg gewesen.

„Was macht Ihr denn da?“, fragte Michael.

Da sie ihm nicht zeigen wollte, wie sehr sie außer Atem war, antwortete sie nicht. Nur gut, dass er sie jetzt nicht sehen konnte.

„Antwortet doch, Mädchen! Ist alles in Ordnung?“

„Ja“, murmelte sie widerwillig. „Passt Ihr nur auf, ob jemand kommt.“

Sie richtete sich zum Sitzen auf und versuchte unter ihren Rock zu fassen. Den Dolch, den Hector ihr gegeben hatte, als sie dreizehn wurde, hatte sie sich mitsamt der Lederscheide um den Oberschenkel geschnallt, doch sie kam nicht heran. Damals – als Kind – hatte Kate ihr wenigstens nicht auch noch die Knöchel gefesselt. Jetzt wollte es Isobel einfach nicht gelingen, beide Füße auf einmal über die Handgelenke zu heben. Doch sie musste es schaffen. Die Fremden würden bestimmt bald zurückkommen.

Sie rollte sich wieder auf den Rücken, atmete tief aus und schwang Beine und Gesäß nach hinten über den Kopf, als wollte sie eine Rolle rückwärts machen. Sie war noch immer ziemlich gelenkig, doch ob es ihr gelingen würde, die gefesselten Hände über die Beine zu ziehen, blieb abzuwarten. Jedenfalls war sie heilfroh, dass ihr Leidensgefährte sie in dieser – gelinde gesagt – würdelosen Haltung nicht sehen konnte.

Sir Michael St. Clair hatte ebenfalls an seinen Fesseln gezerrt, die so fest saßen, dass sie ihm allmählich das Blut abschnürten. Als er hörte, wie das Mädchen sich abplagte, wollte er ihr schon raten, sich still zu verhalten, damit sie sich nicht verletzte und sie hören konnten, wenn Waldron und die anderen zurückkamen, auch wenn ihnen das wahrscheinlich nicht viel nützen würde.

Trotz der Dunkelheit konnte er erkennen, dass er sich nicht in der Höhle befand, die er schon so oft in seinen Träumen gesehen hatte.

Das Mädchen rumorte noch immer herum. Vielleicht halfen ihr die vergeblichen Befreiungsversuche, die Situation zu ertragen. Er war jedenfalls dankbar, dass sie nicht hysterisch herumkreischte und ihm Vorwürfe an den Kopf warf. Sie war überhaupt eine höchst ungewöhnliche Frau. Er hatte noch niemals eine gekannt, die in einer solchen Misere den Mund gehalten hätte.

In diesem Augenblick stieß sie einen unterdrückten Schmerzensschrei aus, gefolgt von einer gemurmelten äußerst undamenhaften Bemerkung. „Seid Ihr sicher, dass alles in Ordnung ist?“, fragte er.

Auch diesmal erhielt er keine Antwort. Nach langen bangen Minuten folgte ein neuerliches Grunzen.

Indem sie sich fast bis an die Schmerzgrenze streckte, war es Isobel gelungen, mit den Händen die Füße zu erreichen. Doch dann hatte sich das Seil um die Handgelenke an den Fußfesseln verhakt. Vor Wut und Erschöpfung keuchend presste sie das letzte Restchen Luft aus ihren Lungen, bis sie das Gefühl hatte, zwischen ihrer Bauchdecke und dem Rückgrat sei kein Zentimeter Platz mehr.

In diesem Augenblick vernahm sie in der Ferne ein leises rhythmisches Stampfen. Voller Panik zog sie die Hände endlich über ihre Füße. Rasch richtete sie sich wieder auf, hob die Röcke hoch und griff nach dem Dolch.

Wie gut, dass sie auf Hector gehört und die Waffe stets gewissenhaft geschärft hatte! Mit einem Ruck durchtrennte sie das Seil um ihre Knöchel und kam mühsam auf die Beine.

„Sagt mal was, damit ich Euch finde“, flüsterte sie. „In dieser verdammten Finsternis sieht man ja nicht die Hand vor Augen.“

„Ich bin hier“, antwortete er. „Aber Ihr steht ja! Konntet Ihr Euch befreien?“

„Ja, aber nur meine Füße. Deshalb seht Euch vor, wenn ich falle, könnte ich Euch erstechen.“

„Ihr habt ein Messer!“, rief er und gleich darauf: „Vorsicht, das war mein Fuß!“

Rasch kniete sie sich hin, tastete nach seinen Fußfesseln und schnitt sie durch.

„Still jetzt, da kommt jemand!“, flüsterte sie.

„Ja, ich hab’s auch gehört.“

Die Schritte kamen immer näher, doch sie sahen noch keinen Lichtschein.

Dann tastete sie nach seinen Handfesseln und wäre fast zurückgezuckt, als ihre Finger seine nackte Schulter berührten. Er zog scharf die Luft ein, als sie die Peitschenstriemen an seinem Rücken berührte. Es tat ihr leid, dass sie ihm Schmerzen zugefügt hatte, doch zugleich schauderte sie, als sie das klebrige Blut an ihren Fingerspitzen spürte.

Dann hatte sie seine Hände gefunden. Er zog das Seil stramm, damit sie es leichter durchschneiden konnte. Gleich darauf war er frei.

„Gebt mir das Messer“, sagte er mit gepresster Stimme.

