Leseprobe Das Schweigen des Todes

Prolog

Der Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht und Lena erwachte. Wie ein Tier in Todesangst drückte sie sich in die Ecke. Sie zitterte und wollte nicht weinen, wollte stark sein, aber die salzigen Tränen tropften auf das OP-Hemd, das sie tragen musste. Verstohlen wischte sie sich mit dem Handrücken über die Augen.

„Aufstehen!“, donnerte seine Stimme durch den Raum.

Zögerlich kam sie seiner Aufforderung nach.

„Setzen!“ Er deutete mit einer unmissverständlichen Geste auf den Stuhl.

„Bitte nicht …“, hauchte sie.

„Setz dich“, wiederholte er mit drohender Stimme.

Sie zuckte unter seinen Worten zusammen und schob ängstlich einen Fuß vor den anderen, bis sie den Stuhl erreicht hatte. Dann blieb sie stehen und rührte sich nicht.

„Ich will noch nicht sterben“, sagte sie und sah ihn flehend an. „Bitte, ich werde auch alles tun. Meine Eltern haben Geld …“

„Vergiss es. Kein Geld der Welt könnte mir diese Genugtuung verschaffen, die ich gleich verspüren werde.“

„Bitte“, flehte sie erneut.

Er versetzte ihr einen Stoß, sodass sie hart auf dem Stuhl landete. Routiniert fixierte er ihre Handgelenke und Beine und richtete sich wieder auf.

„So, das hätten wir“, sagte er mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck und zog den Rollwagen zu sich heran. Er breitete die Bestecke aus, um sie dann sorgfältig zu sortieren. Allein der Anblick des polierten Edelstahls, in dem sich die Lampen spiegelten, verursachte ihr Übelkeit.

„Womit wollen wir denn heute anfangen?“, fragte er und schaute sie an. „Damit vielleicht?“ Er hielt ein Skalpell in die Höhe.

„Nein.“ Sie brachte das Wort nur mühsam heraus.

„Nur keine Angst, wir probieren es einfach aus.“

Der erste Schnitt versetzte sie in Todesangst und sie riss und zerrte panisch an den Riemen, um sich zu befreien. Ein feines Rinnsal bildete sich auf ihrer Haut und tropfte zu Boden. Lena wand sich im Stuhl, versuchte immer wieder, die Gurte abzustreifen. Doch das Leder der Riemen schnitt nur noch tiefer in die Haut. Es war die Hölle, aus der es kein Entrinnen gab.

„Hm, das Skalpell ist wohl doch nicht das passende Instrument“, murmelte er und griff nach einer langen Nadel.

Lena schnappte beim Anblick geräuschvoll nach Luft. „Bitte nicht, ich will nicht sterben.“

„Habe ich je davon gesprochen, dich umzubringen?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Na also, alles nur halb so schlimm.“

Wenn er nicht vorhatte, sie zu töten, warum war sie dann hier? Wollte er sie endlos quälen, bis sie darum bettelte, endlich erlöst zu werden? Oder sollte sie selbst Hand anlegen?

Ihr altes Leben musste schon Monate zurückliegen, sie konnte sich kaum noch daran erinnern. Alles in ihr war leer, sie fühlte sich wie ausgehöhlt. Der hohe Stresspegel, verursacht durch seine perfiden Spielchen und die Panikattacken, die sie regelmäßig überkamen, sobald er den Raum betrat, richtete sie seelisch und körperlich zugrunde. Noch keimte das winzige Pflänzchen der Hoffnung in ihr. Aber wie lange noch?

„Dein Schweigen werte ich als Einverständnis, und sobald ich fertig bin, werde ich dich gehen lassen.“

Sie öffnete ungläubig den Mund.

„Was starrst du mich so an? Habe ich, seit du bei mir bist, je mein Wort gebrochen?“

Sie blieb stumm wie ein Fisch, diese Psychospielchen machten sie fertig.

„Gleich zu Anfang habe ich dir versprochen, dich nicht zu töten. Und, atmest du noch?“

Sie nickte.

„Siehst du.“

Ihre Gedanken schossen kreuz und quer. Allein der Anblick des Stuhls, auf dem er sie quälte, war unerträglich. Nein, sie konnte nicht glauben, dass er sie gehen lassen würde.

