Leseprobe Die gefährliche Versuchung der Lady

1. Kapitel

Jack marschierte seines Weges und pfiff fröhlich vor sich hin, denn er kannte keine Sorge …

aus Lachender Jack

London, Mai 1765

Es gibt im Leben eines Mannes wohl kaum Unerfreulicheres, als von seiner Zukünftigen am Tag der Hochzeit sitzen gelassen zu werden, dachte Jasper Renshaw, Viscount Vale. Wenn man dabei obendrein noch unter den verheerenden Nachwirkungen einer durchzechten Nacht zu leiden hatte … nun, das war wirklich ausgemachtes Pech.

„Es tut mir so l…l…leid!“, jammerte Miss Mary Templeton, die vermeintlich Zukünftige, in einer Tonlage, die einem jeden Mann die Kopfhaut vom Schädel hätte lösen können. „Es war nie meine Absicht, Sie zu täuschen!“

„Nun“, sagte Jasper, „davon gehe ich aus.“

Am liebsten hätte er den schmerzenden Schädel in den Händen vergraben, hatte aber das ungute Gefühl, dass dies dem Ernst der Lage nicht angemessen wäre, schien dies doch offensichtlich ein bedeutsamer Augenblick in Miss Templetons Leben. Zumindest saß er. Ein einziger Stuhl stand, hart und hölzern, in der Sakristei, den er ganz unritterlich in Beschlag genommen hatte.

Nicht dass es Miss Templeton etwas ausgemacht hätte: Sie plagten andere Nöte.

„Oh, Mylord!“, rief sie aus, womit vermutlich er gemeint war, wenngleich in Anbetracht des Ortes auch die Anrufung höheren Beistands nicht unwahrscheinlich schien. „Ich konnte nicht anders. Ich konnte einfach nicht anders. Oh, wie schwach und elend wir Frauen sind! Zu schlichten Gemüts, zu feurigen Herzens, um dem Sturm der Leidenschaft zu trotzen!“

Sturm der Leidenschaft? „Zweifellos“, murmelte Jasper.

Er wünschte, ihm wäre an diesem Morgen Zeit für ein Glas Wein geblieben. Oder auch für zwei. Das hätte seinen Kopf vielleicht ein wenig geklärt und ihm geholfen zu verstehen, was seine Verlobte ihm zu sagen versuchte, abgesehen von dem offensichtlichen Umstand, dass sie nicht länger die vierte Viscountess Vale werden wollte. Aber er – armer, argloser Trottel, der er war – hatte sich heute Morgen in dem Glauben aus dem Bett gequält, dass ihm nichts Schlimmeres bevorstünde als eine sterbenslangweilige Hochzeit, gefolgt von einem ausgedehnten Hochzeitsmahl. Weit gefehlt. Mr und Mrs Templeton hatten ihn am Kirchportal empfangen: Er mit finsterer Miene, sie in hektischer Aufgelöstheit. Als Jasper noch dazu frisch vergossene Tränen auf dem Antlitz seiner reizenden Braut hatte erblicken müssen, war ihm in den Tiefen seiner dunklen, abgründigen Seele die Ahnung gekommen, dass er heute keinen Hochzeitskuchen essen würde.

Er unterdrückte einen Seufzer und besah sich seine einstige Zukünftige. Mary Templeton war wirklich überaus reizend. Dunkel glänzendes Haar, strahlend blaue Augen, ein frischer, milchig weiß schimmernder Teint und hübsche dralle Brüste. Worauf ich mich schon richtig gefreut habe, dachte Jasper mit einem gewissen Verdruss, während seine frisch Verflossene in heller Erregung die Sakristei durchmaß.

„Oh, Julius!“, verkündete Miss Templeton und reckte die molligen Arme. Wirklich schade, dass die Sakristei so wenig Raum bot. Ihr theatralisches Temperament bedurfte einer großen Bühne. „Wenn ich dich nur nicht so sehr liebte!“

Jasper blinzelte und beugte sich vor. Irgendetwas musste er hier verpasst haben, denn er kannte keinen Julius. „Ähem“, räusperte er sich. „Wer ist Julius?“

Sie drehte sich um und riss ihre himmelblauen Augen weit auf. Ziemlich schöne Augen, wenn er es recht bedachte. „Julius Fernwood, der Pfarrer des Dorfes nahe Papas Landsitz.“

Sie ließ ihn wegen eines Dorfpfarrers sitzen?

„Oh, könnten Sie seine sanften braunen Augen sehen, sein buttergelbes Haar, sein ernstes, würdevolles Gebaren, würden Sie genauso empfinden wie ich!“

Jasper hob eine Braue. Das wagte er zu bezweifeln.

„Ich liebe ihn, Mylord! Ich liebe ihn mit all der Macht meiner einfältigen Seele.“

In beängstigender Manier sank sie vor ihm auf die Knie, hob ihm ihr hübsches, tränennasses Gesicht entgegen und faltete die zarten weißen Hände vor ihren drallen Brüsten. „Bitte. Bitte! Ich flehe Sie an, befreien Sie mich von diesem grausamen Band! Geben Sie mir meine Flügel zurück, damit ich zu meiner einzig wahren Liebe fliegen kann, der Liebe, die ich stets in meinem Herzen tragen werde, selbst wenn man mich nötigte, Sie zu heiraten, wenn man mich in Ihre Arme drängte, gezwungen, Ihre animalischen Gelüste zu erdulden, mich grausamst …“

„Ja, ja, schon gut“, fuhr Jasper hastig dazwischen, ehe sie sein Bild als lüsternen, grausamen Unhold weiter ausschmücken konnte. „Ich verstehe, dass ich buttergelbem Haar und dem Salär eines Dorfgeistlichen nicht das Wasser reichen kann. Bitte, ich werde kampflos den heiligen Stand der Ehe räumen. Fliegen Sie zu Ihrer einzig wahren Liebe, Miss Templeton. Meine Glückwünsche und alles Gute.“

„Oh, ich danke Ihnen, Mylord!“ Sie ergriff seine Hände und bedeckte sie mit feuchten Küssen. „Immer werde ich Ihnen dankbar sein, immer in Ihrer Schuld stehen. Wenn Sie je …“

„Wenn ich je eines buttergelbhaarigen Dorfpfarrers oder dessen Frau bedürfen sollte et cetera, et cetera. Ich werde es mir merken. Vielen Dank, Miss Templeton.“ Einer plötzlichen Eingebung folgend, kramte Jasper eine Handvoll Münzen aus der Tasche, die er nach der Hochzeit unters Volk hatte werfen wollen. „Hier. Für Ihre Hochzeit. Ich wünsche Ihnen alles Gute mit … äh, Mr Fernwood.“

Er schüttete die Münzen in ihre Hände.

„Oh!“ Miss Templetons Augen weiteten sich noch mehr. „Oh, danke!“

Mit einem letzten feuchten Kuss auf seine Hand hüpfte sie hinaus. Vielleicht fürchtete sie, dass ihn seine spontane Großzügigkeit reuen könnte, wenn sie noch länger bliebe.

Seufzend zückte Jasper ein großes, leinenes Taschentuch und wischte sich die Hände ab. Die Sakristei war klein und düster, die Wände aus demselben alten grauen Stein wie die Kirche, in der er hatte heiraten wollen. An einer Wand reihten sich Regalbretter aus dunklem Holz, darauf Kerzen, Pamphlete, Bibeln und Zinnteller. Hoch oben ein schmales Fenster mit kleinen, bleigefassten Rautenscheiben, dahinter strahlend blauer Himmel, an dem feierlich ein weißes Schleierwölkchen schwebte. Ein kleiner, trostloser Raum, gleich wieder leer und verlassen. Jasper steckte das Taschentuch zurück in die Westentasche. Ein Knopf war lose – das würde er Pynch sagen müssen. Neben dem Stuhl stand ein Tisch. Jasper stützte den Ellbogen darauf, hielt sich den Kopf und schloss die Augen.

Pynch, sein Kammerdiener, wusste einen wunderbaren Muntermacher zu bereiten, der auch den dicksten Brummschädel kurierte. Bald könnte er nach Hause gehen, sich das Gebräu genehmigen, vielleicht wieder zu Bett gehen. Gottverdammt, was brummte ihm der Schädel. Schade, dass er nicht jetzt gleich verschwinden konnte. Vor der Sakristei erhoben sich Stimmen, hallten von der gewölbten Kirchendecke wider. Dem Vernehmen nach stieß Miss Templetons romantisches Ansinnen auf elterlichen Widerstand. Um Jaspers Mundwinkel zuckte es belustigt. Vielleicht teilte ihr Vater ihre Schwäche für buttergelbes Haar nicht. Einer Horde Franzosen hätte Jasper sich auf jeden Fall lieber gestellt als der Familie und den draußen wartenden Gästen.

Seufzend streckte er seine langen Beine von sich. So schnell waren sechs Monate harter Arbeit vertan. Sechs Monate hatte es gekostet, Miss Templeton den Hof zu machen: Einen Monat, ein geeignetes Mädchen zu finden – eines aus guter Familie, nicht zu jung, nicht zu alt und hübsch genug, ihr im Bett beizuwohnen. Drei Monate, sie nach allen Regeln der Kunst zu hofieren, auf Bällen und in allerlei Salons mit ihr zu flirten, sie in seiner Kutsche auszufahren, mit Blumen, Naschereien und eitlem Tand zu erfreuen. Dann die alles entscheidende Frage, gefolgt von einer zufriedenstellenden Antwort und einem keuschen Kuss auf Miss Templetons jungfräuliche Wange. Danach war nur noch die Bestellung des Aufgebots geblieben sowie verschiedene Erledigungen und Verfügungen, die vor der glücklichen Eheschließung getätigt und getroffen werden wollten.

Was also war schiefgegangen? Sie schien mit seinen Plänen völlig einverstanden, hatte vor dem heutigen Tag kein einziges Mal Zweifel bekundet. Ihre Begeisterung anlässlich seines Geschenks (perlenbesetzter goldener Ohrringe) hätte man gar als ekstatisch bezeichnen können. Woher also dieser plötzliche Sinneswandel, diese aberwitzige Idee, einen Landpfarrer mit buttergelbem Haar zu heiraten?

Seinem älteren Bruder Richard – so er denn lang genug gelebt hätte, um sich eine Viscountess suchen zu müssen – wäre das bestimmt nie passiert. Ihm wären die Verlobten nicht reihenweise abhandengekommen. Vielleicht liegt es ja an mir, dachte Jasper verdrießlich. Vielleicht war etwas an ihm, was dem schönen Geschlecht missfiel – zumindest im Hinblick auf die Ehe. Es ließ sich nicht von der Hand weisen, dass ihm nun schon das zweite Mal binnen eines Jahres der Laufpass gegeben worden war. Wenngleich, beim ersten Mal war es Emeline gewesen, die – wie man fairerweise erwähnen sollte – ihm mehr Schwester als Geliebte gewesen war. Dennoch. Dennoch könnte ein Gentleman sehr wohl …

Das leise Knarren der Tür zur Sakristei riss Jasper aus seinen Gedanken. Er sah auf.

Eine große schlanke Frau stand unschlüssig an der Tür. Jasper erinnerte sich dunkel. Sie war eine Freundin von Emeline – diejenige, deren Namen er sich nie merken konnte.

„Entschuldigen Sie, habe ich Sie geweckt?“, fragte sie.

„Nein, ich habe nur kurz ausgeruht.“

Sie nickte, warf einen raschen Blick über die Schulter und schloss die Tür hinter sich.

Was sollte das? Es war recht unschicklich. Gespannt hob Jasper die Brauen. Er hatte bislang nicht den Eindruck gehabt, dass sie zu theatralischen Szenen neigte, aber ganz offensichtlich hatte sein Eindruck ihn getrogen.