„Seid vorsichtig“, erwiderte sie. „Die Klinge ist scharf wie ein Rasiermesser.“

Er musste erneut lachen. „Ihr seid wirklich eine außergewöhnliche Frau“, sagte er, während er ihre Handfesseln durchschnitt. „Ich würde mich nicht wundern, wenn Ihr uns auch noch hier herausführen könntet.“

„Meine Güte, ich wusste nicht einmal, dass es diese Höhle gibt“, entgegnete sie. „Ihr scheint mir ziemlich stark zu sein. Könnt ihr die Männer, die da im Anmarsch sind, nicht einfach überwältigen?“

„Das glaube ich kaum. Weiß der Himmel, wie viele es sind. Und außerdem habe ich seit heute Morgen nichts mehr gegessen und getrunken und bin ein bisschen schwach auf den Beinen. Und selbst wenn nur einer kommt, und ich ihn niederschlagen kann, was ist mit den fünf anderen, die draußen warten?“

Ihnen blieb keine Zeit mehr, darüber nachzudenken. Immer näher kamen die Schritte, und jetzt sahen sie auch einen schwachen orangefarbenen Schimmer in der Ferne. Das Licht reichte aus, um die Wände und den Boden vor ihren Füßen zu erkennen. Vorsichtig tastete sich Isobel vorwärts. Sie glaubte, auf dem Hinweg flüchtig einen Seitengang gesehen zu haben, doch es war sehr zweifelhaft, ob er ihnen von Nutzen wäre, selbst wenn es ihr gelang, ihn wiederzufinden. Bei der Dunkelheit war es fast unmöglich, sich in einem unbekannten Gang zurechtzufinden, und ihre Verfolger würden sie rasch einholen. Doch es war zumindest ein winziger Hoffnungsschimmer.

Sie war froh, dass ihr Begleiter schwieg. So konnte sie wenigstens in Ruhe nachdenken. Vielleicht fiel ihr doch noch ein Ausweg ein.

„Gebt mir meinen Dolch wieder“, sagte sie schließlich.

„Meine Güte, wollt Ihr ihn etwa umbringen?“

„Wenn es sein muss“, erwiderte sie, während sie die Waffe an sich nahm.

Als sie eine Gestalt sah, die sich ihnen näherte, war sie beinahe erleichtert. Endlich hatte die Ungewissheit ein Ende.

„Ich glaube, es ist nur einer“, murmelte sie. „Könntet Ihr nicht wenigstens versuchen, ihn niederzuschlagen?“

„Ich würde Euch ja gerne den Gefallen tun, Mädchen, aber ich kann nichts versprechen. Selbst wenn es mir gelingt, sind wir immer noch nicht auf dem Weg nach draußen und …“

„Woher wollt Ihr das wissen? Kennt Ihr die Höhle vielleicht?“

„Nein, aber Ihr müsst zugeben, dass dieser Gang nicht sehr vielversprechend aussieht.“

„Wir wissen doch gar nicht, wo er hinführt“, erwiderte sie. „Und ich könnte schwören, dass es hier irgendwo einen Seitengang …“

„Pst!“, unterbrach er sie. „Er kann uns hören.“

Das Licht kam immer näher. Isobel kroch auf allen Vieren am Boden herum, als ob sie etwas suchen würde. Ihre Hände glitten über ein paar Kieselsteine, zwei Felsvorsprünge an der Wand und ihren Umhang, doch endlich fand sie einen Stein, der genau die richtige Größe hatte. Mit beiden Händen hob sie ihn hoch und stand auf.

Ihr Gefährte war im Schatten der gegenüberliegenden Wand kaum noch zu erkennen. Rasch schlich sie zu ihm und drückte ihm den Stein in die Hand.

„Hier“, flüsterte sie. „Ich lenke ihn ab, und Ihr haut ihm den über den Schädel.“

„Um Himmels willen, Mädchen, ich bin ein friedliebender Mann.“

„Da wäret Ihr aber der Erste“, gab sie zurück. „Und jetzt hört auf, alles mieszumachen und fasst Euch ein Herz. Ihr habt selbst gesagt, dass diese Halunken mich vielleicht umbringen wollen. Ich würde lieber noch ein bisschen am Leben bleiben, also …“

„Schschsch!“, zischte er.

Sie packte ihren Dolch fester und huschte zurück auf ihren Platz.

2

„Na, wer hat dich denn losgebunden?“, fragte der Mann und beugte sich über Isobel. Dabei hielt er seine Fackel so hoch, dass sie ihre Augen gegen das Licht abschirmen musste.

„Ich selbst“, erwiderte sie lächelnd. Es war derselbe, der sie im Wald gefangen hatte. „Ich mag nicht gefesselt sein.“

„Du bist ja eine richtige Schönheit!“, sagte er. „Die Blonden sind mir sowieso die liebsten. Komm doch mal her, vielleicht lasse ich mich ja überreden und lege bei Waldron ein gutes Wort für dich ein.“

„Würdet Ihr das wirklich tun, Sir?“, fragte sie. Sie legte eine Hand auf die Brust, neigte sich ein wenig zu ihm und blickte ihn schmachtend an, was ihr nach all den Festen am Hofe des Lords der Inseln nicht schwerfiel. „Ich vermute, Waldron ist der Name Eures Anführers.“

„Ja.“ Mit begehrlich glitzernden Augen streckte er die Hand nach ihr aus.

