Leseprobe Das Geheimnis von St. Benet's

Prolog

Lancashire, 2022

Kalter Wind fegte durch das verlassene Borough im Norden Englands und wirbelte Susan unangenehm um die Nase, während sie auf das große schmiedeeiserne Friedhofstor zuging. Ihr Spaziergang von der nächsten Busstation hierher hatte eine halbe Ewigkeit gedauert. Wäre das Auto nicht gerade in der Werkstatt gewesen, wäre sie deutlich angenehmer gereist. Selbst schuld, sagte sie sich. Du wolltest dich wieder mehr bewegen und warst zu knausrig für ein Taxi.

Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, um nicht auszurutschen. Hier draußen sagten sich Fuchs und Hase Gute Nacht, denn das Leben spielte sich eindeutig in den südlicheren Gemeinden ab.

Schneeverwehungen bedeckten die selten befahrenen Straßen, und kaum ein Mensch verließ freiwillig sein kuscheliges Cottage. Die Backsteinhäuser waren unter dicken Schneedecken verborgen, und hier und da rauchte es aus dem Schornstein. Von den wilden englischen Gärten und saftigen grünen Wiesen, für die der Ort bekannt war, war weit und breit nichts zu sehen. Auch der Pendle Hill und seine Schafweiden waren in ein hübsches weißes Gewand gekleidet.

Susan schlug den Mantelkragen hoch und versteckte ihre bebenden Finger wieder in den Taschen, in denen sie nach ihren Zigaretten wühlte. Ihre Anspannung durfte sich nicht bemerkbar machen, sobald sie die Kirche betreten hatte.

Eine Weile sah sie nur durch das Gitter und rauchte ihre Zigarette. Sie ließ ihren Blick über den ruhigen Friedhof wandern, der ebenfalls mit einer Schneeschicht bedeckt war.

Der Geruch von Holz und Ruß stieg ihr in die Nase, weil die meisten der Einwohner ihre Kamine anheizten. Manchmal knackte oder tropfte es irgendwo, doch der auffrischende Wind schluckte bald auch diese Geräusche.

Einzelne Kreuze ragten aus der dichten weißen Decke heraus, die erst unter einer großen Tanne endete, deren Äste schwer herabhingen. Susan erspähte Tierspuren im Schnee, der ansonsten unberührt war.

Nicht einmal die Wege sind freigeräumt, dachte sie kopfschüttelnd. Ein feines Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

Dieser Nathan Shaw – oder wie auch immer Hughings langjähriger Totengräber hieß – schien sich lieber um andere Dinge zu kümmern als um die Belange der Kirche und ihrer Gläubigen. Noch ein Grund mehr, St. Benet’s endlich den Garaus zu machen. Susan hatte die besten Voraussetzungen für ihren Zukunftsplan.

Ein Knacken neben ihr ließ sie herumfahren. Der Wind bewegte die kahlen Zweige eines Baumes, die wie dürre Arme nach ihr zu greifen schienen. Sie hielt die Luft an und lauschte, aber der Schatten, den sie sich eben noch an der Friedhofsmauer eingebildet hatte, tauchte nicht wieder auf. Vielleicht nur eine streunende Katze, dachte sie angespannt und drückte ihre Zigarette mit der Schuhspitze aus. Selten dämlich, hier allein rauszufahren, und dann auch noch ohne Auto. Was, wenn er mir gefolgt ist …

Es war erst achtzehn Uhr, aber sie hatte das Gefühl, mitten in der Nacht angereist zu sein. Niemand ließ sich blicken, und der Himmel war pechschwarz. Für Mitte Dezember nichts Neues.

Ein Rabe saß auf einem Grabstein und beobachtete argwöhnisch jede von Susans Bewegungen. Als sie ihre Finger um die kalte Klinke der großen Pforte legte, kreischte er und flog davon. Ihr lief eine Gänsehaut über den Rücken. Ein schauriger Ort. Na, zum Glück bringst du bald etwas Leben hier rein. Dieses Kaff hat nur auf eine Frau wie dich gewartet.

Wie lange hatte sie Pendle nicht mehr besucht? Vier Monate oder schon ein halbes Jahr? Damals war es jedenfalls noch hell und warm gewesen. Dieses Mal würde ihr der alte Reverend ganz sicher nicht mehr durch die Finger rutschen.

Susan sah hinauf zum Kirchturm von St. Benet’s, an dem ein großer heller Stern hing, der die Einwohner auf Weihnachten einstimmte. Sein Licht reichte kaum bis zum ersten Grabstein.

Sie fühlte sich unwohl auf dem verlassenen Friedhof und beeilte sich, durch den tiefen Schnee zu waten und unter das rettende Dach der Kirche zu kommen. Ihre Füße wurden nass, und sie fluchte leise.

Plötzlich trat sie ins Leere und strauchelte. Beinahe fiel sie in eine Grube, konnte das Gleichgewicht aber halten. Wo der Weg begann und wieder aufhörte, konnte sie aufgrund von Dunkelheit und Schnee nicht genau erkennen.

Susan lachte heiter, um die Anspannung loszuwerden, die sie wie eine Hand im Nacken gepackt hielt. Nun falle ich auch noch fast in ein frisches Grab! Verrückter könnte dieser Tag nicht werden!, dachte sie kopfschüttelnd und suchte sich den sichersten Pfad an dem Loch vorbei.

Erst vor der großen hölzernen Pforte atmete sie wieder aus. Das unangenehme, nasse Klatschen in ihrem rechten Schuh ließ sie seufzen. Hoffentlich erkälte ich mich nicht auch noch. Das kann ich jetzt gar nicht gebrauchen. Danach straffte sie die Schultern, streckte ihre Brust raus und hob das Kinn ein Stück an. Diesen Auftritt hatte sie lange geübt. Mit einem Lächeln betrat sie das Gotteshaus.

Sie brauchte nicht lange, um den Reverend zu finden, denn er kniete vor dem Altar und schien ins Gebet vertieft zu sein.

»Peter, wir müssen reden! Es ist dringend!«, rief sie barsch. Er sollte nicht meinen, dass sie Rücksicht walten ließ, nur weil er ein alter Mann und ein Geistlicher noch dazu war. Mit der Kirche konnte Susan ohnehin nichts anfangen.

Hughings Oberkörper zuckte, und sein Rücken versteifte sich. Er hatte sie gehört, hielt den Blick jedoch starr auf das große Kreuz gerichtet.

Susan setzte sich gelangweilt auf eine Kirchenbank und wartete ab. Was blieb ihr auch anderes übrig? Schon jetzt war sie genervt. Sie beobachtete eine junge Messdienerin mit großen schwarzen Locken, die auf und ab ging, um irgendwelchen Arbeiten nachzukommen. Im Anschluss vertrieb sich Susan die Zeit mit einem Handyspiel, nachdem sie ihren feuchten Schuh ausgezogen und zum Trocknen neben sich gestellt hatte. Als sie eine Bewegung wahrnahm, sah sie auf.

Hughing war aufgestanden und sprach kurz mit der Ministrantin. Er schickte sie weg, sodass sie endlich allein waren. Sein Blick ruhte nun ganz und gar auf Susan. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Miss Mcanally?« Sie sah ihm an, dass er sich um eine freundliche Miene bemühte. Am liebsten hätte er sie wahrscheinlich rausgeworfen.

Sie klopfte neben sich auf die Bank und bildete sich ein kleines Schmunzeln auf seinen Lippen ein, während sein Blick ihren losen Schuh streifte. Als er sich hinsetzte, knackten seine Gelenke.

Susan grinste. »Sie wissen ganz genau, weswegen ich hier bin, Reverend.« Sie zog sich den roten Schal vom Hals und legte ihn in ihren Schoß. Er war das Einzige, was etwas Farbe in diese trostlose Kirche brachte.

Hughing atmete hörbar aus und verschränkten die Finger vor dem Bauch, als wollte er beten. Sicher musste er sie beschäftigen, um Susan nicht an die Gurgel zu gehen. Sie fragte sich, ab welchem Moment ein stoisch ruhiger Mann wie er wohl die Fassung verlor. Selbst ein Pfarrer hatte seine Grenzen und war auch nur ein Mensch.

