Leseprobe Das letzte Schweigen

Kapitel Eins

Im dunklen, moderigen Wald hinter dem Hotel Sonesta rissen heftige Windböen brüchige Zweige ab, und Beth Dellingers zitternde Hand umklammerte die 9-mm-Glock noch fester. Als sie den Abzug drückte, zerbrach etwas in einem hinteren Winkel ihres Gehirns. Zwei schreckliche Dinge geschahen gleichzeitig: ein Mord – das Ende eines Lebens – und der unausweichliche Neuanfang eines anderen Lebens.

Wuchernde Dornenbüsche zerkratzten ihre Haut, während sie mit laut pochendem Herzen den schmalen Waldweg zum Parkplatz hinunterrannte. Ein einziger instinktiver Gedanke trieb sie an. Bloß weg! Keuchend zählte sie jeden vierten eiligen Schritt. Vier, acht, zwölf, sechzehn, zwanzig, vierundzwanzig, achtundzwanzig, zweiunddreißig …

Sie rutschte auf der Böschung am Waldrand aus und ihre nackten Füße glitten unter ihr weg. Sie ruderte wild mit den Armen, fiel mit einem dumpfen Schlag hin und rutschte den glitschigen Erdboden hinunter. Der Schlamm verschmierte die Rückseite ihrer nackten Beine und setzte sich in winzigen Kratzern fest. Sie kroch mühsam hoch, warf einen Blick über die Schulter, stolperte und lief weiter. Der raue Asphalt des Parkplatzes war mit Kieselsteinen und Bierkronen übersät, eine Glasscherbe schnitt in die Kante ihres schmutzverkrusteten Fußes. Sie spürte den Schmerz noch nicht.

In der Nähe raste ein Zug mit ohrenbetäubendem Lärm vorbei und ließ das Blut in ihren Ohren noch lauter pochen.

Vier, acht, zwölf, sechzehn, zwanzig, vierundzwanzig, achtundzwanzig, zweiunddreißig …

Erst als sie ihr Auto erreicht hatte, bemerkte sie den Lippenstift in ihrer Hand und starrte ihn verwundert an. Sie hatte keine Ahnung, wie er dahin gelangt war. Heftig schaudernd drehte sie sich um und schleuderte ihn zurück in Richtung Wald, als hätte sie eine heiße Kohle in der Hand.

Sie suchte den Schlüsselbund, entriegelte die Tür, riss sie auf und ließ sich auf den Fahrersitz des Wagens fallen. Dann warf sie ihre Handtasche auf den Beifahrersitz und rang nach Luft. Ihre Hände umklammerten das Lenkrad, während sie durch die Windschutzscheibe starrte, ohne etwas wahrzunehmen.

Woran konnte sie sich noch erinnern? An die Flucht aus dem Hotel. An eine hübsche Frau, die ihr die Hintertür aufhielt. Sie erinnerte sich daran, geschrien zu haben, und an den plötzlichen brennenden Schmerz in ihrer Wange. An nichts anderes. Was war als Nächstes passiert? Sie wusste nur, dass sie irgendetwas Schreckliches getan hatte, etwas, was sie nicht rückgängig machen konnte. Hatte jemand sie beobachtet? Sie sackte auf dem Sitz zusammen, ließ den Kopf hängen und bedeckte das Gesicht mit den verdreckten Händen. Als sie die Wunde am Auge berührte, zuckte sie zusammen. Ihren Händen entströmte ein verbrannter Geruch – der Geruch abgefeuerter Schüsse. Blut tropfte von ihrem Fuß auf den Boden.

Zwei, vier, sechs, acht, zehn, zwölf, vierzehn …

Ein plötzliches Geräusch ließ sie zusammenzucken.

„Beth, Beth, Beth, was soll ich jetzt mit dir machen?“ Danny beugte sich zum Fenster herunter, seine blutunterlaufenen Augen starrten sie auf Augenhöhe an.

Beth schüttelte den Kopf, kniff die Augen zusammen und biss sich auf die Unterlippe. Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Als sie die Augen wieder öffnete, starrte er sie immer noch durchdringend an. Er schlug mit der Faust gegen das Glas. „Mach das Fenster auf!“

Sie schaltete die Zündung ein und ließ das Fenster halb herunter. Er sah sie finster an, während ihre keuchenden Atemzüge ihr die Brust zusammenschnürten.

„Biste jetzt zufrieden?“ Er schlug mit der Hand auf das Dach des Autos. „Was du gerade getan hast, ist noch viel schlimmer als einer deiner kleinen Identitätsdiebstähle. Vielleicht kommst du damit nicht mehr durch. Dieses Mal wirst du wohl echt für das bezahlen, was du getan hast. Zum Beispiel, den Rest deines langen Lebens im Knast verbringen.“

Beth umklammerte den Kragen ihrer Bluse und hielt sich daran fest.

