Leseprobe Das skandalöse Spiel der Lady

1. Kapitel

Es war einmal ein armer Graf, der lebte in einem fernen Land und hatte drei Töchter …
Der Rabenprinz

Little Battleford, England

März 1760

Das Zusammentreffen eines zu schnell galoppierenden Pferdes, einer schlammigen Wegbiegung und einer zu Fuße gehenden Dame ist selten von Vorteil. Selbst unter den günstigsten Umständen ist die Wahrscheinlichkeit eines glimpflichen Ausgangs betrüblich gering. Doch wenn gar noch ein Hund hinzukommt – ein sehr großer Hund –, dann, so dachte Anna Wren bei sich, musste das Verhängnis wohl unausweichlich sein.

Besagtes Pferd machte einen plötzlichen Sprung zur Seite, als es Anna vor sich auf dem Weg erblickte. Die Englische Dogge, die neben dem Pferd einherlief, reagierte auf ihre Weise und rannte ihm vor die Füße, was wiederum das Pferd dazu veranlasste, sich aufzubäumen. Hufe so groß wie Untertassen schlugen in die Luft. Und so war es unvermeidlich, dass der stattliche Reiter seines Sitzes auf dem Pferderücken enthoben wurde. Der Mann fiel Anna zu Füßen wie ein abgeschossener Habicht, wenn auch weniger anmutig. Seine langen Glieder weit von sich gestreckt, verlor er bei seinem Sturz sowohl seine Reitpeitsche als auch seinen Dreispitz und landete mit einem beachtlichen Platsch in einer schlammigen Pfütze. Ein Schwall schmutzigen Wassers spritzte vor Anna auf und durchnässte sie.

Allesamt verharrten sie reglos, einschließlich des Hundes.

Dummkopf, dachte Anna, aber das war keineswegs, was sie sagte. Respektable Witwen eines bestimmten Alters – einunddreißig in zwei Monaten – werfen Gentlemen keine Schimpfworte an den Kopf, und seien sie noch so gerechtfertigt. Nein, ganz gewiss nicht.

„Ich hoffe, Sie haben sich nicht verletzt bei Ihrem Sturz“, sagte sie stattdessen. „Dürfte ich Ihnen beim Aufstehen behilflich sein?“ Mit zusammengebissenen Zähnen lächelte sie den klitschnassen Mann an.

Er erwiderte ihre Nettigkeiten indes nicht. „Was zum Teufel tun Sie hier mitten auf dem Weg, törichtes Weib?“

Der Mann hievte sich aus der Pfütze empor. Dann baute er sich in jener verdrießlichen Weise vor Anna auf, die Gentlemen an sich haben, wenn sie versuchen, gewichtig zu erscheinen, nachdem sie sich soeben blamiert haben. Das schmutzige Wasser, das sein blasses pockennarbiges Gesicht hinabrann, ließ ihn einen schrecklichen Anblick sein. Schwarze Wimpern umkränzten dicht und sinnlich seine dunkel schimmernden Augen, nur konnte das kaum von der großen Nase, dem wuchtigen Kinn und den schmalen zusammengepressten Lippen ablenken.

„Es tut mir sehr leid.“ Anna lächelte unbeeindruckt. „Ich lief gerade nach Hause. Wenn ich natürlich geahnt hätte, dass Sie die ganze Wegesbreite für sich beanspruchen würden …“

Doch scheinbar war seine Frage rein rhetorisch gewesen. Der Mann stiefelte davon und ließ sie mit ihrer Erklärung stehen. Auch seine Peitsche und den Hut beachtete er nicht. Stattdessen pirschte er sich an sein Pferd heran, wobei er leise und in seltsam beruhigender, monotoner Weise vor sich hin fluchte.

Der Hund setzte sich, um sich das Spektakel anzuschauen.

Das Pferd, rotbraun und knochig, hatte seltsam helle Flecken im Fell, die ihm ein wenig vorteilhaftes räudiges Aussehen verliehen. Es verdrehte wild die Augen, als es den Mann auf sich zukommen sah, und tänzelte einige Schritte zurück.

„So ist’s recht. Zier dich wie eine Jungfrau, wenn man sie das erste Mal in die Titten kneift, du widerwärtiges, von den Würmern angefressenes Biest“, raunte der Mann dem verwirrten Tier zu. „Wenn ich dich zu fassen bekomme, du unglückselige Ausgeburt einer buckeligen Eselin, die sich von einem siechen Kamel hat bespringen lassen, dann werde ich dir deinen verkrüppelten Hals umdrehen, das schwöre ich dir.“

Das Pferd wackelte mit seinen zu groß geratenen Ohren, um dem schmeichelnden Bariton besser lauschen zu können. Zögerlich machte es einen Schritt vor. Anna konnte es dem Tier nachempfinden. Sie empfand die Stimme des unansehnlichen Mannes wie eine Feder, die leicht ihre Fußsohle streifte: irritierend und verlockend zugleich. Sie fragte sich, ob er wohl genauso klang, wenn er um die Gunst einer Frau warb. Blieb nur zu hoffen, dass er dann andere Worte wählte.

Schließlich war er dem betörten Pferd nah genug, um es beim Zaum zu fassen. Er blieb stehen und murmelte weitere Obszönitäten, dann schwang er sich mit einer wendigen Bewegung in den Sattel. Seine muskulösen Schenkel, dank der völlig durchnässten wildledernen Reithose unziemlich gut zu erkennen, schlossen sich fest um den Pferdeleib, als er das Tier wieder auf Kurs brachte.

Er neigte sein entblößtes Haupt vor Anna. „Guten Tag, Madam.“ Ohne sich noch einmal umzublicken, preschte er davon, den rennenden Hund an seiner Seite. Im nächsten Moment schon war er nicht mehr zu sehen, bald darauf war auch der Hufschlag verklungen.

Anna blickte zu Boden.

Ihr Korb lag in der Pfütze, sein Inhalt – ihr morgendlicher Einkauf – auf dem Weg verstreut. Sie musste ihn fallen gelassen haben, als sie vor dem Pferd zur Seite gesprungen war. Nun sickerte das Dotter aus einem halben Dutzend zerschlagener Eier in das schmutzige Wasser, und ein einsamer Hering beäugte sie vorwurfsvoll, als gebe er ihr die Schuld an seiner unwürdigen Lage. Sie hob den Fisch auf und wischte ihn ab. Zumindest er konnte noch gerettet werden. Ihr graues Kleid hingegen war in beklagenswertem Zustand, wenngleich seine ursprüngliche Farbe sich nicht allzu sehr unterschied von der des Schlammes, der es nun verdreckte. Anna zupfte an den Röcken, die ihr nass an den Beinen klebten, und ließ sie seufzend wieder fallen. Sie sah sich um, blickte den Weg erst hinauf und dann hinunter. Über ihr schüttelte der Wind die kahlen Zweige der Bäume. Der Weg war menschenleer.

Anna holte tief Luft und sagte das Unsägliche laut vor Gott und ihrer eigenen unsterblichen Seele: „Verdammter Mistkerl!“ Sie hielt den Atem an und wartete darauf, dass ein Blitzschlag sie treffe oder vielleicht eher ein Anflug von Schuld sie überkomme. Doch beides blieb aus, was sie eigentlich hätte beunruhigen sollen. Immerhin gehörte es sich nicht, dass eine Dame einen Gentleman verfluchte, ganz gleich, wie berechtigt der Anlass auch sein mochte.

Und schließlich war sie doch eine respektable Dame, oder etwa nicht?

Bis sie schließlich den Pfad zu ihrem Häuschen hinauflief, waren ihre Röcke steif getrocknet und machten jeden Schritt beschwerlich. Im Sommer, wenn üppige Blütenpracht den kleinen Garten vor dem Haus erfüllte, wirkte es sehr freundlich, doch zu dieser Jahreszeit herrschte auch hier noch trist dunkelbraunes Erdreich vor. Ehe Anna am Haus angelangt war, tat sich bereits die Tür auf. Eine kleine Frau mit taubengrauen Löckchen, die ihr munter um die Schläfen wippten, spähte hinaus.

„Oh, da bist du ja endlich.“ Die Frau winkte mit einem Holzlöffel und spritzte sich dabei ein wenig Bratensoße auf die Wange. „Fanny und ich haben Hammeleintopf gemacht, und ich finde, dass ihre Soßen schon viel besser geworden sind. Wirklich, man kann kaum noch Klümpchen darin sehen.“ Sie beugte sich vor und flüsterte: „Aber an den Knödeln arbeiten wir noch. Ich fürchte, sie haben eine recht ungewöhnliche Konsistenz.“

Anna lächelte ihre Schwiegermutter müde an. „Ich bin mir sicher, dass der Eintopf wunderbar schmecken wird.“ Sie trat in den engen Hausflur und stellte ihren Korb ab.