„Was ist? Vertraust du mir immer noch nicht?“

„Nein“, antwortete sie leise.

„Aber wenn ich es dir doch sage.“

Meinte er seine Worte tatsächlich ernst?

„Was werden Sie mir antun, bevor ich gehen darf?“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein leiser Hauch.

„Das wirst du gleich sehen.“

Trotz ihrer Gegenwehr fixierte er ihren Kopf. Eine weitere Panikattacke überrollte sie, als er die merkwürdige lange Nadel erneut in die Hand nahm, und ihr Herz schlug so schnell, dass sie glaubte, es würde in ihrer Brust zerspringen. Das war das Ende.

Kapitel 1

Ulrik drehte mit Tobi gemächlich seine Runde am Morgen und erfreute sich am Sonnenschein. Er liebte die hellen Tage und die gut gelaunten Menschen um ihn herum. Im Winter hasteten sie alle mit gesenktem Kopf an ihm vorbei und wollten ins Warme – kein Vergleich zum fröhlichen Kinderlachen und dem Vogelgezwitscher, die der Sommer mit sich brachte.

Tobi schnüffelte hier und da, markierte mit Feuereifer sein Revier und hechelte den hübschen Hundedamen hinterher, die seinen Weg kreuzten. Ja, das Leben konnte so schön sein, dachte Ulrik. Er hatte ein erfülltes Leben, bekam eine gute Rente, fuhr in den Urlaub oder traf sich mit Freunden. Die restliche freie Zeit werkelte er an seinem Häuschen oder im Garten. Seine Frau Hedda war leider vor sieben Jahren verstorben und seitdem war Tobi ihm ein treuer Begleiter.

Mittlerweile hatten sie den Strand erreicht und Ulrik stapfte durch den weichen Sand. Es war ein herrlicher Morgen. Die Wellen brachen sich am seichten Ufer und die Möwen stießen über den Dünen ihre schrillen Rufe aus. Die Gegend war unverwechselbar: Der Strand ging hier in Wald- und Wiesenflächen über. Keine typischen Dünenlandschaften mit weißem Sand, wie man sie von Postkarten kannte.

Plötzlich blieb Tobi stehen und hob den Kopf, um Witterung aufzunehmen. Seine Lefzen waren hochgezogen und er knurrte leise.

„Ist ja gut“, brummte Ulrik und tätschelte den Kopf des Hundes.

Abermals stieß Tobi ein kehliges Knurren aus.

„Was ist denn los?“, fragte Ulrik kopfschüttelnd. So seltsam hatte sich Tobi noch nie benommen.

Jetzt sträubte der Rüde sein Nackenfell und wich zurück. Nun war auch Ulrik beunruhigt und schaute sich suchend um. Aber er konnte niemanden entdecken.

„Tobi, das ist doch albern“, sagte er, obwohl sein Herz schneller schlug. Irgendetwas war hier faul. „Komm, lass uns weitergehen.“

Er zog an der Leine, doch Tobi weigerte sich und rührte sich nicht vom Fleck.

„Wenn du nicht gleich parierst, gibt es heute kein Futter.“

Tobi ignorierte seine Drohung wie üblich und er kläffte stattdessen lauthals. Er gebärdete sich wie wild, zerrte an der Leine und drehte sich im Kreis. So aufgewühlt hatte Ulrik seinen Vierbeiner noch nie erlebt. Tobi ist sonst freundlich zu jedermann, aber mit dem gesträubten Fell gleicht er einer Furie, die sich kaum bändigen lässt, dachte Ulrik verärgert. Nur Sekunden später bemerkte er eine Bewegung aus dem Augenwinkel heraus und drehte sich um. Er entdeckte eine junge Frau, die splitterfasernackt durch die Düne streifte. Sie war eine Schönheit und erst auf den zweiten Blick bemerkte er die blutunterlaufenen Augen und die Schnitte, die sich über ihren gesamten Körper verteilten.

Hoffentlich war sie keinem Verbrechen zum Opfer gefallen.

„Still jetzt!“, herrschte er Tobi an und band seine Leine an einer Bank fest.

Die Frau stolperte hilflos durch den Sand und Ulrik eilte ihr mit schnellen Schritten hinterher.

