Leseprobe Dem Schurken verfallen

Prolog

Charleston, April 1845

»Ich habe nicht gedacht, dass du kommst.«

Garret Denison sah seinen Bruder lange an, ehe er zu ihm an den Tisch trat. »Ich musste mich einfach persönlich davon überzeugen, dass du tatsächlich in der Stadt bist. Ich kann es immer noch nicht fassen.«

Graham zuckte mit den Schultern und zog mit der Spitze seines schmutzigen Stiefels den Stuhl neben seinem heran.

»Setz dich«, meinte er gelassen. »Du lenkst die Aufmerksamkeit auf uns.«

Garret lachte spöttisch und nahm Platz. »Trinkst du was?« Er bemerkte die Staubschicht auf der Kleidung seines Bruders, der sonst so großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres legte. Er trug eine verknitterte Jacke mit durchgescheuerten Ärmelaufschlägen und auch die Weste war abgetragen und zerschlissen. Jacke und Hose hingen schlabbernd an ihm herunter, als gehörten sie einem anderen. Sein Bruder hatte offenbar schwere Zeiten hinter sich. »Du siehst aus, als könntest du einen Drink vertragen«, fuhr Garret im weichen, melodischen Südstaatendialekt fort.

»Bourbon.«

Garret winkte der Kellnerin, die sich ihren Weg an den Tischen vorbei bahnte und den Stammgästen auf die Finger klopfte, die sie begrapschen wollten. »Bourbon«, rief er ihr zu. »Zwei.« Das Mädchen nahm die Bestellung mit einem knappen Nicken entgegen und schlug nach einer fleischigen Faust, die ihr den Rock heben wollte. Garret wandte sich wieder seinem Bruder zu. »Früher hast du dich nicht in solchen Spelunken herumgetrieben.«

»Genau das Richtige für meine Zwecke.«

Garret bekam den stählernen Blick des Bruders zu spüren. Grundgütiger, hatte der Kerl stechende Augen. Jeder, den dieser durchdringende Blick traf, stand unweigerlich auf der Anklagebank, selbst wenn er unschuldig war. Garret hielt dem Blick stand. Früher hätte ihn der tadelnde Gesichtsausdruck des älteren Bruders unsicher gemacht, doch diese Zeiten waren vorbei. »Was ist der Zweck deines Besuches, Graham? Ich werde mich bemühen, Verständnis für deine Lage aufzubringen.«

Daran hatte Graham allerdings seine Zweifel. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie die Kellnerin an den Tisch trat und Gläser abstellte. Er hatte Gilpins Hafenkneipe in Charleston aus einem guten Grund gewählt. Hier kannte ihn keiner, obwohl sein Name und sein Konterfei in den letzten drei Monaten auf den Titelseiten aller großen Zeitungen zu sehen gewesen waren. Gilpins Kneipe lag außerdem nur wenige Gehminuten von seiner Wohnung entfernt, wohin er im Notfall fliehen konnte.

Mit seiner schlecht sitzenden, schmutzigen Kleidung, den abgewetzten Stiefeln und dem ungepflegten sandfarbenen Haar tauchte er in der Anonymität der anderen Kneipengäste unter. Dabei waren diese Kerle nicht unbedingt brutal oder bedrohlich; im Grunde waren es lauter Pechvögel, die in ihrer Hoffnungslosigkeit abgestumpft waren. Von diesen Saufbolden drohte Graham keine Gefahr. Wenn ihn einer erkannte, würde er sich einen Dreck darum scheren und ihn in Frieden lassen.

Graham hatte sich Mühe gegeben, wie ein gefährlicher Haudegen auszusehen, und wünschte, sein Bruder wäre nicht so geschniegelt dahergekommen. »Du hättest dich der Umgebung hier ruhig ein wenig anpassen können«, brummte er.

Garret strich über seinen dunklen Schnurrbart. »Woher hätte ich wissen sollen, in was für eine Kneipe du mich bestellt hast? Mir ist es egal, ob man mich erkennt. Ehrlich gestanden hätte ich gar nichts dagegen. Und wenn mir danach ist oder du mir Grund dafür gibst, stehe ich auf und zeige mit dem Finger auf dich, Graham. Du bist ein Verräter. Du hast deine Freunde und deine Familie verraten. Du hast den Süden verraten.« Garret hob das Glas, hielt es ans Licht und untersuchte es nach Spuren des letzten Benutzers. Zufrieden, dass die Abdrücke weggewischt waren und das Glas möglicherweise sogar gespült war, nahm er einen tiefen Schluck.

Graham gestattete sich ein dünnes Lächeln, als Garrets ansprechende Gesichtszüge sich mit Röte überzogen. Zu dumm, dass der Schnurrbart die Schweißperlen fast verdeckte, die sich auf seiner Oberlippe bildeten. Beinahe hätte Graham laut aufgelacht, als Garret sich mit sorgsam manikürter Hand betont lässig durchs Haar fuhr. »An das Zeug bist du nicht gewöhnt, wie?«, schmunzelte Graham.

»Wieso trinkst du nicht?«

Graham hob das Glas, ohne es auf seine Sauberkeit zu überprüfen, und prostete Garret mit einem schiefen Lächeln zu. »Auf deine Gesundheit und dein Wohlergehen, kleiner Bruder.« Damit kippte er beinahe den ganzen Inhalt hinunter.

Garret lachte lauthals, als Graham hustete und ihm das Wasser in die Augen stieg. »Geschieht dir recht«, grinste er.

Graham zog ein Taschentuch hervor und wischte sich die Augen. »Großvater brennt einen besseren Fusel in seinem Schuppen.« Er steckte das Taschentuch wieder ein und trank auch den letzten Schluck. »Bei Gott«, knurrte er mit Nachdruck und ließ den Blick durch die verräucherte Kneipe schweifen. »Hoffentlich kommt es nie so weit mit mir, dass ich mich an diesen Rachenputzer gewöhne.« Er winkte der Kellnerin, warf seinem Bruder einen fragenden Blick zu, der sich zunächst angewidert schüttelte, dann aber doch nickte, und hob zwei Finger.

»Solange das Zeug uns nicht umbringt«, meinte Garret achselzuckend. Allerdings schien sich keiner der anderen Gäste einer solchen Gefahr bewusst zu sein. Arme Schweine. Garret lehnte sich zurück, streckte die langen Beine schräg unter dem Tisch aus und verschränkte die Arme vor der Brust. Erst dann fiel ihm auf, dass seine Haltung der spiegelverkehrten Haltung seines Bruders glich.

Die Brüder waren nur elf Monate auseinander und wurden häufig für Zwillinge gehalten. Beide waren hoch gewachsen, hatten volles, sandfarbenes Haar, dunkle Augenbrauen und Wimpern. Ihre kantigen Gesichtszüge hätten einen Bildhauer dazu inspiriert, sie zu modellieren. Der Schnurrbart, den Garret sich als Student zugelegt hatte, war der augenfälligste Unterschied. Bei aller Ähnlichkeit gab es ein paar Merkmale, manche auffallender als andere, wodurch die Brüder sich unterschieden.

Grahams aristokratische Züge wurden von graublauen Augen verschärft, während Garrets tiefblaue Augen den Betrachter in ihren Bann zogen. Grahams stählerner Blick hielt andere auf Distanz, obgleich sein verwegener Charme äußerst anziehend wirkte. Graham Denison pflegte Bekanntschaften, keine Freundschaften. Garrets Bewunderer waren auch seine Freunde.

»Weiß jemand, dass wir uns hier treffen?«, fragte Graham.

Garret schüttelte den Kopf. »Nein. Aber nicht, weil du mich darum gebeten hast, sondern weil ich mich für dich schäme. Großmutter hätte vielleicht Verständnis für dein Verhalten aufgebracht. Aber sonst niemand, Graham. Großvater hat dich enterbt. In Mutters Beisein – falls sie ihr Zimmer verlässt – darf dein Name nicht mehr erwähnt werden. Du bist für sie gestorben. Was, zum Teufel, hast du dir eigentlich bei all dem gedacht?«

Graham blieb ihm die Antwort schuldig. »Alys?«, fragte er stattdessen.

»Sprich nicht von ihr, Graham. Auch für sie bist du gestorben. Du hast kein Recht, von ihr zu sprechen.«

»Sie war meine Verlobte. Das gibt mir das Recht.«

»Das war einmal. Sie hat mit dir gebrochen, ehe dein schändliches Tun ans Tageslicht kam. Alys ist sehr glücklich mit der Wahl, die sie getroffen hat.«

Graham ließ nicht erkennen, wie er darüber dachte. »Wann ist die Hochzeit?«

»Im Juni.« Garret lächelte dünn. »Mutter meint, die Hochzeit ist genau das Richtige, um die leidige Angelegenheit endlich zu vergessen.«

»Damit bin ich gemeint.«

Garret nickte. »Du warst schon immer ein aufgeweckter Bursche.« Er nahm einen kleinen Schluck, nur um festzustellen, dass der Bourbon mit der Gewöhnung nicht besser schmeckte. »Du solltest zum Grund unseres Treffens kommen, wenn du nicht willst, dass man dich erkennt und verpfeift.«

Graham verlagerte sein Gewicht auf dem Stuhl und wischte den Staub von seinem Ärmel. Es war eine Verlegenheitsgeste, so als entferne er ein Fädchen von einem feinen Gehrock, eine Geste, die in einer anderen Situation auf Langeweile hätte schließen lassen. Er lächelte freudlos. Alte Gewohnheiten … »Ich will nicht unbedingt, dass man mir den Strick um den Hals legt«, sagte er gelassen und fixierte den Bruder. »Das aber würde geschehen, wenn ich mich stelle, wie?«

Garrets Antwort war ohne jedes Mitgefühl. »Wenn du auf dem Weg zum Galgen keine Kugel zwischen die Augen bekommst. Aber das wusstest du, bevor du herkamst. Wieso, Graham? Wieso hast du Boston verlassen? Die Zeitungen im Norden waren voll von deinen sogenannten Heldentaten. Ich erinnere mich nicht genau an all die Lobeshymnen. Befreier. Erlöser. Heiland des Südens. Der Retter der schwarzen Sklaven.« Er legte eine Pause ein, ehe er sinnend fortfuhr: »Schwarze Sklaven. Das fand ich immer reichlich übertrieben. Es gibt keine weißen Sklaven. Wir sind nicht als Sklaven geboren wie die Schwarzen.«

Graham blieb ihm die Antwort schuldig. Garrets Versuch, ihn in Rage zu bringen, war allzu offenkundig. Im Übrigen war sein Bruder von dem, was er sagte, tatsächlich überzeugt und gab damit nur die Denkweise wieder, die auf Beau Rivage und überhaupt in den Südstaaten herrschte.

»Wie war der Name gleich wieder, den die entlaufenen Sklaven dir gaben?« Er ließ Graham etwas Zeit, um zu antworten; als dieser aber nicht reagierte, gab er selbst die Antwort auf seine Frage. »Falkner. Ich glaube, das war der Name, den ich gelesen habe.«

»Schon möglich«, meinte Graham gelangweilt.