Sie hielt sich sehr aufrecht, die Schultern gestrafft, das Kinn leicht erhoben. Trotz ihrer Größe war sie unscheinbar. Ein Mann dürfte Mühe haben, sich überhaupt an ihr Gesicht zu erinnern. Vermutlich konnte er sich deshalb ihren Namen nicht merken. Ihr Haar war von unbestimmter Farbe – nicht blond, nicht braun – und zu einem Knoten aufgesteckt. Ihre Augen waren braun, das Kleid graubraun mit einem schlichten Ausschnitt, der ein dürftiges Dekolleté zeigte und feine Alabasterhaut, die Jasper dann doch bemerkenswert fand. Jenes durchscheinende, leicht bläulich schimmernde Marmorweiß, das aus nächster Nähe betrachtet ein Geäst feiner Adern unter der zarten, blassen Haut erkennen ließe.

Wohlweislich hob er den Blick wieder zu ihrem Gesicht. Reglos hatte sie dagestanden und seine Musterung über sich ergehen lassen, doch auf ihren Wangen zeigte sich ein rosiger Hauch.

Dieses Zeichen leisen Unbehagens ließ ihn sich wie ein ausgemachter Schuft fühlen. Folglich fielen seine Worte auch weniger freundlich aus als beabsichtigt. „Kann ich irgendetwas für Sie tun, Ma’am?“

Sie antwortete mit einer Gegenfrage. „Stimmt es, dass Mary Sie nicht mehr heiraten will?“

Er seufzte. „Wie es aussieht, schlägt ihr törichtes Herz für einen Landpfarrer. Da kann ein Viscount nicht mithalten.“

Sie verzog keine Miene. „Sie lieben sie nicht.“

„Traurig, aber wahr“, sagte er und hob entschuldigend die Hände. „Wenngleich nur ein ausgemachter Schuft dies so nonchalant bekennen würde.“

„Dann hätte ich Ihnen einen Vorschlag zu machen.“

„So?“

Sie verschränkte die Hände vor sich und tat das Unmögliche: Sie hielt sich noch aufrechter als zuvor. „Wie wäre es, wenn Sie stattdessen mich heiraten?“

Melisande Fleming gebot sich, ganz still zu stehen und Lord Vale in die Augen zu sehen, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne mädchenhaftes Erröten. Schließlich war sie kein junges Mädchen mehr. Sie war eine Frau von achtundzwanzig Jahren, jenseits aller Träume von Orangenblüten und einer Hochzeit im Mai. Genaugenommen jenseits aller Hoffnung, je ihr Glück zu finden. Aber die Hoffnung schien ein zähes Ding, kaum kleinzukriegen.

Ihr Vorschlag war ausgesprochen lächerlich. Lord Vale war ein vermögender Mann, betitelt noch dazu und in den besten Jahren. Ein Mann kurzum, der freie Wahl hatte unter den reizendsten jungen Mädchen, allesamt jünger und schöner als sie. Auch wenn man ihm gerade für einen armen Landpfarrer den Laufpass gegeben hatte.

Und so machte Melisande sich auf Gelächter gefasst, auf Spott oder, schlimmer noch, Mitleid.

Doch Lord Vale sah sie einfach nur an. Vielleicht hatte er sie ja nicht verstanden. Seine schönen blauen Augen waren etwas blutunterlaufen, und so wie er sich eben den Kopf gehalten hatte, vermutete sie, dass er seine anstehende Vermählung am Abend zuvor ein wenig zu ausgiebig gefeiert hatte.

Die langen Beine von sich gestreckt, lümmelte er auf seinem Stuhl und beanspruchte entschieden zu viel Raum für sich. Ungehörig starrte er sie an, mit diesen unglaublich strahlenden grünblauen Augen. Selbst blutunterlaufen schienen sie von innen heraus zu leuchten, doch waren sie im Grunde das einzig Schöne an ihm. Sein Gesicht war lang und schmal, mit tiefen Falten um Augen und Mund. Auch seine Nase war lang und unverhältnismäßig groß geraten. Seine äußeren Augenwinkel hingen etwas herab, was ihn stets ein wenig schläfrig wirken ließ. Und sein Haar … nun ja, das war eigentlich auch schön: kräftig und gelockt, von warmer, rotbrauner Farbe. Bei jedem anderen Mann würde es jungenhaft, vielleicht gar weibisch gewirkt haben. Nicht so bei ihm.

Fast wäre sie gar nicht zu seiner Hochzeit gekommen. Mary war eine entfernte Cousine, mit der sie ihr Lebtag nur ein- oder zweimal gesprochen hatte. Aber Gertrude, Melisandes Schwägerin, hatte sich an diesem Morgen unwohl gefühlt und darauf bestanden, dass Melisande ihren Zweig der Familie vertreten solle. Darum war sie hier – und hatte soeben wohl den kühnsten Schritt ihres Lebens gewagt.

Wundersames Walten des Schicksals.

Schließlich regte sich Lord Vale. Er rieb sich mit einer Hand übers Gesicht, spähte zwischen langen, gespreizten Fingern hervor. „Ich bin ein Idiot, Sie müssen schon verzeihen, aber ich kann mich beim besten Willen nicht an Ihren Namen erinnern.“

Natürlich nicht. Sie hatte sich von jeher lieber am Rand des Geschehens gehalten. Niemals Mittelpunkt sein, nur nicht die Aufmerksamkeit der anderen auf sich ziehen.

Während er das genaue Gegenteil war.

Sie holte tief Luft und presste die Hände fest zusammen, um ihr Zittern zu bezwingen. Eine bessere Gelegenheit würde sie nie bekommen, weshalb sie das jetzt nicht verpfuschen durfte.

„Ich bin Melisande Fleming. Mein Vater war Ernest Fleming von den Northumberland Flemings.“ Ihre Familie war alt und angesehen, doch ausführlicher wollte sie nicht werden. Wenn er noch nie von ihnen gehört hatte, könnten derartige Beteuerungen ihrer Respektabilität sich nur gegenteilig auswirken. „Vater ist tot, aber ich habe zwei Brüder, Ernest und Harold. Meine Mutter war eine preußische Emigrantin; auch sie ist verstorben. Vielleicht erinnern Sie sich, dass ich mit Lady Emeline befreundet bin, die …“

„Ja, ja, schon gut.“ Er winkte ab. „Ich weiß, wer Sie sind, ich wusste nur nicht …“

„Wie ich heiße.“

„Genau. Wie ich bereits sagte, ich bin ein Idiot.“

Sie schluckte. „Dürfte ich um Ihre Antwort bitten?“

„Nun, es ist so …“, er schüttelte den Kopf und gestikulierte vage, „… ich weiß, dass ich gestern Abend zu viel getrunken habe, und wahrscheinlich hat auch Miss Templetons Flucht mich ein wenig mitgenommen, aber mir will sich partout nicht erschließen, weshalb Sie mich heiraten wollen.“

„Sie sind Viscount, Mylord. Nur keine falsche Bescheidenheit.“

Ein verhaltenes Lächeln umspielte seine Lippen. „Für eine Dame, die um die Hand eines Gentleman bittet, haben Sie eine recht lockere Zunge, finden Sie nicht auch?“

Sie spürte, wie ihr das Blut in Hals und Wangen stieg. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte die Tür aufgerissen und wäre einfach davongelaufen.

„Warum“, fragte er ruhig, „wollen Sie von allen Viscounts dieser Welt ausgerechnet mich heiraten?“

„Weil Sie ein Ehrenmann sind. Das weiß ich von Emeline“, wagte Melisande sich weiter vor und wählte jedes Wort mit ausgesuchter Sorgfalt. „Aus der kurzen Verlobungszeit mit Mary schließe ich, dass Sie sich baldmöglichst vermählen wollen.“

Er neigte den Kopf zur Seite. „So könnte es den Anschein haben.“

Sie nickte. „Und ich möchte nicht länger auf den Großmut meiner Brüder angewiesen sein, sondern meinen eigenen Hausstand haben.“ Was nur die halbe Wahrheit war.

„Haben Sie keine eigenen Einkünfte?“

„Ich verfüge über eine beträchtliche Mitgift und zudem über ein nicht geringes Vermögen. Aber eine unverheiratete Frau kann wohl kaum allein leben.“

„Wohl wahr.“

Er betrachtete sie, schien offensichtlich recht zufrieden, dass sie vor ihm stand wie eine Bittstellerin vor dem König. Nach einer Weile nickte er und stand auf. Seine Größe zwang sie, zu ihm aufzusehen. Für eine Frau mochte sie groß sein, aber er war für einen Mann auch nicht gerade klein.

„Verzeihen Sie, aber ich muss jetzt offen sprechen, um peinlichen Missverständnissen vorzubeugen. Ich wünsche eine richtige Ehe. Eine Ehe, aus der – so Gott will – Kinder hervorgehen, die im ehelichen Bett gezeugt wurden.“ Er lächelte charmant, und seine türkisblauen Augen funkelten höchstens ein bisschen. „Entspricht das auch Ihren Vorstellungen?“

Sie erwiderte seinen Blick, wagte kaum zu hoffen. „Ja.“

Er neigte den Kopf. „Dann, Miss Fleming, wäre es mir eine Ehre, Ihren Antrag anzunehmen.“

Ihr wurde ganz beklommen ums Herz, und zugleich war es, als flattere ein wilder Vogel gegen ihre Rippen, wolle sich aus seinem Käfig befreien und in heller Freude durch den Raum fliegen.

Melisande reichte ihm die Hand. „Danke, Mylord.“

Mit einem leisen Schmunzeln blickte er auf ihre ausgestreckte Hand; schließlich ergriff er sie. Doch statt den Handel mit einem kurzen Handschlag zu besiegeln, beugte er sich vor und küsste ihr die Hand. Der Hauch seiner warmen Lippen ließ sie vor Sehnsucht fast erschauern.

Er richtete sich wieder auf. „Ich hoffe, dass Sie mir auch nach unserer Hochzeit noch danken werden, Miss Fleming.“

Sie wollte etwas erwidern, doch er hatte sich schon zum Gehen gewandt. „Tut mir leid, ich habe einen fürchterlichen Brummschädel. Wie wäre es, wenn ich in drei Tagen bei Ihrem Bruder vorstellig würde? Drei Tage sollte ich schon den untröstlichen, da verschmähten Liebhaber spielen, meinen Sie nicht? Alles andere könnte ein schlechtes Licht auf Miss Templeton werfen.“

Mit einem feinen, ironischen Lächeln schloss er die Tür hinter sich.

Melisande ließ die Schultern sinken, alle Anspannung wich von ihr. Einen Moment noch starrte sie ungläubig auf die Tür, dann sah sie sich um. Die Sakristei war klein, etwas unordentlich, nichts Besonderes. Keineswegs der Ort, an dem man es erwarten würde, sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt zu sehen. Und doch: Wenn die letzte Viertelstunde nicht bloß ein Tagtraum gewesen war, dann hatte ihr Leben hier, an diesem unspektakulären Ort, eine neue und gänzlich unerwartete Wendung genommen.

Sie betrachtete ihre Hand, die er eben geküsst hatte. Seit Jahren kannte sie Jasper Renshaw, Viscount Vale, hatte ihn von fern verehrt, doch in all der Zeit hatte er nicht ein einziges Mal die Gelegenheit gehabt, sie zu berühren. Sie drückte sich den Handrücken an den Mund und schloss die Augen, stellte sich vor, wie es wäre, wenn seine Lippen die ihren berührten. Allein der Gedanke ließ sie am ganzen Leib erbeben.

Dann hielt sie sich wieder aufrecht, straffte die Schultern, strich über ihre ohnehin tadellos geplätteten Röcke und tastete mit den Fingerspitzen über ihr Haar, um sich zu vergewissern, dass alles an seinem Platz war. Gerade wollte sie die Sakristei verlassen, da stieß sie mit der Schuhspitze an etwas. Ein silberner Knopf lag auf den alten Steinplatten. Melisande bückte sich, hob ihn auf und hielt ihn ins Licht. Der Buchstabe V war ins Silber geprägt. Einen Moment starrte sie darauf, ehe sie den Knopf im Ärmel ihres Kleides versteckte.

Dann verließ sie die Sakristei.

„Pynch, haben Sie je davon gehört, dass einem Mann an ein und demselben Tag die Braut abhandenkommt, er dafür aber eine Verlobte gewinnt?“, fragte Jasper launig seinen Kammerdiener.