Noch immer lächelnd und mit den Wimpern klimpernd trat sie einen Schritt zurück, den Dolch hinter dem Rücken verborgen.

Grinsend kam der Mann auf sie zu, und Isobel wollte schon angreifen. Doch in diesem Augenblick löste sich ein Schatten aus der Dunkelheit, es gab einen dumpfen Schlag und der Fremde kippte stumm vornüber.

Sie sprang beiseite, sodass er der Länge nach auf dem Boden aufschlug. Als sie aufsah, stellte sie überrascht fest, dass es Michael gelungen war, dem Stürzenden die Fackel zu entreißen.

„Und was jetzt?“, fragte er mit einem Blick auf den Bewusstlosen. Sein Ton war so beiläufig, als habe er sich nach dem Wetter erkundigt.

Isobel verzog das Gesicht. „Die anderen werden auch gleich hier sein. Wir müssen uns beeilen.“

„Da stimme ich Euch zu, Mistress. Doch da wir beide weder wissen, wo wir uns befinden, noch, wo die anderen sind …“

„Du lieber Himmel, Sir, wir müssen auf der Stelle hier weg, und zwar, solange die Fackel noch brennt. Lasst uns mal nachsehen, wohin der schmale Gang dort führt und wie lang der Hauptweg hier ist.“

„Beides zugleich geht nicht“, erwiderte er. „Dürfte ich vorschlagen, dass ich Euch leuchte, während ihr den engen Gang inspiziert. Ein Mann von meiner Größe passt sowieso nicht hindurch.“

„Was ist mit dem da?“, fragte Isobel. „Ist er tot?“

„Würde es Euch etwas ausmachen?“

„Nein, er ist ein richtiges Ungeheuer.“

„Ganz meine Meinung. Trotzdem bin ich froh, dass er noch atmet.“

„Das bedeutet, er kann jeden Augenblick wieder zu sich kommen. Wir sollten ihn lieber fesseln.“

„Eine ausgezeichnete Idee“, sagte er und reichte ihr die Fackel. „Ich sehe mal nach, ob ich ein ausreichend langes Stück Seil finde.“

„Zur Not könnt Ihr ja ein paar Stücke zusammenknoten.“

Er nickte, band die längsten Enden zusammen und verschnürte damit den bewusstlosen Mann. Dann nahm er wieder die Fackel und bedeutete Isobel, den engen Spalt zu untersuchen.

Ein kurzer Blick genügte, um zu sehen, dass es sich nur um eine kleine Felsnische handelte.

„Dort könnten wir ihn vielleicht verstauen“, schlug ihr Begleiter zögernd vor. „Dann sehen sie ihn nicht sofort. Und bis sie ihn gefunden, losgebunden und wieder zu sich gebracht haben, bleibt uns genügend Zeit zu fliehen. Vielleicht finden sie ja die Stelle gar nicht wieder, wo sie uns zurückgelassen haben.“

„Könnt Ihr ihn alleine hochheben?“, fragte sie. „Um Euch zu helfen, müsste ich die Fackel weglegen, und wenn sie herunterfällt und ausgeht, stehen wir wieder im Finsteren. Es scheint mir ohnehin, als würde sie nicht mehr lange brennen.“ Sie bemühte sich, nicht allzu ängstlich zu klingen, doch ihre bebende Stimme verriet sie.

Michael war damit beschäftigt, den Gefangenen unsanft in die Felsöffnung zu stopfen, doch Isobel hatte kein Mitleid mit dem Fremden. Sie wünschte dem Schuft ebenso viele Schrammen und Kratzer, wie sie sich bei ihren abscheulichen Verrenkungen zugezogen hatte.

Kurz darauf war es geschafft, und Michael sagte: „Wenn Ihr mir noch einmal Euren Dolch leihen würdet, Mistress, dann kann ich einen Streifen von seinem Hemd abschneiden und ihm damit den Mund verbinden.“

Während sie ihm die Waffe reichte, lauschte sie angestrengt. Wenn die anderen kamen, musste sie unbedingt die Fackel löschen, damit sie das Licht nicht entdeckten.

Nach einer Weile wurde sie ungeduldig. „Vielleicht sollte ich schon einmal vorausgehen, bis Ihr …“

„Nein, Mädchen, ich bin schon fertig“, erwiderte er. „Ihr geht vor, und ich nehme die Fackel und leuchte uns. Hoffentlich holen sie uns nicht ein.“

„Wir müssen eben schnell machen“, sagte sie und hob ihren Umhang auf. „Je mehr Vorsprung wir haben, desto besser.“

„Aber selbst, wenn wir einen Seitengang finden, können sie sich noch immer teilen und uns auf beiden Wegen suchen.“

„Das stimmt. Am besten, wir verstecken uns irgendwo.“

„Gute Idee, aber wo?“

Mit einem kleinen Seufzer legte sie sich den warmen Umhang um die Schultern und machte sich auf den Weg.

