Leseprobe Das gefährliche Spiel der Verführung

Prolog

Ein Held gebricht mir: seltenes Gebrechen!

Lord Byron

Don Juan, Erster Gesang

Rom

Juli 1820

Sie führte ihn die Treppe hinauf zu ihrem Schlafzimmer und ließ mit jedem Schritt eine weitere Hülle auf die Stufen fallen.

Marta Fazi war flink und wendig, das musste man ihr lassen. Den Blick aus ihren schwarzen Augen auf James gerichtet, huschte sie ohne einen einzigen Fehltritt rückwärts die Stufen hinauf. Ihre Zähne schimmerten weiß im olivbraunen Gesicht, als sie sich lachend die Maske vom Gesicht riss, den Schleier fortwarf und den Umhang gleich folgen ließ. Darunter kam ein Kleid zum Vorschein, das kaum so zu nennen war: ein flitternder Fetzen, von leicht zu lösenden Schnüren und Bändern notdürftig zusammengehalten.

Die Smaragde legte sie nicht ab: die schwere Halskette mit dem großen Anhänger, der ihr zwischen den Brüsten baumelte, die dazu passenden Ohrringe, das Armband.

James streifte langsam seinen Rock ab, ließ sich Zeit. Lässig warf er ihn sich über die Schulter und folgte ihr mit jener Miene leiser Neugier, mit der er seine Beute geködert hatte.

Weil sie es gewohnt war, alles zu bekommen, was sie wollte, konnte Marta keiner Herausforderung widerstehen, und James hatte sich nicht groß verstellen müssen, um ihr eine solche zu sein. Hätte er die Wahl, würde er sie nicht mal mit der Kneifzange angefasst haben. Da er keine Wahl hatte, zeigte er lediglich seinen Widerwillen. Was, wie erwartet, ihre Eitelkeit gekränkt hatte.

Attraktiv war sie, zugegeben. Es hieß, sie habe Lord Byron zu einem geheim gehaltenen Gedicht inspiriert. Von exotischem Äußeren und leidenschaftlichem Naturell, entsprach sie dem Typus, den der Dichter so sehr bewunderte und als „prächtiges, animalisches Geschöpf“ zu bezeichnen pflegte.

James teilte diese Begeisterung nur bedingt. Er war nun einunddreißig, und Marta war keineswegs seine erste hemmungslos leidenschaftliche und einschlägig talentierte Abenteurerin. Wenn er diese Begegnung überlebte, würde sie indes seine letzte sein. Wenn er sie nicht überlebte – was ebenso wahrscheinlich war –, würde sie auch seine letzte sein.

Ich kann also nur gewinnen, dachte er sich.

Wenn er an diesem Auftrag scheiterte, würde er einen langsamen und qualvollen Tod sterben. Niemand würde ihn als Held betrauern. Niemand würde erfahren, dass er beim Versuch, die Welt zu retten, sein Leben gelassen hatte. Wahrscheinlich fände man nicht einmal seinen Leichnam – oder was davon noch übrig wäre.

Alles für den verdammten König und das verdammte Vaterland, sagte er sich, als er die Tür hinter sich schloss. Ein letztes Mal.

Er zog seine Weste aus und ließ sie mitsamt seinem Rock auf einen Stuhl nahe der Tür fallen, pirschte sich vor, während die Fazi zurückwich und das Bett ansteuerte.

Unfehlbar fand sie den Weg auch rückwärts und im Dunkeln. Obwohl es im Zimmer nicht gänzlich dunkel war. Diener hatten alles bereit gemacht und Kerzen angezündet. Sie mussten gewusst haben, dass sie in Gesellschaft kommen würde, denn es brannten nur zwei Kerzen.

Diese boten gerade genügend Licht, um ihre Zähne hell schimmern, die Smaragde wie grünes Feuer lodern und die vielen kleinen Diamanten wie Regenbogen funkeln zu lassen. Doch er hätte Marta Fazi auch im Dunkeln gefunden. Er müsste nur seiner Nase folgen. Ihr Parfüm erfüllte das Zimmer mit dem allzu süßen Duft welkender Rosen.

Mit den Händen strich sie sich über die festen, vollen Brüste und hinab über die runden Hüften. Sie war von prachtvoller Gestalt und wusste es wohl.