»Ich weiß nicht, wie oft ich es Ihnen noch erklären soll, Miss Mcanally. Diese Gemeinde braucht ihre Kirche. Sie steht hier bereits seit Hunderten von Jahren. Diesen Ort der Ruhe können Sie nicht einfach räumen, wie es Ihnen beliebt. Die Einwohner kommen hierher, um Frieden zu finden und um zu beten, ihre Angehörigen zu beerdigen und Hochzeiten zu feiern. Lassen Sie ihnen bitte diesen besonderen Fleck Erde.«

Susan grinste noch etwas breiter. »Sie haben Angst um Ihren Platz in der Gesellschaft. Aber früher oder später werden wir alle ausgetauscht. So ist der Lauf des Lebens.«

»Nicht meiner und nicht der einer Kirche. Gott hat kein Verfallsdatum.« Sein ernster Blick wanderte wieder zum Kreuz. Tiefe Schatten legten sich auf sein Gesicht.

»Oh, Peter«, säuselte Susan gespielt mitleidig und legte ihm eine Hand auf die dürre Schulter. Sie hatte das Gefühl, direkt einen Knochen zu berühren statt einer Soutane, in der ein lebendiger Mann steckte. »Die Kirche mit ihren verstaubten, frauenfeindlichen Ansichten ist nicht das, was die zukünftigen Einwohner von Pendle wollen. Ein modernes Begegnungszentrum könnte auch Nichtgläubige anlocken und wieder etwas Schwung ins Borough bringen. Sie sehen ja, wie wenig hier draußen passiert. Kein Wunder, dass höchstens ein paar Hexenverehrer herkommen, um den Pendle Hill unsicher zu machen.«

Hughing schmunzelte kurz. »Wir leben von diesem Tourismus, so verrückt er auch sein mag.«

Susan verdrehte die Augen. »Sie wollen mir weismachen, dass Sie froh über diese Spinner sind? Als Mann Gottes?«

»Jeder Mensch glaubt an etwas. Ich schreibe ihm nicht vor, wie er denken soll. Meine Kirche steht allen offen, selbst wenn man nach E.T. sucht.« Er zwinkerte.

Seine lockere Art brachte Susan langsam aus der Fassung. Sie hatte geglaubt, ihn mit ihrem Überraschungsbesuch überrumpelt zu haben, aber der Alte schauspielerte besser als gedacht.

»Peter«, sagte sie eindringlich und appellierte an seinen Verstand. »Pendle muss endlich einen Aufschwung erleben. Bitte seien Sie vernünftig, oder möchten Sie mit ansehen, wie diese Gemeinde langsam zu Staub zerfällt? Es gibt kaum Zuwachs, und das Durchschnittsalter der Einwohner ist meines.«

»Also Ende zwanzig?«

Susans Lachen hallte von den hohen Kirchenwänden wider. Die Flammen der Kerzen flackerten, und unheimliche Schatten tanzten auf den Bänken. Wie konnte man bloß freiwillig so viel Zeit hier verbringen? Es roch nach Weihrauch, und die Kälte kroch langsam ihre Beine hinauf. Kirchen waren ihr immer schon zuwider gewesen. Als überzeugte Single-Feministin beugte sie sich weder einem herrischen Mann noch einem Gott, an dessen Existenz sie nicht glaubte.

»Sie alter Schmeichler«, antwortete sie glucksend. Ihr Blick wanderte automatisch zu ihren Händen, denen man ihr wahres Alter längst ansah. Aber auch mit Ende fünfzig waren ihre besten Jahre noch lange nicht vorbei. »Sehen Sie denn immer noch nicht ein, dass die Zeiten der Kirche vorüber sind? Der Trend geht weg davon. Ihre Gemeinde wird Sie als Ansprechpartner nicht verlieren, sobald das Begegnungszentrum gebaut ist. Ich habe mir bereits ein Konzept überlegt und finde, dass Sie eine große Rolle spielen könnten. Die Stelle wird ordentlich honoriert.« Susan wühlte in ihrer Tasche und reichte ihm eine Broschüre.

Hughing bewegte sich kein Stück und sah sie nur an. Er hatte diese einnehmende Art. Ein einziger Blick aus seinen scharfsinnigen, blauen Augen reichte, um Susan zu verunsichern. Eine Frau, die sich sonst von niemandem einschüchtern ließ – oder zumindest so tat. Um als Geschäftsfrau zu bestehen, musste sie stark sein. Das hatte ihr Silva mehr als ein Mal verdeutlicht.

»Woher wollen Sie wissen, was diese Menschen brauchen, Miss Mcanally? Ich lebe seit meiner Jugend jeden Tag unter ihnen, höre mir ihre Sorgen und Nöte an und versuche zu helfen, wo ich kann. Sie hingegen sind eine Fremde, zu denen sie erst Vertrauen aufbauen müssen.«

Susan nahm den Faden sofort auf und nutzte ihn für ihre Zwecke. »Und genau deshalb kommen jetzt Sie ins Spiel. Haben Sie es nicht satt, den lieben langen Tag auf dieser Kanzel zu stehen und eine halb gefüllte Kirche zu bespaßen?«

»Und wenn es nur eine einzige Person wäre … Es ist nicht nur mein Beruf und erst recht kein Spaß, sondern meine Bestimmung. Der Herr hat mir eine Aufgabe hier auf Erden gegeben. Ich bin sein Diener.«

»Diener, wenn ich dieses Wort schon höre!«, schimpfte sie und stopfte die Unterlagen zurück in ihre Tasche. »Sie sind genauso stur wie Ihr Kollege aus Great Mitton.«

»Meinen Sie Josh Palmer aus der St. Michael’s Church? Ich hätte nicht gedacht, dass er bei diesem lukrativen Angebot standhaft bleibt, ist er doch mehr an der Bezahlung als an seiner Berufung interessiert.«

Susan bildete sich einen knurrenden Unterton ein.

»Leben Sie lieber in der Neuzeit statt im Mittelalter, Reverend. Sie wissen, dass dieses Zentrum gebaut wird, ob mit Ihrer Erlaubnis oder ohne. Ich wollte Ihnen nur entgegenkommen.«

»Das sind Sie, aber ich lehne dankend ab.«

Wieso muss er immer so verflucht sympathisch dabei bleiben?, dachte sie verärgert.

Susan legte ihre Hand auf seinen Arm und krallte sich in der Soutane fest. »Pendle braucht diesen Aufschwung, und das sieht John Birming ganz genauso. Es gibt kein Zurück mehr für die St. Benet’s Church. Begreifen Sie das doch endlich! Ich werde morgen früh mit den Anträgen ins Rathaus gehen und meine Pläne vorstellen. Und noch nie hat jemand zu Susan Mcanally Nein gesagt, das können Sie mir glauben.«

»Ich schon, und ich bleibe bei meinem Nein. Drohen Sie mir etwa?«

Sie setzte ein liebreizendes Lächeln auf, das auf ihn wahrscheinlich fies wirkte. »Aber nicht doch. Ich möchte Sie nur nicht in Ihr eigenes Unglück rennen lassen. Es ist ein Freundschaftsdienst, dass ich heute hier bin. Sie sollen nicht erst aufwachen, wenn Bagger und Abrissbirne vor dem Friedhofstor stehen.«

Hughing runzelte die Stirn. »Aber wieso gehen Sie damit zu Birming? Ist er nicht bloß der Assistent des Bürgermeisters?«

»Sein Stellvertreter, richtig. Er wird seinen Vorgesetzten dazu bewegen, zuzustimmen. Es ist nur eine Frage der Zeit. Ihrer maroden Kirche bleibt nun nicht mehr viel davon.« Susan schlüpfte in ihren kalten Schuh, stand auf und funkelte von oben auf ihn herab. Von hier konnte sie die kahle Stelle auf seinem schlohweißen Kopf noch etwas besser sehen. »Denken Sie bitte über mein Angebot nach. Sie könnten der Gemeinde auf diese Weise erhalten bleiben und weiterhin mit Menschen zusammenarbeiten. Ist es Ihnen nicht wichtig, was die Leute wollen?«

»In erster Linie geht es ihnen darum, Frieden zu finden und einen Ansprechpartner zu haben. St. Benet’s ist und bleibt ein wichtiges Glied dieser Gemeinde. Das Gebäude ist uralt und ein fester Bestandteil des Stadtbildes. So einfach werden Sie Ihre verrückten Pläne von einem Abriss und Neubau sicher nicht durchbringen, Werteste. Außerdem werden Sie sich auf jede Menge Papierkram gefasst machen müssen. Einen ganzen Friedhof versetzt man nicht so ohne Weiteres.« Er lächelte selig.