Es war später Nachmittag, und er lag in seiner extragroßen, eigens für ihn angefertigten Badewanne.

Pynch stand in der anderen Ecke des Zimmers und mühte sich, Ordnung in den Kleiderschrank zu bringen. „Nein, Mylord“, erwiderte er, ohne sich umzudrehen.

„Dann könnte ich also fast in die Geschichte eingehen. Man sollte eine Statue zu meinen Ehren errichten lassen. Kleine Jungen würden staunend zu ihr aufsehen, von ihren Kindermädchen ermahnt, ja nicht in meine wankelmütigen Fußstapfen zu treten.“

„Gewiss, Mylord“, erwiderte Pynch.

Pynchs Stimme war genau so, wie es sich für einen Kammerdiener gehörte – sonor, geschmeidig und durch nichts aus der Ruhe zu bringen –, wenngleich gesagt werden muss, dass alles andere an ihm dafür so gar nicht den Vorstellungen entsprach, die man sich gemeinhin von einem Kammerdiener machte. Pynch war ein stattliches Mannsbild, ein wahrer Schrank von einem Mann. Er hatte einen kräftigen Stiernacken, Hände wie Schinkenkeulen und einen riesigen, kahlen Schädel. Pynch sah aus wie ein Grenadier, ein kampferprobter Infanterist, der sich durch feindliche Stellungen zu schlagen gedachte.

Was daran liegen mochte, dass Pynch genau das dereinst in Seiner Majestät Armee getan hatte – bis er wegen einer kleinen Meinungsverschiedenheit mit seinem Sergeant einen ganzen Tag lang an den Pranger gestellt worden war. Dort war Jasper auf ihn aufmerksam geworden. Die unerschütterliche Ruhe, mit der Pynch es ertragen hatte, mit verfaultem Gemüse beworfen zu werden, hatte ihn so sehr beeindruckt, dass er diesen Mann sogleich nach dessen Freilassung als seinen Offiziersburschen verpflichtet hatte. Pynch hatte dankend angenommen. Zwei Jahre später, als Jasper sein Patent veräußert hatte, hatte er auch Pynch freigekauft und war mit ihm als seinem Kammerdiener nach England zurückgekehrt. Eine für alle Beteiligten erfreuliche Entwicklung der Ereignisse, befand Jasper, streckte seinen Fuß aus dem Bad und schüttelte einen Wassertropfen vom großen Zeh.

„Haben Sie meinen Brief an Miss Fleming schicken lassen?“ Er hatte ihr eine höfliche Nachricht geschrieben, in der er sie wissen ließ, dass er in drei Tagen ihren Bruder aufsuchen werde, so sie bis dahin keinen Gesinnungswandel erkennen lasse.

„Jawohl, Mylord.“

„Gut. Sehr gut. Ich glaube, aus dieser Verlobung könnte etwas werden. Das sagt mir mein Gefühl.“

„Ihr Gefühl, Mylord?“

„Ja, Pynch“, erwiderte Jasper und griff nach einer langstieligen Bürste, mit der er sich müßig am Zeh kitzelte. „So wie vor zwei Wochen, als ich eine halbe Guinee auf diese langhalsige Fuchsstute gesetzt habe.“

Pynch räusperte sich. „Wenn ich mich recht erinnere, hat sie gelahmt.“

„Hat sie?“ Jasper winkte ab. „Und wenn schon. Man sollte Frauen ohnehin nicht mit Pferden vergleichen. Was ich damit sagen wollte, war, dass wir bereits drei Stunden verlobt sind und Miss Fleming mich bislang noch nicht versetzt hat. Geben Sie zu, dass Sie beeindruckt sind.“

„Ein gutes Zeichen, Mylord, gewiss. Aber dürfte ich darauf hinweisen, dass Miss Templeton bis zum Tag ihrer Hochzeit gewartet hat, um das Verlöbnis zu lösen?“

„Schon, aber in diesem Fall war es Miss Fleming selbst, die den Vorschlag gemacht hat, mich zu heiraten.“

„Was Sie nicht sagen, Mylord.“

Jasper ließ davon ab, seinen Fuß zu schrubben. „Aber das bleibt unter uns, verstanden?“

„Gewiss, Mylord“, kam es tonlos zurück.

Verdammt, dachte Jasper und ließ die Bürste sinken. Er hatte Pynch gekränkt. „Wir wollen die Gefühle der guten Dame doch nicht mit Füßen treten – selbst wenn sie sich mir heute praktisch zu Füßen geworfen hat.“

„Sie hat sich Ihnen zu Füßen geworfen, Mylord?“

„Bildlich gesprochen.“ Jasper gestikulierte mit der Bürste und bespritzte einen nahen Stuhl mit Badewasser. „Sie schien zu glauben, dass ich unbedingt heiraten wolle und ihr Angebot mit Handkuss annähme.“

Pynch gestattete sich, eine Braue zu heben. „Und Sie haben die Dame keines Besseren belehrt?“

„Pynch, Pynch“, tadelte Jasper, „habe ich Ihnen denn nicht schon hundertmal gesagt, dass man einer Dame niemals widersprechen sollte? Das schickt sich nicht für einen Gentleman – und Zeitverschwendung ist es zudem. Frauen glauben sowieso nur das, was sie glauben wollen.“ Jasper rieb sich die Nase am Bürstenstiel. „Außerdem – irgendwann werde ich heiraten müssen. Mich dem Joch der Ehe beugen und Nachkommen zeugen, wie meine werten Ahnen es getan haben. Wozu die leidige Pflicht noch länger aufschieben? Ein Sohn oder auch zwei – vorzugsweise mit zumindest ein bisschen Verstand – müssen in die Welt gesetzt werden, um den alten, angestaubten Namen der Vales weiterzutragen. Miss Flemings Angebot spart mir Zeit und Mühen, abermals irgendein junges Ding zu umwerben.“

„Ah ja. Verstehe ich recht, dass Ihrer Ansicht nach die eine junge Dame ihren Zweck ebenso erfüllt wie die andere, Mylord?“

„Genau“, erwiderte Jasper und besann sich sogleich. „Nein, natürlich nicht. Verdammt, Pynch, verschonen Sie mich mit Ihren Spitzfindigkeiten. Tatsächlich hat sie etwas an sich … Ich kann es schlecht beschreiben. Sie ist nicht unbedingt die Dame, auf die meine Wahl gefallen wäre, aber als sie so mutig und entschlossen dastand und mich mit so unerbittlicher Miene angeschaut hat, als hätte ich mich vor ihr vergessen … Nun, ich muss gestehen, dass ich recht bezaubert von ihr war. Glaube ich zumindest. Oder aber der Whiskey von letzter Nacht hat mir noch die Sinne umnebelt.“

„Gewiss, Mylord“, murmelte Pynch.

„Wie auch immer. Was ich eigentlich sagen wollte, war, dass ich hoffe, mit dieser Verlobung endlich sicher in den Hafen der Ehe einzulaufen. Sonst dürfte mir bald der Ruch eines faulen Eies vorauseilen.“

„Allerdings, Mylord.“

Jasper hob den Blick zur Decke. „Pynch, Sie sollten mir nicht auch noch zustimmen, wenn ich mich mit einem faulen Ei vergleiche.“

„Natürlich nicht, Mylord.“

„Danke.“

„Keine Ursache, Mylord.“

„Bleibt nur zu hoffen, dass Miss Fleming in den kommenden Wochen nicht die Bekanntschaft armer Landpfarrer macht, insbesondere solcher mit buttergelbem Haar.“

„Ganz recht, Mylord.“

„Wissen Sie was, Pynch? Ich glaube, ich bin in meinem ganzen Leben noch keinem Pfarrer begegnet, der mir sympathisch gewesen wäre.“

„Nein, Mylord?“

„Wenn ich es mir recht überlege, hatten sie alle ein fliehendes Kinn“, sann Jasper nach und strich sich über sein eigenes, recht ausgeprägtes Kinn. „Vielleicht ist ein fliehendes Kinn ja Voraussetzung, um in die Geistlichkeit aufgenommen zu werden. Was denken Sie, Pynch?“

„Möglich, Mylord, aber wenig wahrscheinlich.“

„Hmmm.“

Am anderen Ende des Zimmers beförderte Pynch einen Stapel Linnen ins oberste Schrankfach. „Werden Sie den Rest des Tages zu Hause sein, Mylord?“

„Gott bewahre, nein. Ich habe heute noch wichtigere Angelegenheiten zu erledigen.“

„Führen diese Angelegenheiten Sie zufällig ins Gefängnis von Newgate?“

Jasper richtete den Blick auf seinen Kammerdiener. Pynchs sonst so ausdruckslose Miene zeigte einen etwas verkniffenen Zug um die Augen, was bei ihm Ausdruck von Besorgnis war.

„Ich fürchte, ja. Thornton wird bald der Prozess gemacht, und wenn er erst einmal verurteilt und gehängt ist, wird alles, was er uns über die Sache sagen kann, mit ihm in der Versenkung verschwinden.“

Pynch durchquerte das Zimmer mit einem großen Badetuch in den Händen. „Vorausgesetzt, er hat Ihnen überhaupt irgendetwas mitzuteilen.“

Jasper stieg aus der Wanne und griff nach dem Tuch. „Ja, immer vorausgesetzt.“

Pynch hatte noch immer diesen verkniffenen Zug um die Augen. „Verzeihen Sie, Mylord, ich sage nur ungern, was mir nicht zusteht …“

„Und doch sagen Sie es“, murmelte Jasper.

Sein Kammerdiener fuhr fort, als hätte er den Einwurf nicht gehört: „Aber ich mache mir Sorgen, dass dieser Mann sich für Sie zu einer Obsession auswächst. Er ist bekanntlich ein Lügner. Was lässt Sie glauben, dass er jetzt die Wahrheit sagen wird?“

„Nichts“, entgegnete Jasper und warf das Handtuch beiseite, ging zu dem Stuhl, auf dem seine Kleider lagen, und begann sich anzuziehen. „Er ist ein Lügner und Betrüger, ein Mörder, Vergewaltiger und Gott weiß, was noch alles. Nur ein Narr würde seinem Wort Glauben schenken. Aber ich kann ihn nicht dem Galgen überlassen, ohne zumindest versucht zu haben, die Wahrheit aus ihm herauszubekommen.“

„Ich fürchte, dass er ein Spiel mit Ihnen treibt und sich dabei ins Fäustchen lacht.“

„Zweifellos haben Sie recht, Pynch – wie schon so oft.“ Jasper mied den Blick seines Kammerdieners und zog sich sein Hemd über den Kopf. Er war Pynch erst nach dem Massaker von Spinner’s Falls begegnet, bei dem das achtundzwanzigste Infanterieregiment in einen Hinterhalt geraten und hingemetzelt worden war. Pynch war nicht dabei gewesen, weshalb er auch die Obsession seines Herrn nicht verstehen konnte, den Verräter von damals ausfindig zu machen. „Mit Vernunft allein komme ich hier leider nicht weiter. Ich muss zu ihm gehen.“

Pynch seufzte und brachte ihm seine Schuhe. „Wie Sie meinen, Mylord.“

Jasper setzte sich, um seine Schnallenschuhe anzuziehen. „Kopf hoch, Pynch. In einer Woche ist der Mann tot.“

„Wenn Sie das sagen, Mylord“, murmelte Pynch und begann nach dem Bad aufzuräumen.

Schweigend beendete Jasper seine Garderobe und trat dann an seinen Toilettentisch, um sich das Haar zu kämmen und zu einem schlichten Zopf zu binden.