„Wie du siehst, verberge ich nichts vor dir“, schnurrte sie. „Ich gebe dir alles hin.“

Ihre Worte und ihr Tonfall verrieten ihm, dass sie den größten Teil ihres Lebens im Süden Italiens verbracht und sogar ein bisschen – ein ganz kleines bisschen – Bildung genossen hatte. Auch hörte er einen fremden Einschlag heraus, wahrscheinlich das Erbe ihrer zypriotischen Herkunft. Obwohl seine Vorfahren ebenfalls aus aller Herren Länder kamen, so war doch sein Italienisch – seine Muttersprache – tadellos. Da er von seiner Mutter zudem das schwarz gelockte Haar geerbt hatte, sollte Marta Fazi nicht die leiseste Ahnung haben, dass sie nicht nur den Sohn eines englischen Adeligen, sondern auch einen Agenten im Dienste Seiner Majestät vor sich hatte.

Kurzum: James Cordier spielte sogar noch mehr mit falschen Karten als diese betörende Raubkatze. Die Kunst bestand darin, es sie nicht merken zu lassen.

„Nicht ganz“, sagte er denn, als er sich die Hose aufknöpfte. „Diese Steinchen sind zwar schön und schmücken dich sehr, doch bedarf deine Schönheit keines Schmucks.“

Ganz zu schweigen davon, dass derart opulenter Schmuck bei gewissen Aktivitäten eher hinderlich war. Könnte man glatt mit dem Auge dran hängen bleiben, hätte er ihr in einer der weniger feinen Mundarten sagen können, die er sich in seiner ereignisreichen Jugend angeeignet hatte.

Sie lachte. „Ah, endlich schmeichelt er mir. Ich hätte nicht gedacht, solche Worte noch von dir zu hören.“

Er stieg aus seiner Hose. „Dein Anblick belebt meine Zunge“, sagte er.

„Gut.“ Ihr Blick schweifte abwärts. „Und der kleine Mann ist auch schon ganz lebhaft, wie ich sehe.“

Natürlich war er das. James hatte von ihrer Sorte zwar mehr als genug gehabt, aber letztlich war er eben auch nur ein Mann, und sie war durchaus verlockend. Das waren sie meist – je mörderischer, desto verführerischer.

Sie nahm ihre Ohrringe ab und legte sie auf den kleinen Tisch neben dem Bett. Dann öffnete sie den Verschluss des Armbands und ließ es neben die Ohrringe fallen.

Er zog sich das Hemd über den Kopf.

Sie mühte sich mit dem Verschluss ihrer Halskette ab.

„Darf ich?“, fragte er.

Es war ein antiquierter Verschluss, vermutlich noch das Original, der eines gewissen Geschicks und eines scharfen Auges bedurfte. Das Geschmeide war nicht für den allabendlichen Gebrauch, sondern für große Staatsempfänge gemacht. Vor über zweihundert Jahren war es für eine Königin gefertigt worden. Seine derzeitigen Besitzer waren bei Napoleon in Ungnade gefallen und hatten mitsamt aller Habseligkeiten flüchten müssen. Der Schmuck war in Obhut eines vertrauenswürdigen Dieners auf den Weg in die sichere Heimat geschickt worden, als Marta Fazi und zwei Komplizen, als Nonnen verkleidet, den armen Diener überfallen und sich des Schmucks bemächtigt hatten.

Alter und Geschichte der Smaragde bedeuteten ihr indes nichts. Marta Fazi war ein Kind der Straße. Sie konnte zwar lesen – zumindest ein wenig –, doch ihre Moral ließ zu wünschen übrig, und Skrupel waren ihr fremd. Sie hatte eine Schwäche für gut aussehende Männer, aber ihre große Leidenschaft waren Smaragde.

Mehr wusste James nicht über sie, und mehr brauchte er auch nicht zu wissen, um seinen Auftrag auszuführen: die Steine finden, unbeschadet mit ihnen verschwinden und sie ihren rechtmäßigen Besitzern zukommen zu lassen. Den Rest sollten die Diplomaten erledigen.

Nachdem er sich mit raschem Blick vergewissert hatte, dass die Smaragde achtlos hingeworfen auf dem Nachttisch lagen, stürzte James sich ins Vergnügen. Wenngleich „in die Schlacht“ ihm treffender schien.

Denn letztlich war auch er ein Soldat, wenngleich über die Armee, der er angehörte, der Mantel des Schweigens gebreitet wurde. Männer wie er waren unsichtbar. Sie bekamen keine Orden an die Brust geheftet und wurden nicht lobend in Depeschen erwähnt.

Und wenn er sich erwischen ließe, wäre er verloren. Niemand würde ihn retten.

Weshalb du dich nicht erwischen lassen solltest, Jemmy, mein Junge, ermahnte er sich.

Dann gab er ihr, was sie wollte, und zwar gründlich. Was auch immer er sonst von seiner Arbeit halten mochte, zumindest seine Fähigkeit, sich an einer schönen, leidenschaftlichen Frau zu erfreuen, war ungebrochen.