Zunächst strahlte die ältere Frau noch über das ganze Gesicht, doch als Anna dann an ihr vorbeiging, rümpfte sie die Nase. „Du riechst ja ganz seltsam, meine Liebe …“ Ihr Blick fiel auf Annas Rüschenhaube. „Und warum hast du nasse Blätter auf deiner Haube?“

Anna schnitt eine Grimasse und hob die Hand, um nach ihrer Haube zu tasten. „Ich fürchte, dass mich unterwegs ein kleines Malheur ereilt hat.“

„Ein Malheur?“ Mutter Wren ließ vor Aufregung den Löffel fallen. „Bist du verletzt? Aber schau nur dein Kleid an! Du siehst ja aus, als hättest du dich im Schweinepfuhl gesuhlt.“

„Es ist nicht so schlimm, nur ein bisschen nass und schmutzig.“

„Wir müssen dir sofort etwas Trockenes anziehen, meine Liebe. Und deine Haare … Fanny!“, unterbrach Mutter Wren sich, um in die ungefähre Richtung der Küche zu rufen. „Wir müssen es waschen. Dein Haar, meine ich. Warte, lass mich dir die Treppe hinaufhelfen. Fanny!“

Ein Mädchen, das ganz aus spitzen Ellenbogen, geröteten Händen und einem karottenroten Haarschopf zu bestehen schien, kam in den Flur gehuscht. „Was is’?“

Mutter Wren blieb hinter Anna auf der Treppe stehen und beugte sich über das Geländer. „Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass es ‚Ja, Madam?‘ heißt? Du wirst nie eine Anstellung in einem herrschaftlichen Haus bekommen, solange du nicht ordentlich zu sprechen weißt.“

Fanny sah mit leicht geöffnetem Mund zu den beiden Frauen hinauf und blinzelte.

Mutter Wren seufzte leise. „Stell einen Topf Wasser aufs Feuer. Miss Anna möchte sich die Haare waschen.“

Das Mädchen eilte zurück in die Küche, streckte dann aber noch einmal kurz ihren Kopf aus der Tür. „Ja, Mam.“

Die steilen Stufen führten auf einen schmalen Treppenabsatz. Links war das Zimmer der älteren Mrs. Wren, rechts das von Anna. Sie trat in ihre bescheidenen Räumlichkeiten und geradewegs vor den Spiegel, der über der Frisierkommode hing.

„Ich weiß wirklich nicht, was aus dem Städtchen noch werden soll“, schnaufte ihre Schwiegermutter hinter ihr. „Hat eine Droschke dich nass gespritzt? Manche dieser Postkutscher fahren schlicht unverantwortlich. Sie denken, dass ihnen die Straße ganz allein gehört.“

„Da bin ich völlig Ihrer Ansicht“, erwiderte Anna, während sie ihr Spiegelbild musterte. Über dem Rahmen hing ein verblichener Kranz aus getrockneten Apfelblüten, eine Erinnerung an ihre Hochzeit. „Aber diesmal war es ein einzelner Reiter.“ Ihr Haar sah aus wie ein Vogelnest, und sie hatte kleine Schlammspritzer auf der Stirn.

„Noch schlimmer, diese Gentlemen zu Pferde“, murmelte die ältere Frau. „Also, ich denke ja, dass manche von denen ihre Tiere überhaupt nicht zu bändigen wissen. Furchtbar gefährlich. Eine Gefahr für Frauen und Kinder.“

„Mmh.“ Anna streifte sich ihr Schultertuch ab und stieß sich das Schienbein an einem Stuhl, während sie umherging. Sie sah sich in dem winzigen Zimmer um. Hier hatten sie und Peter die gesamten vier Jahre ihrer Ehe zugebracht. Sie hängte das Tuch und ihre Haube an jenen Garderobenhaken, wo früher stets Peters Rock gehangen hatte. Der hölzerne Schemel, auf dem sich einst seine gewichtigen Bände mit Gesetzestexten gestapelt hatten, diente ihr als kleiner Nachttisch. Die Bürste, in deren Borsten noch immer einige von Peters roten Haaren hingen, hatte sie vor langer Zeit schon weggepackt.

„Wenigstens konntest du den Hering retten“, meinte Mutter Wren weiter. „Wenngleich ich bezweifle, dass ein Bad im Schlamm seinen Geschmack verbessert haben wird.“

„Gewiss nicht“, erwiderte Anna abwesend. Ihr Blick kehrte zu dem welken Brautkranz zurück. Er fiel bereits auseinander. Kein Wunder, denn immerhin war sie nun schon seit sechs Jahren verwitwet. Grässliches Ding. Sie streifte ihn kurz entschlossen vom Rahmen und ließ ihn auf den Kommodentisch fallen, um ihn später hinunter in den Garten zu bringen und auf den Haufen mit den Küchenabfällen zu werfen.

„Warte, meine Liebe, lass mich dir helfen.“ Mutter Wren fing an, die Haken und Ösen ihres Kleides zu öffnen. „Das müssen wir gleich mit dem Schwamm bearbeiten. Um den Saum herum ist besonders viel Schlamm. Vielleicht könnte ich auch eine neue Bordüre …“ Ihre Stimme war nur noch gedämpft zu hören, da sie sich vornüber gebückt hatte. „Oh, da fällt mir ein, hast du meine Spitze an die Putzmacherin verkaufen können?“

Anna streifte sich das Kleid ab und stieg aus den Röcken heraus. „Ja, ihr hat sie sehr gut gefallen. Sie meinte, es wäre die beste Spitze, die sie seit Langem zu sehen bekommen hat.“

„Nun ja, ich mache das ja auch schon seit bald vierzig Jahren.“ Mutter Wren versuchte, dennoch bescheiden zu wirken. Sie räusperte sich. „Und wie viel hat sie dir dafür gezahlt?“

Anna zuckte kurz zusammen. „Einen Shilling und Sixpence“, sagte sie und griff nach ihrem fadenscheinigen Morgenmantel.

„Aber ich habe fünf Monate daran gearbeitet!“, stieß Mutter Wren hervor.

„Ich weiß.“ Anna seufzte und ließ ihr Haar herab. „Wie ich schon sagte, die Putzmacherin fand Ihre Klöppeleiarbeiten wunderschön. Nur leider bringt Spitze nicht viel ein.“

„Und ob es das tut, wenn sie mit meiner Spitze erst einmal eine Haube oder ein Kleid verziert hat“, grummelte Mutter Wren.

Mitfühlend verzog Anna das Gesicht. Dann nahm sie ein Badetuch von einem der Haken an den Dachsparren, und schweigend gingen die beiden Frauen wieder nach unten.

In der Küche wachte Fanny über den Wasserkessel. Es roch nach getrockneten Kräutern, die bündelweise von den schwarzen Deckenbalken herabhingen. Eine Seite des Raumes wurde ganz von der alten, aus Ziegelsteinen gemauerten Feuerstelle eingenommen. Gegenüber war ein von Vorhängen gerahmtes Fenster, durch das man auf den Garten hinausblicken konnte. Kraus und zartgrün reihten sich die frühen Salatköpfe in dem kleinen Beet. Auch die Rüben und Rettiche waren seit einer Woche reif.

Mutter Wren stellte eine angeschlagene Schüssel auf den Küchentisch. Er war von den vielen Jahren, da er schon benutzt wurde, blank gescheuert und nahm inmitten der kleinen Küche einen Ehrenplatz ein. Nur nachts wurde er an die Wand geschoben, damit das Mädchen Platz hatte, sich vor dem Feuer schlafen zu legen.

Fanny brachte den Kessel herbei. Anna beugte sich über die Schüssel, und Mutter Wren goss ihr das Wasser über den Kopf. Es war lauwarm.

Anna seifte sich ihr Haar ein und holte tief Luft. „Ich fürchte, wir müssen hinsichtlich unserer finanziellen Situation etwas unternehmen.“

„Jetzt sag nicht, dass wir noch mehr sparen sollen, Liebes“, erklärte Mutter Wren stöhnend. „Wir verzichten doch schon auf frisches Fleisch – abgesehen von Hammelfleisch jeden Dienstag und Donnerstag. Und wir haben uns beide seit Ewigkeiten kein neues Kleid mehr gegönnt.“

Anna war nicht entgangen, dass ihre Schwiegermutter die Kosten für Fannys Unterhalt nicht erwähnt hatte. Dem Anschein nach war sie ihnen zwar Hausmädchen und Köchin in einer Person, aber in Wirklichkeit war ihre Anwesenheit im Hause der Wrens wohltätigen Ursprungs. Das Mädchen war gerade einmal zehn Jahre alt gewesen, als ihr Großvater starb, der auch ihr einziger Angehöriger war. Damals hatte es im Dorf geheißen, man solle Fanny ins Armenhaus schicken, was Anna jedoch zu verhindern wusste. Seitdem lebte das Mädchen bei ihnen. Mutter Wren hatte zudem die Hoffnung noch nicht aufgegeben, sie auf eine Anstellung in einem größeren Haushalt vorzubereiten, bislang machte Fanny indes nur bescheidene Fortschritte.