„Wir müssen vorsichtig sein, Sir“, sagte sie, nachdem sie ein Stück gegangen waren. „Ich kenne mich mit Höhlen nicht aus, und bei dem flackernden Licht kann man den Weg kaum erkennen. Ich habe keine Lust, durch ein Loch bis zum Mittelpunkt der Erde zu fallen.“

Er schwieg, sagte jedoch kurz darauf: „Schaut mal nach links, Mistress. Sieht das dort drüben nicht wie eine Art Felssims aus?“

Tatsächlich befand sich ein Stück weiter über Kopfhöhe ein Felsvorsprung. „Da kommen wir nicht hoch“, sagte Isobel. „Außerdem würden sie uns dort bestimmt entdecken.“

„Nicht, wenn der Sims breit genug ist“, widersprach er. „Wenn Ihr auf meine Schultern steigt, könnt Ihr bestimmt hinaufklettern. Traut Ihr Euch das zu?“

„Ich finde, wir sollten lieber zusehen, dass wir so schnell wie möglich hier herauskommen“, antwortete sie.

Als er schwieg, sagte sie schließlich: „Na schön, aber ich weiß wirklich nicht, wofür es gut sein soll.“

„Lasst uns wenigstens nachsehen, ob der Vorsprung breit genug für uns beide ist.“

„Glaubt Ihr wirklich, Ihr könnt mich so hoch heben? Vor ein paar Minuten habt Ihr noch behauptet, Ihr wäret ganz schwach auf den Beinen.“

„Wer ist jetzt der Miesmacher?“

„Aber Ihr habt es doch gesagt!“

„Ja, schon, aber Furcht verleiht bekanntlich Flügel. Also los jetzt, versuchen wir’s.“

Mit erstaunlicher Leichtigkeit hob er sich das Mädchen auf die rechte Schulter und stützte sie, als sie sich an der rauen Felswand festhielt und langsam aufrichtete. Dann stellte sie ihren linken Fuß auf seine linke Schulter, wobei ihr flüchtig in den Sinn kam, wie ungehörig ihre Haltung war. Doch er schien es gar nicht zu bemerken. Er zog die Fackel aus der Felsspalte, in die er sie geklemmt hatte, um die Hände frei zu haben, und hielt sie hoch. Isobel konnte gerade über den Rand des Felssimses blicken, der viel breiter war, als sie erwartet hatte.

„Es ist genug Platz für uns beide“, sagte sie. „Der Vorsprung ist sogar nach hinten ein wenig abschüssig.“

„Aber bis zum Mittelpunkt der Erde führt er wohl nicht, oder?“

„Nein, ich kann die Rückwand sehen. Aber ich schaffe es nicht, mich hinaufzuziehen.“

„Haltet Euch am Rand fest, dann stemme ich Euch hoch.“

Bevor sie es sich versah, fasste er mit beiden Händen ihre Füße in den Stiefeln und hob sie so hoch, dass sie sich auf den Sims ziehen konnte.

Kaum war sie oben, wurde es stockfinster. „Was habt Ihr getan?“, fragte sie mit vor Schreck ganz piepsiger Stimme.

„Pst!“, flüsterte er. „Ich habe die Fackel ausgemacht, weil jemand kommt. Rutscht so weit nach hinten, wie Ihr könnt. Und zieht, wenn möglich, Euren Umhang aus, damit wir uns darunter verstecken können.“

„Aber wie wollt Ihr …“

„Schsch!“

Nun konnte auch sie die Schritte und das Stimmengemurmel hören, die immer näher kamen. Geräuschlos zog sie sich von der Felskante zurück und versuchte sich zu beruhigen. Doch als eine große Hand sie an der Hüfte berührte, hätte sie beinahe laut aufgeschrien, wenn es ihr nicht gleichzeitig vor Schreck die Stimme verschlagen hätte. Gleich darauf merkte sie, dass Michael neben ihr stand.

„Wie seid Ihr heraufgekommen?“, flüsterte sie, als sie wieder sprechen konnte.

„Ich hatte ausgiebig Gelegenheit, mir die Felswand anzusehen, während ich Euch hinaufhalf“, flüsterte er zurück.

„Ihr seid geklettert?“

„Es sieht so aus. Anscheinend verleiht Furcht tatsächlich Flügel.“

Sie musste lächeln, weil er so verwundert klang, konnte jedoch noch immer kaum glauben, dass er wirklich die nackte Wand erklettert hatte. Und noch dazu ohne einen Laut.

Die Schritte und Stimmen waren jetzt so nahe, dass sie sich furchtsam gegen die Rückwand des Felsvorsprungs presste.

„Legt euch flach hin und gebt mir Euren Umhang“, flüsterte er. „Unter dem dunklen Tuch entdecken sie uns nicht so leicht. Trotzdem sollten wir beten, dass sie noch mindestens eine Meile in diesem Gang weiterlaufen.“

„Ich hoffe, die Erde öffnet sich und verschlingt sie alle miteinander“, entgegnete sie und legte sich behutsam hin.

„Den Gefallen wird uns die Erde wohl kaum tun. Jetzt aber still, Mistress, und keine Bewegung.“

Einen Herzschlag später lag er lang ausgestreckt so dicht neben ihr, dass er ihre ganze Seite berührte. Auf einmal erschien er ihr viel größer als zuvor. Er rückte sich zurecht, bevor er den Umhang so eng um sie legte, dass sie kaum noch Luft bekamen. Gerade wollte sie sich beklagen, da hörte sie den Wutschrei des Anführers. Die Halunken hatten gemerkt, dass ihnen ihre Gefangenen durch die Lappen gegangen waren. Offensichtlich hatten sie auch ihren bewusstlosen Kumpan gefunden. Möglicherweise war er ja schon wieder zu sich gekommen und hatte mitangehört, was sie und Michael besprochen hatten.