Als sie dann endlich genug hatte – zumindest für den Augenblick –, flüsterte er: „Ich sterbe vor Hunger. Du auch?“

„Ah, ja“, murmelte sie träge. „Ein Schluck Wein, etwas zu essen … damit wir wieder zu Kräften kommen. Läute mal nach den Dienstboten.“ Sie zeigte auf den Klingelzug neben dem Bett.

„Lassen wir sie schlafen“, sagte er. „Ich gehe lieber selber auf die Pirsch.“

Sie lachte schläfrig. „Wusste ich es doch. Ich habe gleich den Jäger in dir erkannt.“

Das hast du ganz richtig erkannt.

Er stieg aus dem Bett. Seine Hose lag wohlweislich in Reichweite, dafür hatte er Sorge getragen. Schnell schlüpfte er hinein, griff nach seinem Hemd. Er wandte ihr den Rücken zu, als er es sich über den Kopf zog, wobei er mit einer raschen Handbewegung, die im sich bauschenden Linnen verborgen blieb, die Smaragde vom Nachttisch verschwinden ließ.

Der Rest war geradezu lächerlich einfach. Die Bettvorhänge nahmen ihr die Sicht auf die Tür und den Stuhl, auf dem er Rock und Weste abgelegt hatte. Im Vorbeigehen nahm er beides an sich und schlüpfte lautlos zur Tür hinaus.

Ein anderer Mann wäre auf Nummer sicher gegangen und würde mit seinem Abgang gewartet haben, bis sie eingeschlafen war, doch James hielt es mit Macbeth: Wärs abgetan, so wie’s getan, wärs gut, ’s wär schnell getan.

Und hier war besonders schnelles Handeln angezeigt. Marta würde bald merken, dass ihre geliebten Smaragde verschwunden waren, und sie mochte es gar nicht, betrogen zu werden. Mit dem letzten Mann, der ihr Missfallen erregt hatte, hatte es kein gutes Ende genommen. Zuerst hatte er seine Weichteile verloren. Stück für Stück.

James mochten ein paar Minuten bleiben, um unbemerkt zu verschwinden. Vielleicht auch nur Sekunden.

Er eilte die Treppe hinunter.

Eine Sekunde. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs. Sieben …

„Haltet ihn!“, schrie sie. „Los, schnappt ihn euch! Brecht ihm die Knie!“

Er war auf dem ersten Treppenabsatz angelangt, als ein grobschlächtiger Koloss die Stufen hinaufstürmte. James streckte den Arm seitwärts, hielt ihn starr und steif wie eine Zollschranke. Der Diener sah es zu spät und rannte geradewegs hinein. Der muskulöse Arm erwischte ihn an der Kehle. Der Koloss taumelte rückwärts die Treppe hinab und landete Kopf voraus.

Marta Fazi stand derweil am oberen Ende der Treppe und brüllte ihre Mannen auf Griechisch zusammen. James verstand immerhin, dass er am Leben gelassen werden solle. Sie habe noch Pläne mit ihm.

Ein Messer pfiff haarscharf an seinem Kopf vorbei.

Laut kreischend zählte sie auf, was sie mit ihm zu tun gedachte, welche Teile sie ihm zuerst abschneiden wollte.

James sprang über den reglos am Boden liegenden Mann hinweg, stürzte die Treppe hinab und rannte durch die Halle.

Eine Tür wurde aufgestoßen, und ein weiterer Häscher stürzte sich auf ihn. Wieder ließ James seinen Arm ausschnellen, doch diesmal nach vorn, und traf den Grobian mitten auf die Brust. Die Knie des Mannes knickten ein, und er polterte rücklings zu Boden.

James hörte ihn jaulen vor Schmerz.

Doch seine Schreie konnten sich nicht mit denen Martas messen.

James rannte weiter.

Und im nächsten Augenblick schon war er zur Tür hinaus und in der Nacht verschwunden.

1. Kapitel

Sahst du je eine Gondel? – Laß sie dir

Beschreiben. Eine Gondel ist ein schmales

Bedecktes langes Boot, alltäglich hier,

Ein leichtgebautes, aber capitales;

Zwei Rudrer drin, – man nennt sie Gondolier;

Schwarz gleitet sie durchs Wasser des Kanales,

Just wie ein Sarg in einer kleinen Jacht,

Und Niemand merkt, was ihr drin sprecht und macht.

Lord Byron

Beppo

Venedig

Dienstag, 19. September 1820

Penisse. Allüberall Penisse.

Versonnen betrachtete Francesca Bonnard die Decke des großen Salons.