„Sie haben bislang sehr gut Haus gehalten“, meinte Anna, während sie sich den spärlichen Schaum in die Haare massierte. „Aber die Investitionen, die Peter uns hinterlassen hat, entwickeln sich nicht mehr so gut wie einst. Seit er verstorben ist, hat sich unser Einkommen beständig verringert.“

„Es ist eine Schande, dass er uns nur so wenig hinterlassen hat, um unser Leben zu bestreiten“, befand Mutter Wren.

Anna seufzte. „Es war nicht seine Absicht, uns eine so geringe Summe zu hinterlassen. Er war ja noch ein junger Mann, als das Fieber ihn dahingerafft hat. Hätte er länger gelebt, würde er wohl ein beträchtliches Vermögen aufgebaut haben, dessen bin ich mir gewiss.“

Es war tatsächlich so, dass Peter ihre Finanzen seit dem Tod seines Vaters, der kurz vor ihrer Hochzeit gestorben war, erheblich verbessert hatte. Der alte Wren war Anwalt gewesen, doch einige schlecht beratene Investitionen hatten ihn in Schulden gestürzt. Gleich nach der Hochzeit hatte Peter das Haus verkauft, in dem er aufgewachsen war, um mit dem Erlös die Schulden zu begleichen. Mit seiner frisch angetrauten Braut und seiner verwitweten Mutter war er dann in das viel kleinere Cottage gezogen. Er hatte selbst gerade als Anwalt zu arbeiten begonnen, als er erkrankt und zwei Wochen darauf gestorben war.

Und es Anna überlassen hatte, für den kleinen Haushalt zu sorgen. „Bitte ausspülen.“

Ein Schwall kalten Wassers ergoss sich ihr über Kopf und Nacken. Sie prüfte kurz, ob auch alle Seife herausgespült war, dann wrang sie ihre nassen Haare aus, wickelte sich das Handtuch um den Kopf und sah auf. „Ich denke, ich sollte mir eine Anstellung suchen.“

„Oh, nicht doch, meine Liebe!“ Mutter Wren ließ sich auf einen Küchenstuhl sinken. „Eine Dame arbeitet nicht.“

Anna musste schmunzeln. „Wäre es Ihnen lieber, ich bliebe eine Dame, und wir würden verhungern?“

Mutter Wren zögerte, als würde sie diese Möglichkeit durchaus in Erwägung ziehen.

„Das war nicht ernst gemeint“, sagte Anna rasch. „Es wird nicht so weit kommen, dass wir verhungern müssten. Aber wir brauchen dennoch mehr Einkünfte.“

„Vielleicht könnten wir versuchen, mehr Spitze zu verkaufen? Oder … oder ich verzichte ganz auf Fleisch“, schlug ihre Schwiegermutter ein wenig verzweifelt vor.

„Ich möchte aber nicht, dass Sie das tun. Und wozu hat mein Vater mir eine so gute Schulbildung zukommen lassen?“

Mutter Wrens Miene hellte sich auf. „Dein Vater war der beste Pfarrer, den Little Battleford je gehabt hat, Gott hab ihn selig. Und seine Ansichten über eine angemessene Bildung für alle Kinder hat er ja wahrlich nie verhehlt.“

„Mmmh.“ Anna wickelte sich das Tuch wieder vom Kopf und begann, sich ihr nasses Haar auszukämmen. „Er hat immerhin dafür gesorgt, dass ich Lesen, Schreiben und Rechnen lerne, sogar ein wenig Griechisch und Latein kann ich. Ich werde mich morgen wohl nach einer Stelle als Gouvernante oder Gesellschafterin umsehen.“

„Die alte Mrs. Lester ist fast völlig erblindet. Bestimmt würde ihr Schwiegersohn dich anstellen, damit du ihr etwas vorliest …“ Mutter Wren brach unvermittelt ab.

Im selben Moment stieg Anna ein beißender Geruch in die Nase. „Fanny!“

Das Hausmädchen hatte ganz gebannt die Unterhaltung ihrer beiden Dienstherrinnen verfolgt. Nun schrie sie erschrocken auf und lief ganz aufgescheucht zu der Kasserolle mit Hammeleintopf, die über dem Feuer schmorte.

Anna stöhnte. Schon wieder angebranntes Abendessen.

Vor der Tür zur Bibliothek des Earl of Swartingham blieb Felix Hopple kurz stehen, um sein Äußeres zu prüfen. Seine Perücke mit den beiden straff ondulierten Rollmopslöckchen war frisch gepudert, in einer sehr vorteilhaften violetten Schattierung. Seine für sein Alter noch recht grazile Figur war angetan mit einer rehbraunen Weste, eingefasst mit Bordüren, auf denen sich gelbe Blätter rankten. Und seine Strümpfe waren grün und orange gestreift – sehr schick, ohne extravagant zu sein. Kurzum: Seine Garderobe war vollendet. Es bestand wahrlich kein Grund, so zögerlich vor der Tür zu stehen.

Er seufzte. Der Earl konnte von beunruhigend aufbrausendem Temperament sein. Als Verwalter von Ravenhill Abbey hatte Felix den ungehaltenen Ton seines Dienstherrn während der letzten zwei Wochen des Öfteren vernehmen müssen. Er kam sich dann immer vor wie einer jener unglückseligen Gentlemen, von denen man in Reiseberichten lesen konnte, wie sie im Schatten bedrohlicher Vulkane lebten. Vulkane, die jederzeit ausbrechen konnten. Warum Lord Swartingham sich nach Jahren der friedvollen Abwesenheit wieder entschieden hatte, auf seinem Landsitz zu residieren, war Felix ein Rätsel, doch hatte er das ungute Gefühl, dass der Earl für lange, lange Zeit zu bleiben gedachte.

Bedächtig strich er sich über das Wams und kam zu dem Schluss, dass die Angelegenheit, mit der er den Earl behelligen musste, zwar höchst unerfreulich, ihm jedoch keineswegs als seine Schuld auszulegen war. Derart moralisch gestärkt, nickte er entschlossen und klopfte an die Tür zur Bibliothek.

Es folgte Stille, bevor eine tiefe, feste Stimme befahl: „Herein!“

Die Bibliothek war im Westflügel des Herrenhauses gelegen, und durch die hohen, weiten Fenster fiel strahlend hell die späte Nachmittagssonne herein. Man sollte meinen, dass dies der Bibliothek eine freundliche und warme Atmosphäre verliehen hätte, doch irgendwie wurden die Sonnenstrahlen von dem weitläufigen Raum verschluckt, kaum dass sie hereingelangt waren. Im Großteil der Bibliothek herrschte tiefes Dämmerlicht. Die Gewölbedecke – ganze zwei Geschoss hoch – war von düsteren Schatten verhangen.

Der Earl saß hinter einem ausladenden barocken Schreibtisch, der einen weniger imposanten Mann zwergenhaft hätte erscheinen lassen. Nahebei versuchte ein Feuer lustig und anheimelnd zu brennen, scheiterte jedoch kläglich. Ein riesiger, braun gescheckter Hund lag vor dem Kamin hingestreckt, als ob er tot sei. Felix zuckte zusammen. Der Hund war ein Mischling mit einem beträchtlichen Anteil Englischer Dogge und vielleicht noch ein wenig Wolfshund. Herausgekommen war ein hässliches, bösartig aussehendes Wesen, dem er tunlichst aus dem Wege ging.

Felix räusperte sich. „Wenn ich einen Moment stören dürfte, Mylord …“

Lord Swartingham sah von dem Schreiben auf, das er in der Hand hielt. „Was gibt es denn nun schon wieder, Hopple? Kommen Sie rein, Mann. Setzen Sie sich, während ich das hier zu Ende lese. Gleich werde ich Ihnen meine ungeteilte Aufmerksamkeit widmen.“

Felix ging zu einem der Sessel, die vor dem schweren Mahagonitisch standen, und sank in die weichen Polster, wobei er den Hund keine Sekunde aus den Augen ließ. Dann jedoch nutzte er die Gnadenfrist dazu, seinen Dienstherrn zu mustern und Mutmaßungen über dessen Laune anzustellen. Mit finster gerunzelter Braue blickte der Earl auf das Schriftstück vor ihm. Die Pockennarben in seinem Gesicht machten diese Miene nicht gerade einnehmender. Aber das musste keineswegs ein schlechtes Zeichen sein. Der Earl sah für gewöhnlich finster drein.