»Das werden wir ja sehen«, zischte sie. »Ich habe mich belesen und kenne meine Rechte. John Birming ist derselben Meinung wie ich: Ein Friedhof macht sich direkt am Pendle Hill ohnehin besser. Die Touristen wären gut beschäftigt, wenn sie auf Geisterjagd gehen. Niemand wird das Begegnungszentrum stören.«

Hughings Augenlid zuckte. Nun hatte sie ihn doch erwischt! Susan grinste siegesgewiss. Die Vorstellung, dass die Verstorbenen seiner Gemeinde als Touristenmagnet ausgenutzt werden sollten, störte ihn merklich. Er fasste sich dennoch schnell.

»Nur um das Kirchengebäude ist es schade«, redete sie weiter und genoss jeden Dolchstich, den sie diesem unbeugsamen Pfarrer versetzen konnte. Endlich fühlte sie sich wieder mächtig. Wie sie dieses Gefühl liebte! »Das wird wohl nicht wiederaufgebaut. Aber was soll’s. Dafür wird die Zukunft endlich Einzug finden und diesem gottverlassenen Borough ein bisschen Strahlkraft zurückbringen.« Sie zuckte betont gelangweilt mit den Schultern.

Hughing erhob sich schneller, als sie für möglich gehalten hätte. Er kniff die Augen zusammen. »Hören Sie, Miss Mcanally, das hier ist nicht irgendein lustiges Kinderspiel. Ich finde Ihre Art und Weise weder witzig noch angebracht. Sie kommen in das Haus Gottes und bedrohen mich und meine Gemeinde mit Ihrem Plan.«

»Ich drohe nicht, ich bereite meine Gegner bloß gern auf ihren Untergang vor.« Sie warf sich das eine Ende ihres Schals elegant über die Schulter. »Wir sehen uns spätestens vor Gericht, Reverend. Beten Sie lieber dafür, dass man nicht auch noch Pendles Friedhof dem Erdboden gleichmacht.«

»Sie werden niemals damit durchkommen«, raunte er. »Dieser heilige Ort steht seit vielen Jahrzehnten unter Denkmalschutz. So einfach kann man die Gesetze nicht umgehen, wie Sie das glauben. Da können noch so viele Bürgermeisteranwärter und Rechtsverdreher kommen. St. Benet’s bleibt!«

Er machte keine Anstalten, Susan zur Tür zu begleiten, sondern wies ihr den Ausgang.

***

Zufrieden mit sich und ihrem Gespräch verließ Susan die Kirche. Inzwischen ärgerte sie sich nicht mehr darüber, dass der alte Pfarrer ihr großzügiges Angebot abgelehnt hatte. Sie würde ihn sowieso nicht gebrauchen können, sobald das Begegnungszentrum erst einmal stand.

Noch auf dem Friedhof zückte sie ihr Handy und rief Silva an. Ihr Assistent war ebenso wenig überrascht wie sie, dass Hughing nicht mitspielte und sich gegen den Abriss wehrte. Er lebte noch weit in der Vergangenheit und würde auch immer so weitermachen, solange seine Messe besucht wurde. Einen alten Baum verpflanzte man eben nicht.

»Wir können starten. Ich werde morgen mit dem Bürgermeister sprechen und mir diese Unterschrift holen. Ich lasse nicht zu, dass uns irgendjemand in die Quere kommt. Dieses … Gesindel weiß nicht, mit wem es sich hier anlegt. Und der Alte hat sie nicht mehr alle, wenn er mein Angebot ablehnt. Er bekommt einen Tag Bedenkzeit.« Sie drückte ohne ein Abschiedswort auf den roten Hörer und steckte das Telefon wieder weg.

Susan meinte, Stimmen zu hören, die der Wind zu ihr herüberwehte. Es klang wie ein Streit unter Männern, aber sie war sich nicht sicher und achtete nicht weiter darauf.

Sie fuhr herum, als es ganz in ihrer Nähe knirschte. Für die Katze von vorhin hatte es sich zu schwer und laut angehört. Gab es hier draußen Bären? Es war irgendwo von der zugeschneiten Tanne gekommen. Vielleicht ein Ast, der abgebrochen und dumpf zu Boden gefallen war. Den säuselnden Wind schloss sie aus und suchte andere Erklärungen für das eigenartige Knirschen im Schnee. Fast hatte es sich nach Schritten angehört, doch hier draußen trieb sich im Moment niemand herum – niemand außer ihr.

Höchstens dieser unzuverlässige Totengräber würde sich um ein paar Angelegenheiten kümmern. Da er es allerdings nicht einmal schaffte, den Weg freizuräumen, wäre ihm alles andere wahrscheinlich auch egal.

Susan stieß warme Atemwolken aus und schnürte den Mantel enger. Dann beschleunigte sie ihre Schritte lieber, um von diesem Ort zu verschwinden. Obwohl sie nicht abergläubisch war, lief ihr ein Schauer über den ganzen Körper.

Sofort sehnte sie sich nach einer heißen Milch mit Honig, ihrer gemütlichen Couch, auf der sie sich in einer Decke einkuscheln würde, und nach ihrem Kamin, der in diesem Winter noch kein einziges Mal angefeuert worden war. Es wurde höchste Zeit, ins Warme zu kommen, nachdem sie ebenso in der Kirche gefroren hatte und ihre nassen Zehen immer starrer wurden.

Susan biss sich auf die Zunge und taumelte nach vorn, als sie einen heftigen Schlag auf ihrem Hinterkopf spürte. Vielleicht ein herabfallender Ast, der sie unglücklich getroffen hatte.

»Autsch!«, rief sie überrascht und stöhnte vor Schmerz auf.

Die Worte vergingen ihr, als ein zweiter Aufprall folgte. Sie ging in die Knie und fasste sich instinktiv an die pochende Stelle. Ihre Hände waren dunkel verklebt, und der Schnee unter ihr besudelt. Blut! Ich blute!

Keuchend kroch sie durch den Schnee, dessen Kälte sie kaum noch fühlte. Stirn und Wangen erhitzten sich, und sie hatte das Gefühl, dass ihr Schädel jeden Augenblick platzte. Ihr war noch nie so heiß gewesen wie in diesem Moment. »Hi…lfe!«, krächzte sie mit letzter Kraft.

Ein weiterer Schlag hinderte sie an der Flucht. Susan gurgelte und würgte, als sie das Blut nun auch noch schmeckte. Sie spuckte in den Schnee.

Kälte und Schmutz waren ihr auf einmal egal. Sie wollte bloß noch weg von hier! Fort von diesem Teufelsort! Weg von ihrem brutalen Angreifer!

Susan versuchte aufzustehen, strauchelte aber. Ihr Kopf schmerzte höllisch, und es kam ihr vor, als würden Hunderte Bienen darin im Kreis schwirren. Wieder fiel sie zu Boden und landete mit dem Gesicht im Schnee. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen, und es drohte eine Ohnmacht.

Sie sammelte sich. »Neeeein!«, schrie sie, so laut sie konnte. »Hilfeeee! Ist … Ist hier denn niemand? Ich brau…che Hilfeeee!« Aus ihrem Mund drang nicht mehr als ein klägliches Jaulen, das man genauso gut für den Wind hätte halten können.

Niemand würde sich an diesem Winterabend auf den Friedhof begeben und sie retten. Es war aussichtslos. Susan weinte und flehte um Gnade, als sie sich mühsam umdrehte.

»Aber … wieso?«, krächzte sie die Gestalt im Schatten an, die etwas Großes in der Hand hielt. Ihr Angreifer konnte nur einer sein. Wer sonst sollte sie so sehr hassen? »Peter, du mieser kleiner …« Weiter kam sie nicht, als sich die Person aus dem Schatten löste und ins Licht trat. Den blutigen Stein hob sie weit über den Kopf und ließ ihn ein letztes Mal auf Susan niedersausen.

Er traf sie an der Stirn. Susan hörte ein Knacken, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie konnte sich nicht mehr bewegen, geschweige denn etwas sagen. In ihrem Kopf herrschte nichts als Stille. Selbst der brennende Schmerz verschwand in diesem einen Augenblick. Nur Sekunden später wurde alles schwarz.