Pynch hielt seinen Rock bereit. „Ich gehe davon aus, Mylord, dass Sie Mr Dornings Bitte um Ihren Besuch der Vale’schen Ländereien in Oxfordshire nicht vergessen haben.“

„Verdammt.“ Dorning war sein Gutsverwalter und hatte wiederholt seine Unterstützung in einer ungeklärten Frage des Grundbesitzes erbeten. Zuerst hatte Jasper ihn wegen seiner bevorstehenden Heirat vertröstet und nun … „Dorning wird sich einfach noch ein paar Tage gedulden müssen. Erst muss ich mit Miss Flemings Bruder als auch mit Miss Fleming selbst sprechen. Bitte erinnern Sie mich daran, wenn ich wieder zurück bin.“

Jasper schlüpfte in seinen Rock, schnappte sich seinen Hut, und noch ehe Pynch einen weiteren Einwand vorbringen konnte, war er auch schon aus dem Zimmer, lief mit klackernden Absätzen die Treppe hinunter, nickte seinem Butler zu und eilte aus dem Haus. Draußen stand einer der Stallburschen mit Belle bereit, seiner großen grauen Stute. Jasper dankte dem Jungen, schwang sich in den Sattel und beruhigte Belle, die seitwärts tänzelte und auf der Trense kaute. Die Straßen waren recht belebt, weshalb sie nur langsam vorankamen. Jasper ritt nach Westen, in Richtung St Paul’s-Kathedrale, deren Kuppel weithin sichtbar die kleineren Gebäude ringsum überragte.

Die rege Betriebsamkeit Londons hätte kein größerer Gegensatz sein können zur Abgeschiedenheit der wilden Wälder Amerikas, wo alles begonnen hatte. Als wäre es gestern gewesen, erinnerte er sich an die hohen dunklen Bäume und den reißenden Fluss, in dessen tosendem Lärm die Schreie der sterbenden Soldaten fast untergegangen waren. Beinahe sieben Jahre war es her, dass er Captain in der Armee Seiner Majestät gewesen war und in den amerikanischen Kolonien gegen die Franzosen gekämpft hatte. Die Männer des achtundzwanzigsten Infanterieregiments hatten sich nach dem Sieg von Quebec auf dem Rückmarsch befunden, als sie von Indianern überfallen worden waren. Ihnen war keine Zeit geblieben, sich in Verteidigungsstellung zu begeben. Binnen einer halben Stunde war so gut wie das gesamte Regiment hingemetzelt, einschließlich des Colonels. Jasper und acht weitere Männer hatte man gefangen genommen, zu einem Lager der Wyandot-Indianer verschleppt und …

Noch immer bereitete es ihm Mühe, auch nur daran zu denken. Von Zeit zu Zeit tauchten Schatten dieser Zeit am Rande seines Bewusstseins auf, wie ein flüchtiger Blick, den man aus den Augenwinkeln erhascht. Er hatte gedacht, alles sei längst vorbei, die Vergangenheit tot und begraben, wenn auch nicht vergessen. Doch vor sechs Monaten war er auf einer Abendgesellschaft Samuel Hartley begegnet.

Hartley war seinerzeit Corporal und einer der wenigen gewesen, der das Massaker von Spinner’s Falls überlebt hatte. Von ihm wusste Jasper, dass sie einen Verräter in ihren Reihen gehabt haben mussten, der ihre Marschroute an die Franzosen und deren indianische Verbündete weitergegeben hatte. Als Jasper sich Hartley auf dessen Suche nach dem Verräter angeschlossen hatte, waren sie auf einen Mann gestoßen, der die Identität eines der bei Spinner’s Falls Gefallenen angenommen hatte: Dick Thornton. Thornton – Jasper tat sich schwer, ihn anders zu nennen, wenngleich es nicht sein richtiger Name war – saß nun in Newgate ein und war des Mordes angeklagt. Aber in der Nacht, als sie ihn gestellt hatten, hatte er behauptet, nicht der Verräter gewesen zu sein.

Jasper trat Belle in die Flanken, damit sie einen mit reifen Früchten beladenen Karren überholte.

„Lust auf ein süßes Pfläumchen, Sir?“, rief ihm ein hübsches Mädchen mit dunklen Augen zu, das neben dem Karren stand. Neckisch hielt sie ihm eine Frucht hin.

Jasper grinste. „Jede Wette, dass deine Äpfelchen noch süßer sind.“

Das Gelächter des Mädchens folgte ihm, als er weiter durchs Gedränge ritt. Jasper indes war in Gedanken schon wieder bei seiner Mission. Wie Pynch ganz richtig bemerkt hatte, war Thornton ein ausgemachter Lügner. Hartley hatte nie auch nur den leisesten Zweifel an Thorntons Schuld von sich gegeben. Jasper schnaubte. Kein Wunder hatte Hartley doch mit seiner neuen Frau genug zu tun gehabt: Lady Emeline Gordon – Jaspers erster Verlobter.

Als Jasper aufsah, stellte er fest, dass er schon bis zur Skinner Street gelangt war, die geradewegs in die Newgate Street mündete. Das imposante Gefängnistor spannte sich über die Straße. Das Gefängnis war nach dem Großen Feuer wiederaufgebaut und passenderweise mit allegorischen Darstellungen geschmückt worden, die so vorbildhafte Tugenden wie Friedfertigkeit und Gnade verkörperten. Doch je näher man dem Gefängnis kam, desto übler wurde der Gestank. Die Luft war verpestet vom Ruch menschlicher Exkremente, von Krankheit, Fäulnis und Verzweiflung.

Auf einer Seite des Tors befand sich das Wärterhäuschen. Jasper ritt in den Hof und sprang aus dem Sattel.

Ein Wärter, der neben der Tür gelungert hatte, nahm Haltung an. „Wieder da, Mylord?“

„Ganz recht, McGinnis.“

McGinnis war ebenfalls Veteran Seiner Majestät und hatte auf irgendeinem fernen Schlachtfeld ein Auge gelassen. Er trug ein schmuddeliges Tuch umgebunden, das die leere Augenhöhle verbergen sollte, doch es war verrutscht und ließ rotes Narbengeflecht sehen.

McGinnis nickte knapp und brüllte ins Wärterhäuschen. „He, Bill! Lord Vale is’ da.“ Dann wandte er sich wieder an Jasper. „Bill kommt gleich, Mylord.“

Jasper nickte und gab dem Wärter eine halbe Krone, die sicherstellen sollte, dass seine Stute noch sicher im Hof stand, wenn er nachher zurückkam. Gleich bei seinem ersten Besuch an diesem unwirtlichen Ort hatte er herausgefunden, dass sich sein Vorhaben erheblich erleichtern ließ, wenn man die Wärter ordentlich bestach.

Bill, ein kauziger kleiner Mann mit grauem Haarschopf, kam kurz darauf aus dem Wärterhäuschen. In der rechten Hand hielt er sein wichtigstes Arbeitsgerät: einen großen schweren Schlüsselbund. Er bedeutete Jasper mitzukommen und ging über den Hof zum Haupteingang des Gefängnisses. Das Vordach war mit eingearbeiteten Handschellen und Fußfesseln geschmückt. Venio sicut fur – Ich komme als Dieb – verkündete ein Zitat aus der Bibel. Bill nickte den Wachen kurz zu, die zu beiden Seiten des Tors postiert standen, und betrat den Bau.

Der Gestank wurde schlimmer, die Luft war schwer und abgestanden. Bill trottete voraus, einen langen Korridor hinunter und dann wieder nach draußen. Sie überquerten einen großen Innenhof, in dem Gefangene umhergingen oder in kleinen Gruppen zusammenhockten wie Treibgut, das an besonders trostloses Land gespült worden war. Jasper folgte Bill durch ein weiteres, diesmal kleineres Gebäude bis zur Treppe, die in den Flügel der Verdammten führte. Die Zellen lagen unter der Erde, als wolle man den Gefangenen schon einmal einen Vorgeschmack auf die Hölle geben. Die Steinstufen waren feucht und moderig, von vielen Füßen Verzweifelter ausgetreten.

Der unterirdische Gang war düster. Die Gefangenen mussten selbst für Kerzen zahlen, und die Preise waren astronomisch. Ein Mann sang eine traurige, getragene Melodie, die ab und an in einem hohen Ton gipfelte. Jemand hustete, irgendwo wurde leise gestritten, ansonsten war es still hier unten. Bill blieb vor einer Zelle mit vier Insassen stehen. Auf einem Strohsack lag eine reglose Gestalt, wahrscheinlich schlafend. Zwei Männer spielten beim trüben Schein einer flackernden Kerze Karten.

Der vierte Mann stand nahe der Gitterstäbe an die Wand gelehnt, richtete sich aber auf, als er sie kommen sah.

„Herrliches Wetter heute, was, Dick?“, rief Jasper ihm zu.

Dick Thornton legte den Kopf schräg. „Kann ich ja wohl kaum wissen, was?“

Jasper schnalzte mit der Zunge. „Tut mir leid, alter Junge. Hatte ganz vergessen, dass hier unten nicht viel davon zu sehen ist.“

„Was wollen Sie?“

Jasper betrachtete den Mann hinter Gittern. Thornton sah recht gewöhnlich aus, war von mittlerer Größe, mit einem nicht unangenehmen, wenngleich wenig bemerkenswerten Gesicht. Das einzig Auffällige an ihm war sein feuerrotes Haar. Thornton wusste verdammt noch mal ganz genau, was er wollte – Jasper hatte ihn oft genug darum gebeten. „Was ich will? Oh, gar nichts. Ich vertreibe mir nur ein wenig die Zeit und bewundere die Sehenswürdigkeiten von Newgate.“

Thornton grinste und zwinkerte hektisch, ein Tick, den er nicht kontrollieren konnte. „Halten Sie mich für blöde?“

„Keineswegs.“ Mit Blick auf die fadenscheinigen Kleider Thorntons griff Jasper in seine Rocktasche und zückte eine halbe Krone. „Ich halte Sie für einen Vergewaltiger, für einen mehrfachen Mörder, aber für blöde? Nein, ganz und gar nicht. Da tun Sie mir unrecht, Dick.“

Thornton leckte sich die Lippen und starrte auf die Münze, die Jasper lässig in den Fingern kreisen ließ. „Warum sind Sie dann hier?“

Scheinbar gedankenverloren blickte Jasper zur stockfleckigen Decke hinauf. „Ich musste gerade daran denken, wie wir – Sam Hartley und ich – Sie an der Princess Wharf gestellt haben. Hatte schlimm geregnet an dem Tag, erinnern Sie sich?“

„Natürlich erinnere ich mich.“

„Dann wissen Sie bestimmt auch noch, dass Sie behauptet haben, nicht der Verräter zu sein.“

Ein berechnendes Funkeln schien in Thorntons Augen auf. „Das war keine Behauptung. Ich bin nicht der Verräter.“

„So?“ Jasper nahm den Blick von der Decke und schaute Thornton in die Augen. „Wissen Sie, genau das ist das Problem. Ich glaube, dass Sie lügen.“

„Wenn ich lüge, werde ich für meine Sünden sterben.“

„Das werden Sie sowieso, und zwar recht bald. Ein Verurteilter muss spätestens zwei Tage nach dem Urteil gehängt werden, so schreibt es das Gesetz vor. Ich fürchte, man wird für Sie keine Ausnahme machen, Dick.“

Wenn ich verurteilt werde.“

„Oh, das werden Sie“, meinte Jasper freundlich. „Da machen Sie sich mal keine Sorgen.“

„Warum sollte ich Ihnen dann überhaupt noch was sagen?“, schnaubte Thornton.

Jasper zuckte die Achseln. „Weil Sie bis dahin noch ein paar Wochen vor sich haben. Warum nicht den Rest Ihres Lebens mit vollem Bauch und sauber gekleidet verbringen?“

„Wenn ich dafür ’nen schönen neuen Rock kriege, erzähl’ ich Ihnen alles, was Sie hören wollen“, murrte einer der Kartenspieler.

Jasper überhörte es geflissentlich. „Und, Dick?“

Mit ausdrucksloser Miene sah Thornton ihn an. Dann zwinkerte er und drückte sein Gesicht zwischen die Gitterstäbe. „Sie wollen wissen, wer uns an die Franzosen und diese verdammten Rothäute verraten hat? Sie wollen wissen, wer die Erde mit Blut getränkt hat, da draußen bei Spinner’s Falls? Dann schau’n Sie sich mal die Männer an, die mit Ihnen gefangen genommen wurden. Da werden Sie Ihren Verräter finden.“

Jasper zuckte zurück, als hätte eine Schlange ihn gebissen. „Unsinn.“

Thornton starrte ihn noch einen Moment an, dann lachte er, ein schrilles, abgehacktes Kläffen.

