Leseprobe Die Lady seines Herzens

Kapitel 1

Später Juni 1806, Worthington Hall, England

Lord Marcus Finley schenkte sich ein drittes Glas Brandy ein und schlenderte zurück zum Fenster der Bibliothek. Die sonnendurchflutete Terrasse und der Rasen bildeten einen starken Kontrast zu dem schummrigen, holzgetäfelten Raum, in dem er über seine düstere Zukunft und die bevorstehende Verbannung auf die Westindischen Inseln nachdachte.

Sein Blick wurde von der zierlichen Figur von Lady Phoebe Stanhope angezogen. Die Sonne reflektierte ihre rötlich-blonden Locken und schuf einen Heiligenschein-Effekt, während sie lachte und mit den jungen Mädchen der Worthingtons spielte. Ihre Freude zu sehen, erleichterte seinen Schmerz etwas.

Alles an Lady Phoebe war perfekt, von ihren Locken und den himmelblauen Augen bis hin zu ihren kleinen Füßen und den schön geformten Knöcheln. Es bestand eine Verbindung zwischen ihnen. Er hatte es gefühlt. Sie war die Einzige, die je versucht hatte, ihn zu verstehen. Er wollte sie heiraten, aber das schien nun unmöglich zu sein. Warum nur hatte er die einzige Frau, die er je wollte, nur wenige Tage vor seiner Abreise kennengelernt?

Er fragte sich, wie ihre Kinder wohl ausgesehen hätten. Ein weiterer Anfall von Wut durchfuhr ihn, und er lockerte gewaltsam die Finger, die er um sein Glas geschlungen hatte.

„Marcus, hier bist du.“

Er drehte sich um, als sein Freund, Lord Mattheus Vivers, Erbe des Grafen von Worthington, auf ihn zukam. Vivers war der einzige Grund, warum Marcus auf der Hausfeier war.

Sein Freund zeigte auf den Brandy. „Das wird nicht helfen, weißt du.“

Marcus starrte das Glas einen Moment lang an und beobachtete, wie die Sonne die bernsteinfarbenen Schattierungen der Flüssigkeit einfing, bevor er das Getränk hinunterstürzte. „Ich komme so oder so in die Hölle. Was spielt es für eine Rolle, auf welche Weise das geschieht?“

Vivers rieb sich mit einer Hand über das Gesicht. „Wann warst du das letzte Mal völlig nüchtern?“

„Als mein Vater mir sagte, dass ich verbannt werde – und wohin.“ Marcus wandte sich wieder dem Fenster zu, seine Wut verzehrte ihn. Nicht einmal sein Bruder Arthur hatte Marcus verteidigt. Das war der schlimmste Verrat gewesen.

Vivers trat zu ihm ans Fenster. „Was ist denn da draußen so interessant?“

Marcus widmete sich wieder dem Anblick von Lady Phoebe. „Mein letzter, unerfüllter Traum.“

Vivers blickte hinaus. „Lady Phoebe Stanhope? Gib es auf.“

Mit finsterer Miene erwiderte Marcus: „Warum? Ich bin zwar nur der zweitgeborene Sohn, aber ich bin immer noch erbberechtigt. Sobald ich volljährig bin, bekomme ich das Erbe von der Tante meiner Mutter.“

Sein Freund fuhr sich mit der Hand durch die Haare und brachte die modische Frisur in Unordnung. „Nun gut, ich werde die Gründe aufzählen. Du bist minderjährig und brauchst die Zustimmung deines Vaters, um zu heiraten, desselben Vaters übrigens, der dich auf die Westindischen Inseln verbannt, bevor du dich hier in einen Skandal verwickelst, der nicht mehr zu kitten ist. Dazu kommt, dass sie noch nicht ihr Debüt hatte.“

Marcus’ Magen krampfte sich zusammen, als hätte man ihm einen Schlag verpasst. „Was soll das heißen, sie hatte noch nicht ihr Debüt?“

„Sie. Hat. Noch. Nicht. Debütiert. Sie ist nicht alt genug, um auf dem Heiratsmarkt zu sein“, machte Vivers deutlich. „Mit zwanzig bist du selbst fünf Jahre zu jung. Glaubst du wirklich, dass ihr Vater damit einverstanden wäre, dass du sie heiratest? Damen heiraten mit zwanzig, nicht Herren.“

Marcus schüttelte den Kopf und versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Warum war sie auf dieser Hausfeier? War das ein Scherz, den ihm das Schicksal spielte? Oder war es eher eine Bestrafung? „Wie alt ist sie?“

„Ich weiß es nicht genau“, sagte sein Freund achselzuckend. „Sechzehn oder siebzehn, vielleicht. Sie hat ein sehr ausdrucksvolles Gesicht, deshalb ist es schwer, sicher zu sein. Schade, dass du nicht hier sein wirst, wenn sie debütiert“, sinnierte Vivers. „Ich glaube nicht, dass sie lange auf dem Heiratsmarkt bleiben wird.“

Marcus fühlte sich, als ob er sterben würde. Bis er fünfundzwanzig war, würde sie verheiratet sein und Kinder haben. „Vielleicht würde Lady Phoebe mit mir zu den Westindischen Inseln gehen. Gott weiß, dass ich sie liebe.“

„Wir werden in der Taverne zu Abend essen und uns den Hahnenkampf ansehen“, sagte Vivers. „Das wird dich in eine bessere Stimmung versetzen. Sie reist morgen früh ab. Es ist besser, wenn du sie nicht siehst.“

Marcus schenkte noch ein Glas ein und kippte es weg. „Es muss doch etwas geben, was ich tun kann.“

Er wollte noch mehr Brandy in sein Glas füllen, aber Vivers riss Marcus den Tumbler aus der Hand.

„Du hast mehr als genug getrunken. Großer Gott, Mann. Krieg es in deinen Kopf. Du kannst sie nicht heiraten. Jetzt geh in dein Zimmer und schlaf dich aus, bevor du eine Dummheit begehst.“

Vivers ging, und Marcus folgte ihm. Er schwankte ein wenig, als er einen Schritt machte.

Lady Phoebe winkte ihm zu, als sie sich auf den Weg zum Haus machte. Er würde sie abfangen und sein Anliegen vortragen. Dies war seine letzte Chance, sie für sich zu gewinnen.