1. Kapitel

Lancashire, 2023

»Alethea, könnten Sie nach Mr Pearls Grabgestecken sehen? Er sagt, dass ein großer Kranz abhandengekommen sei. Das wäre dann der dritte in diesem Monat.« Reverend Hughing seufzte tief.

Thea stellte die Schubkarre ab und warf ihre Arbeitshandschuhe hinein. Sie wischte die verschwitzten Hände an ihrer Latzhose trocken und ging auf die andere Seite des St. Benet’s Churchyard. Dank ihrer festen Schuhe mit den griffigen Sohlen konnte sie wunderbar über Schnee gehen, ohne auszurutschen.

Thea sah hinauf in den grauen Himmel. Sogar die Luft roch bereits nach Schnee, ohne dass man etwas davon sah. Lange würde es nicht mehr dauern.

Sie bemerkte sofort, dass einer der Trauerkränze fehlte. Der verwirrte Mr Pearl hatte es sich also nicht bloß eingebildet.

Seine Frau Thelma war vor zwei Wochen beerdigt worden. Er hatte darauf bestanden, dass die Kränze so lange blieben, bis die Arbeit an ihrem Grabstein beendet war, der derzeit von einem Steinmetz aus der Gegend gefertigt wurde und das karge Holzkreuz ersetzen würde.

Thea zählte noch einmal durch und versuchte, sich an das Begräbnis zu erinnern, für das sie ein Loch ausgehoben hatte. Für gewöhnlich schloss sie das Grab nach der Trauerrede des Pfarrers und richtete die Kränze und Schleifen so an, dass sie nicht wegwehten und auch sonst keine Schäden davontrugen.

Schon wieder dieser Waschbär, dachte sie entrüstet. Erst vorige Woche hatte sie das Tier auf dem Friedhof erwischt und die Tage darauf immer mal wieder seine Spuren entdeckt. Er schien es auf die Eicheln und Nüsse abgesehen zu haben, die manche Leute in ihre Kränze flochten. Thea wunderte sich trotzdem, dass jedes Mal der komplette Kranz verschwand und sie auch keine Reste mehr von ihm fanden.

Sie arrangierte die restlichen Gestecke neu, damit es schön aussah und der trauernde Mr Pearl vorerst besänftigt war.

Thea sah zum Grab ihres Vaters hinüber, auf dem wieder einmal weiße Lilien lagen. Seit sie wusste, dass Fiona Healy als Nathans gute Freundin dahintersteckte, war sie beruhigter. Dennoch machte sich ein mulmiges Gefühl in ihr breit.

Sie hatte ihren Vater kaum kennengelernt und ihn immer verteufelt, weil er seine Familie im Stich gelassen hatte, um in Pendle zu leben. Der Gedanke, dass er ein beliebter Mann mit allerlei Freunden gewesen war, während ihre Mutter gegen den Krebs gekämpft hatte, missfiel ihr.

Reverend Hughing stellte sich neben sie und brachte Thea sofort auf andere Gedanken. »Ich muss Sie leider darum bitten, heute noch ein weiteres Grab auszuheben. Bevor der Boden zu weit gefriert, sollten wir die anstehenden Beerdigungen besser in kurzer Abfolge stattfinden lassen. Ich habe bereits mit den Verwandten der beiden Verstorbenen gesprochen. Sie sind einverstanden, dass wir die Trauerfeiern vorziehen, ehe der erste Bodenfrost kommt. Natürlich bezahlt Ihnen die Gemeinde Ihre Überstunden.«

Thea winkte ab. »Um das Geld geht es mir nicht.«

»Nicht? Um was dann?«

Sie lächelte zaghaft. »Bei der Arbeit kann ich meinen Kopf wunderbar abschalten. Ich habe zuletzt ein paar Dinge erfahren, die zu viel für mich waren und erst einmal verarbeitet werden müssen.«

»Möchten Sie bei einer Tasse Earl Grey darüber reden? Das ist doch Ihr Lieblingstee, oder? Soweit ich mich erinnere, mit einem Schuss Milch?« Hughings blaue Augen musterten sie aufmerksam. Er schien ihr direkt auf die Seele zu sehen. In seiner Gegenwart fühlte sich Thea seltsam ertappt, aber auch unheimlich wohl. Vielleicht hatte sie ihn deshalb noch immer nicht wegen ihres Vaters gefragt.

Callan hatte recht. Du bist bloß wieder zu feige für die Wahrheit, dachte sie. Dabei kennst du sie inzwischen. Was hält dich also noch zurück, die Karten auf den Tisch zu legen?

Sie lächelte etwas mehr. »Das haben Sie sich ganz richtig gemerkt, aber ich brauche die Zeit neben der Arbeit für die Renovierung. Im Frühling wollen wir uns dann den Garten vornehmen.«

Er nickte verständnisvoll. Sie suchte in seinem faltigen Gesicht nach Antworten, die sie nicht bekam. Peter Hughing war immer schon ein verschwiegener, mysteriöser Mann voller Geheimnisse gewesen. Sosehr sie sich auch anstrengte, Thea wurde nie schlau aus ihm.

Sie sahen beide hoch, als die ersten Schneeflocken gen Erde fielen und auf ihren Schultern und Schuhspitzen schmolzen. »Der Winter ist endlich da«, sagte er fast feierlich und rieb sich die Hände. »Das bedeutet schöne Abende am warmen Kaminfeuer.«

Thea schmunzelte. Er konnte noch so sehr ein weiser Greis sein, doch das innere Kind hatte er sich immer erhalten. »Wem sagen Sie das, Reverend.«

Er stoppte an der Kirchentür und drehte sich noch einmal um. »Bevor ich es vergesse: Morgen früh brauche ich Sie gleich noch einmal für ein Grab.«

Thea runzelte ihre Stirn. »In Pendle sterben die Menschen ja wirklich wie die Fliegen. Sicher, dass dieser Ort nicht verflucht ist? Einer meiner Follower ist fest davon überzeugt, aber ich halte ihn für einen Spinner.«

Hughing lächelte wissend. »Sie meinen ›Wookieeboy‹, nehme ich an? Wenn ich nur wüsste, was ein ›Wookiee‹ sein soll …«

Thea riss die Augen weit auf. Es störte sie nicht, dass sich eine Schneeflocke direkt auf ihre Nase setzte. »Sie lesen meinen True-Crime-Blog? Ich war schon erstaunt, als ich gehört habe, dass Harrison es tut, aber von Ihnen hätte ich das wirklich nicht erwartet.«

»Ich möchte genauso sehr wie unser Sergeant auf dem Laufenden bleiben. Schließlich lebe ich ebenso in diesem Borough. Oder trauen Sie mir etwa nicht zu, dass ich ein Notebook bedienen kann? Ich habe sogar ein mobiles Telefon.« Er nickte und streckte den Rücken durch.

»Na, dann können Sie sicher auch googeln, was ein ›Wookiee‹ ist. Jedenfalls ist sich mein Abonnent sicher, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, so viele Tote, wie es in der letzten Zeit gegeben hat.«

»Da ist was dran, wobei Hope Fernsby bereits vor fünfzehn Jahren starb. Aber an Flüche glaube ich nicht, nur an Strafen Gottes. Vielleicht hat der Herr Größeres mit uns vor und prüft Pendle. Wer weiß? Die Wege Gottes sind unergründlich.«

»Amen.« Thea zitterte und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie hätte ihre Jacke mitnehmen sollen. Der dünne Pullover bot ihr kaum Schutz vor den fallenden Temperaturen.

Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Boden gefroren war und sie hauptsächlich mit dem kleinen Bagger arbeiten musste, um ein Grab auszuheben.

Er drehte sich schon weg, als Thea ihn noch einmal aufhielt. »Um welchen Auftrag geht es morgen früh? Wer ist denn gestorben?«

»Niemand. Zumindest nicht vor Kurzem.«

»Aber ich soll doch …« Perplex deutete sie auf die Gräber.

Thea beobachtete, wie Bernie und Agnes McAllister Blumen ans Grab ihrer Mutter legten. Das taten sie immer einmal im Monat. Ja, selbst zwei scheußliche Personen wie sie hatten geliebte Menschen verloren, um die sie trauerten.

Agnes sah auf und schenkte Thea einen hasserfüllten Blick, ehe sie ihren Bruder mit sich zerrte, als wäre er ihr Haustier. Offenbar konnte sie Thea immer noch nicht verzeihen, dass sie die lukrative, aber illegale Hundezucht der beiden aufgedeckt hatte.

