Leseprobe Die Lady von Brightwood Manor

Kapitel 1

Es war noch früh am Morgen, doch schon ballten sich dunkle Wolken über den sanften grünen Hügeln von Urlingford, als ein junger Bote mit struppigem rotem Haar am Tor von Brightwood Manor eintraf. Hastig teilte er sein Anliegen dem Stubenmädchen mit, worauf dieses ihn ins Speisezimmer führte. Lady Beatrice, die Herrin des Hauses, trank gerade Tee, nachdem sie ihren Morgenimbiss eingenommen hatte.

Der Junge, der kaum älter als sieben Jahre zu sein schien, nahm seine Mütze ab und machte einen respektvollen Diener vor der eleganten Dame, die ruhig dasaß, die dicken, nachtschwarzen Zöpfe zu einem Krönchen aufgesteckt, und ihn mit ihren leuchtend grünen Augen erwartungsvoll anblickte. Er holte tief Luft und sprudelte hervor: „Mum sagt, es wird Zeit, dass Sie kommen, Mylady. Das neue Kind wird bald da sein.“

Sie lächelte ihm beruhigend zu. „Sag deiner Mutter, ich bin gleich bei ihr, Ennis. Und du hast deine Sache gut gemacht, mein Junge.“

„Ja, Ma’am. Und danke, Mylady.“ Er nickte und rannte hinaus, um seiner Mutter die gute Nachricht zu bringen, dass die Jungfer von Brightwood ihr beistehen würde.

Lady Beatrice drehte sich um und rief ihrer Zofe Druscilla Pruit, die am Kamin mit Flickarbeiten beschäftigt war, zu: „Mistress Ryan bekommt bald ihr Baby. Wärst du bitte so freundlich, mir meine Tasche zu bringen, Dru?“

Sie deutete vage mit der Hand zu den Zimmern im Obergeschoss, wo ihr Kleiderschrank stand.

„Gewiss, Mylady. Aber glauben Sie nicht, ich sollte besser mitkommen, Ma'am? Es schickt sich ganz und gar nicht, dass Sie ohne Begleitung in der Gegend herumlaufen“, bemerkte die Zofe mit einem kleinen missbilligenden Schnauben. „Und Ihr Vater wäre mit diesen Unternehmungen bestimmt nicht einverstanden. Man kann ja nie wissen, was für gefährliche Wegelagerer es auf Eure Ladyschaft abgesehen haben. Eine reiche Erbin wie Sie sollte besser auf sich achtgeben. Auf diesen einsamen Landstraßen treiben sich jede Menge Banditen herum, die Ihnen etwas antun könnten.“

„Also wirklich, Druscilla“, seufzte Beatrice, „so, wie du daherredest, könnte man meinen, ich sei noch ein Kleinkind, das am Schürzenzipfel seines Kindermädchens hängt. Hör jetzt mit der Unkerei auf und hol mir meine Tasche.“

Völlig unbeeindruckt von den Bedenken ihrer Zofe begann sie, sich ihre Handschuhe anzuziehen. Das Dorf war ein winziger Flecken, für praktisch niemanden von Interesse außer den Bewohnern selbst. Und kein Dieb, der auf sich hielt, würde dort etwas stehlen, sagte sie sich mit der Selbstsicherheit der Hochgestellten, die stets gut behütet waren. „Am besten holst du mir auch mein Umschlagtuch. Es scheint ein Unwetter aufzuziehen“, rief sie der Zofe nach, wobei sich ihr irischer Akzent wie immer bemerkbar machte.

Trotz der hartnäckigen Bemühungen ihrer strengen englischen Gouvernante, die ihr Vater ihr als Kind aufgezwungen hatte, sprach und handelte Beatrice noch immer wie ein Kind der Grünen Insel, was ihr irischer Vater regelmäßig beklagte.

„Was für eine Vergeudung von gutem, ehrlichem …“ Er brach ab und schüttelte traurig sein ergrauendes Haupt. „Nachdem diese Frau mit dir fertig war, wollte ich dir einen passenden englischen Gentleman als Ehemann suchen. Aber musha, musha, was soll bloß aus dir werden? Hier gibt es keinen standesgemäßen Herrn, den du dir angeln könntest. Wenn es einen gäbe, hätte ich ihn schon ausfindig gemacht. Und von den Rindfleisch essenden englischen Gutsherren hier in der Gegend wird sich keiner finden, der dich mit diesem starken Akzent, auf den du so stolz bist, nimmt. Ständig frage ich mich, was ich mit dir anfangen soll, Tochter. Was soll nur aus meinem Mädchen werden?“

Worauf er sich betrübt abzuwenden pflegte angesichts einer Tochter, die sich hartnäckig weigerte, sich den englischen Sitten zu beugen.