„Schnauze!“, brüllte es aus einer anderen Zelle.

Doch Thornton stieß weiter diese schrecklichen, unmenschlichen Laute aus, den Blick die ganze Zeit starr und hasserfüllt auf Jasper gerichtet. Der starrte mit versteinerter Miene zurück. Lügen und angedeutete Halbwahrheiten, mehr würde er aus Dick Thornton nicht herausbekommen. Weder heute noch in Zukunft. Ohne den Blick von Thornton zu nehmen, ließ er die Münze auf den Boden fallen. Sie rollte in die Mitte des Gangs, außer Reichweite der Zelle. Da verstummte Thorntons hyänenhaftes Lachen, aber Jasper hatte sich bereits abgewandt und wollte nur noch diesem Höllenloch entkommen.

2. Kapitel

Bald schon traf er auf einen alten Mann, der am Wegesrand saß. Der alte Mann war in Lumpen gehüllt, seine Füße waren bloß, und er saß da, als ruhe die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern.

„Oh, werter Herr“, rief der Bettler. „Habt Ihr mir vielleicht einen Kanten Brot?“

„Mehr als nur das, Gevatter“, erwiderte Jack. Er blieb stehen, öffnete seinen Rucksack und holte eine feinsäuberlich in ein Tuch gewickelte Fleischpastete hervor. Diese teilte er mit dem alten Mann, und zusammen mit einem aus dem nahen Bach geschöpften Becher Wasser gab sie fürwahr ein köstliches Mahl ab …

aus Lachender Jack

An diesem Abend betrachtete Melisande missmutig ihren Teller, auf dem sich fanden: gekochtes Rindfleisch, gekochte Karotten, gekochte Erbsen – das Lieblingsessen ihres Bruders Harold. Sie saß an einer Seite des langen, dunklen Holztisches; am Kopfende saß Harold und ihm gegenüber Gertrude, seine Frau. Düster war es im Speisezimmer. Nur eine Handvoll Kerzen brannten, die kaum das abendliche Dunkel durchdrangen. Wenn er wollte, könnte ihr Bruder sich genügend Kerzen leisten, um den ganzen Raum zu erhellen, aber Gertrude hielt sparsam Haus und schätzte es nicht, gute Wachskerzen sinnlos zu verschwenden; eine Philosophie, die ihr Gatte von ganzem Herzen guthieß. Überhaupt hatte Melisande schon oft gedacht, wie trefflich die Eheleute doch zusammenpassten. Sie hatten denselben Geschmack, dieselben Ansichten und waren beide ein bisschen … langweilig.

Versonnen betrachtete sie ihre Scheibe gräulich gekochtes Rindfleisch und überlegte, wie sie ihrem Bruder und seiner Frau ihre Übereinkunft mit Lord Vale beibringen sollte. Vorsichtig schnitt sie ein Stückchen ab, nahm es zwischen die Finger und hielt es unter den Tisch. Eine kleine, kalte Nase berührte ihre Hand, und schon war der Leckerbissen verschwunden.

„Es tut mir so leid, Mary Templetons Hochzeit versäumt zu haben“, bemerkte Gertrude von ihrem Ende des Tisches. Eine steile Falte stand zwischen ihren Brauen. „Oder vielmehr ihre Nicht-Hochzeit. Ihre Mutter hätte es gewiss zu schätzen gewusst, wäre ich dort gewesen. Mir ist schon von vielen, wirklich vielen Leuten gesagt worden, welch ein Trost und Beistand ich jenen wäre, deren Glück im Schwinden begriffen sei. Und mit Mrs Templetons Glück scheint es ja derzeit nicht weit her zu sein. Fast könnte man behaupten, sie habe eine ausgesprochene Pechsträhne.“

Sie hielt inne, genehmigte sich einen winzigen Bissen Karotte und wartete auf die Zustimmung ihres Gatten.

Harold schluckte schnell herunter und nickte düster. Er hatte kleine Hängebäckchen und schütteres hellbraunes Haar, das nun von einer grauen Perücke verdeckt war. „Sie sollte das Mädel bei Brot und Wasser halten, bis es wieder zur Vernunft kommt. Einen Viscount sausen zu lassen! Töricht, so etwas. Ausgesprochen töricht!“

Gertrude nickte. „Mir scheint, sie hat den Verstand verloren.“

Harold horchte auf; er hatte ein geradezu morbides Interesse an allem, was mit Krankheiten zu tun hatte. „Liegt Schwachsinn denn in der Familie?“

Melisande wurde am Bein gestupst, dann lugte ein schwarzes Näschen unter der Tischkante hervor. Rasch schnitt Melisande noch ein Stück Fleisch ab und hielt es unter den Tisch. Im Nu waren Fleisch und Näschen verschwunden.

„Ich weiß nicht, ob es in seiner Familie Schwachsinn gibt, aber wundern würde es mich nicht“, erwiderte Gertrude. „Es würde mich überhaupt nicht wundern. Von unserer Seite kommt es natürlich nicht, aber für die Templetons kann ich nicht sprechen.“

Melisande schob ihre Erbsen mit der Gabel an den Tellerrand. Irgendwie tat Mary ihr leid. Schließlich war sie nur ihrem Herzen gefolgt. „Ich glaube, dass Mary Templeton in den Pfarrer verliebt ist“, meinte sie.

Mit Augen so groß wie gekochte Stachelbeeren sah Gertrude sie an. „Verliebt? Das tut doch gar nichts zur Sache!“ Sie wandte sich um Beistand an ihren Gatten. „Tut das etwas zur Sache, Mr Fleming?“

„Nein, tut es nicht“, erwiderte Harold wie zu erwarten. „Sie hat eine gute Partie für einen Pfarrer sausen lassen.“ Dann kaute er eine Weile bedächtig. „Meiner Meinung nach kann Vale froh sein, dass er sie los ist“, befand er schließlich. „Hätte ihm womöglich noch Schwachsinn in die Familie gebracht. Schlimme Sache, soll man nicht mit scherzen. Besser, er schaut sich anderswo nach einer Frau um.“

„Ah, was das angeht …“ Melisande räusperte sich. Ein besseres Stichwort konnte sie gar nicht bekommen. Jetzt oder nie. „Ich muss euch etwas sagen.“

„Ja, meine Liebe?“, ließ sich Gertrude herab und säbelte am Rinderstück.

Melisande holte tief Luft und fiel gleich mit der Tür ins Haus, denn – ganz ehrlich – was brachte es schon, darum herumzureden? Dennoch fand sie es tröstlich, als eine Pfote sich auf ihr Knie legte und eine warme Zunge ihr die linke Hand leckte. Sie konnte jeden Beistand gebrauchen. „Lord Vale und ich sind heute zu einer Übereinkunft gelangt. Wir werden heiraten.“

Gertrude ließ ihr Messer fallen.

Harold verschluckte sich an seinem Wein.

„Ich wollte es euch nur gesagt haben“, fügte Melisande hinzu.

„Heiraten?“, wiederholte Gertrude. „Lord Vale? Jasper Renshaw, Viscount Vale?“, vergewisserte sie sich, als gäbe es noch einen weiteren Lord Vale in England.

„Ja.“

„Aha.“ Harold sah seine Frau an. Gertrude schaute zurück und schien sprachlos. Er wandte sich an Melisande. „Bist du ganz sicher? Du könntest nicht etwas missverstanden haben, einen Blick oder …“ Er ließ den Satz unvollendet. Denn was sonst könnte man noch als Heiratsantrag missverstehen?

„Ich bin mir ganz sicher“, antwortete sie ruhig. Das Herz flatterte ihr in der Brust, doch ihre Worte waren klar und deutlich. „Lord Vale meinte, dass er dich in drei Tagen aufsuchen und alles besprechen will.“

„Verstehe.“ Harold starrte so fassungslos auf sein Stück Rindfleisch, als habe es sich in einen Kürbis verwandelt. „Nun, dann möchte ich dir meinen Glückwunsch aussprechen, meine Liebe. Ich wünsche dir alles nur erdenklich Gute mit Lord Vale.“ Blinzelnd sah er sie an, der Blick seiner braunen Augen unsicher. Er hatte sie noch nie verstanden, der arme Mann, aber sie wusste, dass er sie liebte. „Bist du dir wirklich sicher?“, vergewisserte er sich.

Melisande lächelte ihn an. So wenig sie auch miteinander gemein haben mochten, Harold war ihr Bruder, und sie liebte ihn nicht minder. „Das bin ich.“

Er nickte bedächtig, wenngleich noch immer sichtlich irritiert. „Dann werde ich Lord Vale eine Nachricht schicken, dass ich seinem Besuch mit Freuden entgegensehe.“

„Danke, Harold.“ Melisande legte Messer und Gabel feinsäuberlich nebeneinander auf ihrem Teller ab. „Und wenn ihr mich nun bitte entschuldigt, es war ein langer Tag.“

Sie stand auf – wohl wissend, dass Harold und Gertrude die Neuigkeit noch ausführlich beleuchten würden, kaum dass sie das Zimmer verlassen hatte. Hundepfoten wetzten hinter ihr auf den Holzdielen, als sie auf den Korridor hinaustrat – in dem Düsternis herrschte, denn auch hier machte sich Gertrudes Sparsamkeit bemerkbar.

Dass sie verwundert waren, war kaum anders zu erwarten gewesen. Melisande hatte viele Jahre nicht das geringste Interesse daran gezeigt, sich zu verheiraten. Nicht seit ihrem fatalen Verlöbnis mit Timothy. Und das war lange her. Seltsam, wie sehr es sie mitgenommen hatte, als Timothy sie verlassen hatte. Alles, was sie damals verloren hatte, war ihr unerträglich geworden. Ihre Empfindungen waren so stark, so verzehrend gewesen, dass sie gemeint hatte, die Zurückweisung nie verwinden zu können und vor Kummer zu sterben. Am ganzen Leib hatte sie es gespürt, ein tiefer Schmerz, der in sie gefahren war und alles Gefühl zunichtegemacht hatte. Solche Qual wollte sie nie wieder durchstehen.

Melisande bog um eine Ecke und begann die Treppe hinaufzugehen. Seit Timothy hatte sie nur wenige Verehrer gehabt, und mit keinem von ihnen war es ihr ernst gewesen. Harold und Gertrude hatten sich wahrscheinlich längst damit abgefunden, dass sie bis ans Ende ihrer Tage bei ihnen leben würde. Doch die beiden hatten nie auch nur erkennen lassen, dass sie ihrer überdrüssig wären. Dafür war Melisande ihnen dankbar. Anders als anderen alten Jungfern hatte man ihr nie das Gefühl gegeben, eine Last zu sein.

Oben angekommen bog sie in den Korridor ein, der zu den Privatgemächern führte. Ihres war das erste auf der rechten Seite. Sie schloss die Tür hinter sich, und Mouse, ihr kleiner Terrier, sprang sogleich aufs Bett. Dort drehte er sich dreimal im Kreis, ehe er sich auf der Decke niederließ und seine Herrin gespannt ansah.

„Hattet Ihr auch einen anstrengenden Tag, Sir Mouse?“, fragte Melisande an den Terrier gewandt.

Beim Klang ihrer Stimme legte der Hund den Kopf schräg. Seine schwarzen Knopfaugen funkelten, die Ohren – das eine weiß, das andere braun – standen gespitzt. Im Kamin brannte ein kleines Feuer, und mit einem Span zündete sie reihum Kerzen in dem kleinen Zimmer an. Das Mobiliar war spärlich, doch mit Sorgfalt gewählt. Das Bett war schmal, die Pfosten hingegen kunstvoll gedrechselt, das Holz von golden schimmerndem Braun. Die Bettdecke war schlicht weiß, doch die Laken darunter waren aus feinster Seide. Vor dem Kamin stand nur ein einziger Stuhl; dessen Lehnen waren vergoldet und der Sitz in Gold und Purpur bestickt. Dies war ihr Refugium. Der Ort, an dem sie so sein konnte, wie sie war.