Hughing hob beschwichtigend seine Hände. »Dieses Mal geht es nicht um ein frisches, sondern um ein altes Grab vom letzten Jahr. Wir müssen den Sarg umbetten und einen neuen Platz dafür finden.«

»Stimmt etwas damit nicht?«

»Die Familie O’Connor wünscht sich einen anderen Platz für ihren verstorbenen Verwandten. Derzeit ruht er mitten am Weg, aber sie möchten ihn lieber dort unter der Tanne beerdigen.«

Thea schluckte, als sie seinem Fingerzeig folgte. Sie hatte bis jetzt noch nie ein Grab verlegt, sondern nur neue ausgehoben und wieder verschlossen.

Hughing musste ihren zweifelnden Blick bemerkt haben. »Machen Sie sich keine Sorgen. Eine Umbettung ist nichts anderes, nur dass Sie dieses Mal etwas mehr Zeit brauchen. Schließlich muss der Sarg erst exhumiert werden.«

»Aber gibt es nicht so etwas wie die Totenruhe? Darf ich ihn einfach ausbuddeln?«

»Es gibt tatsächlich eine Ruhezeit. Normalerweise bettet man den Verstorbenen auch nicht mehr um, bis diese vorüber ist, aber in unserem Fall haben sich auch die Bodenverhältnisse im letzten Jahr zu sehr geändert. Deshalb hat sich die Gemeinde bereit erklärt, dem Wunsch der Angehörigen nachzukommen. Die Umbettung ist bereits gestattet worden. Sie möchten ihn außerdem in ihrem Familiengrab beisetzen lassen statt allein. Ich finde den Gedanken tröstend, dass die O’Connors selbst im Tod alle beisammenbleiben möchten.«

Ich würde mich nie in Nathans Grab beerdigen lassen, dachte Thea und sah wieder zu seinem kargen Stein nahe der Mauer. »Und wie hole ich den Sarg wieder aus dem Loch? Ich meine … Obelix bin ich gewiss nicht.«

Hughing lächelte schief. »Niemand verlangt, dass Sie in einen Kessel voller Zaubertrank fallen. Särge haben unten kleine Füße, die für ausreichend Abstand zum Boden sorgen, damit die Seile beim Herunterlassen auch wieder herausgezogen werden können.«

»Wieso lässt man sie nicht einfach mit im Grab?«

»Exhumierungen sind dafür viel zu selten. Die Seile würden entweder verrotten oder als Kunststoffreste auf ewig im Erdreich verbleiben.«

Thea verstand und nickte langsam. »Also wird es entweder unnötig teuer oder umweltschädlich. Und wie gehe ich vor? Sie sprachen von diesen Füßchen.«

»Zunächst wird die Erdschicht oberhalb des Sarges entfernt, danach die an den Seiten. Sie können dann bereits versuchen, den Sarg mit dem Greifer unseres Baggers aus der Erde zu heben. Ich gehe in diesem besonderen Fall davon aus, dass der Sarg gut erhalten ist. Schließlich ist es erst ein Jahr her, dass Mr O’Connor beerdigt wurde. Wenn es eines Tages mal nicht mehr möglich sein sollte, weil sein Zustand schlechter geworden ist, setzen wir Seile ein. Geht auch das nicht, müssen Sie wohl oder übel per Hand arbeiten.«

»Per Hand? Ich soll die Leichenreste also anfassen?«, rief sie erstaunt. Fast machte sich ein wenig Begeisterung in ihr breit. Sie fand das Thema unglaublich spannend und faszinierend. Vielleicht sollte sie darüber auf ›Churchyard Crimes‹ schreiben.

»Einen direkten Kontakt wird es aufgrund von Schutzmaßnahmen natürlich nicht geben. Aber seien Sie unbesorgt: Zur letzten Umbettung kam es in den frühen 70er-Jahren. Da waren Sie noch nicht einmal auf der Welt. Selbst die ältesten Gräber auf diesem Friedhof werden erhalten und nicht umgesetzt. Ab und zu wird eines aufgelöst, aber das passiert erst, sobald auch keine Knochen mehr da sind.« Er seufzte leise. »Ich erinnere mich zum Beispiel an letztes Jahr. Ich musste mich gegen eine fehlgeleitete Person wehren, die den gesamten Friedhof an den Fuß des Pendle Hill verlegen wollte, um die Touristen zu begeistern.« Er rollte mit den Augen. Es war eindeutig, was er von ebenjener Person hielt.

Thea wurde neugierig. »Um wen handelt es sich?«

»Eine gewisse Susan Mcanally. Sie hatte ein wagemutiges Bauprojekt im Kopf. Da sie nicht wiederkam und sich auch nicht mehr gemeldet hat, gehe ich davon aus, dass ihr Antrag, wie erwartet, abgelehnt wurde.«

Thea steckte ihre kalten Finger in die Taschen ihrer Latzhose und wippte vor und zurück, während sie sich unterhielten. Dass Hughing so gar nicht zu frieren schien, obwohl er nur eine dünne Soutane trug, wunderte sie. In diesem knöchrigen alten Mann steckte mehr Zähheit, als sie gedacht hatte.

»Die meisten Verwandten leben bis heute in Pendle und pflegen ihre Zahlungspflichten. Sie werden also höchstwahrscheinlich nicht noch einmal mit dieser Aufgabe betraut werden«, sagte er und schloss das Thema damit. »Falls Sie Hilfe brauchen, wissen Sie ja, wo Sie mich finden.«

Trotzdem war sie nicht begeistert, ein Grab auszuheben, das ihr Vater geschlossen hatte. Es brachte sie nur näher an ihn heran. Thea hatte auch jetzt wieder das Gefühl, dass er sie heimlich beobachtete. Sie bildete sich den Pfeifengeruch ein, den sie noch aus der Kindheit kannte. Manchmal stellten sich ihre Nackenhaare wie aus dem Nichts auf. Entweder spielte ihr jemand einen guten Streich, oder Nathan Shaw war tatsächlich von den Toten wiederauferstanden, wie es ihre Freunde behaupteten.

»Ich hole den Bagger und werde erst einmal die beiden Gräber für die kommenden Trauerfeiern ausheben«, antwortete sie eifrig. »Wie viel Zeit bleibt mir, Mr O’Connor umzubetten?«

»So viel, wie Sie wollen. Das eilt nicht. Allerdings sollte der Sarg nicht mitten auf dem Friedhof stehen bleiben, wenn Sie Feierabend machen. Das wäre pietätlos. Manch einer würde sich zu Tode erschrecken, und noch mehr Gräber möchte ich Ihnen dieses Jahr ungern zumuten, Alethea. Sobald Sie morgen fertig sind, bleibt das die einzige Aufgabe für den Tag.«

»Ich kümmere mich um alles.«

Er lächelte. Sie machte ihre Sache gut und hatte sich in den letzten Monaten daran gewöhnt, sehr körperlich zu arbeiten. Thea hatte seither mehrere Pfunde abgenommen und fühlte sich jeden Tag ein bisschen fitter. Sie bildete sich sogar kleine Muskelberge auf ihren Armen ein, aber sobald sich Oakley daneben stellte und seine spielen ließ, lachte sie über sich selbst.

Doch auch wenn es ihr körperlich gut ging, so blieb immer noch dieser Wirbelsturm in ihrem Kopf und ein Riss in ihrem Herzen, wenn sie auch nur ein einziges Mal zum Grab ihres Vaters sah.

***

Myrna wischte sich den Schweiß von der Stirn. Callan reichte ihr die nächste schwarze Schindel hoch, mit der sie das löchrige Dach ausbesserte. Nun würde ganz sicher kein Wasser mehr eindringen wie im vergangenen Herbst, als es nach einem starken Regenfall in Myrnas Gesicht getropft hatte, während sie schlief.

»Was steht als Nächstes an?«, fragte Callan, der ihre Leiter hielt und ihr schon den gesamten Vormittag half.

Sie setzte sich auf die Dachkante und ließ die Beine baumeln. Eigentlich hatte sie vor, Hank zu besuchen, der sie im Pub brauchte, aber es standen noch viele Kleinigkeiten an, um das alte Chamberling-Anwesen winterfest zu machen. Erste Schneeflocken landeten bereits auf dem Haus. Myrna warf dem zugewachsenen Grundstück dahinter erst recht keinen Blick zu. Wahrscheinlich würden sie das gesamte nächste Jahr brauchen, um endlich Ordnung in ihren verwilderten Garten zu bringen. Wer wusste schon, welche Geheimnisse dort draußen noch zutage kamen?