Als sie ihrer Herrin das Tuch brachte, konnte Druscilla Beatrice doch noch überreden, sie zu der Geburt mitzunehmen, indem sie ihr damit drohte, Lord O’Brien von einigen undamenhaften Abenteuern seiner Tochter zu erzählen.

Schließlich gab Beatrice nach und erlaubte ihr, sie zu begleiten. Als die beiden Damen am Schäfer-Cottage eintrafen, in dem ein Torffeuer brannte, wartete die Familie Ryan schon sehnsüchtig auf sie.

Bei ihrem Eintritt wurden sie begeistert von der vielköpfigen Kinderschar begrüßt. Einige von den Kleinsten zupften Beatrice am Rock, die daran denken musste, wie sie zum ersten Mal bei einer Geburt in der Familie geholfen hatte, gemeinsam mit ihrer Freundin, der Heilerin Sarah Duncan, und deren Mutter, Gladys Clogheen of Varrik-on-Suir, die sie in Geburtshilfe und Heilkunde unterrichtet hatte.

Eine so hervorragende Heilerin wie Sarah war Beatrice nicht, doch sie war eine fähige Hebamme und liebte Kinder. Sie betrachtete es als ihre Pflicht, den Mitgliedern der Gemeinde zu helfen, und außerdem machte es ihr Freude, einem neuen Leben auf die Welt zu helfen.

Beatrice untersuchte die Gebärende. Das Kind konnte jetzt jeden Augenblick kommen. Sie überprüfte die Lage des Ungeborenen und stellte zu ihrer Beunruhigung fest, dass es sich in Steißlage mit den Füßen im Becken der Mutter befand.

„Sie kennen doch meine Schwester Fiona, Mylady“, sagte ihre Zofe nervös. „Sie hat ihre Kinder doch tatsächlich in weniger als einer Stunde zur Welt gebracht …“

Die werdende Mutter drückte stöhnend die Hand ihres Mannes.

„Wir wussten schon immer, dass unsere Fiona breit wie ein Scheunentor und fruchtbar wie ein Kartoffelacker ist. Aber wie gebärfreudig sie wirklich war, zeigte sich erst, als sie ihr Zehntes zur Welt brachte. Wobei es das letzte beinahe nicht geschafft hätte, Mylady. Bei der Geburt unseres Ian hätte es meine Schwester fast zerrissen. Sie blutete danach fast den ganzen Tag, und die Hebamme hatte alle Hände voll zu tun, um die Blutung zu stillen. Wir dachten schon, wir würden Fiona verlieren.“

Wieder stöhnte die Gebärende, als eine gewaltige Wehe ihren Körper erfasste. Mit schweißnassem Gesicht blickte sie Beatrice flehend an. Dieses Baby war auch ihr zehntes.

Beatrice lächelte der Frau beruhigend zu, bevor sie Dru mit einem warnenden Blick zum Schweigen brachte. Der stämmige rothaarige Vater der Kinderschar, der schon seit Stunden seiner Frau nicht von der Seite gewichen war, nickte seinem angstbleichen Nachwuchs zu.

„Los jetzt, für uns wird’s Zeit zu gehen.“ Er drückte seiner Frau einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. „Du hältst dich wirklich gut, Maureen, mein Schatz“, sagte er liebevoll. „Sobald ich höre, dass das Baby geboren ist, bin ich wieder da.“

Mit ernstem Blick schaute er auf seine älteste Tochter hinunter, die neben ihrer Mutter saß. Sie war eine vernünftige junge Frau, die schon eine eigene Familie hatte. „Du bleibst hier, Mary, und sagst uns Bescheid, wenn das Kind da ist, nicht wahr, mein Mädchen?“, sagte er.

„Ja, Vater, das mache ich“, erwiderte die pflichtbewusste junge Frau, während sie ihrer Mutter die Stirn mit einem feuchten Tuch kühlte. „Ich lasse sie nicht allein“, fügte sie hinzu und sandte einen beschwörenden Blick in Druscillas Richtung.

Doch die bemerkte das ebenso wenig wie die gedrückte Atmosphäre im Raum oder die warnenden Blicke ihrer Herrin.