Lord Swartingham legte die Papiere mit ungehaltener Geste beiseite, nahm die Lesebrille mit den kleinen ovalen Gläsern ab und lehnte sich so ungestüm in seinem Sessel zurück, dass dieser unter seinem nicht unerheblichen Gewicht laut ächzte. Felix zuckte abermals zusammen, diesmal aus Mitgefühl mit dem Mobiliar.

„Und, Hopple?“

„Mylord, es gibt unerfreuliche Neuigkeiten, die Sie aber hoffentlich nicht allzu sehr aufregen werden.“ Er lächelte verhalten.

Schweigend blickte der Earl seinen Verwalter an.

Felix zupfte an seinen Manschetten herum. „Mr. Tootleham, den neuen Sekretär, haben Nachrichten von einem familiären Notfall ereilt, weswegen er sich recht kurzfristig genötigt sah, seine Kündigung einzureichen.“

Noch immer war der Miene des Earls keine Regung anzusehen, wenngleich er mittlerweile mit den Fingern auf die Armlehne zu trommeln begonnen hatte.

Rasch sprach Felix weiter: „Es scheint so, als wären Mr. Tootlehams Eltern, die in London leben, durch ein Fieber ans Bett gebunden und würden seiner Hilfe bedürfen. Es ist wohl ein sehr heftiges Fieber, mit starken Schweißausbrüchen und Durchfall, sehr … sehr ansteckend.“

Der Earl hob eine seiner schwarzen Brauen.

„Um … um ganz genau zu sein, so haben auch Mr. Tootlehams beide Brüder, seine drei Schwestern, die gebrechliche Großmutter, eine Tante und die Hauskatze sich angesteckt und sehen sich daher völlig außerstande, für sich selbst zu sorgen.“ Felix hielt inne und schaute den Earl an.

Schweigen.

Felix rang redlich darum, sich weiteres Gerede zu versagen.

„Die Hauskatze?“, meinte Lord Swartingham da mit leise grollender Stimme.

Gerade wollte Felix stammelnd zu einer Erwiderung ansetzen, als er von einer gebrüllten Unflätigkeit unterbrochen wurde. Mit letzthin neu erworbener und mittlerweile sehr anmutiger Geübtheit ging er in Deckung, während der Earl ein Keramikschälchen zur Hand nahm und über Felix Kopf hinweg in Richtung Tür schleuderte. Laut berstend ging es zu Bruch, die Scherben fielen etwas leiser klirrend zu Boden. Der Hund, scheinbar schon lange daran gewöhnt, wie Lord Swartingham seinem Ärger Luft zu machen pflegte, seufzte nur.

Lord Swartingham atmete schwer und schien Felix mit seinen rabenschwarzen Augen durchbohren zu wollen. „Ich nehme an, Sie haben bereits Ersatz gefunden.“

Plötzlich wurde Felix seine Halsbinde ein wenig zu eng. Er fuhr sich mit dem Finger darunter. „Nun, um genau zu sein, Mylord, obwohl ich natürlich sehr … sehr gründlich gesucht habe … in allen Dörfern hier in der Umgebung habe ich bereits gesucht … so habe ich doch noch nicht …“ Er schluckte und erwiderte tapfer den Blick seines Dienstherrn. „Ich fürchte, noch keinen neuen Sekretär gefunden zu haben.“

Lord Swartingham rührte sich nicht. „In vier Wochen werde ich im Rahmen der Vorlesungsreihe der Agrarwissenschaftlichen Gesellschaft einen Vortrag halten und brauche einen Sekretär, um eine Reinschrift meines Manuskriptes anzufertigen“, sagte er unheilvoll langsam und betont deutlich. „Vorzugsweise jemanden, der länger als zwei Tage bleibt. Finden Sie gefälligst so jemand!“ Damit griff er nach seinen Unterlagen und wandte sich wieder der Lektüre zu.

Die Audienz war vorüber.

„Jawohl, Mylord.“ Felix sprang eiligst auf und rannte zur Tür. „Ich werde sofort mit der Suche beginnen, Mylord.“

Lord Swartingham wartete, bis Felix schon fast die rettende Tür erreicht hatte, bevor er noch einmal lospolterte: „Hopple!“

Wie auf der Flucht ertappt, nahm Felix schuldbewusst die Hand vom Türknauf. „Mylord?“

„Sie haben Zeit bis übermorgen früh.“

Felix blickte auf den noch immer über seine Unterlagen gebeugten Kopf seines Dienstherrn und schluckte. Er fühlte sich, wie Herkules sich gefühlt haben musste, als er zum ersten Mal die Stallungen des Augias erblickt hatte. „Jawohl, Mylord.“

Edward de Raaf, der fünfte Earl of Swartingham, hatte den Bericht über sein Anwesen in North Yorkshire zu Ende gelesen und warf ihn samt der Lesebrille auf einen Stapel anderer Unterlagen. Das hereinfallende Licht schwand rasch dahin und würde bald ganz der Dunkelheit gewichen sein. Er erhob sich aus seinem Sessel und ging zum Fenster hinüber. Auch der Hund erhob sich, streckte sich, tappte seinem Herrn hinterher und stupste ihn an der Hand. Gedankenverloren kraulte Edward ihn hinter den Ohren.

Das war nun schon der zweite Sekretär, dachte er, der sich in gerade einmal zwei Wochen bei Nacht und Nebel davonmachte. Man könnte fast meinen, er sei ein Ungeheuer. Beide Sekretäre waren aber auch wirklich mehr Maus als Mann gewesen. Sobald man ein wenig aufbrauste, die Stimme erhob, huschten sie verschreckt davon. Wenn wenigstens einer seiner Sekretäre nur halb so viel Schneid gehabt hätte wie die Frau, die er gestern fast über den Haufen gerannt hätte … Seine Lippen zuckten belustigt. Ihm war ihre sarkastische Erwiderung auf seine Frage, was sie da mitten auf dem Weg mache, keineswegs entgangen. Nein, diese Frau hatte sich nicht einschüchtern lassen, als er Wut und Feuer gespien hatte. Schade, dass seine Sekretäre dessen nicht ebenso fähig waren.

Finster blickte er hinaus in die Dunkelheit. Und dann wäre da noch ein weiterer, ihm indes sehr zusetzender … Verdruss. Das Zuhause seiner Kindheit glich nicht mehr dem seiner Erinnerung.

Natürlich nicht, er war ja nun erwachsen. Als er Ravenhill Abbey zuletzt gesehen hatte, war er noch ein junges Bürschchen gewesen, das den Verlust seiner gesamten Familie betrauert hatte. In den zwei Jahrzehnten, die seitdem vergangen waren, hatte er abwechselnd auf seinen Gütern im Norden und in seinem Londoner Stadthaus gelebt. Doch an beiden Orten hatte er sich eigentlich nie so recht zu Hause gefühlt. Der Abbey hingegen war er ferngeblieben, weil er wusste, dass es dort nie wieder so sein würde wie damals, als seine Familie noch lebte. Natürlich hatte er sich auf Veränderungen gefasst gemacht – aber nicht auf solche Trostlosigkeit. Oder dieses entsetzliche Gefühl der Einsamkeit. Die verlassenen Flure und leer stehenden Zimmer setzten ihm zu, verhöhnten ihn mit der Erinnerung an das Lachen, das einst aus ihnen erklungen, und das warme Licht, das sie einst erfüllt hatte.

Der Erinnerung an seine Familie.

Einzig aus dem Grund hatte er darauf bestanden, das Herrenhaus wieder wohnlich herrichten zu lassen, weil er hoffte, seine Braut hierher zu bringen – seine zukünftige Braut, sollte den Verhandlungen über den Ehevertrag denn Erfolg beschieden sein. Er würde die Fehler seiner ersten, nur kurzen Ehe nicht wiederholen und versuchen, sich anderswo niederzulassen. Damals hatte er seine junge Frau glücklich stimmen wollen, indem er in ihrer Heimat Yorkshire blieb. Vergeblich. In den Jahren seit dem frühen Tod seiner Gemahlin war er zu dem Schluss gelangt, dass sie nirgendwo glücklich mit ihm gewesen wäre, ganz gleich, wo sie ihr Zuhause gehabt hätten.

Edward wandte sich jäh vom Fenster ab und ging mit langen Schritten zur Tür. Er wollte beginnen, was er sich vorgenommen hatte, unverdrossen. Er würde auf Ravenhill Abbey leben, es wieder zu einem lebendigen Zuhause machen. Seit Generationen schon war es der Familiensitz des Earls, und hier beabsichtigte er, die Linie der Swartinghams fortzusetzen, Wurzeln zu schlagen. Und wenn seine Ehe Früchte trug, wenn in den weiten Fluren abermals Kinderlachen erklang, dann würde Ravenhill Abbey gewiss wieder zum Leben erwachen.