»Also, Fenster, Böden und Wände sind so weit fertig. Auch das Dach sieht endlich robust aus. Aber wir sollten langsam die Möbel und den verrußten Kamin im Erdgeschoss in Schuss bringen. Außerdem muss die Veranda frisch gestrichen werden.«

Callan deutete ein Gähnen an, und seine grünen Augen funkelten. Das taten sie immer, wenn er auf das große, mysteriöse Tunnelsystem unter dem Haus zu sprechen kam, das ihnen schon so manches Abenteuer beschert hatte. »Lass uns lieber die restlichen Akten aus dem Labyrinth holen und durchgehen. In den Zeilen könnte sich der Weg zum Goldschatz verbergen.«

Myrna stieg vorsichtig die Leiter herab und wuschelte ihm durch die rote Lockenmähne. Zum Glück war er bis jetzt noch nicht darauf gekommen, es ihr heimzuzahlen, wenn sie ihn wieder einmal neckte.

Callan wischte ihre Hand weg und richtete seine Frisur ein wenig zu eitel.

Typisch Teenager, dachte Myrna amüsiert. Dennoch hatte sie einen Narren an ihm gefressen.

Callan fummelte noch immer an seinen Locken herum. Als er fertig war, richtete er den Blick auf sie und stemmte die Hände in die Seiten. »Du weißt, dass es wahr sein muss.«

»Wieso? Die verstaubten Akten selbst könnten der Schatz sein, den man im Laufe der Jahrzehnte fälschlicherweise als Gold bezeichnet hat. Du kennst doch das Stille-Post-Prinzip.«

»Zuerst möchte ich sehen, was da steht. Ihr erlaubt mir nicht einmal den kleinsten Blick, solange nicht alle Kisten in der Bibliothek stehen. Und gefühlt braucht ihr ewig dafür. Lasst Oakley, Harrison und mich lieber helfen, dann sind wir schneller. Dass es da unten ein verborgenes Archiv gibt, wissen sie schließlich.«

Myrna seufzte und krempelte ihre Ärmel hoch. Ihr war heiß, obwohl der Winter über das Städtchen hereinbrach. Aus dem Internet kannte sie Bilder von dieser Gegend, die jedes Jahr in ein herrliches weißes Gewand gekleidet wurde. Perfekt zum Schlittenfahren auf dem Pendle Hill. »Ich weiß nicht. Das sollte trotz allem immer noch Theas Entscheidung sein. Es ist ihr Haus.«

Callan machte eine wegwerfende Geste. »Unsinn! Ihr wohnt seit letztem Herbst gemeinsam hier, und wir drei haben einen Schlüssel für das Haus. Also dürfen wir ein und aus gehen, wie wir wollen. Das hat Thea selbst gesagt.«

Myrna knickte ein. Seit ihrem letzten Fall hielt sie ihre Mauern ohnehin nicht lange aufrecht. »Na gut, dann holen wir die nächsten Kartons eben gleich heute hoch. Thea wird sich sonst ewig sträuben. Aber wir werden die Akten nicht ohne sie durchgehen. Wir sind ein Team.«

Callan grinste schief und nickte eifrig. Er konnte es allem Anschein nach nicht erwarten, endlich wieder in die düsteren Tunnel unter dem Chamberling-Anwesen zu gehen. Und das, obwohl er dort unten beinahe gestorben wäre. Dann auch noch gemeinsam mit Jolene und Lucretia, mit denen wohl niemand aus Pendle gern begraben werden wollte.

Myrna ließ den Blick schweifen und sah passenderweise Jolene auf der anderen Straßenseite vorbeihumpeln. Wenn man vom Teufel spricht … Sie stützte sich noch fester auf ihren Gehstock als sonst. Seit sie sich mit ihrer Feindfreundin Lucretia zerstritten hatte, waren die beiden nur noch einzeln zu sehen. Myrna wusste nicht, ob sie schadenfroh oder mitfühlend sein sollte. Und noch immer musste sie Jolene auf eine heikle Angelegenheit ansprechen.

Callan folgte ihrem Blick. »Hast du sie nicht längst gefragt? Was sagt sie zu dem Vorwurf, Hank umgefahren zu haben?«

»Nichts, weil ich sie noch nicht fragen konnte.«

»Sie wohnt doch gleich da vorne.« Er zeigte auf ein altes Cottage. Das schiefe rote Backsteinhaus daneben bewohnte Lucretia. »Was hindert einen Inspector wie dich an einer Befragung?«

Myrna seufzte und legte ihre Hände auf seine Schultern. »Da ich persönlich involviert bin, ist das nicht so einfach, wie du denkst. Außerdem habe ich ein paarmal ein Gespräch mit ihr begonnen, aber sie wehrt mich jedes Mal ab. Du kennst dieses grantige Tratschweib ja.«

»Na, dann schick eben Thea zu ihr. Sie wird sich ganz sicher nicht den Mund verbieten lassen, so vorlaut und direkt, wie sie ist.«

Myrna spürte einen Stich in der Brust. Es tat weh, sich einzugestehen, dass sie ihren Biss verloren hatte. Sie fühlte sich gestrandet. Es gab Tage, da starrte sie minutenlang in den Spiegel und dachte über all ihre Fehler nach, statt nach vorne zu sehen und einfach weiterzumachen wie bisher.

Sie riss sich los und ging voraus in die zweigeschossige Bibliothek. Sofort umströmte sie der Geruch von alten Büchern, Pergament und Geschichte. Myrna zog ein Buch aus der obersten Regalreihe und wartete auf das bekannte Schaben. Sie konnten dabei zusehen, wie sich das Regal an der Wand nach links verschob und eine geheime Tür freigab, die Thea am ersten Tag in diesem Haus durch Zufall entdeckt hatte. Seitdem trugen sich allerlei mysteriöse Dinge zu. Myrna zückte einen Schlüssel für das Vorhängeschloss und öffnete es.

Muffige Luft schlug ihnen entgegen, als sie die Tür aufzog. Sie starrten in einen steinernen Gang, von dem drei weitere Holztüren abgingen.

Callan schnappte sich die alte Laterne, die neben dem Ohrensessel stand, und entzündete sie. Zur Not hätten sie noch ihre Handytaschenlampen dabei, aber Empfang gab es dort unten nicht.

Myrna schluckte. Kaum setzte sie einen Fuß über die Schwelle, brachen die Erinnerungen von ihrem letzten Besuch im Labyrinth über sie herein. An ihre panische Flucht durch die finsteren Tunnel. Sie brauchte einen Moment, um weiterzugehen.

»Was ist denn los? Denkst du an ihn?«, fragte Callan in ihrem Rücken. Er musste den Namen nicht aussprechen, um die Erinnerung wachzurufen.

Myrnas Hals wurde eng. Sie brachte nicht mehr als ein Nicken zustande, das Callan wahrscheinlich nicht einmal sah. Dennoch hatte er verstanden und hakte nicht nach, sondern ging voran in die Dunkelheit, als Myrna keine Anstalten machte.

»Hey, warte auf mich!«, rief sie und hielt ihn am Arm zurück. »Wir hatten eine Abmachung: Niemals allein da runter.«

»Du hast dich selbst nicht daran gehalten. Erinnerst du dich?« Er rollte mit den Augen.

»Ja, aber das war ein Notfall.«

Callan fasste sie bei den Schultern und sah ihr tief in die Augen. Das Licht der Laterne flackerte unheimlich auf seinem blassen, sommersprossigen Gesicht. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben, Evans. Er sitzt im Gefängnis.«

Sie beließ seine Hände da, wo sie waren, drehte aber den Kopf weg. So eingeschüchtert kannte sie sich sonst nicht. Myrna war immer tough, stark und intelligent gewesen. Doch der letzte Vorfall hatte sie so sehr aus der Fassung gebracht, dass sie sich vorkam wie ein kleines Kind, das man gemaßregelt hatte. Sie fühlte sich elend und wachte nachts schweißgebadet auf.

»Manchmal glaube ich, dass ich den falschen Beruf gewählt habe«, sagte sie leise und senkte den Blick.

Callans Griff wurde fester. »Alle Ziegen in Gorey sollen ihn zur Hölle jagen!«, rief er plötzlich.