In neun Tagen würde er auf einem Schiff zu den Westindischen Inseln sein, aber zuerst würde er sie nach Gretna Green bringen.

***

Phoebe betrat das Haus durch eine Seitentür. Sie hatte gedacht, Lord Marcus würde sich draußen zu ihnen gesellen, und fragte sich nun, ob er mit Lord Mattheus unterwegs war. Lord Marcus war so nett – nein, besser als nett – und gutaussehend. Ihr Magen kribbelte vor Schmetterlingen, wann immer sie an ihn dachte. Er hatte einmal ihre Hand berührt und es hatte gekribbelt. Sie konnte nicht einmal richtig atmen, wenn er in der Nähe war, seine Gegenwart erfüllte sie mit so viel Freude und ihr Herz schlug schneller, wenn sie miteinander sprachen. Phoebe war sich sicher, dass sie verliebt war. Nichts anderes konnte so magisch sein.

Sie zögerte und erinnerte sich an das, was Lady Worthington gesagt hatte. Dass Lord Marcus ganz und gar nicht der Richtige sei und dass man ihn verbannen wolle, bevor er einen großen Skandal verursache. Aber wenn das stimmte, hätte sich Phoebe sicher nicht in ihn verliebt. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn zu den Gerüchten zu befragen.

Eine Stunde später machte sich Phoebe in einem sehr hübschen Kleid aus Musselin auf den Weg in den Salon, wobei sie durch die Gemäldegalerie ging. Die Nachmittagssonne beleuchtete eine Hälfte des breiten Korridors. Lange Sprossenfenster wurden von roten und goldenen Brokatvorhängen flankiert, und an der Außenwand standen mit rotem Samt überzogene Bänke.

An den getäfelten Innenwänden hingen jahrhundertealte Porträts von düster dreinblickenden Vivers. Als sie sich der alten, geschnitzten Doppeltür näherte, die zur großen Treppe führte, bewegte sich etwas. Sie blieb stehen.

Lord Marcus taumelte leicht, als er aus der Ecke schlenderte. „Ich habe Sie gesucht, meine Liebe.“ Seine Worte waren undeutlich, als wäre er betrunken.

„Lord Marcus, haben Sie getrunken?“ Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie sich daran erinnerte, was Lady W. gesagt hatte.

„Nur ein bisschen“, sagte er. „Flüssiger Mut und so weiter. Ich habe etwas Wichtiges mit Ihnen zu besprechen.“

Sie hob ihr Kinn und ging um ihn herum. „Ich habe Ihnen nichts zu sagen, Mylord.“

„Aber ich habe Ihnen eine Menge zu sagen, meine Liebe.“ Er streckte eine Hand aus, um ihr den Weg zu versperren. „Kommen Sie zu mir, Phoebe.“

Ihre anfängliche Beklemmung verwandelte sich in Wut. Sie kniff die Augen zusammen und sprach in ihrem kältesten Tonfall. „Wie können Sie es wagen, mich so anzusprechen? Gehen Sie mir aus dem Weg und lassen Sie mich vorbei.“ Wie hatte sie sich nur so täuschen können, und was sollte sie jetzt tun?

Lord Marcus’ Arm streckte sich aus, um sie zu packen. „Ich habe eine bessere Idee.“

Phoebe sprang zurück und versuchte, um ihn herumzulaufen, aber er hielt sie fest. Der starke Duft von Brandy stieg ihr in die Nase. Ihr Herz pochte wie wild. Was für einen Fehler sie gemacht hatte. Lord Marcus war ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie musste von ihm wegkommen.

Sein Arm schlang sich fester um sie. Er nahm ihr Kinn in die Hand und drehte es zu sich hin. „Ich liebe Sie, und ich möchte, dass Sie mir gehören.“

Sein Blick brannte heiß. Sie schüttelte den Kopf hin und her und versuchte, seinen Lippen auszuweichen, während seine Finger ihre Brust berührten. Ein Schauer durchfuhr sie, gefolgt von überwältigender Panik. Was geschah mit ihr?

Zum ersten Mal in Phoebes Leben hatte sie wirklich Angst. Verzweifelt löste sie sich aus seinem Griff und schlug ihm mit der Faust auf die Nase.

Blut spritzte heraus. Lord Marcus taumelte zurück und fiel mit einem Grunzen zu Boden.

Sie stand über ihm und zitterte vor Wut. „Sie Schurke! Sie haben das Privileg und den Reichtum eines Gentlemans, und wofür nutzen Sie ihn? Für nichts. Ich wollte die Geschichten nicht glauben, aber Sie haben sie wahr gemacht. Sie behandeln Menschen mit Verachtung und wundern sich, warum Sie nicht respektiert werden. Solange Sie nicht lernen, andere an die erste Stelle zu setzen und Ihre Macht und Ihren Reichtum zu nutzen, um Menschen zu helfen, anstatt sie zu verletzen, werden Sie der armselige Abklatsch eines Gentlemans bleiben, der Sie jetzt sind. Ich will Sie nie wieder sehen.“

Phoebe drehte sich auf dem Absatz um und schritt schnell davon. Sie würde ihm nicht die Genugtuung gönnen, sie laufen zu sehen – oder zu erkennen, wie sehr sein Verhalten sie erschüttert hatte. Sie hatte gedacht, sie würde ihn lieben. Wie konnte sie jemals wieder ihrem Urteilsvermögen trauen?

Als Phoebe ihr Zimmer erreicht hatte, läutete sie nach dem Dienstmädchen.

Rose kam aus dem Ankleidezimmer und ließ die Kleidungsstücke fallen, die sie trug. „Oh, Mylady, Sie sind so blass. Warum haben Sie Blut auf Ihrem Kleid? Sind Sie verletzt?“

Phoebe blinzelte die Tränen zurück. Sie würde nicht weiter um Lord Marcus weinen. Er war es nicht wert. „Ich bin nicht verletzt“, sagte sie und hasste das Zittern in ihrer Stimme, „aber ich kann nicht zum Essen hinuntergehen.“

„Machen Sie sich keine Sorgen“, sagte Rose. „Ich werde Ihrer Ladyschaft eine Nachricht schicken, dass Sie sich nicht zu ihnen gesellen, und Ihnen etwas warme Milch und Toast bringen lassen.“

Rose ließ sie kurz allein. Als sie zurückkam, half sie ihrer Herrin, sich auszuziehen und in ihr Nachthemd zu schlüpfen, während sie zuhörte, wie Phoebe die ganze Geschichte erzählte.