„Sie haben dich gesehen, das ist dir doch klar, oder?“ Sein rauer Flüsterton machte seine Worte noch beängstigender.

Sie wollte nicht antworten. Sie wollte dieses Gespräch nicht führen. Aber sie konnte nicht anders. Sie musste unbedingt wissen, was er meinte. In ihrem Hals hatte sich ein dicker Kloß gebildet. Das Schlucken fiel ihr schwer und sie wich noch weiter vom Fenster zurück. „Wer hat mich gesehen?“

„Sie alle. Sie alle haben dich gesehen.“ Er machte eine ausladende Geste in Richtung der Fenster auf der Rückseite des Hotels Sonesta. Die meisten Fenster wirkten wie große geschwärzte Quadrate. Aus einigen schimmerte Licht an den Rändern der Jalousien.

„Nein, sie können nichts gesehen haben.“ Ihre Stimme zitterte. Ihre Augen suchten die Fenster nach einem Schatten oder einer flackernden Bewegung, einem Lebenszeichen hinter der Jalousie ab. Was hatten sie gesehen?

Er biss die Zähne zusammen. Doch, haben sie!“ Jedes Wort war wie eine Ohrfeige, die durch die Luft flog und ihr ins Gesicht schlug. Er verlagerte das Gewicht, beugte sich immer noch zum Autofenster herunter und wirkte größer, als er tatsächlich war. „Sie wissen es, weil du gebrüllt hast wie eine … wie eine …“ Sein Gesicht lief rot an. Ein großer Wortschatz war noch nie seine Stärke gewesen. „Wie eine total bekloppte Irre. Du weißt, was du jetzt zu tun hast, oder?“

Sie starrte aus dem Fenster, den Blick von ihm abgewandt. Sicher hatte er jetzt sein sadistisches Grinsen im Gesicht.

„Du musst dich jetzt auch um sie kümmern, bevor sie dich verraten.“

Wieder raste ihr Herz. „Wie ... mich um sie kümmern?“

„Was kapierst du nicht? Also für jemanden, der sich für so schlau hält ...

Beth zuckte zusammen. Mit hängenden Schultern blickte sie durch die Windschutzscheibe auf das gespenstische Hotel. Schon beim Einchecken hatte es ihr nicht sonderlich gefallen. Es bestand nur aus düsteren Winkeln und hässlichem Teppichboden. Nun glaubte sie, dass keiner sie gesehen hatte. Aber anscheinend war sie doch beobachtet worden. Schon seit Langem – seit kurz nach ihren Flitterwochen – war Danny ihr gegenüber abweisend, mitunter sogar grausam. Wenn er eine seiner Launen hatte, verletzte seine brutale Ehrlichkeit – Worte, die auf ihrer Seele brannten – sie mehr als jeder Tritt und jede Ohrfeige. Der einst charmante Mann, der ihr das Gefühl gegeben hatte, etwas Besonderes zu sein, war längst verschwunden. Dennoch glaubte sie nicht, dass er sie jemals direkt angelogen hatte. Zumindest nicht ins Gesicht.

„Wie ich sehe, hast du immer noch meinen Revolver, und weißt offensichtlich, wie man ihn benutzt.“ Lachend warf er den Kopf zurück.

Sie schaute auf den braunen Metallgriff, dessen Kante in der oberen Ecke ihrer Handtasche sichtbar war. Wieder lief ihr ein Schauer über den Rücken.

Danny spuckte auf den Boden. „Nee, du hast keine Wahl. Es sei denn, du hast ’ne bessere Idee, worauf ich lieber nicht wetten würde. Und tu es um Himmels willen nicht hier! Warte, bis sie weg sind, sonst bringst du die Polizei direkt auf unsere Spur.“

„Aber wenn ich es nicht hier mache, wie soll ich sie dann finden?“, flüsterte sie.

Er lachte, ein irres, verrücktes Gelächter. „Schalte dein Hirn ein, du bist doch die erfahrene Hackerin. Also überleg dir was!“

Sie ballte die Fäuste und versuchte nachzudenken.

Er schlug auf das Autodach, sie zuckte zusammen. „Ich muss dir wohl alles vorkauen, wie?“

Wenn ich so unerträglich unfähig bin, wie kommt es dann, dass meine Hacker-Aufträge unser ganzes Leben finanzieren? Unsere Wohnung, diesen Urlaub, dein neues Unternehmen mit seinen vielen Ausgaben und keinen Einnahmen, hä? Sie drückte auf den elektrischen Fensterheber, ließ die Glasscheibe hochfahren und sagte: „Lass mich in Ruhe nachdenken!“ Dann kniff sie die Augen zusammen und hielt sich die Ohren zu. Wieder fuhr ein Zug donnernd vorbei und übertönte alles, was Danny sonst noch gesagt haben mochte.