Den übrigen Kindern wurde ganz elend vor Angst. Das Geplapper der Zofe hatte ihnen einen heillosen Schrecken eingejagt, zumal ihrer Mutter jetzt der schwierigste Teil der Geburt bevorstand.

„Also, wir gehen dann“, sagte der Vater und verließ das winzige Cottage, gefolgt von seinen Kindern im Gänsemarsch.

Beatrice konnte es ihnen nicht verdenken. Normalerweise hielt die Familie fest zusammen und hieß jedes neue Mitglied in ihrem Kreis willkommen. Doch heute, angesichts der schwierigen Geburt und Druscillas blutrünstigen Schilderungen, schaffte es nur jemand mit einem unverwüstlichen Magen hierzubleiben.

Vorsichtig schob sie ihre Hand in den Schoß der Gebärenden in der Hoffnung, dass sich das Kind gedreht hätte. Doch zu ihrem Leidwesen lag es immer noch verkehrt herum.

„Als Fiona nicht aufhören wollte zu bluten, schickten wir nach einem Priester, damit er ihr die letzte Ölung gab. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so viel Angst. Meine Schwester blutete und blutete. Es wollte einfach nicht aufhören …“

„Druscilla“, unterbrach sie Beatrice, die nach einer Gelegenheit suchte, ihre lästige Begleiterin loszuwerden. „Ich habe ein wichtiges Instrument, das ich dringend brauche, in Brightwood vergessen. Wärst du so freundlich, es mir aus meinem Schrank zu holen? Es sieht aus wie ein, äh, Trichter.“

„Gewiss, Mylady. Wenn Sie sicher sind, dass Sie mich hier entbehren können.“

„Ganz sicher, Dru“, antwortete sie bestimmt. „Und nimm den Ponywagen, ja? Das Baby wird noch nicht so bald kommen“, log sie.

Als sich die Tür hinter der Zofe schloss, stieß die älteste Tochter einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, und die Spannung im Raum ließ spürbar nach. „Ich werde Ihre Hilfe brauchen“, wandte sich Beatrice an die junge Frau. Die Wehen waren jetzt stark und regelmäßig, und die werdende Mutter verspürte den Drang zu pressen.

„Sie müssen Ihre Mutter stützen, während ich versuche, das Baby herauszubekommen. Ich fürchte, es ist entschlossen, mit den Füßen voran auf die Welt zu kommen, meine Liebe.“ Die junge Frau nickte verständnisvoll und half ihrer Mutter, sich aufzusetzen.

Maureen ergriff Beatrices Arm und flüsterte: „Bitte, bitte, holen Sie das Kind heraus … oh, oh, ich muss pressen …“

„Halten Sie es noch ein wenig zurück, Mistress Ryan!“, bat Beatrice und wusch sich erneut die Hände in der Schüssel mit heißem Seifenwasser, die neben ihr stand.

Dann führte sie ihre Hand noch einmal ein, um die Lage des Kindes zu überprüfen. Dabei konnte sie eine winzige Ferse ertasten. Die Mutter keuchte.

„Jetzt“, sagte Beatrice. „Wenn Sie den Drang zu pressen verspüren, pressen Sie, so fest Sie können. Verstanden, Mistress Ryan?“

Die blasse Mutter nickte und begann zu pressen.

Behutsam zog Beatrice die Beine des Kindes heraus. Gleich darauf erschien das Hinterteil und endlich, mit einer korkenzieherartigen Bewegung, folgte der restliche Körper.

„Sie machen das ganz wunderbar, Mistress Ryan“, lobte sie die Mutter. „Den Rest können wir den Wehen überlassen.“

Sie hielt den winzigen Körper des Kindes mit sicherem Griff, während sie beobachtete, wie die Schultern erschienen. Dann griff sie rasch nach einem Handtuch und drehte das Baby um 180 Grad, wobei sie sein Hinterteil nach oben hielt. Erst der eine, dann der zweite Arm erschienen ohne Mühe, doch mit dem schwierigsten Teil, dem relativ großen Kopf, ging es nicht so schnell. Da sich die Brust des Kindes schon außerhalb des Mutterleibs befand, versuchte das Kleine, seinen ersten Atemzug zu tun, noch bevor es vollständig geboren war. Beatrice legte ihre Hand auf das Gesicht des Babys und drückte behutsam mit zwei Fingern seine Nase zu, damit es kein geronnenes Blut einatmen und daran ersticken konnte. Dann führte sie auch den Kopf des Neugeborenen auf die Welt.