„Mylady“, sagte Rose, „Sie müssen Ihrer Mutter erzählen, was passiert ist. Dieser junge Mann sollte bestraft werden.“

Phoebe schüttelte den Kopf. „Nein, ich möchte nicht, dass jemand anderes davon erfährt. Ich schäme mich so sehr. Oh, Rose, was habe ich getan, dass er mich so schlecht behandelt hat?“

Das Dienstmädchen kämmte Phoebe das Haar und machte beruhigende Geräusche. „Sie haben nichts getan, Mylady, und denken Sie das bloß nicht. Lord Marcus Finley ist jung, wild und eigensinnig wie kaum ein anderer. Ein fauler Apfel. Ich habe am Tisch im Bedienstetensaal alles über ihn gehört. Nach dem, was sein Stallbursche erzählte, hat Seine Lordschaft in der Nähe anständiger Leute nichts zu suchen, bis er sich bessert.“

Die Milch und der Toast kamen, und Rose ließ Phoebe trinken und essen, bevor sie ihre verzweifelte Herrin schließlich ins Bett brachte und die Vorhänge zuzog.

Phoebe lag in der Dunkelheit und versuchte, Lord Marcus Finley aus ihren Gedanken zu verdrängen. Er war ein abscheulicher Schurke und ein arroganter Troll. Gott sei Dank wurde er nach Westindien geschickt. Sie würde ihn nie wieder sehen müssen.

 

Acht Jahre später, Juni 1814, Newhaven, Sussex, England

 

Guy, der siebte Marquis von Dunwood, beobachtete, wie sich der nach amerikanischer Art gebaute Schoner dem Dock näherte. Ein großer, braungebrannter junger Mann in den späten Zwanzigern stand am Bug, ein Tau in der Hand, bereit, es einem der Hafenarbeiter am Pier zuzuwerfen. Er sah eher aus wie ein Seemann als ein wohlhabender Herr.

Sein jüngster Sohn. Derjenige, dachte Dunwood reumütig, den er vor zwei Jahren nicht erkannt hatte, als Marcus zu Besuch gekommen war.

Das Tau segelte durch die Luft und schlängelte sich perfekt um einen Pfosten. Nachdem er das Seil festgebunden hatte, ging Marcus zurück und wandte sich an den Kapitän, bevor er außer Sichtweite verschwand.

Nicht mehr als eine halbe Stunde später begrüßte Dunwood seinen Sohn. „Willkommen zu Hause. Du hättest schon früher zurückkehren können.“

Die gute Laune wich aus Marcus’ Augen. „Nein, und ich habe Vorkehrungen für Lovets Familie getroffen. Als er starb, waren sie in arger Bedrängnis.“

Dunwood würde nie verstehen, warum sein Sohn die Notwendigkeit sah, sich um diejenigen zu kümmern, die nicht seine Angehörigen waren. Offenbar hatten die Westindischen Inseln einen größeren Einfluss auf ihn gehabt, als Dunwood gedacht hatte. Nun, was Marcus mit seinem Privatvermögen anstellte, war nicht Dunwoods Sache. Anstatt zu streiten, fragte er: „Wie macht sich der neue Steward?“

Die breiten Schultern seines Sohnes entspannten sich. „Sehr gut. Er hat früher für die Familie Spencer-Jones als Verwalter gearbeitet, aber als deren drittältester Sohn heiratete und den Besitz übernahm, verlor er seine Anstellung. Der Mann wurde mir wärmstens empfohlen. Ich habe ihm ein Angebot gemacht, bevor jemand anderes mir zuvorkommen konnte.“

„Gut. Ich bin froh, dass du jemanden finden konntest.“ Dunwood machte sich auf den Weg zu den beiden großen Kutschen in der Nähe eines Gasthauses. „Wo sind deine Truhen?“

„Ich habe nur eine. Covey, mein Helfer, wird dafür sorgen, dass sie verstaut wird“, sagte Marcus. „Wie geht es Arthur und den Mädchen?“

„Deinem Bruder geht es so gut, wie man es unter den gegebenen Umständen erwarten kann, und seinen Töchtern auch.“

Marcus blickte sich um und sah, wie Covey ihm zuwinkte. Das letzte Mal, als er seinen Bruder besucht hatte, war Arthur gesund und munter gewesen. Jetzt starb er an der Schwindsucht. Seine Frau war vor ein paar Jahren gestorben und hatte ihm zwei Töchter, aber keinen Erben hinterlassen. Infolgedessen war Marcus aus der Verbannung zurückgerufen worden. Er fragte sich, wie schwierig es sein würde, nach all den Jahren, in denen er sein eigener Herr gewesen war, bei seinem Vater zu leben und unter Dunwoods Kontrolle zu stehen.

Als er sich in der kleinen Stadt umsah, fühlte er sich wie in einem fremden Land, aber er war auch lange fort gewesen. Er schaute zu seinem Schiff, der Lady Phoebe, die am Kai festgemacht war. Vielleicht zu lange.

„Wenn du ein paar Tage bei deinem Bruder warst, bringe ich dich nach London.“ Die Lippen seines Vaters verzogen sich zu einer Grimasse. „Du musst Weston und Hoby aufsuchen und dich um deine Kleidung kümmern, bevor die Kleine Saison beginnt. Eine deiner ersten Aufgaben wird es sein, eine Frau zu finden.“

Marcus nickte. Endlich waren er und sein Vater sich über etwas einig. „Das werde ich zu einer Priorität machen.“

 

Letzte Augustwoche 1814, Cranbourne Place, England

 

Phoebe ging zügig in den großen, sonnigen Frühstücksraum, die Schleppe ihres blassgrünen Nanking-Reitgewandes über einen Arm drapiert. Sie grüßte ihren Bruder Geoffrey, den sechsten Grafen von Cranbourne. „Guten Morgen.“

Als er von seinem Nachrichtenblatt aufschaute und ihren Blick erwiderte, sah Phoebe die Müdigkeit in seinem Gesicht.