2. Kapitel

Die drei Töchter des Grafen waren allesamt schön. Die Älteste hatte pechschwarzes Haar, das bläulich schimmerte, die Zweite feurige Locken, die ihr milchig weißes Antlitz umrahmten, und die Jüngste war von goldenem Antlitz und ebensolcher Gestalt, sodass sie stets wie von Sonnenlicht erstrahlt schien. Doch von diesen drei Töchtern war nur der jüngsten das freundliche Wesen ihres Vaters beschieden. Ihr Name war Aurea …
Der Rabenprinz

Wer hätte gedacht, dass Little Battleford so arm an Anstellungen war, die sich für eine respektable Dame eigneten? Als Anna heute Morgen aufgebrochen war, hatte sie bereits gewusst, dass es nicht leicht sein würde, aber dennoch war sie anfänglich von Hoffnung erfüllt gewesen. Denn eigentlich musste sie ja nur eine Familie finden, deren Kinder des Lesens und Schreibens nicht mächtig waren und dringend einer Gouvernante bedurften, oder aber eine ältere Dame, die jemanden zum Plaudern brauchte. Das war doch gewiss nicht zu viel verlangt?

Anscheinend schon.

Nun war es spät am Nachmittag. Die Füße taten ihr weh vom vielen Auf- und Abmarschieren auf den vom Schlamm unwegsamen Wegen, und eine Anstellung hatte sie noch immer nicht. Die alte Mrs. Lester war der Literatur nicht zugetan. Auf jeden Fall war ihr Schwiegersohn zu knauserig, um eine Gesellschafterin einzustellen. Und so hatte Anna es weiter versucht, verschiedenen Damen ihre Aufwartung gemacht und dabei dezent angedeutet, dass sie einer Anstellung nicht abgeneigt wäre. Bloß hatte sie feststellen müssen, dass diese Damen sich entweder keine Gesellschafterin leisten konnten oder aber keine wünschten.

Zuletzt war sie bei Felicity Clearwaters Haus angelangt.

Felicity war die dritte Gemahlin von Squire Clearwater, einem Mann, der gut dreißig Jahre älter war als seine junge Braut. Nach dem Earl of Swartingham verfügte der Squire über den größten Grundbesitz der Grafschaft, und als seine Gattin fühlte Felicity sich als führende Gesellschaftsdame von Little Battleford, eine Position, von der aus sie gern auf die bescheidenen Verhältnisse des Wren’schen Hausstandes herabblickte. Aber Felicity hatte zwei Töchter im passenden Alter für eine Gouvernante, und so wollte Anna auch diese Möglichkeit nicht auslassen. Eine quälende halbe Stunde lang hatte sie sich vorgetastet, wie eine Katze, die über glühende Kohlen laufen musste. Als Felicity schließlich aufging, was der Grund für Annas Besuch war, strich sie sich mit wohlgepflegter Hand über ihre zuvor schon makellose Haartracht. Dann erkundigte sie sich mit honigsüßer Stimme nach Annas musikalischen Kenntnissen.

Das Pfarrhaus hatte es zu den Zeiten von Annas Familie nie zu einem Cembalo oder dergleichen gebracht, und das wusste Felicity ganz genau, war sie als junges Mädchen doch öfter dort zu Besuch gewesen.

Anna atmete tief durch. „Leider verfüge ich über keinerlei musikalische Fertigkeiten, aber dafür kann ich ein wenig Griechisch und Latein.“

Daraufhin schlug Felicity ihren Fächer auf und kicherte leise. „Oh, ich bitte vielmals um Entschuldigung“, sagte sie, nachdem sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte. „Aber meine Mädchen werden gewiss auf gar keinen Fall etwas so … Männliches wie Griechisch und Latein lernen. Das dürfte bei einer Dame wohl eher unschicklich sein, meinen Sie nicht auch?“

Anna musste zwar die Zähne zusammenbeißen, rang sich jedoch ein Lächeln ab. Bis Felicity ihr dann vorschlug, sie solle es doch in der Küche versuchen und fragen, ob die Köchin eine Spülhilfe brauche. Von da an war es dann nur noch bergab gegangen.

Nun seufzte Anna. Es konnte gut sein, dass sie sich letztlich als Spülmagd oder noch Schlimmeres verdingen musste, aber dann gewiss nicht in Felicitys Haushalt. Zeit, nach Hause zu gehen.

Gerade als sie um die Ecke des Eisenwarenladens bog, konnte sie nur mit knapper Mühe einem Zusammenstoß mit Mr. Felix Hopple ausweichen, der ihr eilenden Schrittes entgegenkam. Kurz vor dem Verwalter von Ravenhill kam sie schlitternd zum Stehen. Ein Päckchen Nadeln, etwas gelbes Stickgarn und ein Beutelchen Tee für Mutter Wren fielen aus ihrem Korb zu Boden.

„Oh, entschuldigen Sie vielmals, Mrs. Wren“, sagte der zierliche Mann atemlos, während er sich bückte, um ihre Sachen aufzuheben. „Ich fürchte, nicht darauf geachtet zu haben, wohin meine Füße mich so eilig führten.“

„Keine Ursache“, erwiderte Anna und konnte kaum den Blick abwenden von seiner scharlachrot und violett gestreiften Weste. Sie blinzelte. Gütiger Himmel! „Wie ich höre, ist der Earl nun auf Ravenhill eingezogen. Sie müssen sehr viel zu tun haben.“

Seit der mysteriöse Earl sich nach so vielen Jahren der Abwesenheit wieder in der Nachbarschaft eingefunden hatte, brodelte die Gerüchteküche im Dorf, und Anna war nicht minder neugierig als alle andern. Sie hatte sich sogar zu fragen begonnen, ob nicht vielleicht jener unansehnliche Gentleman, der sie gestern fast niedergerannt hätte …

Mr. Hopple seufzte schwer. „Dem ist leider so.“ Er holte ein Taschentuch hervor und tupfte sich die Stirn ab. „Ich bin auf der Suche nach einem neuen Sekretär für Seine Lordschaft. Keine einfache Aufgabe. Der letzte Kandidat, der sich vorgestellt hat, kleckste nur so auf das Papier, dass ich zu zweifeln begann, ob er des Schreibens überhaupt mächtig war.“

„Das wäre bei einem Sekretär wohl von Nachteil“, bemerkte Anna trocken.

„In der Tat.“

„Sollten Sie heute niemanden mehr finden, könnten Sie sich auch am Sonntagmorgen nach dem Gottesdienst umhören, zu dem die meisten der Herren in der Kirche sein werden“, fuhr sie fort. „Vielleicht werden Sie ja dort fündig.“

„Das wird mir leider nicht viel nützen. Seine Lordschaft verlangt, pünktlich morgen früh einen neuen Sekretär zu haben.“

„So bald schon?“, fragte Anna. „Da bleibt Ihnen ja kaum noch Zeit.“ In diesem Moment kam ihr eine Idee.

Der Verwalter versuchte gerade, den Schmutz von dem Nadelpäckchen zu wischen, jedoch ohne sichtlichen Erfolg.

„Mr. Hopple“, begann sie langsam, „hat der Earl ausdrücklich auf einem Mann als Sekretär bestanden?“

„Nein, eigentlich nicht“, erwiderte Mr. Hopple etwas abwesend, da er noch vollauf mit dem Päckchen beschäftigt war. „Der Earl hat mich nur angewiesen, einen neuen Sekretär einzustellen, aber …“ Plötzlich hielt er inne.

Anna rückte ihren flachen Strohhut zurecht und lächelte bedeutungsvoll. „Wissen Sie, ich habe mir schon seit geraumer Weile Gedanken darüber gemacht, was ich mit all meiner freien Zeit nur anfangen soll. Sie können natürlich nicht wissen, dass ich zudem eine sehr ordentliche Handschrift habe. Und natürlich beherrsche ich auch die Rechtschreibung.“

„Sie wollen doch nicht etwa andeuten …?“ Mr. Hopple sah recht perplex drein. Ein wenig wie ein nach Luft schnappender Karpfen mit violett gepuderter Perücke.

„Oh doch, das will ich“, erwiderte Anna und nickte eifrig. „Ich glaube, dass es genau das ist, wonach ich gesucht habe. Soll ich morgen um neun oder erst um zehn auf Ravenhill erscheinen?“

„Ähm … um neun. Der Earl steht früh auf. Aber … aber, Mrs. Wren …“, stammelte Mr. Hopple.