Was soll ich tun? Was soll ich bloß machen? Und dann, nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, fiel ihr eine andere Wahl ein: Was will ich tun?

Eines wusste sie ganz sicher: Die Aussicht auf eine Gefängnisstrafe versetzte sie in Panik. Aber war sie taff genug? Wie stark müsste sie dafür sein? Sie richtete sich auf ihrem Sitz auf und warf noch einen Blick auf die Waffe. Sie würde es tun. Sie würde es ihm ein für alle Mal zeigen. Und was noch wichtiger war: Sie würde es sich zeigen. Sie ließ sich nicht länger herumkommandieren! Sie ließ sich nicht länger überraschen! Nie mehr! Das hier war die neue Beth. Und ihr Neuanfang bedeutete ganz sicher nicht, ins Gefängnis zu gehen.

Sie öffnete wieder die Augen. Danny war verschwunden.

Ja, sie war dazu fähig. Sie würde die Zeugen nacheinander ausschalten, bis sie wieder sicher war.

Sie stieg aus dem Wagen und kramte in ihrer Handtasche nach dem Handy. Vornübergebeugt und fast auf Zehenspitzen gehend, schlich sie auf kalten, dreckigen nackten Füßen auf dem Parkplatz umher und machte verstohlen Fotos von jedem einzelnen Nummernschild – ein genauso guter Anfang wie jeder andere. Es parkten nur zwölf Autos auf dem Platz. Das Hotel Sonesta war für niemanden ein Traumziel.

Als sie damit fertig war, wartete Danny schon am Auto. „Wir müssen von hier verschwinden. Jetzt gleich, bevor sie dich schnappen! Hol unsere Sachen, dann treffen wir uns hier!“

„Warum kannst du nicht ...

„Geh einfach! Jetzt!“

Beth lief eilig ins Hotel. Nur wenige Minuten später kehrte sie mit einer Kühlbox und zwei kleinen Koffern, von denen einer ein kaputtes Rad hatte, auf dem Arm zurück. Der Schweiß rann ihr die Schläfen herunter. Sie stiegen in ihren „geliehenen“ Honda und rasten davon, ließen das nächste Hotel links liegen – zu nahe dran – und parkten vor dem übernächsten, das sie entdeckten. Das Vista View lag direkt an einer stark befahrenen Straße ohne nennenswerte Aussicht weit und breit. Doch schon bevor Beth es betrat, stellte sie fest, dass es gegenüber dem Sonesta, für das sich Danny entschieden hatte, eine Verbesserung war.

„Lass uns einchecken“, knurrte Danny.

Beth ging durch die automatischen Schiebetüren in die stille Lobby. Ein Mann in einem dunkelblauen Anzug kam durch eine Tür hinter dem Schreibtisch herein. „Wollen Sie einchecken?“ Er konnte nicht älter als fünfundzwanzig sein, und sein Lächeln bewies, dass er trotz der späten Stunde immer noch charmant sein konnte. Auf seinem Namensschild stand „Ahmad“.

„Wenn Sie noch ein Zimmer frei haben?“ Beth rückte ihre große dunkle Sonnenbrille zurecht. „Wir haben keine Reservierung.“

Ahmad kniff die Augen zusammen, warf einen Blick auf Beth und dann auf die Eingangstür.

„Mein Mann ist auch dabei.“ Sie deckte das Kinn mit der Hand ab, da sie sich der Schlieren, die die Tränen auf ihrem Gesicht hinterlassen hatten, des schillernden blauen Flecks und der verdreckten Kleidung bewusst war.

„Okay, ich bin gleich wieder da. Ich muss erst noch …“ Er wischte sich mit dem Fingerrücken über die Nase. „Eine Minute.“

Ahmad verschwand durch die Tür hinter dem Schreibtisch und ließ Beth allein. Sie verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere und wickelte sich Haarsträhnen um den Finger.

„Hast du noch kein Zimmer bekommen? Warum dauert das so lange?“ Danny war es offenbar leid, draußen auf sie zu warten.

Dann kam Ahmad zurück. Beth seufzte erleichtert auf.

„Tut mir leid.“ Ahmad senkte den Kopf und tippte etwas in seinen Computer ein. „Wie viele Nächte?“

Wie lange wird es wohl dauern? Einen Tag? Zwei? Kann ich es wirklich durchziehen?

„Nimm lieber drei“, sagte Danny, der sich unangenehm dicht neben sie gestellt hatte.