»Wie bitte?« Myrna schmunzelte, auch wenn sie weiterhin traurig war.

»Nur ein kleiner irischer Fluch.« Callan lächelte und ließ sie los. »Er kann dir nichts mehr tun. Denk daran. Du musst dir das immer wieder selbst sagen.«

Myrna nickte angespannt, aber weniger bedrückt als davor. Es tat gut, dass sie Freunde hatte, die sie nicht verurteilten, sondern ihr halfen. Sie war selbst bloß zu schwach, um sich ihre Fehler zu verzeihen.

»Trotzdem meine ich manchmal, fehl am Platz zu sein. Sieh dir doch an, was ich euch beiden durchgehen lasse. Ständig fahrt ihr mir in die Parade und stört meine Ermittlungen.«

»Die durch unsere Mithilfe immer zu einem Ende gekommen sind. Wir haben die Fälle gelöst und ein paar Mörder hinter Gittern gebracht. Churchyard Crimes ist das beste Ermittlertrio seit … seit …«

»Drei Engel für Charlie?« Myrna war froh, endlich wieder lachen zu können. »Ihr seid beide verrückt, aber dafür liebe ich euch.«

Callan legte seinen Arm um ihre Schultern. Bei seiner Größe ein Leichtes. »Und nun Kopf hoch, Evans. Dich kann doch sonst kein Mensch erschrecken, erst recht kein Mann. Lass uns diese verstaubten Kisten hochholen und wenigstens das Rätsel vom Chamberling-Haus lösen. Wir sollten das hier erledigt haben, bevor uns der nächste Mordfall vor die Füße fällt.«

Myrna nickte entschlossen. »Keine Ausreden mehr.«

Callan lächelte. »Keine Ausreden mehr.«

***

Jolene harrte vor Lucretias Haus aus, bis diese es endlich verließ. Fast gab sie die Warterei auf, doch plötzlich öffnete sich die Tür ihrer Nachbarin, und deren knallroter Igelkopf tauchte auf, als sich Lucretia bückte, um die Zeitung von heute Morgen aufzuheben. Übersehen konnte man sie nicht, obwohl sie höchstens fünf Fuß maß.

»Lu, können wir reden?«

Lucretia zuckte zusammen und verengte die Augen. Sie ließ die Zeitung zurück auf die Türschwelle fallen. Ihr Gesicht wurde noch ein Stück faltiger. »Was willst du schon wieder hier?«

»Ich wohne gleich nebenan, falls du das vergessen hast.«

»Das weiß ich, aber was willst du vor meinem Haus?«

»Das Gleiche wie sonst.« Jolene seufzte. »So hartherzig kenne ich dich gar nicht. Ja, ich habe Fehler gemacht.«

»Hast du.«

»Aber Fehler kann man auch wieder geradebiegen.«

»Wie willst du das anstellen? Du hast mich auf dem Friedhof zurückgelassen, als uns dieses Monster verfolgt hat. Ich bin mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus gelandet.« Lucretia liebte es wohl, in der Wunde zu bohren. Sie schien noch immer sehr getroffen zu sein.

Jolene machte einen Schritt auf sie zu, aber ihre Freundin hob die Hand, damit sie stehen blieb. »Nicht jetzt und nicht hier. Lass mir meinen Seelenfrieden, Jojo.«

Jolene schluckte ihren Ärger über den verhassten Spitznamen hinunter. »Du weißt, wo du mich findest, falls du reden magst.«

»Weiß ich, will ich aber nicht.« Sie schloss die Tür vor ihrer Nase.

Wütend fasste Jolene ihren Gehstock und humpelte zurück zu ihrem eigenen Häuschen. »Verfluchtes Knie!«, schimpfte sie leise vor sich hin. »Verfluchte Familie Shaw! Verfluchte Lucretia! Ihr seid es alle nicht wert, sich über euch zu ärgern. Hrmpf …«

Sie fummelte gerade ihren Schlüssel aus der Manteltasche, als sie ein Räuspern hinter sich hörte.

Jolene drehte sich um und kniff argwöhnisch die Augen zusammen. Vor ihr stand ein Teenager mit bunt gefärbten Haaren – noch schrecklicher als Lucretia – und grinste sie breit an. Sie hatte sich zwei kurze Zöpfe zu beiden Seiten gebunden, die auf und ab hüpften, wenn sie den Kopf bewegte. Ihre Augen blickten ganz begeistert drein, als würde sie ihre geliebte Großmutter besuchen.

Sie war Jolene sofort suspekt. Sicher wieder nur jemand von diesen Spinnern, die die Hexen auf dem Pendle Hill beobachten wollten. Seit Alethea Shaw mit ihren Ringen in Ohr und Nase aufgetaucht war, schien Pendle ein Sammelplatz für verkorkste Gestalten zu sein.

»Was willst du?«, fauchte Jolene das Mädchen an, dessen Schopf sie an die klebrige, aber fluffige rosa Zuckerwatte auf dem Jahrmarkt erinnerte. Eine seltsame Mischung.

»Guten Tag, ich weiß, dass Sie Zimmer vermieten. Ist noch eines frei?« Diese Göre ließ sich auch von ihrer abweisenden Haltung nicht verschrecken. Wenn Jolene eines an diesen neunmalklugen Blagen wertschätzte, dann war es ihre erstaunliche Gelassenheit. Sie schienen über allem und jedem zu stehen und glaubten wohl, die Welt gehörte ihnen.

Jolene ließ ihren Blick hinabwandern und entdeckte einen Rollkoffer hinter ihr. »Zufällig habe ich noch eines. Erst letzten Herbst ist meine Mieterin ausgezogen.« Sie sah in Richtung Chamberling-Anwesen und verzog den Mund.

Das Mädchen wendete den Kopf und nickte eifrig. »Oh, das weiß ich bereits von Theas Blog. Seit Evans da ist, plaudert sie deutlich mehr aus dem Nähkästchen. Oder es liegt an ihrem neuen Freund.« Sie zwinkerte vielsagend.

»Aus dem … Liest du etwa dieses Internet-Geschreibsel von Alethea Shaw?« Jolene gab nur ungern zu, dass sie längst selbst am Computer gesessen hatte, um nachzusehen, ob Nathans Tochter bereits etwas zu ihrem Vater oder dem Schatz aus dem Labyrinth geschrieben hatte.

»Wie heißt du?«

»Emilia Tremblay, aber Sie können ruhig Ems zu mir sagen.«

Als ob ich das je tun würde! Sie schloss unterdessen die Haustür auf.

Emilia folgte ihr auf dem Fuß und pfiff beeindruckt. »Wow, hier sieht es ja wirklich so aus wie beschrieben. Und die vielen Katzen erst! Herrlich! Ich liebe Ihr kleines Cottage und diesen ganzen unnützen Krimskrams! Macht es nicht zu viel Arbeit, das jedes Mal alles abzustauben?«

»Nichts anfassen!«, brüllte Jolene, als Emilia bereits nach einer Porzellanfigur im Regal griff. »Alles hat seine Ordnung. Solange du dich daran hältst und pünktlich deine Miete bezahlst, kannst du hierbleiben. Mir ist gleich, ob du von zu Hause ausgerissen bist und aus welchem Loch du gekrochen kommst, aber benimm dich gefälligst.« Jolene war jetzt schon genervt von ihr. Ein Teenager war so wie der andere: ätzend! Wäre sie nicht auf das Geld angewiesen, hätte sie sie sofort wieder rausgeworfen. »Hast du Vorstrafen?«

»Wie bitte?«

»Wirst du polizeilich gesucht?«, fragte Jolene ungeduldig.

Emilia schüttelte den Kopf. Wieder wackelten ihre beiden Zöpfe. »Nein, und meine Eltern wissen, dass ich in Pendle bin. Ich mache hier Urlaub.«

Jolene glaubte, dass unter dem vielen Rosa ein Blond steckte. Das würde gut zu ihren großen, dunkelblauen Augen passen. Etwas in ebenjenen verriet ihr, dass Emilia flunkerte. Sie hatte sich stark gezeigt, als sie angekommen war, doch nun wich sie Jolenes Blick eindeutig aus. Dieses Verhalten kannte sie von ihrem Sohn Brian, als er noch ein vorlauter Teenager gewesen war.