Der Gedanke jagte ihr einen gewaltigen Schreck ein, aber sie wagte kein Wort zu sagen. Sie überlegte, was Michael wohl mit der Fackel angestellt hatte. Hoffentlich fanden ihre Feinde sie nicht.

So dumm, sie unten herumliegen zu lassen, war er bestimmt nicht gewesen, schalt sie sich selbst, ärgerlich, dass sie sich mittlerweile genauso viele Sorgen machte wie zuvor Michael. Plötzlich waren die Stimmen so nahe, dass sie jedes Wort verstehen konnte.

„Du bist vielleicht ein Dummkopf, Mann!“, sagte einer. „Wie konntest du dich nur von einem kleinen Mädchen reinlegen lassen?“

„Ich sag euch doch, sie hatte sich befreit, als ich kam. Und ihn habe ich überhaupt nicht gesehen. Wahrscheinlich war er schon geflohen, und sie sollte dableiben und mich aufhalten.“

„Du bist doch zu blöd, Fin“, ließ sich die Stimme des Anführers vernehmen. „Hat ihr hübsches Frätzchen dich vielleicht so umgehauen, dass du dir fast den Schädel eingeschlagen hast? Deine Beule ist bald so groß wie ein Taubenei.“

„Da muss ich wohl gestolpert sein“, erwiderte Fin. „Ich kann mich nicht genau erinnern, aber mir war so, als hätte sie eine Hand hinter dem Rücken gehalten. Vielleicht hatte sie ja einen Stein.“

Einer von den anderen lachte laut. „Klar, Mann, vielleicht hat sie dich auch verhext, damit du dich vor sie hinkniest und sie dir eins über die Rübe geben konnte.“

„Jetzt seid alle mal still!“, befahl der Anführer in scharfem Ton. „Natürlich konnten sie sich beide befreien. Und wenn du unseren Mann kennen würdest, Fin, dann wüsstest du, dass er kein wehrloses Mädchen im Stich lässt. Er war es natürlich, der dir den Schlag versetzt hat, und du kannst von Glück sagen, dass du noch am Leben bist. Und nun haltet den Mund und spitzt die Ohren. Wenn sie durch den Gang laufen, hören wir sie.“

Michael spürte, wie Mistress Macleod neben ihm vor Schreck erstarrte. Jetzt, wo er darüber nachdachte, fiel ihm ein, dass er sie als Tochter eines Ratsmitgliedes wahrscheinlich mit Mylady hätte anreden müssen. Doch Titel und Namen waren im Augenblick nebensächlich.

Das Mädchen hatte ja keine Ahnung, in was sie da hineingeschliddert war, doch sie hatte ihm weitere Peitschenhiebe erspart, und alleine dafür war er ihr Hilfe und Schutz schuldig. Er hätte sie auf jeden Fall beschützt, da man es ihm von Kindesbeinen an eingeschärft hatte, dass ein Ritter die Pflicht hatte, dem schwachen Geschlecht beizustehen. Und ein Mädchen, das so unerschrocken mit einem wie Fin Wylie schäkerte, hatte seinen Schutz besonders nötig.

Er musste lächeln, als er daran dachte. Hoffentlich verhielt sie sich jetzt mucksmäuschenstill. Zur Beruhigung presste er die Hand, die ihr am nächsten lag, gegen ihre Hüfte und spürte, wie sich ihre verkrampften Muskeln entspannten. Er hatte erwartet, dass sie ruhig bleiben würde, denn abgesehen von der Unvorsichtigkeit, ohne eine Eskorte auszureiten, schien sie ihm eine praktisch veranlagte, vernünftige Frau zu sein. Darin unterschied sie sich erheblich von den meisten Vertreterinnen ihres Geschlechts.

Jetzt hob Michael vorsichtig eine Ecke des Umhangs an und lugte darunter hervor. Der Umhang bedeckte ihn kaum bis zu den Knien, doch seine Hosen und Stiefel waren dunkel und ein ganzes Stück von der Felskante entfernt. Solange sie beide sich ruhig verhielten und nicht bewegten, würden die Männer sie schwerlich entdecken.

Falls Waldron allerdings ebenso gut sähe wie kämpfen konnte, würde es gefährlich werden.

Isobel wagte kaum zu atmen. Auf Geheiß ihres Anführers setzten sich die Männer schweigend in Bewegung und folgten dem Gang, der sich in der Dunkelheit verlor.

Als ihre Schritte verklungen waren, rührte sich Michael zu ihrem Schrecken und flüsterte kaum hörbar: „Es waren fünf.“

Ebenso leise antwortete sie: „Ich habe nur vier gehört.“

„Ja, aber ich habe sie gesehen, Waldron und vier andere.“

„Dann wartet der sechste bestimmt woanders.“

„Wahrscheinlich passt er auf die Pferde auf.“

„Das heißt, wir können die Höhle nicht auf dem gleichen Weg verlassen, auf dem wir gekommen sind.“

„Nicht unbedingt. Wir wissen nur, dass einer gefehlt hat.“

„Ihr glaubt also, wir sollten denselben Ausgang nehmen?“

„Wenn Ihr einen anderen Vorschlag habt, nur heraus damit, Mistress. Auf jeden Fall ist es klüger hinauszulaufen, als ihnen zu folgen, oder etwa nicht?“

Da hatte er zweifellos recht. Dennoch war ihr unbehaglich bei dem Gedanken. „Wir könnten doch hierbleiben, bis sie wieder weg sind“, schlug sie vor.