„Hallo, so warten Sie doch!“, rief er und winkte ihr zu, aber sie reagierte nicht auf ihn. Wahrscheinlich ist sie traumatisiert, schoss es ihm durch den Kopf und er zog sein Smartphone aus der Hosentasche, um die Polizei zu verständigen.

Während er telefonierte, ließ er die Frau nicht aus den Augen. Sie bewegte sich auf eine seltsame Weise fort, fast so, als wäre sie blind. Dann geschah das Unvermeidbare: Sie stolperte und stürzte. Benommen blieb sie am Boden liegen und verzog nicht einmal das Gesicht. Das ist ungewöhnlich, dachte Ulrik und war mit wenigen Schritten bei ihr.

„Kommen Sie, ich helfe Ihnen auf“, sagte er und reichte ihr die Hand, die sie jedoch nicht ergriff.

Was nun? Er konnte sie doch nicht so entblößt im Sand liegen lassen?

Hastig riss er sich sein Hemd vom Leib und griff der Frau beherzt unter die Arme, um sie wieder aufzurichten. Als er ihr das Hemd überzog und zuknöpfte, ließ sie es wie eine willenlose Marionette geschehen. Es war ihm außerordentlich unangenehm, sie zu berühren, und Scham stieg in ihm auf. Hastig schaute er sich um, aber da war niemand, der ihm hätte helfen können. Nur Tobi kläffte und randalierte ein paar Meter weiter.

Beunruhigt warf Ulrik einen Blick auf die Uhr. Wo blieb die Polizei denn nur, wenn man sie einmal brauchte?

Die Frau schwankte kurz, dann setzte sie wieder mechanisch einen Fuß vor den anderen.

„Bitte, so bleiben Sie doch stehen“, sagte Ulrik, aber sie nahm von seinen Worten keine Notiz. Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihren Oberarm zu umfassen, um sie am Weiterlaufen zu hindern.

„Hallo? Was machen Sie denn da?“

Erschrocken drehte sich Ulrik um und blickte in die Augen einer entrüsteten älteren Dame, die ihm mit dem Spazierstock drohte.

„Es ist nicht, wonach es aussieht“, erwiderte er und seine Wangen glühten. Was für ein alberner Spruch. Warum war ihm nichts Besseres eingefallen? Mit nacktem Oberkörper stand er neben dieser wunderschönen jungen Frau und hoffte, dass die ältere Dame nichts Falsches in die Situation hineininterpretierte. „Ich habe bereits die Polizei informiert“, erklärte er.

„Soso, die Polizei.“

Genau in diesem Moment tauchten zwei uniformierte Beamte auf – seine Rettung.

„Sie haben uns verständigt?“, fragte der ältere der beiden Männer.

„Ja.“

„Und das ist die junge Frau, die Sie orientierungslos aufgegriffen haben?“

Ulrik nickte.

„Haben Sie ihr das Hemd übergezogen?“

Noch bevor er den Mund öffnen konnte, mischte sich die ältere Dame ein. „Wahrscheinlich, weil er die junge Frau vorher entkleidet hat.“

„Ich konnte sie doch nicht so entblößt weiterlaufen lassen“, sagte er und bedachte sie mit einem giftigen Blick.

„Arwed, könntest du eine Decke holen“, fragte der Polizist seinen Kollegen, bevor er das Gespräch mit Ulrik weiterführte. „Ist schon ein Krankenwagen unterwegs?“

„Nein, daran habe ich gar nicht gedacht.“

Der Beamte holte Ulriks Versäumnis nach und verständigte anschließend seinen Vorgesetzten. Nachdem sein Kollege mit der Decke zurückgekehrt war, erhielt Ulrik sein Hemd zurück. Dankbar streifte er es sich über und knöpfte es zu. Die Flecken ignorierte er.

„Sie werden eine Aussage machen müssen“, sagte der Beamte.

„Ja, das habe ich mir schon gedacht“, erwiderte Ulrik. „Dürfte ich meinen Hund losbinden?“

„Selbstverständlich.“

„Ja, du bist ein ganz Feiner.“ Ulrik tätschelte abermals Tobis Kopf. Wäre ich am Abzweig nur in die andere Richtung gelaufen, dann hätte ich mir einiges erspart, dachte er.