„Ach, du Ärmster“, sagte sie. „Ist es das Baby?“

Miles war der sechs Monate alte Sohn von Geoffrey und seiner Frau Amabel.

„Ja“, antwortete Geoffrey. „Er bekommt gerade seinen ersten Zahn. Hätte ich gewusst, dass er so große Schmerzen haben würde, hätte ich ihm geraten, sich die Mühe zu sparen.“

Grinsend sagte Phoebe: „Ich bin sicher, dass er diesen Rat zu schätzen gewusst hätte.“

Geoffrey reichte ihr einen Ausschnitt aus dem Nachrichtenblatt, und sie saßen in geselligem Schweigen, bis ihre Schwägerin zu ihnen stieß.

Nachdem sie sich eine Tasse Tee eingeschenkt hatte, fragte Amabel Phoebe: „Wann fährst du in die Stadt?“

Sie verschluckte sich fast an einem Stück Toast. „Nächste Woche.“

„Ich wünschte, ich könnte mit dir gehen.“

„Was für ein Pech!“ Phoebe lächelte. „Du hast überhaupt keine Lust, nach London zu fahren und mich zu beaufsichtigen, und ich habe auch keine Lust, dass du das tun musst. Ich bin ganz zufrieden damit, bei meiner Tante St. Eth zu bleiben. Die politischen Partys, die die St. Eths besuchen, sind mir viel lieber.“

Ihre Schwägerin verzog das Gesicht. „Aber die sind so trocken.“

Phoebe lachte, als Amabel die Nase rümpfte. „Ich weiß, für dich ist das Thema todlangweilig, aber ich genieße es außerordentlich.“

Ihre Schwägerin runzelte die Stirn. „Meine Liebe, wie willst du jemals einen Ehemann finden, wenn du nur auf politische Veranstaltungen gehst?“

„Es ist ja nicht so, dass es keine unverheirateten Herren auf den Veranstaltungen gibt“, entgegnete Phoebe. „Außerdem habe ich wohl jeden unverheirateten Gentleman in ganz England kennengelernt. Keiner hat in mir den geringsten Wunsch geweckt, zu heiraten. Vielleicht werde ich einen Salon eröffnen und ein berühmter Blaustrumpf werden.“

Ihrer Schwägerin blieb vor Schreck der Mund offen stehen. „Das kannst du nicht ernst meinen!“

Phoebe versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. „Ich weiß, dass du dich sehr bemüht hast, einen Partner für mich zu finden. Ich wünschte, du würdest nicht so hartnäckig darauf bestehen, mich zu vermählen. Ich werde heiraten, wenn ich einen Mann gefunden habe, den ich lieben kann, und nicht vorher.“

„Aber du musst heiraten“, sagte Amabel. „Du bist fast vierundzwanzig, und du bist viel zu schön, um eine alte Jungfer zu werden.“

„Ich bin mir meines Alters sehr wohl bewusst“, sagte Phoebe so milde, wie sie konnte. „Ich gehöre noch nicht zum alten Eisen.“

Nachdem sie einen Schluck Tee getrunken hatte, sagte Amabel unbekümmert: „Ich habe meinen Bruder eingeladen, uns zu besuchen.“

Phoebe zog die Stirn in Falten. „Evesham? Ich dachte, er sei zu krank, um zu reisen.“

„Nein, Arthur ist tatsächlich zu krank“, sagte ihre Schwägerin. „Ich habe meinen anderen Bruder, Marcus, eingeladen. Er wird in drei Tagen eintreffen.“

„Lord Marcus?“

Amabel zögerte, bevor sie fortfuhr: „Er muss jetzt heiraten, und da habe ich sofort an dich gedacht.“

Bei der Erwähnung von Lord Marcus Finley krampfte sich Phoebes Magen zusammen, und die Demütigung, die sie seit Jahren nicht mehr gespürt hatte, brodelte in ihr auf und nährte ihren Zorn.

Sie holte tief Luft und sagte ruhig, aber bestimmt: „Ich habe Lord Marcus getroffen, wir passten nicht zusammen. Amabel, bitte entschuldige mich. Mir ist gerade etwas eingefallen, was ich tun muss.“ Phoebe stand auf und verließ den Raum.

Als sie ihr Zimmer betrat, schloss sie die Tür mit einem Knall. Die Kontrolle, mit der sie sich bisher zurückgehalten hatte, drohte sich aufzulösen. Lord Marcus Finley war zurück.

Myriaden von Gefühlen der Angst, des Schmerzes und der Verzweiflung stürmten auf sie ein. Es verwirrte sie, dass sie beinahe so aufgewühlt war wie vor acht Jahren, als er ihre kindlichen romantischen Vorstellungen zunichte gemacht hatte. Damals hatte sie ihn verdrängt und seitdem, abgesehen von den schlechten Träumen, nicht mehr bewusst an ihn gedacht.

Sie hatte gehofft, seinen Namen nie wieder zu hören, und sie wollte ihm ganz sicher nicht begegnen. Sie hatte gelernt, sich zu schützen, aber sie trauerte immer noch um den Verlust ihrer Unschuld, die er ihr geraubt hatte. Sie würde nicht wegen Lord Marcus weinen. Es konnte nichts Gutes bringen, an ihn zu denken. Es war leichter gewesen, jenen Tag zu vergessen, als er auf der anderen Seite des Ozeans gewesen war.

Phoebe atmete tief durch und schritt zu ihrem Schreibtisch, einem wunderschönen Kirschbaumsekretär. Wütend richtete sie ihre Feder, dann nahm sie ein Stück heißgepresstes Papier, tauchte die Feder in das Tintenfass und schrieb zuerst einen Brief an ihre Tante, die Marquise von St. Eth.

Meine liebste Tante Ester, ich habe mich sehr über Deinen Brief gefreut, in dem Du mir mitteilst, dass Du jetzt im St. Eth House residierst. Liebe Tante, ich muss dringend meine Garderobe aufstocken, und ich hoffe, dass es nicht zu sehr stört, wenn ich am Donnerstag zu Dir komme. Ich freue mich darauf, bald bei Dir zu sein. Deine ergebene und liebende Nichte, P.