„Vier Tage.“ Beth hob den Kopf und kratzte sich an der Beule, die sich auf ihrem Arm gebildet hatte. Das musste ein Mückenstich sein, obwohl es eigentlich schon zu spät im Jahr und zu kalt für Mücken war. Irgendwas hatte sie im Wald gestochen, und jetzt reagierte ihr Körper darauf.

„Sie haben Glück. Wir haben ein freies Zimmer für vier Nächte.“ Ahmad lächelte Beth an, doch sein Blick wanderte ab, und sein selbstgefälliger Gesichtsausdruck verriet ihr, was er dachte.

Sie runzelte die Stirn und drückte mit zwei Fingern den Mückenstich zusammen, was gleichzeitig schmerzte und den Juckreiz linderte. „Welche Nummer hat das Zimmer?“

„Zwei-siebenundzwanzig.“ Ahmad lächelte.

Ihre Miene verzog sich, als wäre sie gerade wieder gestochen worden. „Haben Sie auch was mit einer geraden Zahl?“

Ahmad sah sie eine Sekunde länger als nötig an, aber sein aufgesetztes Lächeln war zurückgekehrt, bevor er den Kopf wieder senkte. Moment, ich schau nach.“ Er tippte auf der Tastatur herum und beugte sich noch näher zum Bildschirm hin. „Sie können das Zwei-vierunddreißig haben. Es ist auf der anderen Seite des Flurs. Wäre das in Ordnung?“

Beth stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Das wäre viel besser. Hier.“ Sie reichte ihm eine neue Kreditkarte, nicht die Karte, mit der sie im Sonesta bezahlt hatten. Sie müsste mindestens für ein paar Wochen funktionieren.

Ahmad nahm die Karte entgegen. „Danke, Mrs. Malone, und falls Sie das Fitnessstudio nutzen möchten, es ist leider geschlossen. Die Decke ist undicht. In den letzten Tagen hat es zu viel geregnet. Ich frage mich, ob es jemals wieder aufhören wird.“

Als sie in ihrem Zimmer angekommen waren, schrubbte sie sich im Bad die Hände sauber, wusch sich vorsichtig das schmutzige Gesicht und tupfte die Blutkruste auf ihrer Lippe ab. Was für einen Anblick sie geboten hatte! Sie starrte in den Spiegel und betrachtete ihr Gesicht aus verschiedenen Winkeln, um die Zeit totzuschlagen, bevor sie zurück ins Zimmer ging.

Danny saß auf dem abgewetzten Ausziehsofa, den Oberkörper weit nach hinten gelehnt und den Kopf in die Hände gelegt, die er im Nacken verschränkt hatte. Die Füße, die noch in den Stiefeln steckten, hatte er auf den Couchtisch gelegt. Beth stellte sich so weit wie möglich von ihm entfernt zwischen das Fenster und das Bett. Sie zog eine Kante des Schiebevorhangs zurück und spähte hinaus. Eine Wolke aus Staubkörnchen wirbelte im dunstigen Flutlicht umher und der Wind zerrte an den Ästen der Bäume. Zwischen den aufgemalten Linien der Stellplätze parkten mehr als ein Dutzend Autos. Welcher Art von Menschen gehörten diese Autos wohl? Großmüttern und Großvätern? Müttern und Vätern? Kellnern? Verkäufern? Mitarbeitern und Führungskräften? Nein, keinen Führungskräften, nicht in diesem Hotel. Aber was noch wichtiger war: Wem gehörten die Autos auf dem Parkplatz des Sonesta? Mit ein wenig Internet-Recherche würde sie es herausfinden.

Ich kann es nicht tun. „Was, wenn ich einfach zur Polizei gehe und mich stelle?“

„Ha!“ Danny legte den Kopf noch weiter zurück. „Wie ich schon gesagt habe, überlebst du keinen einzigen Tag im Knast. Aber wenn du zur Polizei gehst, dann werde ich deiner Schwester einen kleinen Besuch abstatten. Mich ein bisschen unter vier Augen mit ihren Kids unterhalten.“

Sie kratzte sich am Hinterkopf. Ihre Schwester beschwerte sich ständig über die Kinder. Vielleicht würde er ihr sogar einen Gefallen tun, indem er sie zu Tode erschreckte.

„Glaubste mir nicht, wie? Denk dran, was mit ihrem kleinen Hund passierte, als sie mir in die Quere gekommen ist. Wie hieß er noch? Cootie? Nein, Coobie. Der arme kleine Coobie. Ha!“

Sie zuckte kaum merklich mit den Schultern. Es war nur ein Tier.