»Ja, ganz sicher. Sag mal, Graham … Bitsy. Henry. Old Jake. Evie. Little Winston.« Er zählte die Namen der Sklaven auf, die ihm gerade einfielen, und hätte noch viele andere nennen können, die bei Nacht und Nebel von Beau Rivage verschwunden waren. »Hast du ihnen allen zur Flucht verholfen?«

»Ja.« Graham schmunzelte über das verdutzte Gesicht seines Bruders. »Hast du gedacht, ich streite es ab?«

»Dein Hochmut übersteigt deine Intelligenz«, entgegnete Garret verächtlich.

»Du hast mich immer unterschätzt.«

»Nur deine Hartnäckigkeit, Graham. Und vielleicht deinen Eifer. Ich hielt dich immer für leichtlebig und verantwortungslos. Der Familie hast du jedenfalls bei weitem nicht so viel Anteilnahme entgegengebracht wie diesen Sklaven.« Nach einer Pause fügte er nachdenklich hinzu: »Wie sehr du uns alle hassen musst.« Er gab dem Bruder keine Gelegenheit, seine Feststellung zu bestätigen oder abzustreiten. »Die Sklaven, denen du zur Flucht von Beau Rivage verholfen hast, spiegeln natürlich nur einen Bruchteil dessen, was du getan hast. Wenn man den Zeitungen glauben darf, warst du an der Flucht von mehr als zweihundert Schwarzen beteiligt – aus sämtlichen Südstaaten.«

»Die Zahlen sind übertrieben«, widersprach Graham in gespielter Bescheidenheit. »Vielleicht waren es hundert. Höchstens hundertfünfzig.«

In Garrets Wange zuckte ein Muskelstrang. Seine blauen Augen fixierten den Bruder kühl. »Du findest das alles amüsant, wie? Du lachst uns alle auf Beau Rivage aus.«

»Du irrst, Garret. Ich erwarte nicht, dass du mir glaubst, aber du irrst.«

Garret hatte Mühe, seinen Unmut zu bezähmen. Aber letztlich hatte Graham mit seinem Verhalten nichts gewonnen. Mochten die Gegner der Sklaverei im Norden seine Taten auch verherrlichen – im Süden hatte er sich jeden Bürger zum Feind gemacht, abgesehen vielleicht von einer Handvoll Sympathisanten. In Carolina, zumal in Charleston, hatte er sich mit seinem Ruf als Falkner zum Verbrecher und Ausgestoßenen gestempelt.

Garret sah keinen Grund, die Entwicklung der Dinge zu bedauern, und bemühte sich keineswegs, einen solchen Anschein zu erwecken. Graham hatte sich selbst als Erbe von Beau Rivage ausgeschaltet. Das war ihm auf spektakuläre Weise und mit weit größerem Erfolg gelungen, als Garrets ausgeklügelte Versuche, ihn aus dem Familienunternehmen zu drängen, es vermocht hatten.

Aber es gab noch die Familienehre der Denisons, die Garret zu wahren suchte. »Du hast nie ein Wort der Entschuldigung gefunden für die Schmach und Schande, die du uns angetan hast«, sagte er.

Graham wusste, dass sein Bruder Alys zu den Menschen zählte, denen er Schande angetan hatte. »Nein, das habe ich nicht. Aber ich möchte gern, dass du Großmutter eine Nachricht von mir überbringst.« Garret zog spöttisch die Mundwinkel hoch, und Graham vermutete, er würde ihm den Gefallen nicht tun. Er brachte die Bitte dennoch vor, denn für seinen Seelenfrieden musste er sie aussprechen. »Sag ihr, ich habe nach meiner Überzeugung gehandelt. Wie alle Denisons vor mir gehandelt haben«, er fixierte den jüngeren Bruder scharf, »und nach mir handeln werden.«

»Wie kannst du es wagen?«, stieß Garret hervor.

Ohne auf den Zornesausbruch des Bruders zu achten, fuhr Graham fort: »Und du sollst noch etwas von mir erfahren: Ich habe den Ohrring nicht mehr.«

Graham straffte die Schultern und beugte sich vor. »Er ist verschwunden?«

»Hast du das etwa nicht gewusst?«

»Ich fasse es nicht. Willst du sagen, du hast ihn verkauft? Wie schändlich, Graham, selbst für einen wie dich.«

»Nun, eigentlich wollte ich nur sagen, dass ich ihn verloren habe. Andernfalls hätte ich ihn wahrscheinlich verkauft. Ich brauche schließlich Geld, um mich irgendwo niederzulassen.«

»Bist du gekommen, weil du Geld von mir willst?«

»Nein, ich hatte nicht die Absicht, dich um Geld zu bitten. Aber wenn du es mir anbietest …«

»Fahr zur Hölle!« Garret kippte den Rest seines Bourbons hinunter, warf einen Blick auf Grahams leeres Glas und bestellte zwei weitere.

Graham rührte das nächste Glas nicht an. Der letzte Schluck war ihm nicht gut bekommen, hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge hinterlassen. Der Schweiß brach ihm aus. Er ließ den Blick durch die verräucherte Kneipe wandern. Bei keinem der anderen Gäste schien der Fusel, den Gilpin als Bourbon verkaufte, ähnliche Wirkung zu zeigen. Aber vielleicht tranken die anderen auch Gin oder Whiskey mit Wasser verdünnt, überlegte Graham, holte das Taschentuch wieder hervor und wischte sich die Stirn.

Garret fragte Graham nicht, ob er sich nicht wohlfühle. Es kümmerte ihn nicht. »Ich hoffe, du kotzt dich aus«, sagte er voller Abscheu. Sein Bruder war blass geworden, rote Flecken bildeten sich auf seinen Wangen. »Was, zum Teufel, hast du dir dabei gedacht, Mutters Ohrring zu stehlen? Du weißt verdammt genau, wie sehr er ihr am Herzen liegt. Im Übrigen wollte sie, dass ich ihn bekomme.«

Graham steckte das Taschentuch ein. »Darum geht es dir, wie? Dass ich etwas an mich genommen habe, was dir gehört.«

»Genau. Die Familie musste deine Spielsucht ertragen, dein Herumhuren, dein Trinken …«

»Vorsicht, Garret, sonst verdrehst du mir noch den Kopf mit deinen Schmeicheleien.«

Garret bedachte ihn mit einem angeekelten Blick. »Auf diese Weise hast du deine Studienzeit in Harvard vergeudet.«

»Willst du etwa sagen, du hättest in deiner Studienzeit nicht Kartenspielen, Huren und Saufen gelernt?«, fragte Graham liebenswürdig und hob das Glas. »Dann hast du versäumt, aus deiner Studienzeit das Beste zu machen.«

Garret achtete nicht auf die Spitze. »Jetzt kommt auch noch Diebstahl zur Liste deiner Verbrechen.«

»Diebstahl? Wegen des Ohrrings? Ich muss dich enttäuschen, Garret. Er wurde mir geschenkt.«

Garret stutzte. »Ich glaube dir nicht. Mutter würde niemals …«

»Großmutter hat ihn mir geschenkt.«

»Das würde sie niemals tun. Sie hätte kein Recht dazu.«

Graham zuckte gleichgültig die Achseln. Sollte Garret sie getrost fragen, wenn er die Wahrheit wissen wollte. Der Ohrring gehörte ihrer Mutter Evaline Randolph Denison und stellte einen hohen sentimentalen Wert für sie dar. Seit das Gegenstück vor vielen Jahren verloren gegangen war, hatte sie den Schmuck nie wieder getragen. Wiederholte Male hatte sie in Erwägung gezogen, den gekrönten Perlenohrring, an dem ein goldener Tropfen hing, zu einem Anhänger umarbeiten zu lassen, den Gedanken jedoch nie verwirklicht. Also hatte sie den Ohrring in ihrer Schmuckschatulle aufbewahrt und ihn gelegentlich herausgeholt, um ihren Erinnerungen nachzuhängen. Ihr Vater hatte die Ohrringe anfertigen lassen und sie seiner einzigen Tochter zum sechzehnten Geburtstag anlässlich ihres ersten Balls geschenkt. Es waren einzigartige Schmuckstücke, da in den Goldtropfen ihre Initialen in schwungvollen Lettern eingraviert waren.

Evaline verknüpfte Erinnerungen an ihre glückliche Jugend mit dem Schmuck, an den glanzvollen Ball, die vielen Verehrer, die ihr den Hof gemacht hatten. Immer wieder hatte sie mit leiser Wehmut in der Stimme erzählt, wie traurig sie war, das Pendant noch am Abend des Balls verloren zu haben. Der Umstand, dass ihre Eltern im selben Jahr kurz nacheinander gestorben waren, hatte die leidvollen Erinnerungen, die sie mit dem Schmuck verbunden hatte, noch verstärkt.

Graham wischte sich die Stirn, dann rieb er sich den Nacken. »Großmutter wollte, dass ich ihn bekomme.« Sie hatte gesagt, es sei endlich Zeit, dass Evaline aufhöre, der Vergangenheit nachzuhängen, doch das erwähnte Graham nicht. »Ich wollte Geld von ihr und sie gab mir den Ohrring.«

»Aber du hast ihn nicht verkauft.«

»Dazu hatte ich keine Gelegenheit.« Er hätte ihn auch nicht verkauft. Und Großmutter hat das verdammt noch mal gewusst, dachte er. »Man muss es Mutter sagen. Ich wundere mich, dass sie ihn noch nicht vermisst hat.«

»Mutter hat ihr Zimmer seit einem Monat kaum verlassen. Wahrscheinlich vermisst sie ihn längst und hat es niemandem gesagt.« Garret sah seinem Bruder in die Augen. »Vermutlich kann sie den Gedanken nicht ertragen, was aus ihrem Sohn geworden ist.«

Graham schüttelte den Kopf. »Mutter zieht sich auf ihr Zimmer zurück, wenn ihr Frühstücksei zu hart gekocht ist. Daran trifft mich keine Schuld.«

»Wie gewöhnlich.« Garret nahm einen Schluck und bemerkte, dass Graham sein Glas nicht anrührte. »Trink aus. Was ist eigentlich los mit dir? Du scheinst nichts mehr zu vertragen.«

»Du bist offenbar an das Zeug gewöhnt.« Graham fand, seine Stimme hatte einen merkwürdig dumpfen Hall, als stünde er in einem Kellergewölbe.

»Geht’s dir nicht gut?«, fragte Garret und schob Grahams Glas beiseite. »Ich glaube, du hast genug getrunken.« Er grinste. »Wer hätte gedacht, dass ich dich mal unter den Tisch saufe?«

»Anscheinend haben sie dir an deiner Universität doch etwas Vernünftiges beigebracht.« Grahams Grinsen verrutschte zu einer schiefen Grimasse. Er war froh, den Satz vollständig herausgebracht zu haben. Er kniff ein Auge zu und fixierte den Bruder. Drei Gläser Bourbon schienen ihm nichts anzuhaben.