„Doch, es ist mir ernst, Mr. Hopple. Wie schön, dass wir jetzt alles geklärt hätten. Dann sehen wir uns morgen um neun.“ Anna klopfte dem armen Mann aufmunternd auf den Arm. Er sieht wirklich ziemlich mitgenommen aus, dachte sie mitleidig. Als sie sich bereits zum Gehen gewandt hatte, fiel ihr indes etwas sehr Wichtiges ein, und sie drehte sich wieder um. „Eine Frage hätte ich noch: Welchen Lohn gedenkt der Earl zu zahlen?“

„Welchen Lohn?“, fragte Mr. Hopple und blinzelte. „Nun ja, ähm … seinem letzten Sekretär hat der Earl drei Pfund im Monat gezahlt. Wären Sie damit einverstanden?“

„Drei Pfund.“ Kaum merklich bewegte Anna die Lippen, als sie die Worte leise wiederholte. Auf einmal schien ihr der Tag ganz wunderbar. „Damit bin ich durchaus einverstanden.“

„Sicherlich müssen viele der oberen Räume durchgelüftet und manche vielleicht neu gestrichen werden. Haben Sie das, Hopple?“ Edward sprang die letzten drei Stufen der großen Freitreppe von Ravenhill Abbey hinab und eilte dann auf die Stallungen zu. Warm schien ihm die späte Nachmittagssonne auf den Rücken, und der Hund folgte ihm wie üblich dicht auf den Fersen.

Keine Antwort.

„Hopple? Hopple!“ Der Kies knirschte unter seinen Stiefeln, als er sich auf dem Absatz umdrehte und nach seinem Verwalter Ausschau hielt.

„Einen Augenblick, Mylord“, rief dieser atemlos schnaufend von der Treppe her. „Ich … ich bin gleich … gleich bei Ihnen.“

Edward wippte ungeduldig wartend mit dem Fuß, bis Hopple ihn eingeholt hatte, dann lief er weiter, am Seitenflügel vorbei in den hinteren Hof, wo der Kies buckeligen Pflastersteinen wich. „Haben Sie das mit den oberen Räumen?“

„Ähm … die oberen Räume, Mylord?“, rang der kleine Mann nach Worten, derweil er seine Notizen überflog.

„Die Haushälterin soll sie durchlüften“, wiederholte Edward betont langsam. „Schauen Sie, ob die Räume auch gestrichen werden müssen. Und bleiben Sie nicht schon wieder zurück, Mann.“

„Jawohl, Mylord“, murmelte Hopple und schrieb eifrig mit.

„Ich gehe davon aus, dass Sie einen neuen Sekretär gefunden haben.“

„Ähm, ja …“ Angestrengt blickte der Verwalter auf seine Notizen.

„Ich habe Ihnen gesagt, dass ich bis morgen früh jemanden bräuchte.“

„Ja, Mylord, das haben Sie, und es ist tatsächlich so, dass ich … dass ich jemanden gefunden habe, den ich für durchaus geeignet …“

Edward war vor dem schweren Flügeltor stehen geblieben, das in die Stallungen führte. „Hopple, haben Sie nun einen Sekretär für mich oder nicht?“

Der Verwalter fuhr erschrocken zusammen. „Ja, Mylord. Man könnte wohl sagen, dass ich einen Sekretär gefunden habe.“

„Warum sagen Sie es dann nicht?“ Edward runzelte die Stirn. „Stimmt etwas nicht mit dem Mann?“

„Nein, oh nein, Mylord.“ Hopple strich sich über seine furchtbare violettrote Weste. „Ich denke … also ich denke, dass der neue Sekretär Sie zufriedenstellen wird, also, eben als Sekretär.“ Sein Blick war starr auf die Wetterfahne, ein kleines Pferdchen, oben auf dem Dachfirst der Stallungen gerichtet.

Edward ertappte sich, wie er es seinem Verwalter nachtat und auch die Wetterfahne betrachtete. Sie drehte sich langsam und quietschte. Jäh riss er seinen Blick davon los, und was musste er sehen? Der Hund saß still neben ihm, den Kopf zur Seite geneigt, und betrachtete ebenfalls die Wetterfahne.

Edward schüttelte den Kopf. „Nun gut. Ich werde morgen früh außer Haus sein, wenn er eintrifft.“ Von der hellen Nachmittagssonne traten sie in das düstere Zwielicht der Stallungen. Der Hund lief eifrig schnuppernd voraus. „Sie werden ihm also mein Manuskript zeigen müssen und ihn in seinen allgemeinen Pflichten unterweisen.“ Er drehte sich um. Bildete er sich das nur ein, oder sah Hopple tatsächlich erleichtert aus?

„Sehr wohl, Mylord“, sagte der Verwalter.

„Ich reise morgen früh nach London und werde bis Ende der Woche dortbleiben. Bei meiner Rückkehr sollte der Sekretär bereits die Reinschrift aller Manuskriptseiten angefertigt haben, die ich ihm auf den Schreibtisch lege.“

„Sehr wohl, Mylord.“ Aber natürlich, der Verwalter strahlte ja geradezu!

Edward betrachtete ihn argwöhnisch und schnaubte. „Ich bin auch schon sehr gespannt darauf, meinen neuen Sekretär dann kennenzulernen.“

Hopples Lächeln schwand dahin.

Ravenhill Abbey war ein recht einschüchternder Ort, befand Anna, als sie am nächsten Morgen die Auffahrt zum Herrenhaus hinauflief. Vom Dorf bis zum Anwesen waren es drei Meilen, und von dem langen Fußweg taten ihr ein wenig die Waden weh. Wenigstens schien die Sonne warm und freundlich. Alte Eichen mit mächtigen Stämmen standen entlang der Auffahrt, was eine wohltuende Abwechslung zur Weite der offenen Felder war, durch die der Weg von Little Battleford geführt hatte.

Als Anna um die nächste Wegbiegung trat, hielt sie den Atem an und blieb stehen. Narzissen übersäten den zartgrünen Rasen. An den Zweigen der Bäume spross noch spärlich das junge Laub, das die Sonnenstrahlen fast ungehindert durchdringen ließ. Jede der gelben Blüten leuchtete hell, in fast durchscheinender Vollendung, und schuf eine zerbrechliche, märchenhafte Atmosphäre.

Was für ein Mann musste das wohl sein, der einem solchen Ort fast zwei Jahrzehnte fernblieb?

Anna kamen all die Erzählungen von der großen Pockenepidemie in den Sinn, die verheerend in Little Battleford gewütet hatte, einige Jahre, bevor ihre Eltern das Pfarrhaus bezogen hatten. Sie wusste auch, dass die gesamte Familie des jetzigen Earls damals dahingerafft worden war. Aber konnte das Grund genug sein, das Haus so lange Jahre zu meiden?

Sie schüttelte kurz den Kopf und lief weiter. Hinter der Blumenwiese tat sich der Hain alter Eichen auf, und Anna konnte nun Ravenhill direkt vor sich sehen, ein viergeschossiger Bau aus grauem Stein, einst im elisabethanischen Stil erbaut. Die Fassade wurde von dem im ersten Stockwerk erhöht gelegenen Hauptportal beherrscht, zu dem zwei weit geschwungene Treppenläufe hinaufführten. Wie eine Insel wirkte die Abbey inmitten des nach allen Richtungen offenen Landes, einsam und herrisch stand sie da.

Je näher sie Ravenhill Abbey kam, desto mehr spürte Anna ihre Zuversicht schwinden. Das Hauptportal war schlichtweg viel zu imposant. Vor dem Haus zögerte sie und bog dann um die Ecke, wo sie auch sogleich den Dienstboteneingang entdeckte. Auch hier gab es eine weite Flügeltür, aber zumindest musste man nicht erst eine Freitreppe erklimmen, um hineinzugelangen. Nachdem sie einmal tief Luft geholt hatte, griff Anna nach dem großen Messingknauf, zog die Tür auf und trat geradewegs in die geräumige Küche.

An einem sehr solide aussehenden Tisch in der Mitte des Raumes stand eine korpulente Frau mit weißblondem Haar und knetete Teig. Die Arme hatte sie bis zu den Ellenbogen in einer riesigen Schüssel aus Steingut stecken. Einzelne Strähnen hatten sich aus ihrem Haarknoten gelöst und klebten ihr feucht an den erhitzten Wangen. Außer ihr waren nur noch ein Küchenmädchen anwesend und ein Junge, der Schuhe putzte. Alle drei drehten sich um und sahen Anna mit großen Augen an.

Die Frau mit dem hellen Haar – gewiss die Köchin – zog ihre mehligen Arme aus der Schüssel. „Aye?“

Anna hob das Kinn. „Guten Morgen. Ich bin Mrs. Wren, die neue Sekretärin des Earls. Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich Mr. Hopple finde?“

Ohne den Blick von Anna zu nehmen, rief die Köchin dem Stiefeljungen zu: „Du da, Danny, geh Mr. Hopple holen und sag ihm, dass Mrs. Wren hier in der Küche ist. Und beeil dich!“

Danny spurtete los, und die Köchin wandte sich wieder ihrem Teig zu.