„Nein, Mistress, lieber nicht. Ich kenne Waldron gut genug, um zu wissen, dass er nicht so leicht aufgibt. Wenn sie uns in diesem Gang nicht finden, werden sie vor dem Eingang warten. Und dann sind wir geliefert.“

„Aber wir haben kein Licht. Wie sollen wir hier herunterkommen?“

„Genauso wie wir hochgekommen sind“, sagte er.

Mit diesen Worten rückte er von ihr ab und war plötzlich verschwunden, als hätte er sich in Luft aufgelöst.

Die Finsternis lastete so schwer auf ihr, dass sie am liebsten laut nach ihm gerufen hätte. Sie konnte sich vor Angst kaum rühren und musste denken, ob man in ein paar hundert Jahren wohl ihre zu Staub zerfallenen Überreste hier auf dem Felssims finden würde. Als sie seinen leisen Pfiff hörte, fuhr sie zusammen.

„Ich kann kein Licht machen“, flüsterte er, „aber wenn Ihr bis zum Rand rutscht, kann ich hören, wo Ihr seid. Schiebt Euch vorsichtig über die Kante, bis ich Eure Füße zu fassen kriege.“

„Aber ich sehe doch nichts“, protestierte sie.

„Ihr könnt auch hierbleiben und darauf warten, dass ich Hilfe hole“, erwiderte er. „Wenn Euch das lieber ist …“

„Nein! Ich tue ja schon, was Ihr sagt.“ Die Entscheidung fiel ihr nicht schwer. Sie sehnte sich nach Sonnenlicht und frischer Luft.

Es half also alles nichts. Sie legte sich auf den Bauch und schob sich Zentimeter für Zentimeter an den Rand des Vorsprungs, bis ihre Beine über die Kante ins Leere ragten.

Ihre Röcke blieben an der unebenen Felswand hängen, doch sie achtete nicht weiter darauf, sondern tastete sich mit den Füßen Stück für Stück nach unten, bis nur noch ihre Unterarme und Ellbogen auf dem Sims auflagen. Ihr war, als würde der Rest ihres Körpers sie mit Macht nach unten ziehen.

„Nur noch ein kleines Stück, Mädchen, dann habe ich Euch“, sagte er.

Woher wollte er das wissen?, dachte sie und hoffte inständig, dass sie nicht abstürzen und ihm auf den Kopf fallen würde. Sie stemmte die Zehen fest gegen die Wand und ließ sich noch ein wenig tiefer hinunter. Plötzlich rutschte sie mit einem Fuß ab. Sie schnappte vor Schreck nach Luft, doch im selben Augenblick fingen sie zwei starke Hände auf, und gleich darauf stand sie neben ihm auf festem Grund.

„Wo ist die Fackel?“, erkundigte sie sich leise.

„Da hinten. Aber sie nützt uns nichts, weil wir sie nicht wieder anzünden können. Es wäre auch viel zu riskant.“

„Aber wie sollen wir dann den Weg finden?“

„Nehmt meine Hand, wenn es Euch recht ist, und folgt mir einfach. Der Boden scheint mir ziemlich eben zu sein, und ich taste mich an der Wand entlang. Kommt jetzt!“

Da sie keine bessere Idee hatte, gehorchte sie, zumal ihre Verfolger jeden Augenblick zurückkommen konnten. Sie überließ ihm ihre Hand, die er mit festem Griff umfasste, und legte zur Sicherheit noch den anderen Arm um seine Hüfte, darauf bedacht, die nackte Haut über dem Hosenbund nicht zu berühren.

Er bewegte sich so rasch und zielsicher, als wäre es heller Tag, während sie neben ihm her stolperte und immer wieder gegen die Wand stieß. Doch nach einer Weile hatte sie sich dem Rhythmus seiner Schritte angepasst, und sie kamen besser voran.

Einmal vernahm sie Stimmen hinter sich, die jedoch weit entfernt klangen. Also richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Weg, und schneller als erwartet sah sie einen schwachen Schimmer Tageslicht. Sobald sie ihre Umgebung einigermaßen erkennen konnte, ließ sie sofort seine Hand los und ging neben ihm her.

„Bleibt lieber etwas zurück, Mädchen, für den Fall, dass einer am Eingang Wache steht“, sagte er. „Und tretet so leise wie möglich auf. Ihr wisst ja, dass Schritte hier weit hallen.“

Am liebsten wäre sie gleich ins Freie gerannt, denn sie wollte keinen Augenblick länger als nötig in der finsteren Höhle bleiben. Doch dann überlegte sie, dass er vermutlich recht hatte, und schlich hinter ihm her zum Eingang der Höhle.

Hinter einem Felsvorsprung verborgen spähte er hinaus.

„Und?“, flüsterte sie. „Seht Ihr jemanden?“

„Nein, aber trotzdem wäre es ziemlich leichtsinnig, offen über die Lichtung zu laufen.“

„Ihr habt doch selbst gesagt, dass er wahrscheinlich die Pferde bewacht. Also los jetzt!“, drängte sie.

„Ich nehme an, er steht am Eingang zum Tal und passt auf, ob ein Reiter kommt, was aber nicht sehr wahrscheinlich ist.“

Wenn sie daran dachte, wie versteckt der Eingang zu dem kleinen Tal am Hügelrücken über dem Fluss Mòr lag, musste sie ihm recht geben. Hierher würde sich so schnell niemand verirren.