Als Nächstes schrieb sie einen Brief an das Gasthaus, in dem sie zu übernachten gedachte, und dann eine Nachricht an Amabel.

Eine Stunde später klopfte sie an die Tür von Geoffreys Arbeitszimmer, betrat den Raum und begann auf und ab zu gehen.

Er hob die Brauen. „Irgendetwas beunruhigt dich. Geht es um Amabels Bruder?“

„Ja.“ Phoebe ging noch ein Stück weiter, bevor sie sich an ihn wandte. „Geoffrey, ich kann ihn nicht wiedersehen, ich will es nicht. Es tut mir leid, aber ich habe beschlossen, meine Reise nach London auf morgen vorzuverlegen.“

„Willst du mir sagen, worum es geht?“, fragte er mit ernster Sorge. „Soll ich deine Ehre verteidigen?“

„Nein.“ Sie hielt inne, als sich ihr die Kehle zuschnürte. „Ich möchte nicht darüber reden oder auch nur darüber nachdenken.“

„Nun gut. Wenn du deine Meinung änderst, bin ich da und höre zu.“ Er hielt inne. „Ich nehme an, du brauchst die Kutsche für das Gepäck?“

Phoebe lächelte dankbar. „Du bist der beste aller Brüder, aber nein, danke. Meine Ausrede bei Tante Ester wird sein, dass ich einkaufen muss. Ich werde nur das mitnehmen, was in meiner Kutsche transportiert werden kann.“ Sie reichte ihm ihre Briefe. „Würdest du diese für mich frankieren? Ich möchte, dass sie per Eilpost verschickt werden.“

„Ja, natürlich.“ Er nahm die Briefe, versiegelte sie mit Wachs und seinem Siegelring, kritzelte seinen Titel darauf und gab sie ihr zurück. „Richte Wilson von mir aus, dass einer der Stallknechte sofort in die Stadt reiten soll. – Um wie viel Uhr willst du morgen aufbrechen?“

„Ziemlich früh, denke ich. Bevor Amabel zum Frühstück kommt“, sagte Phoebe leise und verließ den Raum.

Sie fand ihr Dienstmädchen im Ankleidezimmer. „Rose, wir reisen morgen früh ab und werden nur eine Kutsche nehmen. Ich würde gerne um sieben Uhr abfahren.“

„Darf ich fragen, Mylady, ob unsere frühe Abreise etwas mit Lady Cranbournes Bruder zu tun hat?“

Phoebe seufzte. „Ich nehme an, die Nachricht von seinem bevorstehenden Besuch hat sich in den Quartieren der Bediensteten herumgesprochen?“

Rose nickte.

Phoebe antwortete ihr offen: „Ja, das ist der Grund.“

Das Gesicht ihres Dienstmädchens wurde kämpferisch. „Es wird alles bereit sein, um bei Tagesanbruch aufzubrechen, Mylady. Es gibt keinen Grund in der Welt, warum Sie diese Ausgeburt des Teufels noch einmal sehen sollten!“

***

Früh am nächsten Morgen half Geoffrey ihr in die Kutsche. „Wir sehen uns, wenn ich zu den Abstimmungen in der Legislaturperiode komme“, sagte er. „Grüß mir Hermine und Edwin und Tante und Onkel St. Eth …“

Phoebe lachte. „Ja, ja – und William und Arabella und Mary“, fügte sie hinzu. „Das werde ich. Danke, dass du so verständnisvoll bist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Amabel darüber glücklich sein wird.“

„Nein, wahrscheinlich nicht.“ Er lächelte verschmitzt. „Natürlich weiß ich, dass sie nicht in die Luft gehen wird, weil ich keinen Hausdrachen geheiratet habe, wie meine Schwestern es sind.“

Phoebe schlug ihn spielerisch. „Nein, du stehst gewiss nicht unter dem Pantoffel deiner Frau. Sie verwöhnt dich.“

Geoffrey grinste reumütig. „Wie wahr. Sag mal: Ist Marcus Finley wirklich so schlimm, Liebes?“

„Er ist ein ekelhafter, vulgärer Schuft!“, erwiderte sie wütend.

„Oho, du bist ihm also zutiefst abgeneigt!“

„Ja.“ Und nun musste sie einen Weg finden, um ihn dauerhaft zu meiden.

Kapitel 2

Nachdem sie ihrem Bruder zum Abschied gewunken hatte, lehnte sich Phoebe gegen die weichen Polster und versuchte, sich vom Schwanken der Kutsche beruhigen zu lassen. Das Gefährt war der neueste Stil, leicht und gut gefedert. Die Außenseite war dunkelgrün mit goldenen Paspeln, und die Innenpolster waren in ihrem Lieblingsfarbton, dem Apfelgrün, gehalten.

Gegenüber von Phoebe fielen Rose die Augen zu. Phoebe seufzte und stellte sich auf eine ruhige Reise ein. Wenigstens war sie entkommen, bevor Lord Marcus angekommen war. Vielleicht würde Lord Marcus, da sein Bruder so krank war, zur Kleinen Saison nicht in die Stadt kommen. Nach dem, was sie über ihn wusste, würde er wahrscheinlich in London sein, und sei es nur, um die Spielhöllen und andere sündhafte Orte zu besuchen.

Sie verdrängte ihn rücksichtslos aus ihren Gedanken.

Ihr erster Reisetag verlief so, wie sie es erwartet hatte. Das Wetter war schön und warm, und die Straßen waren trocken. Nach einiger Zeit begann sie mit der Lektüre von Patronage, dem neuesten Roman, der ihr in die Hände gefallen war.

Am Nachmittag kam sie im Haus ihrer Schwester Hermine an. Die schrille Stimme ihres Neffen William schwebte durch die Luft.

Phoebe lehnte sich aus dem Fenster, lächelte und winkte ihren Nichten und Neffen zu, als die Kinder in die Einfahrt gerannt kamen.

William rief: „Mama, schau, Mama, schau, es ist Tante Phoebe!“

Lachend stieg sie aus der Kutsche. William und Arabella, die fünfjährigen Zwillinge, nahmen Phoebes Hände, und Mary, drei Jahre alt, klammerte sich an ihre Röcke. Phoebe umarmte und küsste sie alle. „Meine Lieben, ich freue mich auch sehr, euch zu sehen, aber ihr müsst mir erlauben, eure Mama zu begrüßen.“ Phoebe löste eine Hand und reichte sie ihrer Schwester.