Melisande trat an ihren Schreibtisch und betrachtete die Papiere, die sich dort stapelten. Sie hatte ihre Übersetzung des Märchens fast beendet, aber …

Es klopfte an der Tür. Mit einem Satz sprang Mouse vom Bett und kläffte die Tür an, als stünde eine Räuberbande davor.

„Still, Mouse.“ Melisande schob ihn mit der Fußspitze sanft beiseite und öffnete die Tür.

Eines der Dienstmädchen stand draußen und knickste. „Bitte, Miss, könnte ich wohl mit Ihnen sprechen?“

Melisande hob die Brauen und nickte, trat dann beiseite, um das Mädchen einzulassen. Mouse knurrte leise. Das Mädchen betrachtete ihn mit Argwohn und machte einen großen Bogen um den Hund.

Nachdem Melisande die Tür wieder geschlossen hatte, sah sie das Mädchen an. Hübsch war es, mit goldblonden Locken und frischen, rosigen Wangen. Zudem trug es ein – für ihre Verhältnisse – recht elegantes, grün bedrucktes Kattunkleid. „Du bist Sally, nicht wahr?“

Das Mädchen knickste erneut. „Ja, Ma’am, Sally aus der Küche. Ich habe gehört …“ Sally schluckte, presste die Augen zusammen und ratterte dann rasch herunter: „Ich habe gehört, dass Sie Lord Vale heiraten werden, Ma’am, und wenn dem so ist, würden Sie ja dieses Haus verlassen und bei ihm leben und eine Viscountess sein, und wenn Sie eine Viscountess wären, Ma’am, bräuchten Sie auch eine Kammerzofe, die Ihnen die Haare und die Kleider so macht, wie es sich gehört, und wenn ich das sagen darf, Ma’am, aber bislang sind Sie nicht ganz so …“ Entsetzt hielt sie inne, riss die Augen auf und sah Melisande an, als fürchte sie, etwas furchtbar Falsches gesagt zu haben. „Ich meine natürlich nicht, dass Ihre Frisur und Ihre Garderobe nicht in Ordnung wären, natürlich nicht, Ma’am, nicht dass Sie mich falsch verstehen, aber sie sind nicht … nicht …“

„Nicht so, wie man es von einer Viscountess erwarten würde“, schloss Melisande trocken.

„Na ja, nein, Ma’am. Also, doch, wenn Sie verzeihen, dass ich das sage, Ma’am“, stammelte Sally und holte tief Luft, ehe sie fortfuhr. „Was ich fragen wollte, ist – und ich wäre Ihnen wirklich so dankbar, wenn Sie mich nehmen würden, wirklich, Sie würden es nicht bereuen, Ma’am – also, ich wollte fragen, ob Sie mich als Ihre Kammerzofe mitnehmen würden?“

Sallys Wortfluss versiegte jäh. Mit offenem Mund stand sie da und starrte Melisande so erwartungsvoll an, als könnten deren nächstes Wort über ihr Schicksal entscheiden.

Was gar nicht einmal so falsch war, lagen doch Welten zwischen dem Rang eines Küchenmädchens und dem einer Kammerzofe. Melisande nickte. „Ja.“

Sally blinzelte. „Ma’am?“

„Ja, du kannst gern als meine Kammerzofe mit mir kommen.“

„Oh!“ Sally riss die Arme hoch, und im ersten Augenblick schien es, als wolle sie Melisande vor lauter Dankbarkeit um den Hals fallen, doch dann besann sie sich eines Besseren und wedelte nur ganz aufgeregt mit den Händen in der Luft herum. „Oh! Oh, danke, Ma’am! Oh, danke, danke, vielen Dank. Sie werden es nicht bereuen, wirklich nicht. Ich werde die beste Kammerzofe werden, die Sie sich nur wünschen können, das verspreche ich Ihnen!“

„Dessen bin ich mir gewiss.“ Melisande öffnete die Tür wieder. „Morgen können wir deine neue Aufgabe ausführlicher besprechen. Gute Nacht.“

„Ja, Ma’am. Danke, Ma’am. Gute Nacht, Ma’am.“

Sally knickste hinaus in den Korridor, machte eine halbe Drehung, knickste noch einmal und knickste noch immer, als Melisande die Tür schloss.

„Scheint doch ein ganz nettes Mädchen zu sein“, meinte sie zu Mouse.

Mouse schnaubte nur und sprang wieder aufs Bett.

Melisande gab ihm einen kleinen Klaps auf die Nase und trat an ihre Kommode. Eine schlichte Tabaksdose stand darauf. Kurz strich sie mit den Fingerspitzen über den zerbeulten Deckel, dann holte sie den Knopf hervor, den sie in ihrem Ärmel versteckt hatte, und betrachtete ihn. Das eingravierte V schien ihr im flackernden Kerzenlicht zuzuzwinkern.

Sie liebte Jasper Renshaw seit sechs langen, endlos langen Jahren. Es musste kurz nach seiner Rückkehr nach England gewesen sein, dass sie jene Gesellschaft besucht hatte, bei der sie ihm begegnet war. Er hatte sie nicht bemerkt, natürlich nicht. Als sie einander vorgestellt worden waren, waren seine blaugrünen Augen über sie hinweggeglitten, und gleich darauf hatte er sich entschuldigt und mit Mrs Redd geflirtet, einer nicht nur ihrer Schönheit wegen berüchtigten Witwe. Melisande hatte sich zu einigen alten Damen gesetzt und ihn von fern beobachtet. Lachend hatte er den Kopf zurückgeworfen, den langen, starken Hals gebogen, den Mund in ausgelassener Heiterkeit aufgerissen. Sein Anblick hatte sie gefesselt, aber sie würde ihn wohl als einen nutzlos-frivolen Adelsspross abgetan haben, wäre sie nicht einige Stunden später Zeugin einer ganz anderen Szene geworden.

Es war nach Mitternacht und sie war der Feierlichkeiten längst müde gewesen. Tatsächlich wäre sie am liebsten nach Hause gegangen, hätte sie damit ihrer Freundin Lady Emeline nicht den Spaß verdorben. Emeline hatte sie geradezu gedrängt, auf den Ball zu gehen, denn obwohl das Zerwürfnis mit Timothy schon über ein Jahr her war, befand sich Melisande noch immer in betrübter Stimmung. Doch der Lärm, die Hitze, das dichte Gedränge, die vielen fremden Blicke waren ihr unerträglich geworden, und so hatte Melisande sich schließlich aus dem Ballsaal einen Korridor hinabgeflüchtet. Eigentlich wollte sie den Ruheraum für Damen aufsuchen, bis sie auf einmal Männerstimmen hörte. Spätestens da hätte sie umkehren sollen, aber einer der Männer sprach mit so erregter Stimme, ja, schien gar zu weinen, dass ihre Neugier die Oberhand gewann. Vorsichtig spähte sie um die Ecke und wurde Zeugin einer … nun ja, einer Szene.

Ein junger Mann, den sie nie zuvor gesehen hatte, lehnte am Ende des Korridors an der Wand. Er trug eine weiße Perücke, sein Gesicht war glatt und blass, von den erhitzten Wangen abgesehen. Er sah gut aus, doch hatte er den Kopf zurückgeworfen, die Augen geschlossen, bodenlose Verzweiflung stand ihm ins schöne Gesicht geschrieben. Mit einer Hand hielt er eine fast leere Flasche Wein umklammert. Neben ihm stand Lord Vale – doch schien es ein gänzlich anderer Vale zu sein als der, den sie im Ballsaal drei Stunden lang beim Lachen und Flirten beobachtet hatte. Dieser ernstere, reifere Vale hörte still zu und schwieg.

Ließ den anderen sich ausweinen.

„Früher haben sie mich nur in meinen Träumen heimgesucht, Vale“, schluchzte der junge Mann. „Jetzt tauchen sie sogar am helllichten Tag auf. Ich sehe ein Gesicht in der Menge und denke, es wäre ein Franzose oder einer von den Wilden, der meinen Skalp will. Ich weiß, dass es nicht sein kann, aber ich traue meinem Verstand nicht. Letzte Woche habe ich meinen Kammerdiener zu Boden geschlagen, nur weil er plötzlich hinter mir stand und ich mich so erschrocken habe. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, wo das noch enden soll. Ich komme nicht mehr zur Ruhe!“

„Schsch“, murmelte Vale besänftigend, fast wie eine Mutter, die ihr Kind zu trösten versuchte. Seine Augen blickten traurig, seine Miene war voller Kummer. „Es geht vorüber, ganz gewiss. Es wird vorübergehen.“

„Woher wollen Sie das wissen?“

„Weil ich auch dort war“, erwiderte Vale. Behutsam nahm er dem jungen Mann die Flasche aus der Hand. „Ich habe es überstanden, und Sie werden es ebenso überstehen. Sie müssen stark sein, dürfen nicht verzagen.“

„Aber sehen Sie sie denn nicht, die Geister?“, flüsterte der junge Mann erregt.

Gequält schloss Vale die Augen. „Wir sollten ihnen nicht so viel Beachtung schenken. Schauen Sie nach vorn, richten Sie Ihre Gedanken auf leichtere, erfreulichere Dinge. Wenden Sie sich von den schrecklichen Erinnerungen ab, die Sie quälen. Sie werden Ihren Verstand sonst gefangen nehmen und Sie mit sich hinabziehen.“

Der junge Mann sank gegen die Wand. Zumindest seine Miene hellte sich ein wenig auf, als sehe er in all seiner Verzweiflung doch einen Hoffnungsschimmer. „Sie verstehen mich wenigstens, Vale. Niemand sonst tut es.“

Ein Hausdiener tauchte am Ende des Korridors auf und sah fragend zu Lord Vale. Der nickte.

„Ihre Kutsche steht bereit.“ Lord Vale legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter. „Fahren Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus. Ich komme morgen vorbei, mein Freund, und hole Sie zu einem kleinen Ausritt im Hyde Park ab.“

Der Unglückliche seufzte schwer und ließ sich vom Hausdiener hinausführen.

Lord Vale blickte den beiden nach, bis sie um die Ecke verschwunden waren. Dann hob er die Flasche an den Mund und nahm einen Schluck.

„Gottverdammt“, murmelte er, als er die Flasche wieder sinken ließ und verzog das Gesicht vor Schmerz oder anderen, unergründlichen Regungen. „Gottverdammt.“

Schließlich wandte er sich ab und ging davon.

Eine halbe Stunde später sah sie Lord Vale wieder. Er war im Ballsaal und flüsterte Mrs Redd Anzügliches ins Ohr. Melisande hätte niemals geglaubt, dass dieser sorglose Schelm derselbe Mann war, der eben noch seinen Freund getröstet hatte, wenn sie es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Doch sie hatte es gesehen, und in diesem Moment hatte sie es gewusst. Trotz Timothy und den grausamen Lektionen, die er sie über die Liebe, über Leid und Verlust gelehrt hatte, wusste sie es. Lord Vale war ein Mann, der seine Geheimnisse mindestens so gut verborgen hielt, wie sie selbst es tat. Ein Mann, in den sie sich heillos – hoffnungslos – verlieben könnte.

Und genau das hatte sie getan. Seit sechs Jahren liebte sie ihn nun schon, wohl wissend, dass er nicht einmal wusste, wer sie war. Ungerührt hatte sie dabeigestanden und mit angesehen, wie Emeline sich mit Lord Vale verlobt hatte. Denn wozu um einen Mann trauern, der doch nie der ihre sein würde? Sie hatte mit angesehen, wie er sich abermals verlobte – diesmal mit der törichten Mary Templeton. Und sie trug es mit Fassung, zumindest äußerlich. Doch als sie gestern in der Kirche hatte erfahren müssen, dass Mary Lord Vale doch allen Ernstes den Laufpass gegeben hatte, hatte sich etwas Wildes, Unbeherrschbares in ihrer Brust geregt. Warum eigentlich nicht? hatte es in ihr geschrien. Warum es nicht wagen?