Vor ein oder zwei Jahrhunderten war die Familie Neroni dem ornamentalen Wahn barocken Stucks verfallen. Wände und Decken des von ihr gepachteten Palazzo waren eine Orgie gegipster Draperien, Früchte, Blätter und Blüten. Am meisten faszinierten sie die kleinen geflügelten Kindchen, welche Putti genannt wurden. Sie krabbelten über die Decken, hielten mit feisten Fingern stuckierte Faltenwürfe und schauten verschmitzt hinter Draperien hervor, als wollten sie Verstecken spielen. Sie klammerten sich an die stuckierten Rahmen der Deckengemälde und an die goldgefassten Medaillons über den Türen. Ihrer waren so viele, dass sie den vier barbusigen Damen, die sich in allen vier Ecken des Salons in gegipster Vollendung rekelten, und den vier muskulösen Herren, welche die Wände auf starken Armen zu tragen schienen, zumindest zahlenmäßig überlegen waren.

Die Putti waren allesamt Knaben, und sie waren allesamt nackt. Somit wimmelte es an der Decke von kleinen Penissen – beim letzten Mal hatte sie vierzig gezählt, doch heute schienen es auf einmal mehr zu sein. Vermehrten sie sich etwa von selbst, oder machten die drallen Frauen und die stattlichen Männer Dummheiten, wenn des Nachts im Hause Ruhe eingekehrt war?

In ihren drei Jahren in Venedig hatte Francesca schon einige prachtvolle Palazzi von innen gesehen. Doch der ihre gewann noch immer den Preis für dekorativen Größenwahn – ganz zu schweigen vom Preis für die größte Anzahl unreifer männlicher Fortpflanzungsorgane.

„Sie würden mich nicht stören“, meinte sie, „wenn sie nur nicht das Auge so ablenken würden. Besuchern, die das erste Mal hier sind, verschlägt es stets die Sprache, und sie verbringen die meiste Zeit damit, die Wände und Decken anzugaffen. Nach reiflicher Überlegung bin ich zu dem Schluss gelangt, dass Dante sich für sein Inferno von einem Besuch des Palazzo Neroni hat inspirieren lassen.“

„Sollen sie doch gaffen“, fand ihre Freundin Giulietta. Den Arm auf die Lehne ihres Stuhls gestützt und das Kinn auf die Hand, betrachtete sie die derangierte Decke. „Während deine Besucher sich die Putti anschauen, kannst du dir in aller Ruhe und so unhöflich, wie du nur willst, deine Besucher anschauen.“

Sie ergänzten einander gut: Francesca war groß und von exotischer Schönheit, Giulietta klein und von lieblichem Reiz. Mit ihrem herzförmigen Gesicht und den unschuldigen braunen Augen sah sie geradezu mädchenhaft aus. Dabei war sie mit ihren sechsundzwanzig Jahren nur ein Jahr jünger als Francesca und ihr an Erfahrung Jahrzehnte voraus.

Niemand würde Francesca Bonnard jemals liebreizend nennen, das wusste sie. Sie hatte die Gesichtszüge ihrer Mutter geerbt, vor allem deren auffällige Augen, die von einem ungewöhnlichen Grün und mandelförmigem Schnitt waren. Das dichte kastanienbraune Haar hatte sie von ihrer französischen Großmutter väterlicherseits. Der Rest kam von Sir Michael Saunders, ihrem Schuft von Vater, und dessen Vorfahren. Die Saunders neigten dazu, groß zu sein, und das war sie – zumindest im Vergleich zu anderen Frauen. Was die Karikaturisten wohl dazu bewogen hatte, sie in den vulgären Pamphleten, die während des Scheidungsverfahrens so zahlreich produziert worden waren, „die Gigantin“ oder „die Amazone“ zu nennen.

Ihre Scheidung von John Bonnard, welcher kürzlich erst mit dem Baronsrang bedacht worden war und nun als Lord Elphick betitelt wurde, lag allerdings schon fünf Jahre zurück und ebenso all die törichten Träume, die sie einst von der Liebe und den Männern gehabt hatte. Mittlerweile trug sie ihren hohen Wuchs mit Stolz und kleidete sich so, dass eine jede ihrer sinnlichen Rundungen zur Geltung kam.

Einst hatten Männer sie verletzt, betrogen und im Stich gelassen.

Damit war es vorbei.

Nun bettelten sie um ihre Aufmerksamkeit.

Einige würden ihr genau aus diesem Grund heute ihre Aufwartung machen. Deshalb hatte Francesca ihre Freundin auch nicht in dem kleineren, weniger überladenen Salon empfangen, der an ihr Boudoir grenzte, welches in einem anderen, privateren Teil des Hauses lag. Dieser kleine und gemütliche, nahezu Putti-freie Salon war nur ihren Vertrauten vorbehalten, und noch war nicht entschieden, welcher der bald eintreffenden Besucher diesen Rang erlangen würde.

Es würde keine leichte Entscheidung werden, und sie sah ihr mit wenig Freude entgegen.