Hermine und ihr Zwilling Hester waren ein paar Jahre älter als Phoebe, aber jünger als Geoffrey. Ihre Schwester umarmte Phoebe, und Hermines Augen funkelten, als die Kinder versuchten, ihre Tante wegzuziehen. „Nicht, dass ich mich nicht freuen würde, dich zu sehen, meine Liebe. Aber was, wenn ich fragen darf, führt dich eine Woche früher und ohne Vorankündigung zu mir?“

Phoebe verzog das Gesicht. „Amabel ist wieder am Verkuppeln.“

Auf ein beharrliches Zupfen an ihren Röcken hin, hob Phoebe die kleine Mary auf.

Hermine zuckte mit den Schultern. „Amabel versucht schon seit der ersten Saison nach ihrer Heirat mit Geoffrey, in der du sie völlig fertig gemacht hast, eine Ehe für dich zu arrangieren.“

„Ja, aber dieses Mal hat sie die Grenze dessen überschritten, was ich ertragen kann.“ Phoebe presste die Lippen aufeinander. „Aber um fair zu sein, sie weiß nicht, was sie getan hat.“

Ihre Schwester hob fragend eine Braue. Phoebe schloss kurz die Augen. Hermine hatte gesehen, wie sie an diesem Tag die Galerie verlassen hatte, aber sie hatten nie darüber gesprochen.

„Amabel hat ihren Bruder, Lord Marcus Finley, eingeladen, mich in zwei Tagen zu treffen.“ Phoebe rückte Mary an ihrer Hüfte zurecht. „Ich habe ihm vor acht Jahren auf dem Anwesen der Worthingtons, als wir diesen unglücklichen Zwischenfall hatten, gesagt, dass ich ihn nie wieder sehen will, und daran hat sich nichts geändert.“

Hermine nickte. „Ich weiß noch, wie wütend du warst.“

Phoebe drückte Mary an sich und sagte: „Jetzt, wo er endgültig zurückgekehrt ist, weiß ich, dass ich es nicht vermeiden kann, ihm irgendwann zu begegnen, aber ich möchte nicht in die Lage kommen, mit ihm allein zu sein. Genau das wäre passiert, wenn ich in Cranbourne Place geblieben wäre.“ Phoebe wurde von ihrer Nichte abgelenkt, deren Zappeln immer heftiger geworden war. „Was ist los, meine Liebe?“

Mary nahm Phoebes Gesicht zwischen ihre kleinen pummeligen Hände. „Mach dir nichts draus“, sagte Mary und küsste Phoebe. „Es ist alles in Ordnung.“

Sie drückte sie enger an sich. „Ja, Süße, ich bin gleich wieder in Ordnung. Tante Phoebe muss nur dem Troll entkommen.“

Hermine runzelte die Stirn. „Das war wirklich eine große Einmischung von Amabel. Meine Liebe, was wirst du tun, wenn du ihn wiedersiehst? Als Dunwoods Erbe wird Lord Marcus sicher bei vielen der gleichen Veranstaltungen sein, die du besuchen wirst.“

Ihre Schwester hatte Recht, Lord Dunwood war politisch sehr aktiv, ebenso wie ihr Onkel, Henry, der siebte Marquis von St. Eth. Phoebe hob eine Augenbraue und blickte hochmütig auf ihre Nase. „Wenn wir uns treffen, werde ich natürlich höflich sein“, sagte sie eisig.

Ihre Schwester brach in Gelächter aus. „Oh ja, dieser Blick sollte ihn auf den rechten Weg führen.“

Phoebe erwiderte: „Nun, das hoffe ich doch sehr. Beim letzten Mal musste ich ihm auf die Nase schlagen, um ihn davon abzubringen. Schade, dass ich zu jung bin, um einen eigenen Haushalt zu gründen.“

„Oh, Phoebe!“ Hermines Augen weiteten sich. „Willst du die Gesellschaft auf den Kopf stellen?“ Sie tippte sich an die Wange, als wäre sie tief in Gedanken versunken. „Hmm. Ich habe genau das Richtige. Du könntest einen Ehemann finden.“

„Et tu, Brute?“ Phoebe versuchte, verletzt auszusehen, konnte sich aber das Lachen nicht verkneifen. „Eine Heirat mit irgendjemandem ist doch keine Lösung.“

„Phoebe, wir haben nur dein Bestes im Sinn. Es muss doch jemanden geben.“

„Nun, Hermine, wenigstens versuchst du nicht, mich zu verkuppeln.“

„Nein, und das werde ich auch nicht tun“, antwortete ihre Schwester. „Du wirst es wissen, wenn du den richtigen Mann triffst, ohne dass ich oder jemand anderes dir dabei hilft.“

Plötzlich wehmütig, hob Phoebe ihren Blick zu ihrer Schwester. „Meinst du wirklich, ich werde es wissen?“

„Das glaube ich in der Tat. Du musst nur daran denken, was Mama uns gesagt hat. Wenn du den Mann deines Herzens gefunden hast, wird es dir vorkommen, als sei er der einzige Mensch, den du siehst.“

Hermines Ehemann, Edwin, der Graf von Fairport, sagte vom Portikus aus: „Was ist das? Et tu, Brute. Du bist gerade erst angekommen und diskutierst schon über die Klassiker? Du bist sehr trübsinnig geworden, meine liebe Schwester.“

„Nein, Dummerchen.“ Hermine lachte, als Edwin sich näherte. „Wir reden über die Ehe.“

Seine grauen Augen funkelten. „Aber was, frage ich, hat der Verrat an Julius Cäsar mit der Ehe zu tun?“

„Nicht Julius Cäsar“, sagte Hermine. „Amabel.“

„Ich kann dir nicht folgen.“ Edwin umarmte und küsste Phoebe.

Seine Frau tätschelte ihm liebevoll den Arm. „Wir werden es später erklären.“

Er nickte in Richtung von Phoebes Pferden, die gerade zu den Ställen geführt wurden. „Ist das das Gespann, das du vor Marbury hattest?“

„Ja. Gefallen sie dir?“

„Nicht nur.“ Er gab dem Pferdepfleger ein Zeichen zum Anhalten und begann, sie zu begutachten.