»Da … iss … noch was.« Das Reden fiel Graham zunehmend schwer. Er schaute sich in der Spelunke um, ob sich jemand für ihr Gespräch interessierte. Seit er mit Garret trank, waren ein paar Männer gegangen oder gekommen, aber die Mehrzahl der Gäste war unverändert geblieben. Am Ende der Theke standen zwei stiernackige Kerle, die sich Geschichten erzählten und sich gegenseitig zum Schnaps einluden. An einem Ecktisch hockten drei Kartenspieler, die nur dann die Köpfe hoben, wenn sie eine Bestellung aufgaben. Nur wenige Männer tranken allein. In Gilpins Kneipe kannte jeder jeden, man haute sich gegenseitig auf die Schultern, erzählte sich Witze, schloss Wetten ab und lachte grölend.

Grahams Kopf fuhr ruckartig herum, sein Blick kehrte zu Garret zurück, der ihn scharf musterte. Wartete er darauf, dass er etwas sagte?, überlegte Graham. Hatte er etwas gesagt?

»Du meintest, da sei noch etwas?«, half Garret ihm auf die Sprünge.

Graham erinnerte sich. »Richtig.« Das Wort kam undeutlich heraus. »Da ist noch was.« Sein Lallen verstärkte sich. »Ich glaube, ich wurde bei meinem letzten Befreiungsversuch verraten. Ich wurde angeschossen. Beinahe umgebracht. Davon weißt du zufälligerweise nichts, oder?«

»Das klingt ja beinahe wie eine Beschuldigung.«

Graham nickte und in seinem Kopf dröhnte ein dumpfer Schmerz. Er konnte nur verschwommene Umrisse sehen; seine Gliedmaßen wurden schwer. »Ich glaube, so ist es«, brummte er.

»Sag mir lieber, wo du den Ohrring verloren hast, Graham.«

Es kostete Graham Mühe, Garrets Worten zu folgen. »Das kann ich nich genau … weiß nich.«

»Du musst doch eine ungefähre Vorstellung haben.«

»Boston, wahrscheinlich.« Es fiel ihm schwer, den Kopf gerade zu halten. Seine Schultern sackten nach vorn.

Garret fluchte leise, als Grahams Kopf auf die Tischplatte schlug. »Boston«, stieß er hasserfüllt aus. »Das werde ich Mutter sagen, dass du ihren Ohrring an die Yankees verschachert hast.« Er packte Grahams dichten Haarschopf, hob seinen Kopf und schaute ihm in die glasigen Augen. Dann ließ er los und Grahams Stirn schlug hart auf die Tischplatte. Garret hob die Hand und winkte den Spielern in der Ecke zu. Die drei warfen wortlos die Karten hin und traten an seinen Tisch.

»Schafft ihn raus«, befahl Garret leise. Niemand außer den drei Männern, die auf das Zeichen gewartet hatten, achtete auf die Szene. Graham Denison war bei Gott nicht der erste Kerl, der sturzbesoffen aus der Kneipe geschafft wurde. Ein paar Stammgäste fragten sich, ob Graham bereits bewusstlos gewesen war, ehe sein Bruder ihm den Schädel auf den Tisch gehauen hatte. Wenn sie die Garantie gehabt hätten, Graham wiederzusehen, hätten sie sogar Wetten darauf abgeschlossen.

Garret gab den Männern ein Zeichen, sich in Bewegung zu setzen. »Den Rest regeln wir draußen. Ich brauche euer Wort, dass er nicht nach Charleston zurückkommt.« Er blickte jedem Einzelnen scharf in die Augen. »Nie wieder.«

***

Er wachte mit einem Ruck auf. Im Sitzen verstärkten sich seine Schmerzen ins Unerträgliche. Er legte sich wieder hin und schloss ein Auge; um das andere hatte sich längst ein anderer gekümmert. Er tastete vorsichtig die Schwellung ab. Die leichte Berührung seiner Finger ließ ihn aufstöhnen.

Er ließ die Hand sinken und bewegte die Finger. Mühelos. Keine Verstauchung, kein Knöchel angeknackst. Hatte er keine Schlägerei angefangen? Mit wem hätte er sich prügeln sollen? Er erinnerte sich nicht an Gesichter oder Namen.

Die Untersuchung einzelner Körperteile ergab eine ziemlich lange Liste von Verletzungen. Neben dem zugeschwollenen rechten Auge hatte er eine dicke Beule auf der Stirn, unter der vermutlich gebrochenen Nase klebte vertrocknetes Blut, die Unterlippe war aufgeplatzt und in seinen Ohren war ein merkwürdiges Sausen. Dabei war dies erst der Kopf. Danach entdeckte er zwei gequetschte oder angebrochene Rippen, ein ausgekugeltes Schultergelenk und geschwollene Hoden.

Wer immer ihn in die Mangel genommen hatte, hatte ganze Arbeit geleistet. Er wusste nur nicht, aus welchem Grund.

Als Nächstes untersuchte er seine Beine. Sie waren voller Blutergüsse, aber nicht gebrochen. Am linken Oberschenkel hatte er Tritte abbekommen, vermutlich schlecht gezielte Schläge in den Unterleib. Abgesehen davon glaubte er, ohne Hilfe gehen zu können. Wohin, wusste er freilich nicht.

Im Augenblick interessierte er sich auch mehr dafür, wo er war. Über seinem Kopf waren Stimmen, Schritte. Er lag auf Holzplanken. Hängematten schwankten hin und her, als bewegten sie sich im Wind. Aber es gab keinen Wind. Die Luft war stickig und heiß. Die Hängematten bewegten sich trotzdem.

Es war verständlich, dass er nicht gleich bemerkt hatte, dass der Raum sich bewegte. Zumindest hatte er den Grund verwechselt. Anfangs hatte er gedacht, das Schwanken habe etwas mit seiner Gleichgewichtsstörung und dem Ohrensausen zu tun. Er beobachtete die hin und her schwingenden Hängematten und bemerkte den gleichbleibenden Rhythmus der Bewegungen. Der Raum drehte sich nicht, er schwankte nur leicht.

Er befand sich an Bord eines Schiffes. Er wusste nicht, wohin er unterwegs war.

Nachdem er seine Körperteile abgetastet und seine unmittelbare Umgebung wahrgenommen hatte, machte er sich daran, die Umstände seiner Lage zu erforschen.

Und dann stellte er fest, dass er seinen Namen nicht wusste.

Kapitel 1

Boston, Mai 1850

»Er fühlt sich kalt an.« Berkeley Shaws Finger öffneten sich bebend. Ihr war, als zittere sie, doch außer der zwanghaften Bewegung ihrer Finger blieb sie reglos. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen kann.« Um sich klarer verständlich zu machen, fügte sie leise hinzu: »Keinem von Ihnen.« Sie stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, spürte die fünf Augenpaare auf ihrem gesenkten Kopf. Mit einiger Mühe hob sie das Kinn, ließ den Blick über die Versammlung schweifen und heftete ihn auf das einzig vertraute Gesicht. Sie sagte nichts, nur ihre Augen flehten.

Anderson Shaw legte mitfühlend seine Hand unter die flache Hand seiner Frau, ehe er den Gegenstand aus ihrer Handfläche nahm. Als Erstes fiel ihm auf, dass er keineswegs kalt war. Mit einer hochgezogenen Braue warf er Berkeley einen Seitenblick zu. Einen winzigen Augenblick wurde seine Besorgnis von Tadel verdrängt. Seine Enttäuschung über die Erfolglosigkeit ihrer Bemühungen blieb von den anderen unbemerkt, nur Berkeley spürte seinen Tadel wie einen körperlichen Schlag. Ehe er den Gedanken zu Ende geführt hatte, sah er ihr leichtes Schwanken. Das gab ihm Genugtuung.

Anderson betrachtete den Ohrring in seiner Hand genauer. Er war so kostbar, wie er ihm geschildert worden war. Von einer schimmernden, mit einer goldenen Krone gefassten Perle hing ein großer Tropfen aus Gold, in den die Initialen E.R. eingraviert waren. Er wusste, dass er ein Vermögen in der Hand hielt, aber er wusste nicht, dass der Schmuck unbezahlbar war.

»E.R.?«, fragte er, während er den Schmuck seinem Besitzer aushändigte.

Decker Thornes Finger schlossen sich um den Ohrring. Er steckte ihn in seine Westentasche, ohne einen Blick darauf zu werfen. Dann fuhr er sich mit der Hand durch das dichte dunkle Haar, sein Blick löste sich zögernd von Berkeley Shaw und wanderte zu ihrem Gatten. »Elizabeth Regina«, erklärte er.

Anderson pfiff anerkennend durch die Zähne. »Dann wäre der Schmuck …« Er legte eine Pause ein, erforschte sein Gedächtnis, in welchem Jahrhundert Königin Elizabeth in England geherrscht hatte. »Wie? Zweihundert … dreihundert Jahre alt?«

»Etwa dreihundert«, bestätigte Decker. Seine wachsamen blauen Augen hefteten sich auf Mrs. Shaw. Berkeley blieb stumm und Decker hatte nichts anderes erwartet. Er warf seiner Frau einen bedeutungsvollen Blick zu, mit dem er ihr zu verstehen gab: ›Genau das habe ich dir gesagt.‹

Es lag nicht in Jonna Remington Thornes Natur, sich so schnell geschlagen zu geben, schon gar nicht, wenn ihr Gemahl sie seine Überheblichkeit spüren ließ. Decker hatte dem Experiment mit dem Ehepaar Shaw mehr als nur Skepsis entgegengebracht und Jonnas Vorschlag von Anfang an mit Spott bedacht. Sie war die Einzige, die Hoffnungen an dieses Experiment knüpfte.

Nein, verbesserte Jonna sich in Gedanken, das war nicht ganz richtig. Ihr Blick flog zu ihrer Schwägerin. Mercedes Thorne hatte die Hand auf den Unterarm ihres Mannes gelegt, um Trost bei ihm zu suchen. Jonna wusste, dass auch Mercedes diesem Treffen mit Hoffnung entgegengesehen hatte, während Colin sich, genau wie Decker, dagegen gesträubt hatte. Vielleicht war es tatsächlich Zeit aufzugeben.

Die Schwierigkeit war nur, dass Jonna nicht daran gewöhnt war, Niederlagen einzustecken. Seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr leitete sie das Remington Schifffahrtsunternehmen. Jetzt war sie dreißig. Die zweite Hälfte ihres bisherigen Lebens hatte sie der Leitung eines Handelsimperiums gewidmet; in der ersten Hälfte war sie auf diese Aufgabe vorbereitet worden. Es war nicht übertrieben, zu sagen, dass sie ohne Colin und Decker Thorne nichts von alledem erreicht hätte. Colin hatte ihr das Leben gerettet, als sie noch ein Säugling gewesen war. Jahre später hatte sein Bruder Decker ihr Herz gerettet.

»Vielleicht sollten Sie es noch einmal versuchen, Mrs. Shaw«, sagte Jonna. »Nehmen Sie ihn noch einmal in die Hand.«

Berkeley schüttelte den Kopf. Sie wünschte sich weit weg. Ihre Umgebung schüchterte sie ein, und der Druck, das Richtige zu tun und zu sagen, lähmte sie vollends.