Sie erhob sich von der Chaiselongue, auf der sie in einer Haltung geruht hatte, die ihre Gouvernante entsetzt haben würde, und schlenderte zum Fenster.

Der Kanal, auf den es hinausging, war nicht der Kanal, nicht der Canal Grande, sondern einer der unzähligen kleinen Wasserwege oder rii, die labyrinthartig die Stadt durchkreuzten. Obwohl nicht weit vom Canal Grande gelegen, war dies eine der ruhigeren Ecken Venedigs.

An diesem Nachmittag war es jedoch nicht ganz so ruhig, denn draußen prasselte der Regen auf den Balkon und manchmal, wenn der Wind sich drehte, auch gegen die Fenster. Sie schaute hinaus – und blinzelte verdutzt. „Du wirst es nicht glauben, aber gegenüber tut sich was.“

„Wirklich? In der Ca’ Munetti?“

Giulietta stand auf und gesellte sich zu ihr ans Fenster.

Durch den dichten Regenschleier sahen sie eine Gondel vor den Wassertoren des Hauses auf der anderen Seite des schmalen Kanals halten.

Ca’ war, wie Francesca wusste, die venezianische Kurzform für casa oder Haus. Früher einmal trug nur der Dogenpalast, der Palazzo Ducale, den Titel palazzo, und jedes andere Haus war schlicht eine casa. Mittlerweile jedoch konnte jedes Haus, ob groß oder klein, sich palazzo nennen. Das gegenüber hätte es gewiss gekonnt. Von außen, an der Kanalseite, ähnelte es dem ihren: Durch die Wassertore gelangte man in die ebenerdige Halle oder andron, Fenster mit Balkonen schmückten den ersten Stock oder das piano nobile, darüber folgte ein etwas bescheideneres zweites Geschoss und darüber das Dachgeschoss für die Dienerschaft.

Doch die Ca’ Munetti war seit fast einem Jahr unbewohnt gewesen.

„Nur ein Gondoliere“, stellte Francesca fest. „Und zwei Passagiere, wie es scheint. Mehr kann ich durch den Regen nicht erkennen.“

„Kein Gepäck“, bemerkte Giulietta.

„Vielleicht wurde es vorausgeschickt.“

„Aber im Haus ist alles dunkel.“

„Dann haben sie vielleicht noch keine Dienstboten eingestellt.“ Als die Munettis umgezogen waren, hatten sie ihr gesamtes Gesinde mitgenommen. Obwohl sie längst nicht so knapp bei Kasse waren wie manch andere venezianische Adelige, war ihnen Venedig wohl zu teuer geworden oder aber zu langweilig, seit die Österreicher es regierten. Wie auch die Besitzer des Palazzo Neroni verpachteten sie ihr Haus lieber an Fremde.

„Eine komische Zeit, um nach Venedig zu kommen“, fand Giulietta.

„Vielleicht kommen sie ja unseretwegen“, scherzte Francesca. „Wir haben Venedig wieder en vogue gebracht. Oder es sind Ausländer, die es nicht besser wissen.“

Jeder, der es sich leisten konnte, verließ die Stadt während der brütenden Sommerhitze. Im Juli bezog man seine villa, seinen Landsitz auf dem Festland, und kehrte meist erst am Martinstag, dem elften November und offiziellen Winterbeginn, aus der Sommerfrische zurück.

Francesca hatte die Villa des Comte de Magny in Mira vor der Zeit verlassen, da es mit einem Besucher aus England, Lord Quentin, zum Streit gekommen war. Hier, in ihrem eigenen Haus, konnte sie machen, was sie wollte, und war niemandem Rechenschaft schuldig, was auch recht erholsam war. Zudem hatte sie sich noch nie viel aus dem Landleben gemacht. Das Leben in der Stadt gefiel ihr weitaus besser. Ab und an vermisste sie sogar London, wenngleich nicht mehr gar so sehr wie in der ersten Zeit – und niemals würde sie zugeben, überhaupt irgendetwas an England zu vermissen.

Ein Diener trat ein, um den Tisch für den Tee zu decken.

„Arnaldo, haben Sie etwas über die Ca’ Munetti gehört?“, fragte Francesca ihn.

„Das Gepäck kam gestern, spät am Abend“, gab Arnaldo Auskunft. „Viel war es nicht. Als Gondoliere hat man Zeggio angestellt, den Cousin der Frau eines Cousins unserer Köchin. Er hat mir erzählt, dass der neue Herr Verbindungen zur Familie Albani haben soll und im Kloster der armenischen Mönche zu studieren gedenkt, so wie Ihr Freund Lord Byron es getan hat.“

Giulietta hob die Brauen und fing Francescas Blick auf. Dann mussten beide lachen.