„Es ist ein Mädchen!“, rief die Schwester des Kindes freudig aus.

Beatrice öffnete den Mund des Neugeborenen, weitete seine Nasenlöcher und klopfte ihm auf den Rücken, um die Atmung auszulösen. Nach einem kurzen, bangen Augenblick tat die Kleine ihren ersten Atemzug. Mit einem Schrei aus gesunden Lungen verkündete sie ihre Ankunft auf der Welt.

Lächelnd und mit geübten Handgriffen durchtrennte Beatrice die Nabelschnur, wusch das Kind in einer Schüssel mit warmem Wasser, trocknete es mit den bereitgelegten sauberen Tüchern ab und wickelte es endlich in ein Stück wärmendes Lammfell. Dann legte sie das Kind Maureen in die Arme und stimmte in das fröhliche Lachen von Mutter und Schwester ein.

Nachdem sie die Nachgeburt beseitigt und sich davon überzeugt hatte, dass es Mutter und Kind gut ging, betrachtete Beatrice für einen Augenblick bewundernd das nun schlafende Baby. Maureen küsste zärtlich die feinen leuchtend roten Löckchen ihrer Tochter.

„Ja, man kann schon sehen, dass sie eine echte Ryan ist. Sehen Sie sich nur das hübsche rote Haar an“, sagte Beatrice schließlich und gratulierte Maureen, die trotz ihrer Erschöpfung strahlend lächelte. Es war eine der schwierigsten Entbindungen, die Beatrice je vorgenommen hatte, doch gewiss auch eine der beglückendsten.

***

Bei einem Krug Ale wurde sie von den stolzen Eltern gebeten, Patin ihrer jüngsten Tochter zu werden. Beatrice, die sich von dieser Bitte geehrt fühlte, sagte bereitwillig zu und bot den Eltern an, das Kind in dem Kleid taufen zu lassen, das sie selbst einst bei ihrer Taufe getragen hatte. Es war ein langes Kleid aus schneeweißer Seide, verziert mit handgehäkelter Spitze und Bändern.

Nachdem sie einen Toast auf ihre neue Patentochter ausgebracht hatte, brach sie auf. Das freundliche Angebot der Familie, auf ihrem Ackergaul nach Hause zu reiten, lehnte sie ab und machte sich zu Fuß auf den Weg nach Brightwood Manor. „Ach, verflixt“, murmelte sie, als sie winzige Regentropfen auf ihren Wangen spürte. Der frische Wind, der an ihren Röcken riss, ließ sie erschauern.

Schon seit dem Morgen hatte sich der Himmel mit dunklen Wolken zugezogen, aus denen jetzt ein dumpfes Grollen drang, als Beatrice die trockene, unbefestigte Straße entlangging, die zum Kirchsprengel Urlingford führte. Mit immer eiligeren Schritten hielt sie auf das örtliche Wirtshaus The Boar's Teeth zu, in der Hoffnung, es noch rechtzeitig zu erreichen, bevor der Wolkenbruch losbrach und sie durchnässte.

Der Blick über das sanft gewellte Hügelland zeigte das winzige Dorf Urlingford, das behaglich in ein grünes Tal geschmiegt dalag. Es hatte nichts zu bieten als einige weiß getünchte Wohnhäuser und die Kirche mit dem hohen, quadratischen Glockenturm. In der näheren Umgebung lagen verstreut einige gedrungene, strohgedeckte Bauernhöfe. Das Dorf lebte im Wesentlichen von der lukrativen Schafhaltung. Auch auf dem kleinen Hof, von dem sie gerade kam, betrieb man Schafzucht.

Seufzend zog sie sich ihr Umschlagtuch über den Kopf und machte sich auf einen sehr nassen Weg ins Dorf gefasst. Schon klatschten dicke Tropfen auf ihr Gesicht, als sollte sie vom immer dunkler werdenden Himmel aus ebenfalls getauft werden. Sie konnte kaum noch die eindrucksvolle Silhouette von Drennan Castle erkennen, die im grauen Regendunst des aufziehenden Sturms verschwamm.