Dabei war niemand unfreundlich zu ihr. Im Gegenteil. Jonna Thorne hatte sie herzlich in ihrem großen Haus auf Beacon Hill begrüßt, sie und Anderson in den prächtigen Salon geführt und sie freundlich allen anderen vorgestellt. Dennoch hatte Berkeley alles irgendwie verschwommen wahrgenommen. Sie erinnerte sich an die knappe Verneigung des Ehemanns von Mrs. Thorne, der von diesem Treffen wenig beeindruckt zu sein schien. Seine amüsierte Miene war entwaffnend und verwirrend zugleich. Als er ihr die Hand reichte, las Berkeley in seinen Augen. Sie kannte diesen Blick. Er hatte sich bereits ein Urteil über sie gebildet.

Dennoch war Decker Thorne eine Spur weniger einschüchternd als sein Bruder. Nie hätte Berkeley Shaw sich träumen lassen, einem Grafen die Hand zu schütteln. Jonna hatte ihren Schwager als Lord Fielding, Graf von Rosefield, vorgestellt, und Berkeley war das Schmunzeln der Hausherrin nicht entgangen, als amüsiere sie sich über den Adelstitel. Berkeley war keineswegs amüsiert. Sie versank in einen tiefen, wenn auch etwas linkischen Knicks und murmelte einen ehrerbietigen Gruß. Anderson würde sie später wegen ihrer Unbeholfenheit tadeln. Hatten sie die gesellschaftlichen Umgangsformen für eine solche Gelegenheit nicht oft genug geprobt? Doch das war jetzt unwichtig. Berkeley war nicht auf die undurchdringlichen schwarzen Augen gefasst, die sie maßen. Seine Lordschaft verzog die Mundwinkel zum Anflug eines Lächelns. Colin Thorne brachte Berkeley die nämliche Skepsis entgegen wie sein Bruder.

Die Gräfin von Rosefield mit ihren ernsthaften grauen Augen und ihrem würdevollen Lächeln wirkte wesentlich freundlicher und warmherziger als ihr Gemahl. Doch nach ihm hätte auch ein Eisberg mehr Wärme ausgestrahlt. Berkeley spürte die Hoffnung im Blick der Gräfin, während das Urteil ihres Gemahls bereits feststand.

Mercedes schloss sich Jonnas Bitte an. »Ja, Mrs. Shaw. Wollen Sie den Ohrring nicht noch einmal in die Hand nehmen? Ich hörte, dass sich der Erfolg zuweilen nicht sofort einstellt.«

»Wo hast du das gehört?«, fragte Colin und fügte spöttisch hinzu: »Von Zigeunern?«

Jede andere Frau wäre über Colins Tonfall erzürnt gewesen, mit dem er deutlich zum Ausdruck brachte, wie lächerlich er die Szene fand. Mercedes aber blickte ihrem Gatten gelassen in die Augen. »Ja, genau von ihnen habe ich es gehört. Auf dem Jahrmarkt von Weybourne suchte ich eine Wahrsagerin auf.«

»Warst du hoffentlich so vernünftig, die Kinder nicht mit in ein Zigeunerzelt zu nehmen?«

»Denkst du, ich hätte sie draußen warten lassen, damit sie auf die Idee kommen, allein loszuziehen? Niemals. Die Mädchen sind alt genug, um keine Angst zu haben, und Nicholas war völlig hingerissen.«

Colin verdrehte die dunklen Augen. »Gütiger Himmel«, murmelte er. »Wieso erfahre ich erst jetzt davon?«

»Weil ich genau diese Reaktion von dir erwartet habe«, entgegnete sie spitz. »Es gefällt mir nicht, dass du mich für töricht hältst. Und da die Kinder nie etwas erwähnt haben, haben sie offensichtlich keinen Schaden von der Begegnung genommen. Ich habe ihnen nicht verboten, darüber zu sprechen. Auf dem Jahrmarkt stürmten etliche neue Eindrücke auf die Kinder ein, von denen sie dir später stundenlang vorgeschwärmt haben, wenn ich mich recht entsinne.«

Colin erinnerte sich lebhaft an die Begeisterung der Kinder. Dennoch erschien es ihm eigenartig, dass weder Elizabeth noch Emma die Wahrsagerin erwähnt hatten. Vielleicht hatten die Mädchen genau wie ihre Mutter geahnt, was er von dieser Eskapade hielt. Mit Nicholas würde er jedenfalls darüber reden. In Zukunft würde er einen Verbündeten in seinem fünfjährigen Sohn haben, wenn es um Zigeuner und Wahrsagerei ging –

Mercedes, die nicht wusste, ob sie ihren Gatten beschwichtigt hatte, fuhr fort. »Es war völlig harmlos, Colin. Die Gelegenheit ergab sich, nachdem Jonna uns von den Shaws geschrieben hatte. Also sagte ich mir: Was kann es schaden? Und ich fragte die Zigeunerin, ob so etwas möglich sei. Und sie versicherte mir, jemand, der übersinnliche Kräfte besitze, könne durch das Berühren eines Gegenstandes etwas über dessen Geschichte erfahren. Das ist allgemein bekannt.«

»Allgemein bekannt?«, warf Colin ein. »Natürlich behauptet eine Zigeunerin etwas dergleichen. Lieber wäre ihr gewesen, die Ohrringe selbst in der Hand zu halten. Gottlob waren beide bei Decker in sicherer Verwahrung. Sonst würde jetzt einer fehlen und eine herumziehende Zigeunerbande hätte sich daran bereichert.«

Mercedes brauchte zwar keine Unterstützung, dennoch fühlte Jonna sich gedrängt, ihr zu Hilfe zu kommen. »Sei nicht so streng, Colin. Mercedes hätte den Ohrring keinem Fremden ausgehändigt. Im Übrigen besaß die Zigeunerin vermutlich keine übersinnlichen Kräfte. Sie war eine Wahrsagerin. Das war ihr Talent.«

»Jonna«, meldete Decker sich zu Wort. »Du glaubst doch wohl nicht an Wahrsagerei.«

»Nein. Aber möglicherweise glaubt Mercedes daran. Und ich finde es ungerecht, ihr Vorhaltungen zu machen, weil sie Erkundigungen eingezogen hat, um ihrem Mann und dir zu helfen.«

Decker bezähmte seine Ungeduld und wandte sich an Colin. »Wenn jemandem ein Vorwurf zu machen wäre, dann Jonna. Dieser Unsinn war schließlich ihre Idee. Ich habe bislang dazu geschwiegen, da wir durch dieses Treffen in den Genuss eures Besuches kommen. Dennoch hätten wir uns diese peinliche Farce ersparen können.«

Anderson Shaw hatte genug gehört. Er spürte, dass Jonna und Mercedes sich gekränkt fühlten, doch ihre Empfindungen kümmerten ihn nicht. Berkeley brauchte seinen Schutz. Sie schien nicht weiter auf den Wortwechsel der Familie zu achten, er aber wusste, dass sie jedes Wort in sich aufnahm. Der entrückte Ausdruck ihrer großen grünen Augen verlieh ihr etwas Weltfremdes, doch ihre Aufmerksamkeit war völlig in der Gegenwart. Sie senkte den Kopf; helle, zarte Locken streiften ihre bleichen Wangen. Ihr schmaler, biegsamer Nacken wurde entblößt. Anderson trat einen Schritt näher an seine Frau und legte ihr die Hand auf die Schulter.

Berkeley hob erschrocken den Kopf und blickte in Colin Thornes dunkle, undurchdringliche Augen. Sie durfte nicht zittern. Er würde denken, sie habe Angst vor ihm. Der Mann, dessen Hand auf ihrer Schulter lag, jagte ihr weit mehr Angst ein als der ehrenwerte Graf von Rosefield.

Mit neununddreißig war Anderson Shaw ein Jahr älter als Colin Thorne und fünf Jahre älter als Decker. Doch das zählte nicht. Diese Herren waren daran gewöhnt, Befehle zu erteilen. Ihnen brachte man Respekt nicht aus Höflichkeit entgegen, sondern weil sie ihn verdienten. Anderson wusste, dass sie keine Veranlassung sahen, ihm Respekt zu erweisen. Und dennoch. Obwohl die Damen ihm mehr Sympathien zeigten, achtete er darauf, während seiner Rede den Brüdern in die Augen zu sehen.

»Ich nehme nicht an, dass Sie meine Frau absichtlich beleidigen wollen.« Er sprach mit deutlicher, wohlmodulierter Stimme, ohne jeden Akzent, einer Stimme, die nicht verriet, aus welcher Gegend er stammte. Er sprach ruhig, distinguiert und würdevoll. »Selbst weniger vornehme Herren würden uns nicht in ihr Haus einladen, um geringschätzige Bemerkungen über Mrs. Shaws Gabe zu machen. Sie hat sich nicht um diese Einladung bemüht. Es war Mrs. Thorne, die uns ausfindig machte. Und ich vermochte meine Frau nur mit Mühe davon zu überzeugen, der Einladung zu folgen. Solche Sitzungen sind sehr anstrengend für sie und keinesfalls angenehm. Es liegt Mrs. Shaw fern, leere Versprechungen zu machen, um Ihnen Geld aus der Tasche zu ziehen. Sie hat Ihnen deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nicht helfen kann. Ich bin sicher, die Frau Gräfin hat ihre Zigeunerin bezahlt und keinen besseren Rat erhalten. Wir aber sind auf eigene Kosten aus Baltimore angereist und haben nichts dafür verlangt.«

Anderson Shaw war ein hochgewachsener Mann. Nun, da er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete, musste er allerdings das Kinn heben, um Colin und Decker Thorne in die Augen zu blicken. Seine linke Hand ruhte immer noch auf der Schulter seiner Frau, und als er ihr einen Blick zuwarf, waren Wärme und Bewunderung in seinen Augen zu lesen. Ohne mit ihr zu sprechen, gab er ihr mit diesem Blick Rückhalt und Ermutigung.

Niemand bemerkte den Daumen, der sich schmerzhaft in ihr Rückgrat bohrte.

Und niemand brauchte übernatürliche Kräfte, um die tiefe Verlegenheit der beiden Frauen zu sehen, die nicht die Absicht hatten, unhöflich zu sein, was von ihren Ehemännern freilich nicht behauptet werden konnte. Eine Entschuldigung war angebracht. Noch aber war nicht klar, welcher der Herren sich dazu entschließen konnte.

Decker, dessen Lächeln sich unter Jonnas scharfem Blick vertiefte, raffte sich als Erster dazu auf. »Es tut mir leid, Sie gekränkt zu haben, Mrs. Shaw. Der Tadel galt meiner Frau. Dabei war wohl nicht zu vermeiden, das in Zweifel zu ziehen, was Mrs. Thorne als Ihre seherische Gabe betrachtet.« Er wandte sich an Colin und forderte ihn stumm auf, sich seiner Entschuldigung anzuschließen.

Lord Fielding unterließ es, den Worten seines Bruders etwas hinzuzufügen. »Ich schließe mich an«, meinte er trocken.