„Byron hat zwar bei den Mönchen studiert“, sagte Giulietta. „Aber ein Mönch war er beileibe nicht.“

„Trotzdem, nur zwei Bedienstete …“ Francesca schaute wieder hinaus und sah, wie die Wassertore sich langsam öffneten.

„Dann ist der neue Pächter vielleicht doch Venezianer“, sagte Giulietta. „Die sind viel zu arm für anständige Dienerschaft. Nur Ausländer und Huren können sich solchen Luxus leisten.“

Arnaldo entfernte sich, und das Gespräch wurde wieder auf Englisch geführt.

„Mein neuer Nachbar könnte aber auch ein geiziger Ausländer sein“, sagte Francesca. „Oder ein Einsiedler.“

„In beiden Fällen wäre er nichts für uns.“

„Du liebe Güte, nein.“ Francesca lachte hell auf.

Ihr Lachen war ebenso berühmt wie ihr ungewöhnliches Äußeres – vielleicht gar noch berühmter.

Durch ihre Scheidung von der respektablen Gesellschaft ausgeschlossen, hatte sie eine neue Art des Umgangs mit Männern lernen müssen. Und sie hatte schnell gelernt. Fanchon Noirot, die in Paris ihre Mentorin gewesen war, hatte ihr versichert, dass sie ein Naturtalent sei.

Die wichtigste Lektion, die Francesca bei ihr gelernt hatte, war, wie man mit Männern redete – oder, wichtiger noch, wie man ihnen zuhörte.

Aber wenn Francesca Bonnard lachte, hörten die Männer ihr zu. Mit allen Sinnen.

„Wenn Sie lachen“, hatte Lord Byron ihr gesagt, „halten Männer wie gebannt den Atem an.“

„Sie täten besser daran, sich an ihre Geldbörsen zu halten“, hatte sie erwidert.

Worauf er hatte lachen müssen, wenngleich mit Wehmut, denn es stimmte.

Francesca Bonnard war eine Kurtisane, und zwar eine so teure, dass nur wenige Männer sie sich leisten konnten. Lord Byron zählte nicht zu ihnen.

Derweil auf der anderen Seite des Kanals

Von allen Städten dieser Welt hatte sie sich ausgerechnet diese aussuchen müssen.

Verdammt ungelegen.

Und nass.

In feinem Nieselregen hatte James’ Gondel vom Festland abgelegt und war auf dem Canal Grande in einen so heftigen Platzregen geraten, dass sie die Fenster der felze, der schwarzen Passagierkabine, hatten schließen müssen. Nur verschwommen waren Häuser und Anleger noch zu erkennen. Kein Geräusch drang zu ihm herein außer dem Regen, der aufs Deck und das Dach der Kabine prasselte.

Fast hätte er sich in jener Unterwelt wähnen können, an die seine römischen Vorfahren geglaubt hatten. Vielleicht trieb er ja auf dem Styx, inmitten der Schatten Verstorbener.

Von diesem Höhenflug der Fantasie wurde er rasch wieder zurück auf die Erde geholt – oder vielmehr aufs Wasser –, als er den Ruderschlag unter einer Brücke widerhallen und den Gondoliere rufen hörte: „Ponte di Rialto.“

Der Gondoliere hieß Zeggio. Auf den ersten Blick schien der Venezianer viel zu jung, um auch nur irgendjemanden irgendwohin zu rudern, zu hübsch, um derlei niedrige körperliche Arbeit zu verrichten, und zu unbedarft, um ernst genommen zu werden. Dieser Eindruck dürfte erklären, warum James’ Vorgesetzte Zeggio für so geeignet hielten. Tatsächlich war er nämlich bereits zweiunddreißig, alles andere als unbedarft und nicht zum ersten Mal in ihren Diensten tätig.

Als einheimischer Agent wurde er hochgeschätzt. Doch sein erklärtes Ziel war es, die venezianische Version von James Cordier zu werden.

Armer Kerl.

Nachdem sie vom Canal Grande in einen schmaleren Wasserweg eingebogen waren und dann ein weiteres Mal abbogen, gelangten sie endlich zur Ca’ Munetti.

„Ah, Venedig“, seufzte James, als er die Aussicht genoss – soweit man bei dem Wetter von Aussicht sprechen konnte –, die sich ihm zu beiden Seiten bot. Häuser und Gondeln waren kaum mehr als dunkle Schemen im grauen Dunst. „Fürwahr eine schöne Stadt, nur leider etwas … nass.“

Sein Diener Sedgewick brummelte Unverständliches. Sedgewick war ein kleiner, drahtiger Bursche und so unscheinbar, dass die Leute ihn meist gar nicht bemerkten. Doch das war ihr Fehler. Ihr erster und oft auch ihr letzter.