Die einst so imposante mittelalterliche Burg war strategisch günstig auf einem der höchsten Hügel von Urlingford errichtet worden. Der älteste Teil, der Bergfried mit seinen ehemals sechs Steintürmen, war einst eine trutzige Befestigungsanlage gewesen, doch Zeit und Vernachlässigung hatten ihren Zoll gefordert, und nun standen zwei Flügel der Burganlage kurz vor dem Einsturz. Nur ein Flügel weigerte sich beharrlich, über dem Kopf des sterbenden Earls und seiner zwei treuen Diener zusammenzubrechen.

Seltsam, aber plötzlich schien es Beatrice, als stünde jemand an der Umfassungsmauer der Burg. Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte sie zu dem Hügel hinauf …

Es sah aus wie ein großer Mann in einem weiten Umhang, der sich auf einen Wanderstab stützte. Die Gestalt kam ihr bekannt vor, und obwohl der Regen die Formen verschwimmen ließ, erkannte sie, dass es niemand anderer war als der alte Dermott James MacCallan, der letzte in Irland geborene Earl of Drennan. Seit zwei Monaten fraß sich ein krebsartiges Geschwür langsam aber sicher durch die Milz des ehrwürdigen alten Herrn.

Beatrice hatte ihre Freundinnen Gladys und Sarah gebeten, ihr bei seiner Behandlung zu helfen, unterstützt von einem renommierten Arzt aus Dublin. Doch alle Mühe war umsonst gewesen. Die Krankheit des alten Earls war schon zu weit fortgeschritten, um noch auf Kräutertränke oder neue wissenschaftliche Methoden anzusprechen. So konnten sie nichts weiter tun, als seine Leiden ein wenig zu lindern.

Was seine Familie betraf, so ließ sie sich während seiner langen, schmerzhaften Krankheit zunächst nicht blicken. Es war allgemein bekannt, dass er keine leiblichen Nachkommen hatte. Endlich ließen sich seine drei Schwestern, die in adelige Kreise eingeheiratet und Kinder zu versorgen hatten, doch dazu herab, ihrem kranken Bruder einen Besuch abzustatten. Oh ja, in den vergangenen zwei Wochen hatte Beatrice viele seiner Verwandten kommen und gehen sehen, die Fürsorge und familiäre Zuneigung zu dem sterbenden Lord heuchelten.

„Wir wollen unserem Bruder die letzte Ehre erweisen“, erklärten sie ihr in hochfahrendem Ton, bevor sie mit angemessenen Trauermienen ans Sterbebett traten.

Doch um ehrlich zu sein, hatte Beatrice noch nie zuvor eine aufdringlichere Bande von Aasgeiern gesehen, und sie war solchen Leuten bei der Pflege von Schwerkranken schon häufig begegnet. Die Schwestern erschienen in schwarzer Trauerkleidung, setzten sich an das Bett des sterbenden Earls und gaben ihm Ratschläge, wem er seinen Titel und die Besitzungen hinterlassen sollte. Sie zankten sich sogar in seiner Gegenwart, bis er es nicht mehr länger aushielt.

„Schluss jetzt! Ihr macht mich noch wahnsinnig mit eurem ständigen Gequassel!“, rief er und schlug zur Bekräftigung seiner Worte heftig mit dem Gehstock gegen die Seite des Bettes.

Dann zog er an der Klingelschnur, und als sein oberster Butler erschien, befahl er der ganzen Gesellschaft, sich in das Witwenhaus zu begeben, das praktischerweise am anderen Ende des Dorfes lag, und dort sein baldiges Ende abzuwarten.

„Ich will in Frieden sterben“, teilte er ihnen mit. „Und ich habe bereits entschieden, wer meinen Platz auf dieser Erde einnehmen soll.“ Das brachte die Geier mit einem Schlag zum Schweigen. Mit beleidigtem Schnauben und Murren über ihren undankbaren Bruder verließen sie ihn. Keine der Schwestern wusste, für wen er sich entschieden hatte, und er weigerte sich standhaft, es ihnen zu verraten.

„Ihr werdet schon die Eröffnung meines Testaments und letzten Willens abwarten müssen“, sagte er und winkte ihnen ein letztes Lebewohl zu.

„Grundgütiger!“, murmelte Beatrice erstaunt. „Was sucht der alte Herr denn bloß bei diesem grässlichen Wetter hier draußen?“

Da tauchte plötzlich eine weitere Gestalt auf. Sie war viel kleiner als der gebeugte alte Lord, neben dem sie jetzt stand. Beatrice bekam Gänsehaut an den Armen, und ihr wurde ganz bang zumute. Wie zur Beruhigung zog sie die Ecken ihres schweren Wolltuchs noch enger um sich.