Es war weniger der Daumen, der sich immer noch in ihre Wirbelsäule bohrte, der Berkeley veranlasste, sich zu Wort zu melden, als vielmehr die Tatsache, dass Mercedes den Eindruck machte, als wolle sie ihrem Ehemann vor allen Anwesenden eine Ohrfeige geben. »Ich könnte vielleicht einen zweiten Versuch machen«, sagte Berkeley leise. »Ich glaube, ich begreife erst jetzt, wie viel Ihnen allen daran liegt.«

Wieso sagt sie das?, fragte sich Colin. Diese junge Frau mit ihrem entrückten Charme, ihrer feenhaften Schönheit, ihrem leeren Blick konnte nicht wissen, was ihnen der Ohrring bedeutete. Aber Colin musste gestehen, dass weder er noch Decker je so schlechte Manieren an den Tag gelegt hatten. Es war wegen der inneren Anspannung aller, der gemeinsam empfundenen Verzweiflung. War es das, was Berkeley Shaw spürte? Die Ehefrauen fürchteten, dass Decker und Colin die Hoffnung aufgegeben hatten. Oder spürte diese Frau, dass die Brüder sich vor einem zweiten Versuch fürchteten?

Berkeley Shaw streckte die offene Hand aus und zog sie nicht zurück, als Decker zögerte. Sie wartete geduldig, als sei sie bereit, stundenlang in dieser Pose zu verharren. Decker warf Colin einen Blick zu und bemerkte sein unmerkliches Nicken, das den anderen entging. Er holte den Ohrring aus der Westentasche und legte ihn in Berkeleys Handfläche.

Sie reagierte sogleich. Ihre Finger, im Begriff, sich um den Ohrring zu schließen, öffneten sich wieder. »Nicht diesen«, sagte sie und blickte zwischen Decker und Colin hin und her. »Diesen Ohrring gaben Sie mir, um mich zu prüfen, ob ich den Unterschied zwischen dem echten und der Kopie erkenne. Ich sagte bereits, dieser ist kalt. Er sagt nichts über Ihren vermissten Bruder.«

Deckers amüsierte Miene schwand und machte einer deutlichen Verwirrung Platz. Dieser höchst seltene Augenblick, in dem Decker die Maske heiterer Gelassenheit fallen ließ – mochte er noch so flüchtig sein –, reichte Jonna als Beweis, dass Berkeley Shaw die Wahrheit sprach. Jonnas Enttäuschung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. »Ach, Decker«, seufzte sie. »Du hast es getan?«

»Eigentlich nicht«, antwortete er.

»Aber …«

Colin ließ Jonna nicht zu Wort kommen. »Ich ließ vor unserer Abreise in England eine Kopie anfertigen und habe Decker davon erzählt. Niemand sonst wusste davon.« Er verschwieg, ob Decker die Kopie in heimlicher Absprache überreicht hatte, richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Berkeley und seine dunklen Augen verengten sich. »Niemand konnte davon wissen«, meinte er gedehnt. Und diesmal schwang eine Spur Hoffnung in seiner Stimme mit.

Der Goldtropfen in Berkeleys Hand glitzerte in der Sonne. Jonna beugte sich vor. »Darf ich?«

»Aber gern, ich kann nichts damit anfangen.« Berkeley ließ den Ohrring in Jonnas Hand gleiten.

»Außergewöhnlich«, flüsterte Jonna staunend. Umso mehr, als Colin die Kopie aus dem Gedächtnis anfertigen ließ, da beide Ohrringe sich in Deckers Besitz befanden. »Ich kann den Unterschied nicht erkennen. Siehst du ihn?« Sie reichte den Schmuck an Mercedes weiter, die ihn ebenso aufmerksam betrachtete.

Mercedes sah zu ihrem Gatten auf. »Nun, Colin? Woher weißt du, dass dies die Kopie ist und du sie nicht mit einem der Originale verwechselt hast?«

Als Colin nicht gleich antwortete, meldete Berkeley Shaw sich zu Wort. »Ich glaube, Ihr Gatte schweigt aus gutem Grund. Er will verhindern, dass ich erfahre, wie er die Stücke auseinanderhält. Vielleicht planen er und Captain Thorne einen weiteren Test.«

»Das hoffe ich nicht«, erwiderte Mercedes spitz. »Sie haben diesen Test bestanden und das dürfte alle überzeugen. Habe ich Recht, Colin?«

Der Graf von Rosefield lächelte innerlich über den Versuch seiner Gemahlin, ihn zu einer Zustimmung zu nötigen. »Wir werden sehen.«

Damit war Mercedes zwar nicht zufrieden, scheute sich jedoch, Colin im Beisein anderer zu drängen. Allerdings gab sie die Fälschung nicht an ihren Schwager zurück, um einen weiteren Tausch zu verhindern. »Decker? Hast du die Originale für Mrs. Shaw?«

Deckers stille Heiterkeit kehrte zurück, als Mercedes sich weigerte, ihm die Kopie auszuhändigen. »Vielleicht kann Mrs. Shaw hierüber Auskunft geben.« Decker nahm eine schwarze Lackschatulle vom Kaminsims und spürte Jonnas neugierigen Blick. Das Kästchen enthielt gewöhnlich Zigarren für Gäste nach dem Dinner. Erst, als er den Deckel hob, sah man, dass die Schatulle die beiden kostbaren Ohrringe aus dem Familienerbe enthielt, auf schwarzen Samt gebettet.

Decker zeigte das offene Kästchen der Runde, ehe er es Colin reichte. Der Graf von Rosefield betrachtete die beiden Ohrgehänge und wählte eines aus. »Es würde mich interessieren, ob Ihnen dieser Ohrring etwas über meinen Bruder sagt.« Colin legte den Schmuck in Berkeleys Hand und schloss ihre Finger darum, ohne sie loszulassen.

Von ihrer geschlossenen Hand stieg eine unerklärliche Hitze auf. Colin wollte sie schon loslassen, als er bemerkte, dass Berkeley leicht ins Schwanken geraten war und seine Stütze brauchte. Er festigte seinen Griff.

Anderson Shaws Hand glitt von ihrer Schulter zum Ellbogen. »Ich weiß, was meine Frau braucht«, meinte er steif. »Sie können loslassen.«

Colin wusste nicht, wieso er zögerte, seine Hand wegzunehmen, zumal er die Hitze, die Berkeleys Haut entströmte, keineswegs als angenehm empfand. Vermutlich war sein Zögern damit zu erklären, dass sie mit dem Ohrring alles, was er ihm bedeutete, in der Hand hielt: seine Verbindung zur Vergangenheit, zur Geschichte seiner Familie, zur Existenz seines Bruders. Berkeley Shaw war eine Fremde und konnte nicht ahnen, welche Bedeutung dieser Ohrring für Colin und Decker Thorne hatte.

Anderson Shaw ließ nicht locker. Als Berkeley sich gegen ihn lehnte, nutzte er die Gelegenheit, um dem Grafen ihre Hand zu entziehen.

»Will sie sich nicht setzen?«, fragte Mercedes. »Bitte, Colin, bringe einen Stuhl für Mrs. Shaw.«

»Nein«, lehnte Anderson ab. »Nein, bemühen Sie sich nicht. Sie erholt sich gleich wieder.« Noch während er die Worte sprach, spürte er, wie Berkeley wieder Halt fand. Sie blinzelte, ihre langen Wimpern flatterten. Dann wurde ihr Blick ruhig und gefasst. Trotz der Hitze, die ihrem Körper entströmte, waren ihre Lippen blutleer und ihr Antlitz bleich.

»Ich fühle mich wohl«, sagte sie mit schwacher Stimme und Anderson ließ sie los. »Danke.« Mrs. Shaw lächelte dünn. »Ich glaube, ich würde mich vielleicht doch gern setzen.«

Man beeilte sich, ihr einen Stuhl zu holen; die plötzliche Hektik wirkte beinahe lächerlich. Berkeley nahm auf dem Stuhl Platz, den Anderson ihr zurechtrückte. Sobald sie saß, ließen Mercedes und Jonna sich auf das cremefarbene Brokatsofa sinken. Colin, der die schwarze Lackschatulle noch in der Hand hielt, setzte sich halb auf die Armlehne des Sofas neben seine Frau. Decker lehnte in lässiger Haltung an der grün geäderten Marmoreinfassung des Kamins.

Nur Anderson Shaw blieb stehen, seitlich hinter Berkeleys Stuhl, die Hände auf den polierten Kirschholzrahmen gelegt. »Nur zu, meine Liebe«, drängte er sie sanft. »Du hast etwas erfahren, habe ich Recht? Erzähle Seiner Lordschaft, was der Ohrring dir sagt.«

Berkeley drehte sich um, schien in den warmen, braunen Augen ihres Gemahls Rückhalt zu suchen. Ihre Augen, die in dem schmalen, herzförmigen Gesicht riesig wirkten, schienen zu flehen. ›Muss ich?‹, fragte sie stumm. Anderson nickte. ›Ja, du musst.‹

Berkeley öffnete die Finger und starrte auf den Ohrring, der sich in nichts von dem Exemplar unterschied, das sie vorhin in der Hand gehalten hatte. Er fühlte sich nur anders an. »Es gibt viele Empfindungen«, flüsterte sie kaum hörbar. »So viel Leid. Ich kann nicht …« Sie drehte den Ohrring behutsam mit den Fingern der anderen Hand. »Ja, das ist besser. Es ist schwer, zu unterscheiden …« Sie hob den Blick und sah Colin an, dessen undurchdringliche Augen sie nun nicht mehr einschüchterten. »Ich kann nicht mit Gewissheit sagen, ob Sie diesen Ohrring in Händen gehalten haben, aber ich spüre Ihre Gegenwart sehr stark darin. Sie müssen sehr jung gewesen sein, als Sie ihn übergeben haben.« Sie dachte über ihre eigene Wortwahl nach. »Ja, übergeben. Das klingt richtig. Sie haben ihn freiwillig weggegeben, denke ich, aber Sie haben damit etwas von sich selbst weggegeben. Es sollte eine Verbindung sein, über die Sie seinen Besitzer in späteren Jahren erkennen würden.«

Berkeley hörte, wie Mercedes Thorne hörbar Atem holte. Sie schloss die Augen und sammelte sich. »Das Alter des Schmuckstücks macht es schwer zu erkennen, was vor langer Zeit und was in jüngerer Vergangenheit geschah. Möglicherweise verwechsle ich die Zeiten.« Sie sah Colin wieder an. »Ihr Bruder ist am Leben. Der Schmuck war lange Zeit in seinem Besitz, denke ich. Er brachte ihm Glück, jedenfalls schrieb er sein Glück dem Ohrring zu. Vielleicht sah er darin einen Talisman. Ich zweifle, dass der Schmuck längere Zeit nicht in seinem Besitz war. Er muss das Gefühl haben, etwas sei ihm entrissen worden.« Sie zögerte, schüttelte den Kopf. »Nein, das stimmt nicht ganz. Es ist, als könne er nicht richtig durchatmen.«

Jonna warf ihrem Ehemann einen verwunderten Blick zu, den er nicht erwiderte, da seine ungeteilte Aufmerksamkeit jetzt auf Berkeley Shaw gerichtet war.