»Urlaub, soso …« Niemand macht Ferien in Pendle! Die Göre lügt wie gedruckt! »Hast du denn keine Schule?«

»Es sind Weihnachtsferien.«

»Na, schön, ich zeige dir alles. Aber du kriegst keinen eigenen Schlüssel, und es gibt auch kein Frühstück. Du beziehst das frisch renovierte Karibik-Zimmer.« Weil ich sonst nie einen Mieter dafür finde.

»Kein Problem«, trällerte Emilia in Jolenes Rücken. »Solange ich hier einen WLAN-Zugang bekomme, ist mir alles recht.«

Sie wunderte sich über dieses seltsame Mädchen. Vielleicht gab es ja doch Außerirdische in Pendle. Und Emilia war ziemlich sicher eine von ihnen.

***

Der folgende Tag brachte Graupelschauer mit sich. Thea nutzte die wenigen Stunden ohne Schlechtwetter, um mit der schweißtreibenden Arbeit anzufangen. Ihre Nase lief, und sie musste sich die feuchte Stirn mehrmals mit ihrem Ärmel trocken wischen.

Die erste Sandschicht hatte sie mit dem Bagger abgetragen, aber aus Sorge, den Sarg des Verstorbenen zu beschädigen, machte sie nun erst einmal mit der Schaufel weiter. Je tiefer sie kam, desto weniger Bodenfrost gab es glücklicherweise.

»Soll ich Ihnen auch wirklich nicht helfen?«, fragte Reverend Hughing bereits das dritte Mal. Er schien ein schlechtes Gewissen zu haben, Thea diese viele Arbeit aufzuhalsen, aber es war nun einmal ihr Job, Särge ein- und eventuell wieder auszugraben. Obendrein gab er ihr den Rest des Tages frei.

»Nicht nötig. Bereiten Sie ruhig Ihren Gottesdienst vor. Ich komme klar«, erwiderte sie und stützte sich keuchend auf die Schaufel. Ihre Haare lösten sich aus dem Zopf, weshalb sie ihn noch einmal neu band.

»Louise ist bereits dabei. Sie braucht mich nicht.«

»Louise?« Thea war irritiert, weil sie den Namen heute zum ersten Mal hörte.

»Louise Fairchild unterstützt mich als Ministrantin. Ich kann mich glücklich schätzen, dass sie jedes Jahr zu Weihnachten aushilft. Wären Sie früher nach Pendle gekommen, hätten Sie sie sicher ein paarmal getroffen.«

Thea ging ein Licht auf. »Ich verstehe. Trotzdem schaffe ich das hier allein. Sie sollen sich nicht den Rücken kaputt machen, Reverend.«

Er lächelte vergnügt. »Genauso sturköpfig wie der Vater.«

Thea schnaubte unauffällig und machte weiter, ehe er noch weiter über Nathan sprach. Sie wollte im Moment nichts darüber hören, weder von Hughing noch von Myrna oder Callan.

Ihre Schaufel stieß wenig später auf eine harte Barriere. Das musste der Sarg sein. Ein wenig mulmig war ihr schon zumute. Erst recht, da der Pfarrer gegangen war und nicht mehr kontrollierte, ob sie auch alles richtig machte. Vielleicht hätte sie ihn doch nicht wegschicken sollen.

Ach, Quatsch! Du packst das!, sprach sie sich Mut zu. Du hast schon ganz andere Dinge geschafft. Zum Beispiel Mörder mit ihren Taten konfrontiert.

Thea setzte sich in den Bagger und richtete die Schaufel so aus, dass sie den Sarg packen und vorsichtig anheben konnte. Danach würde sie Seile darunter befestigen und ihn stabilisieren, ehe sie ihn ganz heraushob. Gesagt, getan.

Innerlich jubelte sie, weil alles heil geblieben war. Der erdbeschmierte Sarg stand nun in sicherem Abstand neben dem Loch. Auf der anderen Seite türmte sich ein Erdhaufen auf.

Thea platzierte Warnhütchen rundherum, damit niemand aus Versehen in die Grube fiel und sich den Hals brach. Danach legte sie eine kurze Pause ein, um zu verschnaufen. Es war sowieso niemand weit und breit zu sehen, der sich vor Mr O’Connors Sarg erschrecken würde.

Sie setzte sich wieder hinters Steuer und betätigte gekonnt die Hebel. Der Sarg wurde an den Seilen hochgezogen. Alles hielt. Ihn herüberzufahren und in das Familiengrab abzulassen, war simpler als gedacht. Nun musste Thea bloß noch beide Löcher zuschaufeln, das Beet auflösen und den Grabstein entfernen. Namen und Daten würden in den alten, großen Stein der Familie eingraviert werden, sodass Mr O’Connor seinen nicht mehr benötigte und endlich wieder Teil der Familie war.

Wie selbstverständlich schaufelte sie das Grab zu und bedeckte den Toten wieder mit Erde. Für das letzte bisschen nahm sie die Schaufel und klopfte alles fest. Um das zerstörte Beet würde sie sich morgen früh kümmern und es direkt für den Winter eindecken. Dazu gehörten immergrüne Zweige der umstehenden Nordmanntannen, die für ein ordentliches Äußeres, aber auch für Schutz vor Frost und Auswaschung sorgten.

Als sie auch das alte Grab schließen wollte, versagte plötzlich der Bagger. Sie versuchte, den Motor neu zu starten, aber er röchelte bloß und verstummte dann endgültig.

Mist, nicht ausgerechnet jetzt!, dachte sie und seufzte tief. Na, wenigstens ist Mr O’Connor wieder unter der Erde. Thea ließ das Gerät notgedrungen stehen und schnappte sich ihre Schaufel. Dann eben oldschool …

Sie sammelte die Hütchen wieder ein und stellte sie beiseite, bevor sie damit begann, den riesigen Erdhaufen zurück ins Loch zu schütten. Gleich bei der zweiten Schaufel hielt sie inne. Was war denn das?

Neugierig beugte sie sich herunter. Etwas Rotes blitzte durch die viele Erde. Sie steckte die Schaufel in den Haufen und sprang kurzerhand in das Loch. Jetzt war immerhin kein Sarg mehr darin. Da sie Arbeitshandschuhe trug, traute sie sich, einfach zuzugreifen.

Dieses Etwas wurde immer länger, war weich und voller Dreck und Löcher. Gleich darauf hielt Thea einen langen Schal in der Hand. »Was macht der denn hier?«, fragte sie sich laut und verstand die Welt nicht mehr. Vielleicht hatten hier einst ein paar Obdachlose oder Rowdys ihren Müll verbuddelt, ohne dass es jemand gemerkt hatte. Sie suchte nach weiteren Kleidungsstücken, die nicht in die Erde gehörten. »Moment mal …«

Sie legte den Schal beiseite und wühlte nun mit beiden Händen weiter. Es war nicht das erste Mal, dass sie ein Skelett fand, doch dieses Mal hielt sie ausgerechnet den Schädel in den Händen. Entsetzt hätte sie ihn beinahe wieder fallen lassen.

Nur die Ruhe!, sprach sie auf sich ein. Thea hörte ihren Puls deutlich im Kopf. Das ist bloß der Überrest eines alten Grabes, über das man das von Mr O’Connor gelegt hat. Aber was hatte dann dieser Schal noch bei der Leiche zu suchen? Legte man Polyesterkleidung mit in ein Grab, wenn sie doch nie richtig verrottete? Hatte der Reverend nicht erst gestern von den Seilen erzählt, die man genau aus diesem Grund wieder herauszog?

Sie drehte den Totenkopf einmal und keuchte leise, als sie die vielen Risse in der Schädelwand sah. Ein großes Loch klaffte in der linken Schläfe.

Thea legte ihn vorsichtig ins Gras und schlüpfte aus dem Handschuh. Ihre bebenden Finger waren inzwischen wieder starr vor Kälte. Es dauerte eine Weile, bis sie ihr Handy aus der Jackentasche gezogen hatte. Sie rief die einzige Person an, die ihr spontan einfiel.

»Hey, Thea! Bist du fertig? Wir würden gern mit dir zusammen ein paar Akten auswerten. Callan hat keine Ruhe gegeben, bis ich mich habe weichkochen lassen.« Myrna lachte geschlagen.

Thea atmete durch, ehe sie antwortete, weil sie zuerst ihr aufgeregtes Herz beruhigen wollte. »Ich befürchte, das muss warten. Wir haben einen neuen Fall.«