Im Dorf erzählte man sich, dass einst, bevor die Burg errichtet wurde, Leprechauns, irische Kobolde, in dem Hügel hausten, in einem Gewirr von geheimnisvollen Höhlen, angefüllt mit unvorstellbaren Schätzen. Bis der Drennan-Clan, ein kriegerischer Stamm von Baronen und Earls, es wagte, seinen befestigten Bergfried direkt über der ehrwürdigen Heimstatt des kleinen Volkes zu errichten. Als Rache, so berichtete es die Legende, belegten die Kobolde und Feen den gesamten Clan mit einem gessa, einem machtvollen Fluch. Von da an begann die Burg langsam, aber stetig zu verfallen. Nach und nach, Jahrzehnt um Jahrzehnt, setzten Katastrophen wie Feuer oder Flut dem einst so stolzen Bau zu, von dem nun bald nichts mehr übrig sein würde als ein Haufen Schutt und Steine.

„Ja“, sagte Beatrice leise zu sich selbst. „Und wenn der alte Herr stirbt, wird die Rache der daoine sidhe, des kleinen Volks, erfüllt sein, denn der alte Lord hat keine Nachkommen.“

Sie erschauerte und schalt sich selbst wegen ihrer düsteren Fantasien. „Jetzt fang du nicht auch noch an, an diese Märchen zu glauben, sonst bist du so einfältig wie die anderen. Das ist doch alles nur dummer Aberglaube.“

Die Frage, wer die geheimnisvolle kleine Gestalt war, bewog Beatrice, stehenzubleiben und einen Blick zurück auf die alte Burg zu werfen. Vielleicht hatte der alte Lord einen vorüberkommenden Dorfjungen gebeten, ihn in die relative Sicherheit des noch intakten Turms zurückzugeleiten. Aber warum hatte sich der alte Earl bei diesem Wetter überhaupt ins Freie gewagt?

Noch während sich Beatrice diese Fragen stellte, kämpfte sie sich schon durch Dornenzweige und Unterholz zum Bergfried hinauf. Nach einem letzten rutschigen Schritt erreichte sie die Steinmauer, die die Burg umgab, und stand nun an der gleichen Stelle, an der sie zuvor die beiden Gestalten entdeckt hatte. Zu ihrem Bedauern war vom Burgherrn oder seinem geheimnisvollen Begleiter nicht das Geringste zu sehen. Dort stand sie nun im feuchten Nebel, blickte betrübt vom Hügel hinunter und hoffte, dass niemand sie bemerkt hatte.

„Dass ich durchweicht bin und Schlamm in den Schuhen habe, ist schon schlimm genug“, sagte sie zu sich selbst. „Noch schlimmer wäre es, wenn mich jemand aus dem Haushalt des Earls windzerzaust und dreckig, wie ich bin, sehen würde.“

Vorsichtig schob sie sich um die Mauer herum, als plötzlich ein glänzender, runder Gegenstand, der auf dem Boden lag, ihren Blick auf sich zog. Sie bückte sich und hob das verlockend funkelnde Ding auf.

Als sie die Schmutzspritzer von der glatten Oberfläche abwischte, sah sie, dass es sich um eine Goldmünze handelte. Wer konnte etwas so Wertvolles verloren haben? In der Mitte der Münze befand sich ein eckiges Loch, und auf dem Rand war etwas in eleganter Schrift eingraviert. Beklommen entzifferte Beatrice die Worte: „Wo Gold ist, sind die Feen. Und Gold lockt sie an.“

Beatrice fuhr herum, als würden tausend winzige Augen sie beobachten. Ihr schlug das Herz bis zum Hals, und zum ersten Mal in ihrem vierundzwanzigjährigen Leben empfand sie ehrliche Angst vor dem Unbekannten. Einem Unbekannten, das so beängstigend und wie aus einer anderen Welt erschien, dass es sie erschauern ließ.

Musha, musha, es ist der Fluch der Drennans, den ich hier in der Hand halte!“, keuchte sie entsetzt.

Rasch lief sie hinüber zur Burgmauer, an deren Fuß das Meer toste, holte weit aus und schleuderte die Münze ins Wasser. Dann zog sie ihr Tuch schützend um sich und rannte, so schnell sie konnte, den Burghügel hinab, als wären ihr die Höllenhunde auf den Fersen.

Ohne dass Beatrice es wusste, hatte ihr Leben unvermutet eine wundersame Wendung genommen, die sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können.