„Wenn du das nicht tust, wirst du den Rest deines Lebens in einer dreckigen Gefängniszelle verbringen müssen. Und rechne nicht mit meinen Besuchen als dein Ehemann. Du wirst für immer alleine sein, denn wer sonst würde dich da besuchen?“

Beth hielt den Mund und sagte nichts, obwohl das Schweigen sie fast umbrachte. Drohungen gegenüber den Kindern ihrer Schwester ließen sich rationalisieren, die würden überleben. Aber sie würde nicht ins Gefängnis gehen. Gefängnis bedeutete, von noch fieseren, verrückteren Leuten umgeben zu sein als von denen in ihrem jetzigen Umfeld.

Danny redete weiter. Sie konnte den Klang seiner Stimme kaum ertragen, jedes Wort triefte vor eingebildeter Überlegenheit. Sie hasste ihn. Und sie liebte ihn. Oder doch nicht? Hätte sie die Kraft, dann würde sie ihn mit bloßen Händen erwürgen. Wie sehr würde sie es genießen zuzusehen, wie er zappelte und nach Luft schnappte, bis er schließlich für immer den Mund hielt. Aber dann wäre sie allein, und das wollte sie auch nicht. Sie stürmte zurück ins Badezimmer und schloss die Tür ab. Sie begann, die Karos auf der Tapete zu zählen.

Vier, acht, zwölf, sechzehn …

Die angespannte Falte auf ihrer Stirn vertiefte sich, bis sie in der oberen Ecke der Wand sechsundneunzig gezählt hatte. Sie drehte sich um und schloss die Badezimmertür auf.

Im Raum war es still.

Er war weg. Rastlos lief sie im Zimmer auf und ab und zupfte dabei an den langen blonden Haarsträhnen, die durch das viele Färben stumpf geworden waren. Sie öffnete den kleinen Kühlschrank. Auf der Tür klebte ein laminiertes Schild mit der Aufschrift „Bezahlung nach Verbrauch“. Ihre Hand zitterte so stark, dass ihr eine Miniflasche Schnaps entglitt und auf den Boden fiel. Sie hob sie auf, öffnete sie, trank sie aus und warf die leere Flasche zurück in den Kühlschrank. Wahrscheinlich kostete das Fläschchen mehr als ein ganzes Sixpack, aber das war ihr egal. Heute Nacht kümmerte es sie nicht. Nicht, solange sie die Kreditkartennummer einer anderen Person benutzte. Nicht bei dem, was sie vorhatte.

Nachdem sie zwei weitere Miniflaschen geleert hatte, klappte sie ihren Laptop auf und machte sich an die Arbeit. Ihre eigene Entschlossenheit überraschte sie. Danny würde sie in dieser Situation nicht in Ruhe lassen, bevor sie das erledigt hatte, was zu tun war. Sie wollte es als Chance ansehen, ihm endlich zeigen zu können, wer sie wirklich war. Wenn sie einmal töten konnte, dann konnte sie es auch wieder tun.

Und immer wieder.

Sie würde es überleben.

Kapitel Zwei

Jetzt geht es los!

Morgendlicher Nieselregen bedeckte die Windschutzscheibe. Beth ließ den Motor an, damit die Scheibenwischer die Glasfläche freimachten. Nach vier quietschenden Bewegungen, die Wischblätter mussten dringend ersetzt werden, stellte sie den Motor wieder ab und trank den Rest des verbrannten Kaffees aus der Hotellobby. Drei Päckchen Zucker und fünf Becher Kaffeeweißer machten ihn beinahe genießbar. Nur schade, dass er nicht gegen die pochenden Kopfschmerzen ihres Katers wirkte.

Den Blick auf das junge Paar gerichtet, drehte sie den Schlüssel im Zündschloss, sobald sich das andere Auto in Bewegung setzte. Mit einer Hand griff sie unter den Fahrersitz und tastete nach der Waffe, um sich zu vergewissern, dass sie an ihrem Platz war. Jetzt ging es los. Das Spiel hatte begonnen. Sie war tatsächlich dabei, es zu tun. Ihr Magen verkrampfte sich und sie verspürte den Drang, zur Toilette zu gehen, aber sie musste ihn unterdrücken. Es war nur Nervosität.

Kelly und Jason Smith – beide Mitte Zwanzig, seit etwas über einem Jahr verheiratet. Kelly war zierlich und hatte Kurven, dichtes welliges hellbraunes Haar wie aus einer Shampoo-Werbung, große braune Augen und ein wunderschönes Lächeln voller perfekter weißer Zähne. Ihr rosa Pullover sah weich und fluffig aus. Jason trug eine Brille mit Drahtgestell, hatte einen gepflegten kurzen Haarschnitt und sah nicht viel älter aus als einer dieser Eliteschüler, die in der Schule gestreifte Krawatten und dunkelblaue Mäntel trugen.