„Und wie sollen wir dann aus dem Tal wegkommen?“, fragte sie. „Meint Ihr, wir könnten den Mann überwältigen?“

Als er antwortete, klang seine Stimme belustigt: „Habt Ihr vor, ihn auf die gleiche Art und Weise abzulenken wie Fin Wylie in der Höhle?“

„Das könnte klappen“, sagte sie. „Oder wir klettern auf einen Baum und verstecken uns dort, bis sie weg sind.“

„Ich finde, wir sollten lieber zusehen, dass wir hier verschwinden.“

„Ja, einverstanden. Am besten reiten wir nach Chalamine. Dort sind wir sicher.“

„Seid Ihr bereit, über die Lichtung zu laufen?“, fragte er.

„Ja“, antwortete sie, obwohl ihr ein Angstschauer über den Rücken lief. „Sollen wir ganz schnell rennen?“

„Besser, wir gehen rasch und dafür so leise wie möglich“, erwiderte er. „Rennen können wir immer noch, wenn es sein muss.“

Sie folgte ihm, als er zügig die Lichtung überquerte und sich auf der anderen Seite in die Büsche schlug.

„Mein Pferd ist weg“, stellte sie fest. „Und Eures auch, falls Ihr eines dabeihattet.“

„Das überrascht mich nicht“, erwiderte er. „Es sind beides schöne Tiere, und außerdem wollten diese Schurken verhindern, dass die Pferde ohne uns nach Hause laufen. Aber still jetzt! Ich will herausfinden, wo der Wachposten ist.“

Trotz der drohenden Gefahr genoss Isobel das Gefühl, wieder unter freiem Himmel zu sein. Solange sie sich im Wald aufhielten, waren sie einigermaßen geschützt, doch wie sie auf dem schmalen Weg an dem Mann vorbeikommen sollten, war ihr schleierhaft.

Als sie über die zweite Lichtung liefen, beugte sich Michael dicht zu ihr und flüsterte: „Wollt Ihr Euch nicht lieber hinter einem Baum verstecken? Dann gehe ich alleine weiter und schaue nach, ob die Luft rein ist. Es ist doch sinnlos, wenn wir uns beide in Gefahr bringen.“

„Vielleicht sollte ich besser zur Höhle zurückgehen und aufpassen, ob unsere Verfolger kommen“, schlug sie vor.

„Ja, mag sein“, antwortete er zögernd und schaute sie zum ersten Mal, seit sie die Höhle verlassen hatten, genauer an. „Andererseits wäre es vielleicht besser, wenn wir zusammenblieben“, fuhr er fort und blickte ihr tief in die Augen. Sie stellte fest, dass seine Augen genauso strahlend blau waren wie der Sommerhimmel, der sich über ihnen wölbte.

„Also dann geht“, sagte sie schließlich. „Diese schrecklichen Kerle werden bestimmt bald hier sein.“

Während er sich auf den Weg machte, blickte sie sich nach einem Versteck um. Da es ihr zu unsicher erschien, sich einfach hinter einen Baum zu stellen, duckte sie sich in ein dichtes Weidengebüsch am Ufer des munter dahinplätschernden Baches, wo sie die Verfolger zwar nicht so gut hören konnte, dafür aber besser getarnt war.

Es dauerte nicht lange, da war Michael wieder zurück und blickte sich suchend nach ihr um. Als sie aus dem Dickicht auftauchte, winkte er sie eilig heran und sagte: „Er sitzt auf einem Felsen ein Stück unterhalb des Eingangs zum Tal und behält das Glen Mòr im Auge. Manchmal blickt er auch nach rechts und links, doch niemals nach hinten. Wahrscheinlich rechnet er nicht damit, dass von dort jemand kommt. Wir könnten versuchen, hinter seinem Rücken bergauf nach Osten zu laufen. Wenn wir es bis über den Hügel schaffen, sind wir in Sicherheit.“

„Aber was ist, wenn …“

„Sie werden wohl eine ganze Weile die Höhle nach uns absuchen, weil sie sich sagen, dass wir nicht an ihnen vorbeigelaufen sein können. Doch irgendwann werden sie einsehen, dass wir nicht mehr dort sind, und herkommen. Bis dahin müssen wir weg sein.“

Damit hatte er wohl recht. Sie folgte ihm vorsichtig durch den engen Durchschlupf zwischen den Felsen, bis sie den Mann auf seinem Ausguck sehen konnten.

Wie Michael gesagt hatte, blickte er unverwandt hinüber zum Glen Shiel, und warf nur hin und wieder einen kurzen Blick zur Seite. Wie schön wäre es gewesen, wenn jetzt Hector Reaganach mit seinen Männern dort unten im Tal erschienen wäre! Doch leider waren sie beide ganz auf sich gestellt und konnten es nicht einmal mehr wagen, ein paar Worte zu wechseln.

Michael bewegte sich flink und geschmeidig wie eine Katze. Kein Stein rollte davon, kein Zweig knackte unter seinen Schritten. Sie bemühte sich ebenfalls, so leise wie möglich zu gehen, doch hin und wieder rutschte sie an dem steilen Abhang aus. Dann warf sie einen ängstlichen Blick auf den Wächter, doch der drehte sich noch immer nicht um.