Auf diesen Stress am Morgen hätte er getrost verzichten können. Wiederum … die Frau hat ihm leidgetan und nicht auszudenken, wenn sie ins Wasser gelaufen und ertrunken wäre. Irgendetwas schien nicht mit ihr zu stimmen, als wäre sie auf Drogen oder so. Ihren Anblick würde er jedenfalls nie mehr vergessen, er hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt.

Bevor er wieder seiner Wege gehen konnte, nahm der uniformierte Beamte noch seine Personalien auf. Der Krankenwagen war schon längst abgefahren, als Ulrik den Heimweg antrat. Was für ein verrückter Morgen, dachte er kopfschüttelnd und entfernte sich mit schnellen Schritten.

Kapitel 2

Anna knallte den Hörer auf und atmete tief durch.

„Es ist eine weitere junge Frau orientierungslos am Strand aufgegriffen worden“, erklärte sie, als sie den irritierten Blick ihres Kollegen bemerkte. „Wir haben wiederholt versagt.“

„Ich hatte die Hoffnung, dass wir diesmal schneller sind, bevor der Täter erneut zuschlägt“, sagte Tomas.

„Der Boss wird toben, wenn er das erfährt.“

„Willst du es ihm sagen?“

„Ich hatte gehofft, dass du das übernehmen könntest.“, erwiderte sie.

Tomas atmete geräuschvoll aus. „Wenn es unbedingt sein muss …“ Er stieß einen Seufzer aus und griff zum Telefon. Das Gespräch dauerte nicht länger als eine Minute und Anna wurde in das Büro ihres Vorgesetzten zitiert.

„Nicht nur die Presse sitzt uns im Nacken, verdammt“, donnerte Holger Anderssons tiefer Bass durch den Raum.

Anna ließ die Tirade ihres Chefs wortlos über sich ergehen, auch wenn sie sich persönlich angegriffen und gedemütigt fühlte. Ihr Team leistete gute Arbeit und sie mochte es nicht, auf diese Weise abgewertet zu werden. Natürlich hatte es auch in Kalmar im Laufe der Zeit einige Tötungsdelikte gegeben, aber dieser Fall war einmalig in der bisherigen Geschichte dieses idyllischen Städtchens, das im Sommer von Touristen regelrecht geflutet wurde.

Andersson riss sie aus ihren Gedanken. „Sie werden Verstärkung bekommen.“

„Verstärkung?“

„Jonas Lundgren, Fallanalytiker aus Göteborg, wird das Team bei den Ermittlungen unterstützen.“

„Das ist nicht Ihr Ernst?“ Anna schaute ihn entgeistert an. „Sicher, mit so einem Täter haben wir es noch nie zu tun gehabt. Aber gleich einen Fallanalytiker zu engagieren, halte ich für übertrieben.“

„Befehl von ganz oben“, erklärte Andersson. „Außerdem möchte ich vermeiden, dass wir wie die letzten Deppen dastehen. Es existieren keine Spuren, keine Zeugen, nichts. Ohne ein entsprechendes Täterprofil werden wir nicht weiterkommen.“

Anna ließ sich auf einen Stuhl sinken und strich sich eine widerspenstige Strähne hinters Ohr.

„Aber was für Fakten könnte dieser Fallanalytiker schon liefern? Dass der Täter männlich ist, Mitte vierzig und blond?“

„Ich muss doch sehr bitten, Sarkasmus ist hier fehl am Platz.“

„Ehrlich, Chef, das ist doch wieder so ein Wichtigtuer, der den Ton angeben will, sich in die Ermittlungen einmischt und alles durcheinanderwirbelt.“

„Sie kennen den Mann doch gar nicht“, widersprach Andersson. „Jonas Lundgren mag ein wenig eigen sein, aber sein guter Ruf eilt ihm voraus. Sie stehen sich mit Ihren Vorurteilen nur selbst im Weg.“

„Seltsam, wo Sie doch mit der Ermittlungsquote bisher immer zufrieden gewesen sind.“

„Aber in diesem speziellen Fall liegt die Sache anders. Wie bereits erwähnt, kommt die Anordnung von ganz oben. Entweder Sie kooperieren oder Sie werden an anderer Stelle eingesetzt. Ende der Diskussion.“

Anna verließ das Büro und hätte am liebsten die Tür zugeknallt. Natürlich war auch sie frustriert darüber, dass es nicht im gewohnten Tempo vorwärts ging. Der Täter hatte drei junge, gesunde Frauen in Pflegefälle verwandelt und ihr Team hatte es nicht verhindern können. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, einen Teil der Verantwortung abgeben zu können.