Und genau das hatte sie getan.

Melisande drehte den kleinen Silberknopf, bis das Kerzenlicht auf der polierten Oberfläche blitzte. Sie würde sehr, sehr gut überlegen müssen, wie sie weiter mit Lord Vale verfahren wollte. Die Liebe, das wusste sie nur zu gut, war ihre Achillesferse. Niemals, weder durch Worte, noch durch Taten, durfte sie ihn wissen lassen, was sie wirklich für ihn empfand. Melisande öffnete die Tabaksdose und legte den Knopf behutsam hinein.

Rasch kleidete sie sich aus und löschte alle Kerzen, ehe sie zu Bett ging. Mouse kam zu ihr unter die Bettdecke gekrochen. Das Bett bewegte sich leicht, als er sich umständlich umdrehte, ehe er sich mit einem schweren Schnaufen niederließ und seinen Rücken warm und weich an ihre Waden schmiegte.

Melisande starrte ins Dunkel. Bald würde sie ihr Bett nicht mehr nur mit Sir Mouse teilen. Würde sie Jasper beiwohnen können, ohne das Geheimnis ihrer Liebe zu verraten? Der Gedanke ließ sie erschauern. Rasch schloss sie die Augen und schlief wenig später ein.

Die Woche darauf ließ Jasper seine beiden Grauen vor Mr Harold Flemings Haus halten und sprang von seinem Phaeton. Seinem neuen Phaeton. Hoch war er und sehr elegant, mit riesigen Rädern, und hatte ein kleines Vermögen gekostet. Wohl auch deswegen freute er sich darauf, Miss Fleming zu einer musikalischen Soiree zu fahren. Auf die Musikdarbietung freute er sich weniger – um nicht zu sagen, gar nicht –, aber irgendwohin musste er mit seinem neuen Phaeton ja fahren.

Er schob sich seinen Dreispitz leicht verwegen in die Stirn, stürmte die Treppe hinauf und klopfte. Zehn Minuten später stand er sich in einer biederen und recht überschaubaren Bibliothek die Beine in den Bauch und wartete auf seine Verlobte. Genau genommen kannte er die Bibliothek bereits, hatte er doch vor vier Tagen, als er mit Mr Fleming die Finessen des Ehevertrags besprochen hatte, geschlagene drei Stunden hier zugebracht. Zähe drei Stunden waren es gewesen, deren einziger Lichtblick darin bestand, dass Miss Fleming nicht zu viel versprochen hatte: Sie verfügte tatsächlich über eine beträchtliche Mitgift. Seine frisch Verlobte hatte er während dieses Besuches kein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Nicht dass es ihrer Anwesenheit bedurft hätte – vielmehr war es üblich, dass die betreffende Dame den Verhandlungen nicht beiwohnte –, doch wäre ihr Erscheinen eine willkommene Abwechslung gewesen.

Jasper schlenderte in der Bibliothek umher und inspizierte die Regale. Die Bücher schienen allesamt in Latein verfasst, und gerade als er sich zu fragen begann, ob Mr Fleming wohl so gut Latein lesen könne oder die Bücher einfach kistenweise gekauft hatte, um seine Bibliothek eindrucksvoll zu bestücken, kam Miss Fleming herein. Sie zog sich im Gehen noch rasch die Handschuhe an und schien ihn nicht länger warten lassen zu wollen. Seit jenem schicksalhaften Morgen in der Sakristei hatte er sie nicht mehr gesehen, aber sie trug noch immer dieselbe Miene zur Schau: eine Mischung aus Entschlossenheit und milder Missbilligung. Seltsamerweise fand er diese Miene recht charmant.

Jasper verbeugte sich mit großer Geste. „Ah, meine Teure, Sie sind so lieblich wie ein laues Lüftchen an einem sonnigen Sommertag. Dieses Kleid umfängt Ihre Schönheit so trefflich wie ein goldener Ring einen Rubin.“

Sie sah auf und runzelte die Stirn. „Ich fürchte, Ihr Vergleich hinkt, Mylord. Mein Kleid ist weder golden, noch bin ich ein Rubin.“

Jasper lächelte breit, ließ seine Zähne blitzen. „Ah, aber zweifellos erhebt Ihre Tugend Sie zu einem Rubin der Weiblichkeit.“

„Zweifellos“, erwiderte sie trocken, und um ihre Mundwinkel zuckte es, doch ließ sich schwer sagen, ob sie gereizt oder eher belustigt war. „Wissen Sie, ich habe mich schon immer gefragt, warum die Bibel nicht mit einer vergleichbaren Passage für den künftigen Gatten aufwartet.“

Tadelnd schnalzte er mit der Zunge. „Hüten Sie sich vor Blasphemie, Miss Fleming, denn sind Ehemänner nicht per se tugendhaft und unfehlbar?“

Sie tat seine Bemerkung mit einem leisen Schnauben ab. „Und wie erklären Sie mein Kleid, das so gar nicht golden ist?“

„Es mag nicht golden sein, aber seine Farbe ist … ähm …“ Und hier geriet sogar seine Fantasie an ihre Grenzen, denn genau genommen hatte Miss Flemings Kleid die Farbe von Pferdemist.

Vielsagend hob sie eine Braue.

Jasper griff nach ihrer behandschuhten Hand und beugte sich darüber. Er atmete den würzigen Orangenduft von Neroliöl ein und überlegte, was er Geistreiches sagen könnte. Doch ihm fiel nichts ein – außer dass der sinnliche Neroli-Duft in krassem Gegensatz zu ihrem unscheinbaren Kleid stand. Glücklicherweise wirkte er sich stimulierend auf seinen Verstand aus, denn als Jasper sich wieder aufrichtete, fand er mit einem charmanten Lächeln folgende Worte: „Die Farbe Ihres Kleides lässt mich an wilde, sturmgepeitschte Klippen denken.“

Miss Flemings Braue blieb zweifelnd gehoben. „Was Sie nicht sagen.“

Er schob ihre Hand in seine Armbeuge. „Allerdings.“

„Wie das?“

„Weil es eine so exotische, geheimnisvolle Farbe ist.“

„Es ist einfach nur braun.“

„Aber nein“, widersprach er und riss in gespieltem Entsetzen die Augen auf. „Sagen Sie doch so etwas nicht. Es ist nicht ‚einfach nur braun‘. Aschen oder eichen mag es sein, tee- oder rehfarben, vielleicht auch eichhornfarben, aber ganz gewiss nicht braun.“

„Eichhornfarben?“, wiederholte sie und sah ihn von der Seite an, als er sie die Treppe vor dem Haus hinabführte. „Soll das ein Kompliment sein, Mylord?“

„So war es gedacht“, sagte er. „Zumindest habe ich mich sehr darum bemüht, es wie ein Kompliment klingen zu lassen. Aber natürlich steht und fällt es damit, wie man zu Eichhörnchen steht.“

Vor seinem Phaeton blieben sie stehen. Stirnrunzelnd sah sie zum hohen Sitz hinauf. „Manchmal sind Eichhörnchen ganz possierlich.“

„Sehen Sie. Eindeutig ein Kompliment.“

„Törichter Mann“, murmelte sie und setzte beherzt einen Fuß auf den Holztritt.

„Wenn Sie gestatten.“ Er fasste sie beim Ellbogen und stützte sie, als sie in den Wagen kletterte. So zart und dünn war sie, dass er ihren Arm mit einer Hand umfangen könnte. Er spürte ihr Unbehagen. Vielleicht machte es ihr Angst, so hoch oben zu sitzen. „Halten Sie sich einfach an der Seite fest. Keine Sorge, bis zu Lady Eddings ist es nicht weit.“

Diese Bemerkung brachte ihm einen finsteren Blick ein. „Ich habe keine Angst.“

„Das habe ich auch nicht behauptet“, rief er, während er um den Wagen herumging und von der anderen Seite aufsprang. Als er die Zügel zur Hand nahm und die Pferde antraben ließ, spürte er Miss Fleming abermals erstarren. Still und reglos saß sie neben ihm, die eine Hand locker im Schoß, doch mit der anderen hielt sie die Sitzlehne umklammert. Was immer seine Verlobte sagen mochte, sie traute seinem Phaeton nicht so recht über den Weg. Jasper empfand eine fast zärtliche Anwandlung. Kein Wunder, dass sie sich keine Blöße geben wollte, so widerspenstig wie sie sich sonst gab.

„Ich glaube, Sie haben eine geheime Schwäche für Eichhörnchen“, versuchte er sie auf andere Gedanken zu bringen.

Eine steile Falte zeigte sich zwischen ihren Brauen. „Warum sollte ich?“

„Weil sie das so oft tragen – diese Eichhörnchenfarbe. Aus Ihrer Vorliebe für eichhörnchenfarbene Kleider habe ich geschlossen, dass Sie auch dem Tier selbst recht zugetan sein müssen. Vielleicht hatten Sie ja als Kind ein zahmes Eichhörnchen, das überall im Haus herumgetollt ist und die Dienstmädchen und Ihre Kinderfrau erschreckt hat.“

„Sie haben wirklich eine blühende Fantasie“, meinte sie. „Mein Kleid ist braun, wie Sie sehr wohl wissen, und ich weiß nicht, ob ich eine Schwäche für diese Farbe habe. Es ist eher eine Gewohnheit.“

Verstohlen sah er sie an. Mit argwöhnisch gefurchter Stirn beobachtete sie, wie er die Zügel handhabte. „Sie tragen es zur Tarnung, damit man sie nicht sehen kann.“

Sie riss ihren Blick von seinen Händen los und sah ihn entgeistert an. „Ich kann Ihnen nicht folgen, Mylord.“

„Oh, tut mir leid, ich bin schon wieder bei den Eichhörnchen. Ich fürchte, wenn Sie kein anderes Thema anschneiden, werde ich die ganze Fahrt von nichts anderem reden. Eichhörnchen sind nämlich eichhörnchenfarben, weil Eichhörnchenbraun im Wald nur schwer zu erkennen ist. Ich frage mich, ob Sie es deshalb so gern tragen.“

„Damit ich mich im Wald verstecken kann?“ Diesmal lächelte sie wirklich.

„Könnte doch sein. Vielleicht möchten Sie ja im dunklen Wald von Baum zu Baum huschen, um Mensch und Tier zu entkommen. Was meinen Sie?“

„Ich meine, dass Sie mich nicht sonderlich gut kennen.“

Er drehte sich um und sah sie an; sie erwiderte seinen Blick mit leiser Belustigung, hielt aber noch immer die Lehne fest umklammert. „Ja, da könnten Sie recht haben.“

In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er sie gern kennen würde, dieses widersprüchliche Geschöpf gern durchschauen wollte, das sich so beharrlich weigerte, Angst zu zeigen.

„Sind Sie mit den Arrangements zufrieden, die Ihr Bruder und ich getroffen haben?“, fragte er. Gestern war das Aufgebot bestellt worden, und in drei Wochen würden sie heiraten. Vielen Damen würde eine so kurze Verlobungszeit nicht gefallen. „Ich muss gestehen, dass wir lang und hart verhandelt haben. Einmal sah es fast so aus, als wollten unsere Unterhändler handgreiflich werden. Doch Ihr Bruder konnte die Krise mit Tee und Muffins entschärfen.“

„Oh je, der arme Harold.“

„Allerdings. Doch was ist mit mir?“

„Sie müssen die Geduld eines Heiligen haben.“

„Schön, dass Sie das einsehen. Und was sagen Sie nun zu den Arrangements?“

„Es ist alles zu meiner Zufriedenheit.“

„Gut.“ Er räusperte sich. „Ich sollte Ihnen vielleicht sagen, dass ich morgen die Stadt verlassen werde.“

„Ja?“ Ihre Stimme klang ruhig, fast gelangweilt, doch die Hand in ihrem Schoß krampfte sich zusammen.