Am Rande ihres Gesichtsfeldes nahm Berkeley den Blick der Gastgeberin wahr, auch die Verblüffung in ihren violettfarbenen Augen blieb ihr nicht verborgen. »Ich glaube, Ihr Bruder ist ein umsichtiger Mann«, fuhr sie fort. »Zumindest achtete er sehr auf diesen Schmuck, aber da ist noch etwas anderes in seinem Wesen. Es ist schwer, das zu beschreiben. Etwas Verwegenes, denke ich. Eine gewisse Sorglosigkeit, die er als Schutzschild benutzt, um tiefe Gefühle zu verbergen.« Der Anflug eines unsicheren Lächelns huschte über ihre bleichen Lippen. »Ich weiß nicht, ob das einen Sinn ergibt …« Sie zuckte die Schultern. »Es ist nur so ein Gefühl.«

»Es ergibt einen Sinn«, sagte Jonna trocken, deren Blick nun auf Colin ruhte. »Bitte sagen Sie uns, was Sie noch empfinden.«

»Ich fürchte, es verwirrt mich«, meinte Berkeley. »Vielleicht weiß jemand von Ihnen, was es zu bedeuten hat. Mir ist, als sei dieser Ohrring früher einmal ein Teil einer größeren Schmuckkollektion gewesen. Ich meine damit nicht die Kronjuwelen. Nein, so weit liegt das nicht zurück. Die anderen Stücke der Kollektion wechselten. Ja, das spüre ich genau. Nur dieses Schmuckstück blieb.« Sie furchte die Stirn, als ihr eine Erklärung in den Sinn kam, und ihre zart geschwungenen Brauen zogen sich zusammen. Sie nagte auf ihrer Unterlippe, während sie überlegte, wie sie ihre Gedanken in Worte fassen sollte.

Anderson berührte sanft die Schulter seiner Frau. »Es ist nicht gut, wenn du etwas zurückhältst, Liebste. Sag, was dir durch den Kopf geht. Niemand verlangt von dir, nur angenehme Dinge auszusprechen.«

Berkeley nickte. Anderson hatte natürlich Recht, und wenn sie nicht irrte, so schien der Graf von Rosefield, obgleich er stumm und teilnahmslos wirkte, sie zwingen zu wollen, ihre Empfindungen auszusprechen. »Eure Lordschaft, ich fürchte, Ihr Bruder könnte ein Dieb gewesen sein.« Berkeley zuckte erschrocken zusammen, als die Gastgeberin aufsprang.

Jonna trat an ihren Gatten heran, der nun nicht mehr lässig am Kamin lehnte. »Du hast gewusst, dass Colin ihr deinen Ohrring gegeben hat.«

Decker leugnete nicht. »Wir wollten uns vergewissern, Jonna.«

»Nun, hoffentlich habt ihr jetzt Gewissheit«, entgegnete sie mit blitzenden Augen. Dann holte sie tief und langsam Atem. »Ich weiß, dass ihr zweifelt. Denkt ihr, ich hatte keine Zweifel? Ich habe mich eingehend über die Erfolge der Shaws informiert, ehe ich Mercedes davon berichtete. Und ich habe über Freunde und Bekannte Erkundigungen eingezogen, ehe ich die Shaws nach Boston einlud. Diese Zusammenkunft ist nicht aus einer Laune heraus geboren, Decker. Ich hatte gehofft, du und Colin würdet mir mehr Vertrauen entgegenbringen.«

»Ich habe großes Vertrauen in dich.« Deckers Blick glitt suchend über ihr Gesicht, ehe er sich an ihre Augen heftete. »Colin und ich wissen, dass du alles, was in deiner Macht steht, daran gesetzt hast, und ich habe keine Sekunde gezweifelt, dass deine Nachforschungen sorgfältig waren. Dennoch wollten wir uns davon überzeugen, dass wir keinem Schwindel zum Opfer fallen.«

Jonna schwieg, dann nickte sie. »Ja, es ist dein gutes Recht.« Sie legte ihm die Hand auf den Arm, in einer Geste der Aufmunterung und des Rückhalts. Dann wandte sie sich an Colin und wies auf die Schatulle. »Darf ich?«

Colin hielt sie ihr hin. Seine Hand zitterte leicht.

Jonna entging die Betroffenheit im Blick ihres Schwagers nicht. Die Tatsache, dass er eine Gefühlsregung im Beisein von Fremden erkennen ließ, gab beredt darüber Auskunft, wie tief Berkeleys Offenbarungen ihn getroffen hatten. Jonna nahm die Schatulle entgegen und forderte Colin mit einem Blick auf, sich neben Mercedes aufs Sofa zu setzen. Colin folgte ihrer stummen Einladung.

Jonna trat vor Berkeley hin, hob den Deckel der Lackschatulle, in der das Pendant des Ohrrings lag, den Colin Mrs. Shaw gegeben hatte. Jonna nahm ihn heraus und behielt ihn in der Hand, bis Berkeley den anderen auf das schwarze Samtkissen gelegt hatte. »Keine Tricks mehr, Mrs. Shaw. Dies ist der Ohrring, den Graham Denison vor fünf Jahren bei uns gelassen hat. Der andere, der Ihnen solches Unbehagen verursacht hat, gehört meinem Gatten. Alles, was Sie gespürt haben, entspricht der Wahrheit. Ich habe keinen Verdacht geschöpft, dass wieder ein Trick im Spiel war, da Colin Ihnen den Ohrring gab. Gewöhnlich muss man sich vor Deckers geschickten Händen in Acht nehmen. Captain Thorne war nicht bloß ein Dieb, er war ein äußerst talentierter Dieb.«

Berkeley Shaw hatte nicht erwartet, dass Jonna Thorne die kriminelle Vergangenheit ihres Ehemanns gestehen würde, gewiss nicht in dieser seltsamen Mischung aus Zorn und Stolz. »Deshalb bringt der Captain uns Argwohn entgegen«, sagte Berkeley. »Er weiß besser als jeder von Ihnen, wie wichtig es ist, das Vertrauen seiner Opfer zu gewinnen. Aus seiner Sicht mag es aussehen, als liege das in unserer Absicht.«

Jonna war verdutzt. »Wie meinen Sie das?«

»Mrs. Thorne«, erklärte Berkeley geduldig. »In einem Fall wie diesem werden mein Mann und ich nicht als Erstes zu Rate gezogen. Sie haben auf Ihrer Suche nach Graham Denison gewiss keine Mühe, Zeit und Kosten gespart, ohne eine Spur von ihm zu finden. Nicht nur das, mir ist weiterhin klar, dass niemand von Ihnen mit Sicherheit weiß, ob Mr. Denison tatsächlich der verlorene Bruder ist. Er war lediglich der Letzte, in dessen Besitz der Ohrring sich befand. Ist es nicht so?«

»Ja, so ist es«, sagte Jonna.

»Das ist der Beweis, dass Sie alle Wege beschritten haben, um Mr. Denison zu finden, und eigentlich keine Hoffnung mehr haben. Dies, Mrs. Thorne, macht Sie wachsam und misstrauisch. Ich fühle mich nicht sonderlich gekränkt, dass man mich auf die Probe gestellt hat. Ehrlich gestanden hätte ich mich gewundert, wenn meine Fähigkeiten nicht überprüft worden wären. Meine seherische Gabe ist eine große Seltenheit und übersteigt das Fassungsvermögen der meisten Menschen.«

Anderson tätschelte Berkeleys Schulter. Sie redete selten so freimütig, lange und eindringlich, worüber er sich wunderte. Jede Abweichung vom geplanten und eingehend besprochenen Verlauf einer Sitzung beunruhigte ihn. »Vielleicht solltest du den Ohrring jetzt in die Hand nehmen«, drängte er sie behutsam. »Die Herrschaften warten ungeduldig darauf, was du zu sagen hast.«

Berkeley nahm den Ohrring aus Jonnas Hand. Sie wusste nicht, was sie erwarten würde, noch weniger wusste sie, was die anderen von ihr erwarteten. Sie schloss die Finger um den Ohrring und legte die geschlossene Faust an die Brust.

Sogleich setzte ein dröhnendes Rauschen in ihren Ohren ein. Ein erschrockener Laut entfuhr ihr. Sie umschloss die Faust mit der linken Hand, um zu verhindern, dass sie den Ohrring von sich schleuderte. Die Worte kamen ohne ihr Zutun über die Lippen: »Das Baby wurde zuerst geholt.« Hatte sie laut gesprochen? Hatte man sie gehört? Ja, Colin Thorne hatte sie gehört. Der Graf von Rosefield blickte ihr direkt in die Augen und zum ersten Mal verbarg er seine Verwunderung nicht hinter einer Maske.

»Das Baby wurde zuerst geholt«, wiederholte Berkeley. »Er ist so winzig. Ein Säugling. Deshalb wollten sie ihn haben. Sie holten ihn von einem schrecklichen Ort, einem Ort voll Angst und Grauen, voller Gefahren und Entbehrungen.«

Mercedes war bis ans Ende des Sofas gerutscht. Sie hielt die Hände krampfhaft im Schoß gefaltet und beugte sich vor, als sei sie Berkeley noch nicht nahe genug. In ihren grauen Augen waren Angst und Ehrfurcht zu lesen. »Sie spricht von Cunningtons Waisenhaus«, wisperte sie. »Wie kann sie davon wissen?«

Alle Anwesenden waren von Berkeley Shaws Offenbarungen verblüfft und niemand wusste eine Antwort darauf.

Nun sprudelten die Worte aus Berkeley heraus, während sie den Blick auf Colin gerichtet hielt. »Es ist Ihr Wunsch, das Baby möge von diesem Ort weggebracht werden, aber Sie sind auch traurig darüber. Die Leute wollen den anderen Bruder nicht und auch Sie nicht. Das Ehepaar nimmt Ihren jüngsten Bruder mit und Sie wissen nicht, ob Sie ihn je wiedersehen. Dann denken Sie an den Ohrring. Sie stecken den Schmuck zwischen die Windeln. Sie wollen Ihren Bruder später wiederfinden, wenn Sie älter sind, und wollen ihn an dem Ohrring erkennen. Sie werden nie vergessen, wie der Schmuck aussieht. Sein Bild ist in Ihrem Gedächtnis eingeprägt.«

Berkeley schloss die Augen. Das Dröhnen in ihren Ohren hatte nachgelassen. Sie konnte ihre Stimme wieder hören. Hatte sie zu laut gesprochen? Sie versuchte, den Griff um den Ohrring zu lockern, doch ihre Faust ließ sich nicht öffnen. Der goldene Stift bohrte sich in ihre Handfläche. »Ich kann nicht erkennen, was dann geschah. Ich erkenne keine Hinweise … ich glaube, der Ohrring wurde gefunden und aufbewahrt. Niemand berührt ihn … viele Jahre nicht … und dann findet er ihn und …« Berkeleys Stimme verlor sich. »Sehr viel Zorn. Verrat. Er denkt an Rache. Er will Menschen wehtun.« In ihrer Stimme schwang nun Panik, ihre Augen umwölkten sich. »Wieder ist Gefahr. Große Gefahr. Er ist nicht der, der er zu sein vorgibt. Da ist ein anderer. Bitte, nehmen Sie ihn. Ich kann nicht … bitte …«

Jonna wollte Berkeleys Hand ergreifen, doch Decker hielt sie zurück. »Lass sie zu Ende sprechen, wenn sie kann.«

Anderson Shaw nickte. »Ihr Gatte hat Recht. Sie wird sich weigern, den Ohrring noch einmal in die Hand zu nehmen, wenn Sie ihn ihr jetzt wegnehmen. Sie soll zu Ende sprechen.«

Jonna war nicht glücklich mit dieser Entscheidung, zog jedoch ihre Hand zurück. »Wenn Sie mich noch einmal darum bittet …« Sie brauchte den Satz nicht zu Ende zu führen. Ihre Absicht war klar.