Sind sie nicht entzückend?

Es war leicht gewesen herauszufinden, welches Hotelzimmer sie belegt hatten.

Beth grinste verächtlich, während sie dem knallroten Jeep auf die Hauptstraße folgte. Die Köpfe der beiden pendelten auf und ab. Kellys langes Haar schwang hin und her. Was lief da in ihrem Auto ab? Ach je, echt jetzt? Sie wippten zur Musik. Wahrscheinlich sangen sie auch noch im Duett. Beth verdrehte die Augen. Ihr kam ein cleverer, fieser Gedanke, den sie beinahe laut Danny verraten hätte, doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie ja allein war.

Sie folgte dem Jeep in deutlichem Abstand. Aus dem Nieselregen wurde Dauerregen. Sie schaltete die Scheinwerfer und Scheibenwischer ein. Alle Regeln einhalten. Keine Aufmerksamkeit erregen. Es stand zu viel auf dem Spiel.

Jason war auf dem Weg zu einer Firma in der Stadt, mit der er ein Verkaufsgespräch führen wollte, seine Frau fuhr zur moralischen Unterstützung mit. Das hatte Beth herausgefunden, weil sie echt gut war. Natürlich hatte ihr die Tatsache, dass die Menschen ihr Leben so bereitwillig in den sozialen Medien mit jedem teilten, der sich dafür interessieren könnte, geholfen. Und Beth interessierte sich sehr für die Info, die Kelly Smith unbedingt mit anderen teilen musste. Kellys Neigung zum Posten hatte es Beth deutlich leichter gemacht, ihr online nachzustellen. Kelly postete alle Aktivitäten des Paares. „Geschäftstrip mit Spaßfaktor, weil ich mitkomme!“, verkündete Kelly auf ihrer sehr öffentlichen Facebook-Seite. Genauso gut hätte sie auch ein Schild an ihre Haustür hängen können, auf dem stand: „Wir sind beide nicht zu Hause, Einbrecher willkommen!“ Denn für Beth und auch jeden anderen war es ein Leichtes, die Privatadresse der Smiths herauszufinden. Und falls sie nichts hätten, was es wert wäre, gestohlen zu werden, könnte ein frustrierter Dieb ihre Wohnung zerstören, weil er sich umsonst die Mühe gemacht hatte. Das wusste Beth aus eigener Erfahrung. Als sie und Danny einmal in ein Haus eingebrochen waren und rein gar nichts Wertvolles fanden – nichts, was sie brauchen konnten, nichts, was sie haben wollten, und auch nichts, was wiederverkaufbar war –, hatten sie diesen Hausbesitzern eine Lektion erteilt, die sich gewaschen hatte.

Wie würden Beths eigene Beiträge wohl aussehen, wenn sie ihren Alltag mit aller Welt teilen würde? „Ein Supertag! Hab mich in ein Online-Konto gehackt und mit den Infos gleich drei neue Kreditkarten eröffnet! Jippie! Ach ja, und dann hat Danny mir eine geknallt und mir einen Zahn ausgeschlagen, weil er völlig zugedröhnt war und ich nicht wusste, wo die TV-Fernbedienung war. Kann mir jemand einen guten Zahnarzt empfehlen?“ Ha! Die Welt würde ihre schmutzigen kleinen Geheimnisse nur zu gern erfahren. Doch sie machte ihr Kommen und Gehen nie öffentlich. Die Leute sollten es eigentlich besser wissen und nicht so blauäugig sein. Sonst geschah es ihnen nur recht, wenn sich jemand mit ihrem Flachbildfernseher davonmachte, ihre Wände mit Zahnpasta und ihre Möbel mit Sirup vollschmierte oder sich ihre Identität auslieh, bis ihr Überziehungskredit ausgeschöpft war.

Nach ein paar Minuten schaltete Jason den rechten Blinker ein und bog mit dem Auto auf den Parkplatz eines Einkaufszentrums mit Geschäften und Restaurants ab, darunter ein großer Target-Supermarkt und ein Outlet der Elektronikkette Best Buy, doch hauptsächlich kleine Franchise-Unternehmen, wie sie in den meisten amerikanischen Einkaufszentren zu finden sind. Würde er hier das Verkaufsgespräch führen? Beths Herz schlug etwas schneller, so als würde es sich für das große Ereignis aufwärmen.