Hermine nahm Edwins Arm und zog ihn zu den Stufen. „Oh, nein, du kommst mit ins Haus, sonst werdet ihr beide bis zum Abendessen über Pferde und Kutschen diskutieren.“ Sie blickte wieder zu Phoebe. „Und du, meine Liebe, du musst etwas Zeit mit deinen Nichten und deinem Neffen verbringen, wenn wir überhaupt Ruhe haben wollen.“

Mit einem Blick auf seine Kinder fragte Edwin trocken: „Wie kommt es, dass meine sonst so braven Kinder plötzlich zu Heiden werden, wenn ihre Tante Phoebe auftaucht?“

Arabella und William leugneten lautstark, Heiden zu sein, sondern freuten sich nur sehr, ihre Tante zu sehen. „Damit du es weißt, Papa“, sagte William, „sie ist die lustigste von allen unseren Tanten, und sie ist immer daran interessiert, mit uns Spiele zu spielen und zu wissen, was wir tun.“

„Was ich weiß, du junger Spinner“, erwiderte sein Vater liebevoll, „ist, dass meine Definition von heidnisch und deine wenig gemeinsam haben.“

Kichernd ließ sich Phoebe von Williams und Arabellas kleinen Händen in die Spielstube im hinteren Teil des Hauses zerren. Mit Mary auf dem Schoß setzte sie sich auf das bequeme Sofa und schwärmte von Williams Zeichnungen und Arabellas Aquarellbildern. Viel zu schnell war es Zeit für die Kinder, ins Kinderzimmer zurückzukehren. Nachdem ihnen versichert worden war, dass ihre Tante Phoebe kommen würde, um ihnen eine gute Nacht zu wünschen, folgten die Kinder der Amme gehorsam aus der Stube.

Edwin und ihre Schwester kamen sofort auf den Grund für Phoebes frühen Besuch zu sprechen. Phoebes Herz raste bei der Erwähnung von Lord Marcus Finleys Namen. „Bitte, können wir nicht über ihn reden? Ich würde viel lieber über die anstehende Gesetzgebung zu den Handelsfragen sprechen.“

Ihr Schwager warf ihr einen neugierigen Blick zu, wechselte dann aber diplomatisch das Thema.

Später in ihrem Zimmer angekommen, versuchte Phoebe, die Erinnerungen zu verdrängen, die seit ihrem Gespräch mit Amabel immer wieder auftauchten. Sie konnte immer noch den Brandy riechen und seine Hände spüren, als sie ihre Brüste berührten. Sie schauderte, erinnerte sich an die seltsamen Gefühle, als er sie berührt hatte, und an die plötzliche Angst, die sie empfunden hatte. Warum musste er zurückkommen?

Nachdem sie sich eine Träne von der Wange gewischt hatte, tauchte sie ein Tuch in das Wasserbecken und wischte sich damit das Gesicht ab. Wenn sie im Salon erschien und aussah, als hätte sie geweint, würden Hermine und Edwin nur noch mehr Fragen stellen.

***

Edwin betrat das Ankleidezimmer seiner Frau, um zu versuchen, dem Kummer seiner Schwägerin auf den Grund zu gehen. „Meine Liebe, was ist zwischen Phoebe und Lord Marcus passiert?“

Hermine schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht genau, nur dass es auf der Hausparty geschah, auf der wir beide verlobt wurden. Eben noch fragte mich Phoebe nach der Liebe, und als ich sie das nächste Mal sah, verließ sie wutentbrannt die Galerie. Als ich den Korridor hinunterblickte, lag Lord Marcus auf dem Boden.“

„Auf dem Boden? Und was tat er?“, fragte Edwin.

„Er blutete.“ Er gab ihr ein Zeichen, fortzufahren. „Aus der Nase, glaube ich. Phoebe hat ihn geschlagen.“

„Was zum Teufel hat der Mann getan?“

„Ich habe keine Ahnung“, sagte Hermine. „Phoebe wollte nicht darüber reden, und sie hat sich entschuldigt, dass sie nicht zum Abendessen herunterkommen konnte. Als wir am nächsten Morgen aufbrachen, verhielt sie sich ganz normal und ruhig. Ehrlich gesagt, war ich so in unsere Hochzeitspläne vertieft, dass ich das ganz vergessen habe.“

„Hmm, sein merkwürdiges Verhalten ergibt jetzt viel mehr Sinn.“

Seine Frau lehnte sich zurück und schaute ihn an. „Was macht mehr Sinn?“

„Du erinnerst dich doch sicher, dass ich in die Stadt gefahren bin, um die Unterlagen für die Vergleichsvereinbarung zu besorgen?“

Sie zog die Brauen zusammen. „Ja.“

Er fuhr fort. „Finley kam nach London zurück, als ob der Teufel hinter ihm her wäre, mit einer geschwollenen Nase und einem blauen Auge. Er hat sich wie ein verrückter Narr aufgeführt. Er war ziemlich betrunken, als er zugab, dass eine Frau ihm einen Haken versetzt hatte. Aber er war klug genug, ihre Identität geheim zu halten.“ Edwin schmunzelte bei der Erinnerung an diese Nacht. „Finley war, wie man hört, ziemlich verblüfft von ihr. Er nannte sie seine Vision. Natürlich war es am nächsten Tag schon überall in der Stadt bekannt. Sein Verhalten war schockierend unerhört.“ Edwin blickte seine Frau an. „Aber Finley hatte sich noch nie gegenüber einer Frau, ob Dame oder nicht, in einer Weise verhalten, die eine derartige Reaktion hervorgerufen hätte.“

„Ach ja?“, sagte Hermine knapp. „Ich dachte, er sei nur ein junger Kerl, der ein Mädchen ausnutzen will, das noch nicht in die Gesellschaft eingeführt wurde. Woher weißt du, dass er verblüfft war? Ich habe nie etwas gehört.“

Edwin grinste. „Nun, meine Liebe, du hättest kaum erwarten können, dass man es dir sagt. Schließlich bespricht man so etwas nicht mit einer Dame. Außerdem wusste keiner von uns, wer die Frau war.“ Er küsste seine Frau. „Finley hat sich seither sehr verändert. Ich habe ihn vor ein paar Jahren kennengelernt und kann ohne Zweifel sagen, dass die Westindischen Inseln ihn geprägt haben.“ Edwin blickte zu Boden. „Gesellschaftlich und politisch wäre es eine gute Partie. Phoebe könnte es viel schlechter treffen.“