Berkeley nahm wahr, dass gesprochen wurde, ohne den Inhalt der Worte zu erfassen. Sie wusste nur, dass sie den Ohrring noch immer in der Hand hielt. Als der nächste heiße Strom von dem Schmuck aufstieg, wurde sie von Übelkeit befallen. Der Raum begann sich zu drehen. »Er kommt zu Ihnen.« Sie stieß die Worte hervor, als werde sie gezwungen, sie gegen ihren Willen auszusprechen. Berkeleys Körper vollzog eine leichte Drehung. Sie blickte über Jonna Thornes Schulter zu Decker, der neben dem Kamin stand. »Er kommt in dieses Haus, zu Ihnen. Er hat Schmerzen. Er fürchtet, sterben zu müssen.« Berkeley furchte die Stirn, die Empfindungen stürmten auf sie ein. »Sie halten den Ohrring in der Hand. Sie denken, er gehört Ihnen.« Ihre Stimme senkte sich zu einem Wispern. »Sie erkennen die Wahrheit erst, als er fort ist. Sie versuchen, ihn einzuholen … Sie schaffen es nicht. Er verschwindet … Er …«

Berkeley schrie auf, erschrocken und gepeinigt. Sie sprang auf die Füße und warf die Arme hoch. Der Ohrring beschrieb einen golden glitzernden Bogen, als er gegen das Fenster geworfen wurde, klirrte gegen die Glasscheibe, ehe er in die Teppichfransen fiel. Alle blickten auf den Ohrring, nur Berkeley starrte auf den Blutstropfen in ihrer Hand.

Sie werden bald wieder Notiz von mir nehmen, dachte sie, als sie in Ohnmacht sank.

***

Berkeleys Lider flatterten. Ihre Stirn furchte sich, sie verzog angeekelt den Mund und versuchte, das Fläschchen Riechsalz wegzuschieben, das ihr unter die Nase gehalten wurde.

»Sie kommt zu sich, Mercedes«, sagte Jonna.

Mercedes verkorkte das Fläschchen und stellte es auf den Tisch neben dem Sofa. Berkeleys Augen wanderten suchend umher. »Mr. Shaw ist mit Colin und Decker in die Bibliothek gegangen«, erklärte Mercedes. »Es war Jonnas Idee, die Herren wegzuschicken. Männer benehmen sich meist unmöglich, wenn eine Dame unpässlich ist.«

»Das war keine Unpässlichkeit«, wehrte Berkeley sich schwach. »Ich bin noch nie in Ohnmacht gefallen.« Sie versuchte sich aufzurichten, wurde jedoch von Mercedes mit sanftem Druck daran gehindert. »Ich sollte jetzt gehen«, sagte Berkeley schwach.

Jonna zog sich einen Stuhl neben das Sofa und setzte sich. »Es war sehr anstrengend für Sie«, sagte sie mitfühlend. »Sie haben gelitten. Darf ich?«

Berkeley, die nicht wusste, was Mrs. Thorne beabsichtigte, nickte benommen. Jonna nahm ihre rechte Hand und drehte sie nach außen.

»Hast du ein Taschentuch, Mercedes? Nie habe ich eines bei mir, wenn ich es brauche.«

Mercedes reichte ihrer Schwägerin ein Taschentuch, die das getrocknete Blut von Berkeleys Handfläche wischte. Sofort quoll ein frischer Blutstropfen aus dem Stich. »Schließen Sie die Faust«, riet Mercedes. »Das stillt die Blutung.«

Jonna faltete Berkeleys Finger um das Taschentuch. »So ist es gut. Sie wollen doch keinen Blutfleck auf Ihr Kleid bringen.«

Berkeley kümmerte es nicht im Geringsten, ob ein Blutfleck auf ihrem Kleid war oder nicht, schwieg aber, um die Damen nicht zu brüskieren, die nach der neuesten Mode gekleidet waren. Sie würden kein Verständnis dafür aufbringen, dass ihre Besucherin keinen Wert auf modische Kleidung legte. Anderson hatte das grüne Kleid für sie gewählt, weil es, wie er behauptete, ihre grünen Augen vorteilhaft zur Geltung brachte. Für Berkeley war das Kleid lediglich eine Art Uniform, die für diese Gelegenheit angebracht war. »Wie habe ich mich verletzt?«

Jonna zog verwundert die dunklen Brauen hoch. »Sie wissen es nicht?«

Mercedes lächelte. »Wenn Mrs. Shaw es wüsste, hätte sie wohl kaum gefragt, Jonna.« Sie wandte sich wieder Berkeley zu. »Ich denke, der Stift des Ohrrings hat sich in Ihre Hand gebohrt. Sie hielten ihn fest umklammert. Ich würde mich nicht wundern, wenn Ihre Finger noch steif sind.«

Berkeley streckte die Finger einzeln. Mercedes Thorne hatte Recht, sie fühlten sich verkrampft an. »Habe ich den Ohrring beschädigt?«

»Nein. Nicht einmal, als Sie ihn von sich geworfen haben.«

»Ich habe ihn von mir geworfen?«

»Ja. Mit aller Kraft. Vermutlich haben Sie so etwas noch nie zuvor getan.«

»Nie«. Berkeley schüttelte heftig den Kopf. »Wer würde mich schon auffordern, wertvolle Gegenstände zu berühren, wenn mir der Ruf vorauseilte, ich werfe sie durch die Gegend?« Ihr Blick flog bittend zwischen Jonna und Mercedes hin und her. »Sie verraten mich doch nicht … Ich meine, das würde meinem Ruf schaden …«

»Seien Sie unbesorgt«, versuchte Jonna sie zu beschwichtigen, und Mercedes nickte zustimmend, worauf Berkeley sich beruhigte. »War ich Ihnen überhaupt eine Hilfe?« Sie bemerkte die verlegenen Blicke der beiden Damen und seufzte. »Vermutlich nicht. Es tut mir leid. Aber aus Ihren Nachforschungen müssten Sie wissen, dass ich nicht immer Erfolg habe. Ich wünschte, ich hätte Ihnen helfen können.«

»Es ist nicht so, dass Sie keinen Erfolg hatten«, widersprach Mercedes. »Aber das meiste von dem, was Sie uns sagten, wussten wir bereits. Es war eine Bestätigung Ihrer übernatürlichen Gabe, aber wir haben keine neue Hoffnung geschöpft, Graham Denison zu finden.«

Jonna strich sich eine schwarz schimmernde Haarlocke hinters Ohr und richtete ihre großen, violetten Augen ernsthaft auf Berkeley. »Vor dreißig Jahren wurden Colin, Decker und Greydon zu Waisen, als ihre Eltern einem Mordanschlag zum Opfer fielen. Die Einzelheiten dieser Tragödie sind hier nicht von Bedeutung.« Sie suchte mit einem Seitenblick Mercedes’ Zustimmung, ehe sie fortfuhr. »Decker war damals vier Jahre alt, Colin acht und Greydon ein Säugling, wie Sie erkannten, als Sie den Ohrring in Händen hielten. Die Kinder kamen in ein Londoner Arbeitshaus für Findlinge und Waisenkinder, ein schrecklicher Ort. Greydon wurde als Erster weggebracht. Colin denkt, das Ehepaar, das ihn abholte, hatte die Absicht, ihn als eigenes Kind auszugeben. Greydon hat wahrscheinlich einen anderen Namen bekommen.«

Mercedes streichelte Berkeleys Handrücken. »Er könnte ein zweites Mal als Graham Denison getauft worden sein.«

»Dann stimmt es also?«, fragte Berkeley. »Habe ich gesagt, dass Greydon und Graham eine Person sind?«

Mercedes schüttelte traurig den Kopf und faltete die Hände im Schoß. »Nein, das haben Sie nicht bestätigt. Sie hatten keine Hoffnung. Ganz im Gegenteil: Ehe Sie in Ohnmacht sanken, sagten Sie uns, Graham Denison sei tot.«

Berkeleys leuchtende Augen wurden groß. »Das habe ich gesagt?«, meinte sie ungläubig. »Sind Sie sicher, dass Sie mich nicht falsch verstanden haben?«

»Ihre Worte waren unmissverständlich«, bestätigte Jonna. »Wir können nur hoffen, dass Sie sich geirrt haben.« Sie zögerte, um dann hastig herauszusprudeln, ehe sie sich eines Besseren besann. »Mein Mann wurde bald, nachdem Greydon abgeholt worden war, von Colin getrennt und von zwei Schaustellern großgezogen, die sich bei dem Leiter des Waisenhauses als Missionarsehepaar ausgegeben hatten. In Wahrheit waren sie Trickdiebe, die Decker dazu anleiteten, sich als Taschendieb auf den Straßen Londons durchzuschlagen. Der Ohrring war tatsächlich sein Talisman, genau wie Sie es gespürt haben. Colin verbrachte einen Großteil seines Lebens damit, seine Brüder zu suchen. Er hatte die Hoffnung bereits aufgegeben, einen von ihnen zu finden, als Decker plötzlich auftauchte. Es wird Sie nicht verwundern zu hören, dass der Ohrring die Brüder zusammenführte. Das liegt nun beinahe zehn Jahre zurück.«

Jonna suchte erneut Mercedes’ Zustimmung, ob sie diese Einzelheiten preisgeben dürfe. Auf ihr Nicken hin fuhr sie fort: »Decker verließ England und kam nach Boston. Auf Colins Vorschlag suchte er Arbeit bei der Remington Schifffahrtslinie. Als Kapitän eines Remington-Schiffes lernte er Graham Denison kennen. Die beiden stellten einige gemeinsame Interessen fest und gingen eine Art Geschäftsverbindung ein, aber sie …«

Berkeley unterbrach sie. »Darf ich etwas zu trinken haben?« Ihre Wangen hatten sich gerötet von der Hitze, die wieder in ihr aufstieg. Obwohl das Fenster geöffnet worden war, um frische Luft einzulassen, war ihr unerträglich heiß.