Anna stand da und wartete.

Das Küchenmädchen kratzte sich gedankenverloren am Arm und starrte sie noch immer an. Anna lächelte ihr zu. Rasch schlug das Mädchen die Augen nieder.

„Von einer Sekretärin hör ich ja jetzt zum ersten Mal.“ Die Köchin sah nicht von ihren Händen auf, die unablässig den Teig bearbeiteten. Mit geübtem Schwung warf sie ihn auf den Tisch und rollte ihn geschwind zu einer Kugel zusammen. „Sie kennen Seine Lordschaft schon?“

„Wir sind einander noch nicht vorgestellt worden“, sagte Anna. „Ich habe nur mit Mr. Hopple wegen der Stelle gesprochen, und er hatte keinerlei Bedenken.“ Zumindest hatte er keine geäußert, fügte Anna bei sich hinzu.

Die Köchin schnaubte, ohne aufzusehen. „Na, dann ist ja gut.“ Rasch hieb sie walnussgroße Stücke von der großen Teigkugel ab und rollte sie zu Kügelchen. Ein ganzer Berg solcher Kügelchen häufte sich an. „Bertha, bring mir mal das Blech da.“

Das Küchenmädchen kam mit einer gusseisernen Form herbei und begann, die Kügelchen ordentlich darin aufzureihen. „Mir läuft’s immer eiskalt den Rücken runter, wenn er so rumschreit“, flüsterte sie.

Die Köchin warf dem Mädchen einen missbilligenden Blick zu. „Dir läuft’s ja schon kalt den Rücken runter, wenn nachts mal eine Eule schreit. Der Earl ist ein feiner Gentleman. Zahlt uns einen anständigen Lohn und lässt uns unsern freien Tag.“

Bertha biss sich auf die Lippe und reihte weiter Kügelchen aneinander. „Er kann einen aber wirklich anschreien. Vielleicht ist Mr. Tootleham ja deshalb so bald wieder …“ Sie schien zu merken, dass die Köchin sie bitterböse ansah, und verstummte jäh.

Mr. Hopples Erscheinen brach das unbehagliche Schweigen. Heute trug er eine leuchtend lila Weste, bestickt mit dunkelroten Kirschen.

„Guten Morgen, Mrs. Wren, guten Morgen“, frohlockte er und senkte nach kurzem Seitenblick auf Köchin und Küchenmädchen die Stimme: „Und Sie sind ganz sicher, dass Sie … ähm, die Stelle antreten wollen?“

„Aber natürlich, Mr. Hopple.“ Anna schenkte dem Verwalter ein, so wollte sie hoffen, zuversichtlich wirkendes Lächeln. „Ich freue mich schon sehr darauf, den Earl kennenzulernen.“

Sie hörte, wie die Köchin hinter ihr vor sich hin grummelte.

„Ah ja.“ Mr. Hopple hüstelte. „Nun, was das anbelangt, so ist der Earl heute früh nach London gereist, geschäftlich. Er hält sich häufig dort auf, müssen Sie wissen“, fügte er vertraulich hinzu. „Trifft sich mit anderen gelehrten Gentlemen. In landwirtschaftlichen Fragen ist der Earl eine richtige Koryphäe.“

Enttäuschung erfasste sie. „Soll ich warten, bis er wieder zurückgekehrt ist?“

„Nein, oh nein, das müssen Sie keineswegs“, sagte Mr. Hopple rasch. „Seine Lordschaft hat Ihnen in der Bibliothek bereits einige Manuskriptseiten hingelegt, von denen Sie eine Reinschrift anfertigen sollen. Wenn Sie so weit wären, könnte ich Ihnen jetzt alles zeigen.“

Anna nickte und folgte dem Verwalter aus der Küche und die Hintertreppe hinauf in den Hauptkorridor. Hier war der Boden mit rosa und schwarzem Marmor ausgelegt, eine sehr kunstfertige Intarsienarbeit, wenngleich im dämmrigen Licht nur wenig davon zu erkennen war. Als sie in die Eingangshalle kamen, sah Anna ungläubig auf die prächtige Treppe. Himmel, war die ausladend! Die breiten Stufen führten zu einem Absatz, der so groß war wie die Küche der Wrens, und teilten sich dort in zwei geschwungene Treppenläufe, über die man in die dunkel daliegenden oberen Räumlichkeiten gelangte. Wie um alles in der Welt konnte man denn ganz allein hier leben, von den paar Dienstboten einmal abgesehen?

Bevor sie sich von dem Anblick erholt hatte, richtete Mr. Hopple auch schon wieder das Wort an sie.

„Der letzte Sekretär und dessen Vorgänger hatten ihr eigenes kleines Arbeitszimmer, hier, gleich unter der Treppe“, sagte er. „Aber es ist ein eher unbehagliches Zimmer, für eine Dame ganz und gar nicht geeignet. Und deshalb dachte ich mir, dass wir Sie am besten in die Bibliothek setzen, wo auch der Earl immer arbeitet. Es sei denn“, fuhr Mr. Hopple hinzu, schon recht außer Atem, „Sie zögen es vor, ein eigenes Zimmer zu haben.“

Der Verwalter schlug den Weg zur Bibliothek ein und hielt Anna die Tür auf. Sie ging hinein und blieb sogleich wieder wie angewurzelt stehen, sodass Mr. Hopple ihr rasch ausweichen musste.

„Nein, das ist nicht nötig. Hier ist es wunderbar.“ Sie war überrascht, so ruhig zu klingen. So viele Bücher! Regale mit Büchern standen an drei Seiten des Raumes, erstreckten sich über den Kamin hinweg und hinauf bis unter die hohe Gewölbedecke. Es mussten wohl über tausend Bände sein. In einer Ecke lehnte eine recht wackelig aussehende Leiter mit kleinen Rädern daran, die einzig dem Zweck zu dienen schien, an die oberen Regalreihen zu gelangen. Allein schon die Vorstellung, all diese Bücher zu besitzen und darin lesen zu können, wann immer einem danach war!

Mr. Hopple führte Anna in eine Ecke des weitläufigen Raumes, in dem ein wuchtig anmutender Schreibtisch aus Mahagoni stand. Gegenüber, nur wenige Schritte davon entfernt, stand ein kleinerer Schreibtisch aus Rosenholz.

„Da wären wir, Mrs. Wren“, verkündete er aufgeräumt. „Ich habe Ihnen alles bereitgelegt, was Sie für Ihre Arbeit brauchen könnten: Papier, Schreibfedern, Tinte, Löschpapier, Wippe und Sand. Und dies ist das Manuskript, von dem der Earl eine Abschrift wünscht.“ Er zeigte auf einen unordentlichen Papierstapel, der bestimmt eine Handbreit hoch war. „Dort hinten ist der Klingelzug. Gewiss wird die Köchin Ihnen gerne Tee und eine kleine Erfrischung nach oben schicken lassen. Haben Sie noch Fragen, oder brauchen Sie noch etwas?“

„Oh nein, vielen Dank. Das sieht doch alles sehr gut aus.“ Anna faltete die Hände vor dem Bauch und versuchte, nicht allzu überwältigt zu wirken.

„Ja? Sehr gut. Geben Sie mir einfach Bescheid, wenn Sie mehr Papier brauchen oder wenn irgendetwas sein sollte.“ Mr. Hopple lächelte und schloss dann die Tür hinter sich.

Anna setzte sich an den eleganten kleinen Schreibtisch und fuhr ehrfürchtig mit den Fingern über die blank polierte Einlegearbeit. So ein schönes Möbelstück. Sie seufzte und nahm die erste Seite vom Manuskript des Earls zur Hand. Eine kühne Handschrift, stark nach rechts geneigt, bedeckte das ganze Blatt. Hier und da waren Sätze durchgestrichen und neue Formulierungen an den Rand geschrieben. Unzählige Pfeile sollten anzeigen, was wo zu stehen hatte.

Anna begann mit der Abschrift. Die Arbeit ging ihr leicht von der Hand, ihre Schrift war kleiner und ordentlicher als die des Earls. Ab und an musste sie kurz innehalten, da sie ein Wort nur schwer entziffern konnte. Der Earl hatte wahrlich eine fürchterliche Handschrift. Aber nach einer Weile hatte sie sich auch an seine geschweiften W und zackigen R gewöhnt.