Hermine legte ihre Hand auf Edwins Wange und küsste ihn. „Wie dem auch sei, mein Liebster, ich würde mich wundern, wenn Phoebe sich dazu bringen ließe, mehr als nur höflich zu ihm zu sein. Glaubst du wirklich, sie wird Lord Marcus nahe genug heranlassen, um sie zu umwerben?“

Edwin hob eine Augenbraue und antwortete: „Vielleicht erkennt sie ihn nicht. Ich habe ihn fast nicht erkannt, und ich habe eine viel längere Bekanntschaft mit ihm als Phoebe.“

„Nun“, erwiderte seine Frau. „Ich glaube nicht, dass sie ihn in ihre Nähe lassen wird.“

Edwin küsste seiner Frau die Stirn. „Wann fahren wir in die Stadt? Ich glaube, wir werden dieses Jahr gut unterhalten werden.“

„Wie unverbesserlich du sein kannst.“ Hermine kniff die Augen zusammen. „Ich weiß nicht, was du dir davon versprichst. Wie du ja weißt, hat Phoebe dem Pöbel noch nie Anlass zu Spekulationen gegeben.“

„Ja, das stimmt alles“, er knabberte an Hermines Ohr, „aber dasselbe kann man von Finley nicht behaupten. Es wird zwar erwartet, dass er den Titel übernimmt, was ihm wieder zu Ansehen verhelfen wird. Trotzdem würde ich sehr gerne sehen, wie sich dieses Werben entwickelt. Es wird ein Werben geben. Darauf würde ich wetten.“

„Ich finde dich sehr vulgär, Mylord“, sagte Hermine mit einem übertriebenen Schnauben.

„Oh nein, meine Liebe, nicht vulgär. Ich mag nur ab und zu ein bisschen Unterhaltung.“ Edwin hob seine Frau hoch und küsste sie innig. „Und jeder verdient es, so glücklich zu sein wie wir.“

„Edwin, lass mich runter. Du weißt doch, wie empört Tuttle sein wird, wenn ich sie wieder zu mir rufen muss, um mich zu frisieren.“

Er küsste Hermine weiter, denn er wusste, dass sich hinter dem forschen Äußeren des Dienstmädchens seiner Frau eine ungemein romantische Veranlagung verbarg, und eine der Freuden ihres Lebens bestand darin, die Verwüstungen auszubessern, die Seine Lordschaft bei seiner Dame anrichtete. „Ich habe sie jahrelang schockiert.“

„Ich kann froh sein, dass sie nicht abgehauen ist“, murmelte Hermine und erwiderte seinen Kuss.

***

Am nächsten Morgen begleiteten Hermine und Edwin Phoebe zu ihrer Kutsche. Hermine umarmte ihre Schwester. „Wir sehen dich bald in der Stadt, meine Liebe. Ich werde Tante Ester schreiben und unsere Pläne mitteilen.“

Edwin blickte in den wolkenlosen Himmel. „Es scheint, als hättest du einen guten Tag zum Reisen. Wann gedenkst du in Littleton anzukommen?“

Phoebe blickte ebenfalls nach oben. „Wir sollten die Stadt am späten Nachmittag erreichen. Wir werden in kleinen Etappen reisen, um die Pferde zu schonen.“

„Übernachtest du im White Horse Inn?“, fragte er.

„Oh, ja, immer“, antwortete sie. „Der Wirt und seine Frau sind sehr zuvorkommend, und ihr Oberkellner lässt Sam, meinen Stallknecht, gewähren, wie er will. Das ist unabdingbar.“

Edwin brach in schallendes Gelächter aus. „Natürlich sind es die Pferde, um die du dich am meisten kümmerst.“

„Nun, sie sind wichtig.“ Phoebe warf einen liebevollen Blick auf ihr Gespann. „Es fällt mir viel leichter, mein Gefolge in denselben Gasthäusern und Kutschstationen unterzubringen. Außerdem mag ich die Beständigkeit.“

„Ja. Umso besser, wenn Sam die Ställe übernehmen kann. Du bist schon eine außergewöhnliche Person.“

Phoebes Augen funkelten, aber sie hatte den Anstand, zu erröten. Sie umarmte Edwin und sagte: „Ich freue mich darauf, dich in der Stadt zu sehen.“

„In der Tat, es verspricht, eine sehr interessante Saison zu werden.“ Er lächelte rätselhaft, als er zuerst ihr und dann Rose in die Kutsche half. Er fragte sich, wie schnell er und Hermine für die Abreise nach London bereit sein würden.

Er wartete, bis Phoebes Kutsche die Auffahrt hinuntergefahren war, bevor er seine Frau zurück ins Haus begleitete. „Wirst du deiner Schwester Hester schreiben?“

„Ich denke, das werde ich.“

Edwin zog sich an seinen Schreibtisch zurück und schrieb einen Brief an seinen Schwager Geoffrey, in dem er erklärte, er wisse, dass Phoebe sich geweigert habe, Finley zu treffen, aber dass der Mann sich merklich verändert habe. Edwin forderte Geoffrey auf, sich so lange in Cranbourne Place aufzuhalten, bis er einen Grund habe, in die Stadt zu kommen, da seine Frau in Versuchung geraten könnte, sich einzumischen.

Hermine nahm ihren Füller in die Hand, vergewisserte sich, dass sie scharf war, und nahm ein Blatt ihres eleganten Schreibpapiers.

Liebe Schwester, Du wirst Dich erinnern, wie wütend Phoebe auf Lord Marcus Finley während der Hausfeier von Lady W war. Edwin scheint jedoch zu glauben, dass es noch Hoffnung für Lord M. gibt, da Phoebe noch nie so lange auf jemanden wütend gewesen ist. Edwin ist überzeugt, dass Lord Marcus versuchen wird, ihr den Hof zu machen. Ich bitte Dich – komm in die Stadt, um unsere Schwester zu unterstützen. Es wird zumindest abwechslungsreich sein! In aller Liebe, Hermine