Mercedes erhob sich eilig. »Natürlich. Wie nachlässig von mir, nicht daran gedacht zu haben. Was darf ich Ihnen bringen lassen?«

»Eine Tasse Tee, bitte.«

Mercedes zog an der Quaste der Klingelschnur neben der Tür, worauf eine junge Schwarze erschien, bei der Mercedes Tee und Gebäck bestellte. »Es dauert nur ein paar Minuten«, sagte sie und setzte sich wieder neben Berkeley.

»Vielen Dank.« Berkeleys Blick wanderte zu Jonna. »Verzeihen Sie. Sie sprachen von gemeinsamen Interessen Ihres Gemahls und Mr. Denisons. Haben diese Interessen etwas mit den Gegnern der Sklaverei zu tun?«

Nie im Leben hätte Jonna das eingestanden. Die Lüge kam ihr ohne Zögern über die Lippen. »Mein Mann hat nichts damit zu tun, obwohl er der Bewegung Sympathien entgegenbringt. Wie Sie zu wissen scheinen, hat Mr. Denison sich unter dem Decknamen Falkner große Verdienste um die Befreiung von Sklaven erworben.« Jonna sah keine Gefahr darin, diese Information preiszugeben. Die Zeitungen zwischen Augusta und Atlanta waren lange Zeit voll davon gewesen und Graham Denison wurde entweder als Held verherrlicht oder als Bösewicht verdammt. Lob und Verdammnis hingen von der geographischen Lage ab. Nördlich der Mason-Dixon-Linie wurde er als Held gefeiert, südlich davon als Verbrecher gebrandmarkt.

Doch die Zeitungen schrieben nicht die ganze Wahrheit und Jonna behielt dieses Geheimnis für sich.

»Mein Gatte und Graham wurden Freunde, ohne sich ihre Vergangenheit anzuvertrauen. Ich glaube, es liegt nicht in ihrer Natur, offen über die eigene Person zu sprechen. Wir wissen, dass Grahams Familie in South Carolina lebt. Er hat einen jüngeren Bruder … Eltern und Großeltern. Remington Shipping pflegt seit vielen Jahren Handelsbeziehungen mit den Denisons, die eine große Plantage in der Nähe von Charleston besitzen. Sie heißt Beau Rivage.« Sie bemerkte Berkeleys fragenden Blick. »Das ist Französisch und heißt ›Schöne Gestade‹.«

Berkeley nickte und versuchte, ihre Verlegenheit zu verbergen. Sie fühlte sich naiv und unerfahren in Gegenwart der Damen, deren Geduld sie bewunderte. Sie hatte ihnen nichts Neues eröffnen können, ihnen lediglich gesagt, was sie ohnehin schon wussten. Und Berkeley fragte sich, ob sie begriffen, dass dies ihre eigentliche Gabe war.

Die Ankunft des Tabletts verhinderte, dass sie mit einem Geständnis herausplatzte. Sie setzte sich auf, während Mercedes Tee aus der Silberkanne einschenkte. Berkeley untersuchte ihre Handfläche und stellte fest, dass die kleine Wunde nicht mehr blutete. Sie nahm die Tasse und trank den heißen Tee. »Wusste Captain Thorne nicht, dass der Ohrring sich in Mr. Denisons Besitz befand?«, fragte sie.

Jonna schüttelte den Kopf. »Erst nachdem Graham die Stadt verlassen hatte. Der Ohrring fand sich bei seinen Sachen, die gewaschen wurden.«

»Eigenartig, wieso er nicht danach gefragt hat.«

»Das dachten wir auch, aber vielleicht lag ihm nicht sehr an dem Schmuckstück, jedenfalls weniger als Decker und Colin. Eine andere Erklärung haben wir nicht.« Seufzend hob sie die Tasse an die Lippen. »Dennoch machten wir uns auf die Suche nach ihm. Decker verfolgte sein Schiff mit unserem schnellsten Segler. Als er die Siren einholte, musste er feststellen, dass Graham in Philadelphia von Bord gegangen war. Das war eine große Überraschung für uns. Die Siren war nach China unterwegs. Graham hatte für die Ozeanüberquerung angeheuert, schien ganz begeistert von der großen Seereise zu sein … und dann verschwand er plötzlich.« Jonna nahm noch einen Schluck Tee, ehe sie die Tasse abstellte. »Das liegt nun etwas länger als fünf Jahre zurück, Mrs. Shaw. Wir haben nie wieder ein Wort von ihm gehört. Ich fürchte beinahe, Graham Denison ist nicht mehr am Leben.«

Mercedes entfuhr ein erschrockener Laut. »Das meinst du nicht im Ernst, Jonna.«

»Doch«, entgegnete sie. »Gott weiß, wie sehr ich wünschte, es wäre anders. Er hat mir das Leben gerettet, Mercedes. Ich verdanke ihm so viel, aber er scheint wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er wissentlich jede Verbindung mit seiner Vergangenheit abgebrochen hat.«

»Vielleicht gibt es einen Grund für sein Verschwinden«, beharrte Mercedes. »Wenn er sich wieder der Untergrundbewegung angeschlossen hat, ist er möglicherweise gezwungen, sich versteckt zu halten.«

»Er hätte uns eine Nachricht zukommen lassen«, entgegnete Jonna. »Ein winziges Lebenszeichen. Die Verbindung zu den Denisons musste er abbrechen, aber es bestand keinerlei Grund, sich vor seinen Freunden zu verstecken.«

Mercedes bestand mit sanfter Beharrlichkeit auf ihrer Meinung. »Das bedeutet nur, dass du seine Beweggründe nicht kennst.«

Berkeleys Tasse klirrte auf der Untertasse. Sie bezwang ihr Zittern und hoffte, dass auch ihre Stimme ihrem Willen gehorchte. »Sie dürfen nicht alles, was mir über die Lippen kam, während ich den Ohrring in der Hand hielt, als absolute Wahrheit nehmen«, erklärte sie.

»Zu diesem Zeitpunkt hatten Sie den Ohrring bereits von sich geschleudert«, entgegnete Jonna. »Sie hielten sich die Ohren zu und waren im Begriff, das Bewusstsein zu verlieren, als Sie uns sagten, Graham Denison sei tot.«

»Waren das meine letzten Worte?« Berkeley ahnte, dass da noch etwas war. Jonna und Mercedes tauschten erneut Blicke, die ihre Scheu verrieten, Berkeley mehr zu sagen. »Bitte, ich erinnere mich nicht, was in diesen letzten Sekunden geschah. Wollen Sie es mir nicht sagen?«

»Mr. Shaw bat uns zu schweigen«, antwortete Mercedes zögernd. »Er meinte, wir würden Sie nur noch mehr aufregen.«

Diesmal vermochte Berkeley ihr Zittern nicht länger zu bezwingen. »Dann muss ich San Francisco erwähnt haben.«

»Ja«, sagte Jonna verwundert. »Ich habe es nicht gehört. Aber Mr. Shaw fing Sie auf, als Sie in Ohnmacht sanken, er las es von Ihren Lippen ab. Das sagte er uns.«

»Wie lauteten meine Worte?«

»›Sie finden ihn in San Francisco.‹« Jonna suchte bei Mercedes Bestätigung.

»Ja, das waren Ihre Worte«, pflichtete sie ihr bei.

»Aber das ergibt keinen Sinn«, widersprach Berkeley. »Ich sagte, Graham Denison sei tot und Sie finden ihn in San Francisco?«

»Für unsere Ehemänner ergab es Sinn«, sagte Jonna. »Sie besprechen mit Mr. Shaw Ihre Reisevorbereitungen, um in San Francisco Nachforschungen anzustellen.«

Berkeley stellte ihre Tasse klirrend ab und sprang jäh auf die Füße. Sie umklammerte die mit Brokat bezogene Armlehne, als ein Schwindelgefühl sie zu übermannen drohte. Dann wehrte sie die Hände ab, die sich schützend nach ihr ausstreckten, und huschte lautlos wie ein Gespenst zur Tür des Nebenzimmers, riss sie auf und flog an die Brust ihres Ehemanns.

Andersons Arme hielten sie mit eiserner Kraft. »Was ist mit dir?« Er sprach geduldig, wie zu einem Kind. »Du bist ganz außer Atem, Berkeley. Hat dich etwas erschreckt?« Er blickte über den hellen Scheitel seiner Frau zu Jonna und Mercedes, die auf der Schwelle standen. Beide Damen machten betretene Gesichter. »Ich verstehe«, meinte er gedehnt. »Sie haben es dir gesagt.«

Berkeley lehnte sich in seinen Armen zurück und reckte ihm ihr Gesicht entgegen. »Ich habe sie darum gebeten, Anderson. Die Damen trifft keine Schuld.«

Mercedes und Jonna bemerkten die missbilligenden Blicke ihrer Ehemänner und senkten die Köpfe.

»Wieso bin ich nicht erstaunt?« Decker näherte sich Jonna. Er trug die Lackschatulle unterm Arm.

Jonna presste die Lippen aufeinander, wodurch das Grübchen in ihrem Mundwinkel sich vertiefte.

Colin führte Anderson und Berkeley in den Salon zurück. Mrs. Shaw wirkte genauso erregt, wie ihr Ehemann es vorhergesagt hatte. Er hatte sie gewarnt, Berkeley würde nichts davon hören wollen, nach San Francisco zu reisen.

»Es ist bereits entschieden«, erklärte Colin seiner Frau. »Mr. und Mrs. Shaw treten in drei Tagen auf einem Remington-Postschiff die Reise nach San Francisco an. Wir werden regelmäßig Berichte über ihre Fortschritte von den Kapitänen unserer Schiffe erhalten, die San Francisco anlaufen. Wir haben uns auf eine Geldsumme geeinigt, die ihnen auch bei den hohen Preisen in San Francisco ein sorgenfreies Leben gewährleistet. Wenn ihre Nachforschungen zufriedenstellend ausfallen, erhalten sie eine zusätzliche Belohnung.«

Berkeley spürte, wie die große Hand ihres Mannes sich um ihre Mitte festigte. Dennoch drängte es sie, mehr über die Bedingungen zu erfahren. »In welcher Form wäre dieser Handel zufriedenstellend abzuschließen?«, fragte sie.

Es war Decker, der ihre Frage beantwortete. »Der Beweis, dass Graham Denison tot ist oder mein Bruder Greydon lebt. Die eine Lösung schließt die andere aus.« Er machte eine Pause. »Vielleicht aber auch nicht.«

Berkeley blickte ihn unverwandt an. Er konnte nicht ahnen, was er damit andeutete.

Decker öffnete die Lackschatulle und hielt sie Berkeley hin. Nun lagen drei Ohrringe auf dem schwarzen Samtkissen. »Sie haben alle drei in der Hand gehalten«, sagte er. »Wählen Sie und nehmen Sie den Ohrring heraus, der Greydon mitgegeben wurde.«

Berkeley zog den Atem scharf ein. »Das kann nicht Ihr Ernst sein. Wollen Sie uns tatsächlich Ihren Familienschmuck anvertrauen?«

Decker verengte die blauen Augen, während er sie sinnend betrachtete. »Ich vertraue darauf, dass Sie die richtige Wahl treffen, Mrs. Shaw. Dies ist Ihre letzte Prüfung.«