„Es lässt sich leider nicht vermeiden. Mein Gutsverwalter liegt mir seit Wochen damit in den Ohren, dass meine Anwesenheit dringend erwünscht wird, um irgendeinen Rechtsstreit beizulegen. Noch länger kann ich seine flehenden Briefe nicht ignorieren. Ich vermute ja“, vertraute er ihr an, „dass mein lieber Nachbar Abbott seine Pächter wieder auf meinen Ländereien hat bauen lassen. Dass macht er ungefähr alle zehn Jahre so – versucht seine Grenzen zu erweitern. So geht das schon seit einem halben Jahrhundert. Der Mann ist mittlerweile achtzig – und er hat schon meinen Vater damit in den Wahnsinn getrieben.“

Ein kurzes Schweigen stellte sich ein, während er die Pferde in eine kleinere Straße lenkte.

„Wissen Sie schon, wann Sie wieder zurück sind?“, fragte seine Verlobte.

„In einer Woche, vielleicht auch erst in zwei.“

„Verstehe.“

Er sah sie von der Seite an. Sie hatte die Lippen zusammengepresst. Wollte sie, dass er hierblieb? Diese Frau war so unergründlich wie die Sphinx. „Zu unserer Hochzeit bin ich ganz gewiss zurück.“

„Gewiss“, murmelte sie.

Jasper blickte wieder nach vorn und stellte fest, dass sie bereits bei Lady Eddings angelangt waren. Erleichtert atmete er auf. Er ließ die Pferde anhalten und warf die Zügel einem Lakaien zu, ehe er aus dem Wagen sprang. Obwohl er sich so geeilt hatte, stand Miss Fleming schon und schickte sich zum Aussteigen an, als er auf ihrer Seite des Wagens angelangt war, was ihn aus unerfindlichen Gründen irritierte.

Er reichte ihr seine Hand. „Warten Sie, ich helfe Ihnen.“

Geflissentlich ignorierte sie seine Hand, hielt die Sitzlehne noch immer fest umklammert und wagte einen beherzten Schritt hinab auf den Kutschentritt.

Mit einem Mal riss Jasper der Geduldsfaden. Sie konnte so tapfer sein, wie sie wollte, aber deshalb brauchte sie nicht gleich seine Hilfe auszuschlagen. Ehe sie sich versah, hatte er sie mit beiden Hände um die schlanke Taille gefasst. Miss Fleming schnappte laut nach Luft, als er sie kurzerhand vom Wagen hob. Ein feiner Hauch von Neroli schwebte in der Luft.

„Das war wirklich nicht nötig“, sagte sie und schüttelte ihre Röcke aus.

„Oh doch, das war es“, murmelte er, nahm ihre Hand und schob sie in seine Armbeuge. Dann strebte er mit ihr der imposanten weißen Tür des Eddings’schen Stadthauses zu. „Ach, Hausmusik! Welch vortreffliche Art, den Nachmittag zu verbringen. Hoffentlich gibt es Balladen über arme Bauernmädchen, die sich gramerfüllt in Brunnen stürzen.“

Miss Fleming maß ihn mit ungläubigem Blick, doch da tat sich auch schon dank des nicht minder vortrefflichen Butlers die Tür auf. Jasper grinste seine Verlobte an und drängte sie einzutreten. Sein Blut war in Wallung, und das hatte nur wenig mit der Aussicht auf einen misstönenden Nachmittag zu tun und lag nur bedingt an der Gesellschaft von Miss Fleming. Nein, er hoffte, Matthew Horn hier anzutreffen. Horn war ein alter Bekannter, ein ehemaliger Kamerad aus Seiner Majestät Armee, und – weitaus bedeutsamer – einer der wenigen Überlebenden von Spinner’s Falls.

Melisande versuchte, sich auf den Gesang des jungen Mädchens zu konzentrieren. Wenn sie ganz still sitzen blieb und die Augen schloss, würde das Gefühl der Panik irgendwann nachlassen. Leider hatte sie nicht bedacht, wie viel Wirbel ihre übereilte Verlobung mit Lord Vale verursachen würde. Von dem Moment an, da sie Lady Eddings’ Haus betreten hatten, waren sie und Jasper Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit gewesen – und Melisande hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst, denn sie hasste es, im Mittelpunkt zu stehen. Ihr wurde dann immer ganz heiß, der Schweiß brach ihr aus. Ihr Mund wurde trocken, die Hände fingen ihr an zu zittern. Das Schlimmste aber war, dass es ihr zudem die Sprache verschlug. Als Mrs Pendleton, diese furchtbare Person, ihr zu verstehen gegeben hatte, dass Lord Vale schon ziemlich verzweifelt sein müsse, um ihr, Melisande, einen Antrag zu machen, hatte Melisande sie nur dumm angestarrt und kein Wort herausgebracht. Heute Nacht, wenn sie schlaflos im Bett läge, würden ihr ein Dutzend schlagfertiger Erwiderungen einfallen, aber augenblicklich war sie so eloquent wie ein Schaf. Etwas Geistreicheres als Baaaa brachte sie nicht zustande.

Lord Vale neigte sich ihr zu und flüsterte vernehmlich: „Na, was meinen Sie – ob die Kleine wohl eine Schäferin sein soll?“

Baa-haaa? Melisande blinzelte verwirrt.

Er verdrehte die Augen und deutete mit dem Kopf nach vorn. „Sie.“

Neben dem Cembalo stand Lady Eddings’ jüngste Tochter. Das Mädchen sang gar nicht mal schlecht, doch es trug weit ausladende Panniers, einen üppig berüschten Haubenhut und in der Hand … einen Eimer.

„Oder ein Zimmermädchen?“, überlegte Lord Vale laut. Er hatte das allgemeine Interesse souverän gemeistert und launig gelacht, wenn er auf seine neuerliche Verlobung angesprochen worden war. Nun saß er neben ihr auf einem der schmalen und furchtbar unbequemen Stühle und wippte unruhig mit dem linken Bein wie ein kleiner Junge, den man dazu verdonnert hatte, still zu sitzen. Melisande hätte ihm am liebsten die Hand aufs Knie gelegt, damit er damit aufhörte. „Als Zimmermädchen müsste sie eigentlich noch eine Kohlenschaufel in der Hand haben. Das dürfte dann allerdings recht anstrengend werden. So eine Kohlenschaufel ist ziemlich schwer.“

„Sie ist ein Milchmädchen“, murmelte Melisande.

„Wirklich?“ Er zog seine buschigen Brauen zusammen. „Wie soll sie denn melken, mit diesen Panniers?“

„Schsch!“, zischte jemand hinter ihnen.

„Ich meine“, flüsterte Lord Vale kaum leiser, „trampeln ihr die Kühe da nicht andauernd auf den Röcken herum? Wie unpraktisch das sein muss. Nicht dass ich allzu viel über Kühe wüsste. Oder über Milchmädchen. Höchstens über Käse. Käse mag ich sehr“, setzte er hinzu.

Melisande musste sich auf die Lippe beißen, um nicht laut loszukichern. Wie seltsam! Das passierte ihr sonst nie. Kichern war nun wahrlich nicht ihre Sache. Aus den Augenwinkeln warf sie einen verstohlenen Blick auf ihren Verlobten und stellte fest, dass er sie beobachtete.

Ein Lächeln spielte um seine Lippen und wieder neigte er sich ihr zu, bis sie seinen Atem warm auf ihrer Wange spürte. „Ich liebe Käse. Und Weintrauben, vor allem die großen, runden, roten, die mit einem Biss so süß und saftig im Mund zerplatzen. Mögen Sie Weintrauben?“

Obwohl an seinen Worten wenig auszusetzen war, sagte er sie auf eine Weise, die sie fast erröten ließ. Und auf einmal erinnerte sie sich, wie oft sie ihn so schon gesehen hatte: einer Dame zugeneigt, der er kleine Anzüglichkeiten ins Ohr flüsterte. Unzählige Male hatte er sich im Laufe der Jahre so gegeben, mit ungezählten Damen auf ungezählten Geselligkeiten. Aber diesmal war es anders.

Diesmal flirtete er mit ihr.

Und so hielt sie sich kerzengerade, senkte sittsam den Blick und sagte leise: „Ich mag Weintrauben, Mylord, aber Himbeeren mag ich noch lieber. Die Süße der Himbeere ist weniger aufdringlich als die der Traube. Und manch eine hat auch eine erfrischende Note und noch ein bisschen … Biss.“

Als sie aufsah, ruhte sein Blick nachdenklich auf ihr. Sie erwiderte seinen Blick ruhig, wich ihm nicht aus – ob als Warnung oder Herausforderung wusste sie selbst nicht –, bis ihr auf einmal der Atem stockte und das Blut in die Wangen stieg. Sein übliches, sorgloses Lächeln war verschwunden, ja, er lächelte überhaupt nicht mehr, und etwas Ernstes, Dunkles starrte ihr aus seinen Augen entgegen.

Dann brach das Publikum in Applaus aus, und Melisande zuckte ob des plötzlichen Lärms zusammen. Lord Vale sah beiseite, und der Moment war vorüber.

„Soll ich Ihnen ein Glas Punsch holen?“, fragte er.

„Ja.“ Sie schluckte. „Das wäre nett, danke.“

Und sie sah ihn aufstehen und davonschlendern, spürte, wie die Welt auf einmal wieder eindrang und ihre Sinne bestürmte. Hinter ihr tratschte die junge Matrone, die sie eben zur Ruhe ermahnt hatte, mit einer Freundin. Melisande schnappte nur „andere Umstände“ auf, dann wandte sie sich ab, um das Getuschel nicht länger zu hören. Lady Eddings’ Tochter wurde zu ihrer Darbietung beglückwünscht. Ein junger Mann mit pickeligem Gesicht stand treu an ihrer Seite und hielt, ganz Kavalier, den Eimer. Melisande strich ihre Röcke glatt und war nur froh, dass niemand mit ihr sprechen wollte. Wenn man sie einfach in Ruhe dasitzen und die anderen Leute beobachten ließ, machten ihr Veranstaltungen wie diese beinahe Spaß.

Sie sah sich nach Lord Vale um und entdeckte ihn in der kleinen Gruppe, die sich um das Buffet eingefunden hatte. Zu übersehen war er ja kaum. Er überragte die anderen Gentlemen fast um Haupteslänge und lachte auf seine freimütige Weise, streckte dabei in großer Geste den Arm von sich und hätte fast die Perücke seines Nebenmanns mit Punsch getränkt. Melisande lächelte. Seine Überschwänglichkeit war geradezu ansteckend. Doch dann sah sie, wie seine Miene sich kaum merklich veränderte. Er lächelte noch immer, doch nicht mehr so offen, und um seine Augen trat ein angespannter, wachsamer Zug. Wahrscheinlich war es sonst niemandem aufgefallen. Ihr schon. Melisande folgte seinem Blick. Ein Gentleman mit weißer Perücke hatte soeben den Salon betreten. Er plauderte mit der Gastgeberin, ein höfliches Lächeln auf den Lippen. Irgendwie kam er ihr bekannt vor, aber sie wusste nicht woher. Er war von mittlerem Wuchs, mit einem frischen, freundlichen Gesicht, seine Haltung militärisch.

Als sie wieder zu Lord Vale sah, hatte dieser sich schon auf den Weg zu dem jungen Mann gemacht, der sich, sowie er Vale kommen sah, bei Lady Eddings entschuldigte, Vale entgegenging und ihm die Hand zum Gruß reichte. Seine Miene indes war ernst, um nicht zu sagen düster. Melisande sah ihren Verlobten die Hand des Mannes ergreifen und ihm etwas zuflüstern. Dann schaute er sich kurz im Salon um, wobei ihre Blicke sich flüchtig trafen. Das Lächeln war aus seinem Gesicht gewichen, seine Miene völlig ausdruckslos. So, als hätte er sie nicht gesehen, kehrte er ihr den Rücken zu und zog den jungen Mann mit sich. Just in diesem Augenblick warf sein Begleiter mit der weißen Perücke noch einmal einen Blick über die Schulter, und Melisande stockte der Atem, denn plötzlich wusste sie wieder, woher sie ihn kannte.

Es war der junge Mann, den sie sechs Jahre zuvor hatte weinen sehen.