Autos rollten langsam in alle Richtungen, auf und ab auf dem überfüllten Parkplatz, da keiner die Strecke von den leeren Plätzen weiter weg von den Eingängen zu Fuß zurücklegen wollte, nicht jetzt, während aus dem Dauerregen fast ein Wolkenbruch wurde. Beth betete, dass Jason hinter die Geschäfte abbiegen würde, dort, wo die LKWs ihre Ladung abluden und sich keine Menschen aufhielten. Und dann? Die beiden hinter dem Einkaufszentrum erschießen? Wie sollte das funktionieren? Vielleicht hatte sie das Ganze doch nicht so gut durchdacht, wie sie es hätte tun sollen. Bis jetzt hatte sie geglaubt, es würde reichen, ihre Ziele ausfindig zu machen und ihnen zu folgen.

Bei dem starken Verkehr, der sich über den Parkplatz des Einkaufszentrums schlängelte, und einigen Autofahrern, die verdammt aggressiv waren – Hey, heute ist kein Sale, Lady! – hatte Beth keine andere Wahl, als dicht hinter dem Jeep zu bleiben oder das Risiko einzugehen, die Smiths zu verlieren. Jason steuerte direkt auf den Bordstein zu und hielt an. Hinter ihm trat Beth gerade noch rechtzeitig auf die Bremse. Die Beifahrertür des Jeeps schwang auf und Kellys wohlgeformte Beine, die in engen Yogahosen steckten, kamen zum Vorschein. Mit eingezogenem Kopf rannte Kelly zum nächsten Geschäft, dem Nagelsalon Plush Nails. Er sah nicht aus wie ein Laden für Reiche. Das H und das N hingen schief am Schild. Ein heftiger Windstoß würde die Buchstaben wegtragen. Also begleitete Kelly Jason doch nicht zum Verkaufsgespräch. Stattdessen würde sie sich aufhübschen lassen, während ihr Mann den harten Job erledigte. Beth runzelte die Stirn und zog die Unterlippe mit den Schneidezähnen zurück. Das war nicht gut, gar nicht gut. Für ihr Vorhaben mussten die beiden zusammenbleiben.

Im Türrahmen warf Kelly ihrem Mann eine Kusshand zu. Aber ihre Hand war nicht auf den Fahrersitz des Jeeps gerichtet. Beth wich mit dem Oberkörper zurück und folgte mit den Augen Kellys Blick. Offensichtlich hatte sie etwas verpasst.

Jason war aus dem Auto gestiegen. Als Regenschutz hielt er sich eine Zeitschrift über den Kopf, während er direkt auf Beth zu eilte und sie durch die Windschutzscheibe anstarrte. Sein Gesicht wirkte entschlossen. Beth spürte einen Adrenalinstoß und stand kurz vor einer Panikattacke. Was würde er jetzt tun? Er hatte sie offensichtlich erkannt. Sie riss das Lenkrad nach links, doch eine Reihe von Autos neben ihr, die Stoßstange an Stoßstange standen und sich kaum bewegten, verhinderten die sofortige Flucht. Hastig blickte sie in den Rückspiegel, während sie den Rückwärtsgang einlegte, doch hinter ihr versperrte ihr ein Wagen den Weg.

Jason war nur noch wenige Schritte entfernt.

Ihr Herz raste, während sie sich vorbeugte und die Glock unter dem Sitz hervorholte. Ihr Magen verkrampfte sich, als sie die Hand um den Griff legte. Jetzt stand er wahrscheinlich schon vor ihrem Seitenfenster. Es waren zu viele Leute in der Nähe. Das hier war der falsche Ort! Sie würde sicher beim Versuch, ihn zu erschießen, erwischt werden. Sie schob die Waffe unter ihr T-Shirt und zuckte vor Panik zusammen. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie sich nicht zutraute, den Revolver zu benutzen – schon gar nicht, wenn er dicht an ihrem Bauch lag.

Ein Klopfen am Seitenfenster ließ sie hochschrecken, während sie die Waffe immer noch unter ihrem Hemd hielt.

„Hey!“ Jason sah sie direkt an.

Ihr blieb keine Wahl. Sie zog die Waffe unter dem T-Shirt hervor.

Jason stand mit eingezogenem Kopf im strömenden Regen und zeigte auf die Fahrzeugfront ihres Autos. „Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Ihr rechter Scheinwerfer nicht funktioniert. Nicht dass Sie einen Strafzettel bekommen.“

Dann trottete er davon, den Kopf noch immer mit der durchnässten Zeitschrift bedeckt, die Schultern seines Mantels dunkel vom Regenwasser.