„Was war das gerade, Sedgewick?“, fragte James.

„Ich wollt’, ich wär in England“, murmelte sein Diener, der einst schon sein Offiziersbursche gewesen war.

„Wer wollte das nicht?“, erwiderte sein Herr. In England wäre es zwar kälter und gewiss nicht sonniger, aber man wäre wenigstens in England und nicht schon wieder in irgendeinem gottverdammten fremden Land, in dem es von Fremden nur so wimmelte.

Eigentlich hätte James sich hierzulande ganz heimisch fühlen müssen. Seine Mutter, deren Herkunft nicht minder distinguiert war als jene seines Vaters Lord Westwood, war mit halb Italien verwandt oder vielmehr mit der Hälfte der großen Familien Italiens.

Venedig war allerdings nicht Italien.

Venedig war … Venedig.

Als die Gondel vor dem Wassertor hielt, warf James einen flüchtigen Blick auf das gegenüberliegende Haus, in dem sie wohnte.

Sie meinte Francesca Bonnard, Tochter des verstorbenen Sir Michael Saunders, eines berüchtigten Schwindlers, ehemals Gattin des vermeintlich so rechtschaffenen Lord Elphick und derzeit die teuerste Hure Venedigs.

Manch einer mochte sagen, dass letzteren Titel zu erlangen längst kein so großes Verdienst mehr war wie, sagen wir, noch vor dreihundert Jahren. Venedig hatte seine Blüte hinter sich, vor allem in den letzten Jahrzehnten war es stetig bergab gegangen. La Bonnard hingegen galt weiterhin als die teuerste ihrer Art im ganzen Veneto, vielleicht in ganz Italien, und manche sagten sogar auf dem ganzen Kontinent.

Da stellte sich natürlich die Frage, weshalb die Königin der Kurtisanen sich ausgerechnet in Venedig niedergelassen hatte. Die legendäre Stadt war schön, doch arm und heruntergekommen, viele ihrer Adelsfamilien hatten die Stadt verlassen, und der einst stete Strom mondäner Besucher war zu einem kümmerlichen Rinnsal verebbt.

Warum war sie nicht in Paris geblieben, wo sie vor drei oder vier Jahren zu Ruhm gelangt war und wo sie freie Wahl an reicher Beute hätte? Oder warum nicht Wien? Oder, wenn schon Italien, warum nicht zumindest Rom oder Florenz?

Früher oder später würde er es herausfinden, wobei früher besser wäre als später, denn er hatte eigene Pläne, und sie war ihm dabei in die Quere gekommen.

Er hatte die von Marta Fazi gestohlenen Smaragde geborgen und sie ihren Besitzern zurückgegeben. Zum Dank für diesen kleinen Gefallen der britischen Regierung hatte der Besitzer im Gegenzug einen wichtigen Vertrag unterzeichnet. Auch James war entlohnt worden, und zwar sehr fürstlich.

Es hätte James’ letzter Auftrag sein sollen. Eigentlich wollte er längst auf der Heimreise sein und sich in England eines wohlverdienten Ruhestands erfreuen.

Aber nein.

Als die Wassertore sich öffneten und die Gondel hineinfuhr, wünschte er Lord Elphicks abgelegte Gemahlin in den Hades.

Vom Boot stieg er direkt auf den mit Stein- und Marmorplatten befestigten andron, das Wassergeschoss des Hauses. Die Wände waren dunkel getäfelt, doch der weite Raum war feucht und kalt. Muffiger Geruch stieg ihm in die Nase. Sedgewick schüttelte sich.

Sie folgten Zeggio eine Treppe hinauf ins piano nobile und fanden sich in einer großen Halle wieder. Dieser portego, wie die Venezianer ihn nannten, erstreckte sich von einem Ende des Hauses bis ans andere.

Er diente offensichtlich der Repräsentation. Die lange Reihe prächtiger Kronleuchter, die von der Decke hingen, und die nicht minder prächtigen Kandelaber, die auf schmalen Tischen entlang der Wände standen und allesamt reich an den berühmten Glasarbeiten aus Murano waren, würden mit ihrem Kerzenschein Gemälde und Skulpturen, Gold und Stuck an Decken und Wänden in einem funkelnden Lichtermeer erstrahlen lassen.