„Na, wie ist es gelaufen?“, fragte Tomas. „Dein Kopf ist ja zum Glück noch dran.“

Anna winkte ab. „Wir bekommen so einen Schnösel aus Göteborg vor die Nase gesetzt.“

„Und?“

„Da fragst du noch?“ Sie machte eine ausladende Handbewegung. „Wieder so einer, der uns das Arbeiten beibringen will.“

„Ach was, jetzt übertreibst du aber. Du bist doch selbst daran interessiert, dass der Täter so schnell wie möglich überführt wird.“

„Vielleicht kratzt es ja an meinem Selbstbewusstsein, dass wir bisher versagt haben“, murmelte sie.

„Glaubst du, dass ich nicht darunter leide? Nur die äußerliche Hülle dieser Frauen ist noch vorhanden, sie sind zu seelenlosen Zombies geworden.“

Anna rieb sich müde über die Augen. „Du glaubst gar nicht, wie fertig mich das macht. So ein Irrsinn, und wir sind nicht imstande, dem Täter Einhalt zu gebieten.“

„Früher oder später schnappen wir ihn“, erwiderte Tomas zuversichtlich.

„Ich will nicht noch ein Opfer in diesem Zustand sehen müssen, das verkrafte ich nicht.“ Anna erhob sich. „Willst du mitkommen?“

„Am liebsten würde ich mich davor drücken. Ist die Familie schon verständigt?“

„Ja, sie wissen Bescheid und sind schon auf dem Weg ins Krankenhaus.“

„Dann lass uns fahren.“

Sie stiegen in den Dienstwagen und hatten die kurze Strecke rasch zurückgelegt.

„Am liebsten würde ich umkehren“, raunte Tomas, als sie den langen Gang entlangschritten, und Anna stieß einen tiefen Seufzer aus.

„Mich plagen nicht nur die Schuldgefühle den Opfern gegenüber. Es macht mich fertig, dass wir die Lobotomie nicht verhindern konnten. Wahrscheinlich hat er sein nächstes Opfer schon längst im Visier oder sogar gekidnappt. Allein der Gedanke, dass ihnen die lange Nadel durch das Auge geschoben wird, um die Hirnareale zu zerstören, macht mich ausgesprochen wütend.“

Zögerlich drückte sie die Klinke herunter und trat ein. Lena Jakobsson lag mit bleichem Gesicht auf dem Kissen. Sie reagierte nicht auf die Besucher und hatte den Blick starr zur Decke gerichtet. Ihre Lippen waren geöffnet und Speichel hatte sich in den Mundwinkeln gesammelt. Die nackten Arme waren mit frischen Schnitten und vernarbtem Gewebe übersät, die Nase und die Augen stark angeschwollen und verfärbt.

„Ihr Anblick bricht mir das Herz“, flüsterte Anna.

„Ich empfinde genauso“, erwiderte Tomas. „Lass uns gehen und mit dem Arzt sprechen.“ Resigniert wandte er sich ab.

Eine Krankenschwester zeigte ihnen den Weg in das Behandlungszimmer, wo der Arzt sie bereits erwartete.

„Setzen Sie sich doch“, sagte er und zeigte auf die unbequemen Stühle vor seinem Schreibtisch.

„Wie geht es Lena Jakobsson?“, fragte Anna.

„Den Umständen entsprechend“, antwortete der Arzt. „Die Wunden verheilen, aber sie wird für den Rest ihres Lebens betreut werden müssen.“ Auch er zeigte sich über den Zustand des Opfers erschüttert.

„Gibt es irgendwelche Auffälligkeiten?“, fragte Anna.