Schweigend kletterten sie weiter und hatten bald den Hügelkamm erreicht. Unter ihnen erstreckte sich kahles felsiges Gelände, und in der Ferne konnten sie den Berg Cuillin auf Skye und die Five Sisters von Kintail mit ihren schroffen, spitzen Gipfeln erkennen. Obwohl sie keine Ahnung hatte, wohin er sie führte, schwieg Isobel geduldig, bis sie so weit entfernt waren, dass der Wachposten sie nicht mehr hören konnte.

„Ich dachte, wir gehen nach Chalamine, Sir“, sagte sie, während sie sich ihren Weg durch eine enge Klamm bahnten. „Es liegt nur ein paar Meilen südlich von hier, und dort wären wir in Sicherheit.“

Michael blieb stehen und warf einen prüfenden Blick zu dem Mann zurück, der noch immer auf seinem Felsen saß. Dann ließ er sich auf einem großen Stein nieder und sagte mit einem kleinen Lächeln: „Ich tue gerne, was Ihr sagt, schließlich kennt Ihr Euch hier in der Gegend besser aus. Aber denkt daran, dass Ihr denen verraten habt, wo Ihr zu Hause seid.“

Mit schlechtem Gewissen erinnerte sie sich an ihre unbedachten Worte, doch Chalamine hatte seinen Bewohnern bisher noch immer Schutz geboten.

„Es ist eine wohlbefestigte Burg, Sir, und mein Vater ist ein mächtiger Mann.“

„Wo liegt Chalamine eigentlich genau?“

„Auf einem Felsen am Eingang zu dem Loch in unserem Tal.“

„Dann liegt es doch tiefer als die Hügel der Umgebung, oder?“

„Ja“, musste sie zugeben. Sie hatte das Problem sofort erfasst. „Eure Verfolger brauchten nur auf einem der Hügel ihr Lager aufzuschlagen und zu warten, bis Ihr die Burg wieder verlasst, nicht wahr?“

„Oder bis ihnen einfällt, wie sie in die Burg hineinkommen.“

Der Stand der Sonne verriet ihr, dass es bereits Nachmittag war. „Ihnen bleiben noch viele Stunden Tageslicht, um nach uns zu suchen“, sagte sie seufzend.

„Ja, und deshalb müssen wir jetzt weiter. Sollen wir uns nach Osten halten oder über den Hügel dort steigen?“

„Der Posten bewacht das westliche Ende des Tals, weil von dort Männer aus Glenelg kommen könnten. Aber warum schaut er immer wieder nach Osten, wo die Straße nach Glen Shiel führt, Sir?“

„Ich habe mich bei einem Freund am Loch Duich aufgehalten“, erwiderte er. „Vielleicht fürchtete der Mann, dass mein Gastgeber einen Suchtrupp nach mir ausschicken könnte.“

Sie zog die Augenbrauen hoch. „Wer ist denn Euer Gastgeber?“

„Mackenzie. Er war ein Freund meines Vaters.“

Mackenzie von Kintail war auch mit ihrem Vater und außerdem mit dem Lord der Inseln und Hector Reaganach befreundet. Sein Stammsitz war Eilean Donan Castle, das strategisch günstig auf einer Insel am Zusammenfluss von Loch Duich, Loch Alsh und Loch Long lag.

„Eilean Donan ist von hier aus noch schlechter zu erreichen als Chalamine. Welcher Teufel hat Euch nur geritten, diesen verdächtigen Kerlen bis zu der Höhle nachzureiten?“, fragte Isobel.

„Es war wohl eher andersherum“, antwortete er. „Sie sind mir gefolgt.“

„Aber was hattet Ihr dort zu suchen? Und woher wusstet Ihr überhaupt von der Höhle? Ich habe noch nie von ihr gehört, obwohl sie auf dem Land meines Vaters liegt.“

Er zuckte mit den Achseln. „Kintail hat sie erwähnt, und ich habe mich schon immer für Höhlen interessiert. Besonders für eine bestimmte, die ich seit meiner Kindheit immer wieder im Traum sehe.“

„Aber wenn Mackenzie weiß, dass Ihr dorthin geritten seid, wird er doch bestimmt nach einiger Zeit nach Euch suchen lassen.“

Michael schüttelte den Kopf.

„Ihr habt ihm nichts davon erzählt“, schlussfolgerte sie seufzend.

„Nein, und wahrscheinlich erinnert er sich gar nicht mehr daran, dass er die Höhle überhaupt erwähnt hat. Heute Morgen bin ich früh aufgewacht und konnte nicht wieder einschlafen. Da beschloss ich, danach zu suchen. Mein … Begleiter wird mich bestimmt irgendwann vermissen, aber das kann noch eine Weile dauern. Kennt Ihr hier in der Gegend ein Plätzchen, wo wir uns verstecken können, bis Hilfe kommt?“

Sie kniff die Augen zusammen. „Ich finde, Ihr solltet mir erst einmal sagen, wer Ihr überhaupt seid. Oder soll ich Euch vielleicht als ,Mylord‘ titulieren?“

„Mein Name ist Michael, Mädchen, und so könnt Ihr mich auch nennen. Je weniger Ihr über mich wisst, desto besser.“

„Seid doch nicht albern“, entgegnete sie scharf. „Ihr kennt Euch hier in der Gegend nicht aus und braucht meine Hilfe. Daher schlage ich vor, nein, ich verlange, dass Ihr mir auf der Stelle alles über Euch erzählt!“