Wie vor den Kopf gestoßen saß Beth da und starrte in den dichten Regenvorhang, ohne ihn und das unaufhörliche Trommeln der Tropfen auf dem Wagendach wahrzunehmen. Danny hatte recht, sie konnte es nicht tun. Und in diesem Moment war sie noch nicht einmal imstande, Auto zu fahren, geschweige denn, irgendwelchen Leuten zu folgen und zu tun, was getan werden musste, ohne dabei erwischt zu werden. Aber das war noch nicht alles, was sie aus der Fassung brachte. Es gab noch etwas anderes an der kurzen Begegnung, was sie stutzig machte. Jason hatte sich nicht so verhalten, als hätte er sie wiedererkannt. Kein bisschen. Es sei denn, er hatte ihr was vorgespielt, um sie zu verwirren. Vielleicht war das die Erklärung. Vielleicht funktionierte das Licht ja doch, und die Story vom kaputten Scheinwerfer war nur ein Trick, um sie aus dem Auto zu locken. Abrupt schaute sie nach links und nach rechts, doch sie sah niemanden sonst.

Jason bog mit seinem Wagen bereits wieder in den zäh fließenden Verkehr ein.

Beth fuhr langsamer als erlaubt zum Hotel zurück. Sie sog die Luft in hastigen Zügen ein, murmelte einen Rhythmus vor sich hin und zählte jede vierte kratzende Wischbewegung der Scheibenwischer.

„Vier, acht, zwölf, sechzehn, zwanzig, vierundzwanzig, achtundzwanzig, zweiunddreißig … Vier, acht, zwölf …

***

„Ich hab doch gewusst, dass du es nicht kannst“, sagte Danny verächtlich. „Dein Fehler hat die Sache nur noch schlimmer für dich gemacht. Du bist irgendwie … auffällig, weißt du. Mit den dunklen Haarwurzeln und dem blaulila Fleck stichst du heraus wie eine Hexe.“

Eine Hexe? Sie war nicht hässlich. Sie hatte sich immer für irgendwie attraktiv gehalten – sie hatte eine normale Größe und könnte eine bessere Figur haben, aber sie war nicht gerade dick –, bis Danny angefangen hatte, sie vom Gegenteil zu überzeugen. „Der blaue Fleck, wessen Schuld ist das?“ Sie ließ sich in die Ecke des Sofas im Hotelzimmer sinken und schnappte sich ein Kissen für den Fall, dass sie ihr Gesicht schützen musste. Danny fand immer eine Erklärung dafür, dass alles ihre Schuld war. Zum Beispiel, dass er ohne sie im Luxus leben, einen Mercedes fahren und bei den Spielen der Wizards in der ersten Reihe sitzen und Bier bestellen würde. Träum weiter, Danny!

„Jetzt hat er dich aus der Nähe sehen können. Jetzt weiß er genau, wie du aussiehst. Jetzt wird es für ihn ganz einfach sein, dich bei einer Gegenüberstellung zu identifizieren, sobald die Polizei dich festnimmt. Da stellen sie dich dann in eine Reihe mit vier anderen Tussis, die ihre besten Jahre hinter sich haben …“

„Er hat sich nicht so verhalten, als würde er mich wiedererkennen. Ich meine, er …“

Danny grunzte. „Viel Spaß im Gefängnis. Ich bin mir nicht sicher, ob du da klarkommst. Du hältst es doch nicht aus, allein zu sein, stimmt’s? Dann drehste durch und fängst an, Sachen zu zählen wie eine verdammte Irre. Du bist echt nicht ganz dicht!“ Er grinste höhnisch und warf den Kopf zurück. „Sie werden dir keine Stifte geben, weil du dir sonst die Augen ausstechen könntest. Aber du kannst mit deinem eigenen Blut Striche auf die Betonwände machen, einen für jeden Tag. Ha! Davon wirst du jede Menge haben, du wirst Striche zählen, bis du ’ne alte Schachtel bist. Eins, zwei, drei, vier, fünf … ach nein, nicht fünf! Ich kann nicht mit einer ungeraden Zahl aufhören, weil ich eine Verrückte bin! Es sei denn … es sei denn, sie knüpfen dich auf, jagen dir Strom durch die Venen oder was auch immer sie heutzutage tun, um durchgeknallte Mörder loszuwerden.“

Sie biss die Zähne zusammen und wandte den Blick von Danny ab. Sie hatte die Wippbewegungen ihres Beins gezählt. Sie drückte sich die Hand aufs Knie und hielt es fest, aber die Zahlen verstummten nicht, sie wurden in ihrem Kopf nur noch schneller und lauter.

Ich gehe nicht ins Gefängnis!

Der Tag fing gerade erst an. Sie würde warten, bis die Smiths wieder zusammen waren. In der Zwischenzeit gab es ja noch mehr Personen auf ihrer Liste. Wie viele es waren, wusste sie genau: sieben. Sie hatte sie immer wieder gezählt.

Das nächste Mal würde sie nicht scheitern!