Der Arzt verneinte. „Sämtliche Proben, die wir genommen haben, befinden sich bereits im Labor.“

„Dann müssen wir die Ergebnisse abwarten.“ Sie hasste es, zum Warten verdammt zu sein. Der Täter achtete penibel darauf, kein Staubkörnchen zu hinterlassen, er schien im Spurenverwischen ein Perfektionist zu sein.

„Haben Sie schon einen Verdacht?“, fragte der Arzt.

„Darüber muss ich mich leider in Schweigen hüllen“, antwortete sie und es nagte an ihr, dass sie noch immer nicht die geringste Ahnung vom Täter hatten.

„Ich verstehe schon“, sagte er. „Die Lobotomie wurde wieder sehr präzise durchgeführt. Der Täter weiß, was er tut.“

„Sie teilen demnach auch die Ansicht, dass er Vorkenntnisse hat?“

„Unbedingt.“

Anna verabschiedete sich und trat mit Tomas den Rückweg an. Kaum hatten sie die Behörde betreten, eilte ihnen Andersson entgegen.

„Kommen Sie bitte in mein Büro, ich möchte Ihnen unser neues Teammitglied vorstellen.“

Anna verdrehte die Augen. Tomas schüttelte kaum merklich seinen Kopf, als er die Geste bemerkte. Schweigend folgten sie Andersson in sein Büro.

Jonas Lundgren war ganz anders, als Anna ihn sich vorgestellt hatte. Er hatte absolut nichts von einem Schnösel an sich und der Handschlag zur Begrüßung war warm und herzlich. Verstohlen musterte sie ihn. Ein offener Blick aus blaugrünen forschenden Augen, eine schlanke Statur und dunkelblondes Haar, das an den Schläfen bereits leicht ergraute.

Nicht schlecht, dachte Anna bei seinem Anblick.

„Darf ich vorstellen, das ist Jonas Lundgren.“ Ihr Chef deutete auf den Fallanalytiker. „Und das ist Anna Grönberg, Hauptkommissarin und Leiterin des Teams. Ich hoffe, dass Sie gut miteinander auskommen.“

Andersson schaute in Annas Richtung und sie verstand sofort. „Alles klar, Chef.“

„Schön, dass wir einer Meinung sind.“ Er wandte sich wieder Lundgren zu. „Und, was schlagen Sie vor?“

„Ich werde sofort Rücksprache mit den Kollegen halten, um ein Profil des Täters zu erstellen“, antwortete Lundgren.

„Gut, dann will ich Sie nicht länger von der Arbeit abhalten.“

Andersson öffnete die Tür. Anna war die Letzte, die den Raum verließ, und er hielt sie kurz zurück. „Und dass mir ja keine Klagen kommen“, raunte er.

„Ach was“, erwiderte sie und schüttelte seine Hand ab.

„Ich habe Ihr Wort?“

„Aber sicher.“ Vielleicht hatte dieser Lundgren den Durchblick, der ihnen fehlte, um den Täter aufzuhalten. Anna hatte sich vorgenommen, zu kooperieren, wenn auch mit Widerwillen.

„Möchte jemand einen Kaffee?“, fragte Tomas in die Runde.

„Gerne“, antwortete Lundgren. „Würden Sie mir die Akten reichen? Dann kann ich sie gleich mit in mein Büro nehmen.“

Anna raffte die Ordner zusammen und drückte sie ihm in die Hand. „Bitte sehr.“

„Ihr Chef hat mich schon vorgewarnt“, sagte Lundgren und in seinen Augen tanzten helle Fünkchen.

„Na wunderbar, dann wissen Sie ja Bescheid.“ Sie bedachte Andersson in Gedanken mit einem Schimpfwort und atmete tief durch. Ruhig Blut, ermahnte sie sich, schließlich geht es nur darum, den Täter zu schnappen.

Nur wenige Minuten später trat Tomas wieder ein und balancierte drei dampfende Tassen auf dem Tablett.

„Zucker ist aus und die Milch sauer“, sagte er. „Sie müssen wohl oder übel den Kaffee schwarz zu sich nehmen.“

„Genauso, wie ich ihn mag“, erwiderte Lundgren mit einem Lächeln, bedankte sich und verließ das Büro. Anna und Tomas nahmen wieder an den Schreibtischen Platz, schließlich gab es genug zu tun.