Kurz nach der Mittagsstunde legte Anna die Feder beiseite und rieb sich die Tintenflecken von den Fingern. Dann stand sie auf und zog an der Klingelschnur in der Ecke. Alles blieb still, aber sie nahm an, dass wohl irgendwo im Haus eine Glocke geschlagen hatte und jemand ihr eine Tasse Tee hinaufbringe. Während sie wartete, sah sie sich die Buchreihen gleich neben dem Klingelzug an. Es waren dicke, schwere Lederbände mit lateinischen Titeln, die in Prägedruck in die Rücken gestanzt waren. Neugierig zog sie eines heraus. Dabei fiel ein schmales Büchlein dumpf zu Boden. Rasch bückte Anna sich, um es aufzuheben, und sah schuldbewusst zur Tür hinüber. Aber noch hatte sich niemand auf ihr Klingeln hin gerührt.

Sie wandte sich wieder dem kleinen Büchlein zu, das sie in Händen hielt. Es war in rotes Saffianleder gebunden, das sich weich und geschmeidig unter ihren Fingern anfühlte, und trug keinen Titel auf dem Umschlag. Anna runzelte die Stirn, stellte zunächst einmal den schweren Band zurück und schlug dann vorsichtig das rot gebundene Büchlein auf. Eine Kinderhand hatte auf das Vorsatzblatt geschrieben:

Elizabeth Jane de Raaf, ihr Buch.

„Ja, Madam?“

Anna fuhr zusammen und hätte fast das Büchlein fallen lassen, als sie hinter sich die Stimme des Küchenmädchens hörte. Hastig legte sie es zurück ins Regal und sah das Mädchen lächelnd an. „Könnte ich vielleicht einen Tee bekommen?“

„Jawohl, Madam.“ Das Mädchen neigte kurz den Kopf und verschwand ohne ein weiteres Wort.

Verstohlen warf Anna abermals einen Blick auf Elizabeths Buch, entschied dann aber, besser Vorsicht walten zu lassen, und kehrte an ihren Schreibtisch zurück, um dort auf den Tee zu warten.

Pünktlich um fünf Uhr kam Mr. Hopple in die Bibliothek geeilt. „Wie war Ihr erster Arbeitstag? Nicht zu anstrengend, will ich hoffen.“ Er hob den Stapel bereits fertiggestellter Reinschrift auf und überflog die ersten paar Seiten. „Das sieht sehr gut aus. Der Earl wird erfreut sein, wenn es endlich an den Drucker gehen kann.“ Er klang sehr erleichtert.

Anna fragte sich, ob er wohl den ganzen Tag über sorgenvoll an ihren Fertigkeiten gezweifelt hatte. Sie suchte ihre Sachen zusammen, vergewisserte sich mit prüfendem Blick, ob sie auch alles ordentlich auf ihrem Schreibtisch zurückgelassen hatte, wünschte Mr. Hopple noch einen schönen Abend und machte sich dann auf den Heimweg.

Sobald sie zu Hause angekommen war, stürzte Mutter Wren sich auf sie und bestürmte sie mit Fragen. Selbst Fanny machte eine Miene, als wäre es ganz furchtbar exquisit und aufregend, für den Earl zu arbeiten.

„Aber ich habe ihn ja nicht einmal getroffen“, wehrte Anna vergebens ab.

Die nächsten Tage flogen rasch dahin, und der Stapel fertiggestellter Reinschrift wuchs stetig. Am Sonntag war Anna froh, einen Tag freizuhaben.

Als sie am Montag wieder zur Arbeit kam, herrschte Aufregung auf Ravenhill Abbey. Der Earl war aus London zurück. So geschäftig waren alle, dass die Köchin nicht einmal vom Suppen rühren aufsah, als Anna die Küche betrat, und Mr. Hopple nicht wie üblich zur Stelle war, um sie zu begrüßen. Deswegen ging sie allein zur Bibliothek hinauf, wo sie endlich ihren Arbeitgeber anzutreffen hoffte.

In der Bibliothek war indes niemand.

Nun, auch recht. Anna seufzte enttäuscht und stellte den Korb, in dem sie ihr Mittagessen hatte, auf dem Rosenholztisch ab. Sie machte sich an die Arbeit, und so verging die Zeit, durchschnitten nur vom Kratzen der Feder auf dem Papier. Nach einer Weile jedoch war ihr, als ob noch jemand im Raum wäre, und sie sah auf. Anna keuchte leise vor Schreck.

Nur eine Armeslänge von ihrem Schreibtisch entfernt stand ein riesiger Hund. Sie hatte keineswegs Angst vor Hunden. Als Kind hatte sie einen lieben kleinen Terrier gehabt. Aber dies hier war der größte Hund, den sie jemals gesehen hatte. Und leider kam er ihr auch bekannt vor. Vor nicht einmal einer Woche war er ihr wortwörtlich über den Weg gelaufen, an der Seite des hässlichen Mannes, der vor ihr vom Pferd gefallen war. Wenn der Hund nun also hier war … oje. Anna stand auf, doch als die riesige Mischlingsdogge daraufhin einen Schritt auf sie zu machte, verwarf sie ihren Plan wieder, aus der Bibliothek zu flüchten. Stattdessen atmete sie tief aus und ließ sich langsam zurück auf ihren Stuhl sinken. Das Tier ließ sie nicht aus den Augen. Vorsichtig hielt sie ihm ihre Hand hin, damit es daran schnuppern könne. Der Hund folgte der Bewegung ihrer Hand mit seinem Blick, ließ sich jedoch nicht auf diese Geste der Verständigung ein.

„Nun“, sagte Anna leise, „wenn Sie sich partout nicht von der Stelle rühren wollen, Sir, kann ich wenigstens ungestört mit meiner Arbeit fortfahren.“

Sie nahm ihre Feder wieder zur Hand und versuchte den riesigen Hund neben sich zu ignorieren. Nach einer Weile setzte er sich, beobachtete sie aber weiterhin unentwegt. Als die Uhr auf dem Kaminsims die Mittagsstunde schlug, legte Anna die Feder beiseite und rieb sich die Hand. Vorsichtig, ganz darauf bedacht, sich nur ja langsam zu bewegen, streckte sie sich und reckte die Arme hoch empor.

„Vielleicht magst du ja auch etwas essen?“, murmelte sie mit einem kurzen Seitenblick auf den Hund, während sie das Tuch von dem kleinen Korb nahm, den sie jeden Morgen mit zur Arbeit brachte. Sie überlegte, ob sie nach Tee läuten solle, kam dann aber zu dem Schluss, dass der Hund sie wohl nicht vom Schreibtisch fortließe.

„Wenn nicht bald mal jemand kommt, um nach mir zu sehen“, hielt sie der Dogge vor, „werde ich den ganzen Nachmittag hier am Tisch festsitzen. Alles deinetwegen.“

Aus dem Korb holte sie ein Butterbrot, einen Apfel und ein Stück Käse, das sie in ein Tuch gewickelt hatte. Sie hielt dem Hund etwas Brotkruste hin, doch er schnupperte nicht einmal daran.

„Du bist ganz schön wählerisch, was? Dann esse ich mein Brot eben allein. Wahrscheinlich bist du Fasan und Champagner gewohnt.“

Der Hund behielt seine Meinung lieber für sich.

Als Anna ihr Brot aufgegessen hatte, biss sie unter wachsamem Hundeblick in ihren Apfel. Wenn das Tier gefährlich wäre, würde man es doch gewiss nicht frei im Haus herumlaufen lassen, oder? Den Käse hatte sie sich bis zuletzt aufgehoben. Als sie ihn auswickelte, sog sie genüsslich das herzhafte Aroma ein. Im Augenblick war Käse ein wahrer Luxus. Sie leckte sich die Lippen.

Und just da regte sich der Hund, reckte den Hals und schnupperte.

Das Stück Käse auf halbem Weg zum Mund, hielt Anna inne. Erst sah sie den Käse an, dann den Hund. Seine Augen waren von einem samtigen Braun, was ihr zuvor nicht aufgefallen war. Er legte ihr seine schwere Pfote auf den Schoß.

Sie seufzte. „Käse, Mylord?“ Und brach ein Stück ab, das sie ihm hinhielt.

Das Stück war in einem Bissen verschwunden. Wo es auf ihrer Hand gelegen hatte, war nunmehr eine feuchte Spur von Hundespeichel. Der Hund wedelte mit dem Schwanz über den Teppich und sah sie erwartungsvoll an.

Streng hob Anna die Brauen. „Sie sind mir vielleicht ein Heuchler, Sir.“

Dann verfütterte sie auch noch den Rest ihres Käses an das hungrige Monster. Erst als auch der letzte Bissen verschlungen war, ließ er sich dazu herab, sich von ihr hinter den Ohren kraulen zu lassen. Sie streichelte ihm seinen breiten Hundeschädel und versicherte ihm, was für ein prächtiger, stolzer Kerl er sei, als sie auf einmal schwere Schritte draußen auf dem Flur hörte. Anna schaute auf und sah den Earl of Swartingham in der Tür stehen, den Blick seiner dunkel schimmernden Augen auf sie gerichtet.