„Und das alles auf’m Wasser“, sagte Sedgewick und sah sich kopfschüttelnd um. „Was müssen das für Leute sein, die so was auf Stelzen mitten in die versumpfte Landschaft stellen?“

„Italiener“, erwiderte James. „Es hat schon seinen Grund, dass sie einst die Herrscher der Welt waren und Venedig die führende Seemacht war. Für dieses Wunder der Ingenieurskunst gebührt ihnen durchaus Anerkennung.“

„Und dafür, eine todsichere Brutstätte für Malaria geschaffen zu haben“, brummte Sedgewick. „Und für Typhus.“

„Oh, aber gerade gibt es keine Krankheiten“, versicherte Zeggio ihnen. „Malaria haben wir nur im Sommer, und der Typhus kommt im Frühling. Jetzt ist es sehr gesund in Venedig.“

„Bleibt immer noch Lungenentzündung“, sagte Sedgewick. „Halsschmerzen. Schwindsucht. Lungenkatarrh.“

„So mag ich meinen Sedgewick“, sagte James. „Immer schön optimistisch.“

Zeggio ging ihnen durch die große Halle voraus in einen der zur Kanalseite gelegenen Salons. „Oh nein, Sie werden sehen“, sagte er, „im Herbst und Winter ist es hier angenehmer als auf dem Festland. Deshalb kommen auch alle an San Martino zurück in die Stadt.“

Alle außer ihr.

Sie hatte den Sommer auf dem Landsitz des Comte de Magny verbracht, eines Freundes aus Pariser Tagen und aller Wahrscheinlichkeit nach einer ihrer verflossenen Liebhaber, wenn nicht gar noch einer der aktuellen – die Gerüchte waren nicht eindeutig. Ende August jedoch hatte sie nach fortgesetzten Unstimmigkeiten mit Lord Quentin, der nicht nur James’ Vorgesetzter, sondern auch Sommergast des Comte war, Magny den ländlichen Schönheiten überlassen und war vor der Zeit nach Venedig zurückgekehrt. Nachdem es Quentin nicht gelungen war, die Dame dazu zu bewegen, ihm gewisse Briefe auszuhändigen, welche sich in ihrem Besitz befanden, und nachdem andere Agenten daran gescheitert waren, besagte Schriftstücke mittels verdeckterer Machenschaften an sich zu bringen, hatte Seine Lordschaft James ohne weitere Umstände zurück in den Dienst beordert. Kurz bevor er an Bord des Schiffes nach England hatte gehen wollen … fort von Intrigen und Verschwörungen, Auftragsmorden und blutdürstigen Huren. Diesmal für immer.

Zu früh gefreut.

Wann hatte er zuletzt mit ganz normalen, respektablen Menschen verkehrt, Menschen mit kleinen, belanglosen Geheimnissen und ganz alltäglichen Sorgen? Wann hatte er zuletzt mit Menschen gesprochen, die nicht wie er mit den dunkelsten Seiten des Lebens vertraut waren? Wann hatte er zuletzt einer unschuldigen jungen Frau in die Augen geblickt, die nicht seine Schwester war? Er wusste es nicht mehr.

Weshalb er seine Aufmerksamkeit nun lieber erfreulicheren Dingen zuwandte und seine neue Umgebung in Augenschein nahm.

Auch der Salon war reich an Samt und Seide, Stuck und Gold, mutete im Vergleich zum portego jedoch geradezu heimelig an, und wärmer war es hier trotz des für die Jahreszeit ungewöhnlich unwirtlichen Tages auch, was vermutlich an dem Feuer lag, das munter im Kamin brannte. Alles schien für seine Ankunft vorbereitet worden zu sein.

Dennoch schwebte über allem ein Hauch von Verfall.

„Heruntergekommen“, befand Sedgewick, nachdem er seinen prüfenden Blick hatte schweifen lassen.

„Venedig ist wie eine cortigiana – eine Kurtisane –, die …“, Zeggio runzelte die Stirn und schien nach den richtigen Worten zu suchen, „… die schon schönere Zeiten geschaut hat.“

„Bessere Zeiten gesehen hat“, sagte James.

„Bessere Zeiten gesehen hat“, wiederholte Zeggio und murmelte es ein paar Mal vor sich hin, um es sich einzuprägen. „Capito. Dasselbe, aber nicht ganz dasselbe.“

James trat an eines der Fenster und schaute hinaus auf den schmalen Kanal. Gegenüber lief hinter einem der hell erleuchteten Fenster eine weibliche Gestalt vorbei, kam kurz darauf zurück und blieb am Fenster stehen. Obwohl der Regen alles verschwimmen ließ, obwohl es ihm zur zweiten Natur geworden war, stets im Schatten zu bleiben, obwohl das dichte Maßwerk des Fensters ihn schon vor neugierigen Blicken schützte, wich er aus alter Gewohnheit noch einen Schritt zurück.

„Die Signora ist heute zu Hause“, sagte Zeggio und kam zum Fenster hinüber. „Ihre Freundin ist bestimmt auch da. Ja, da ist Signorina Sabbadins Gondel, das dachte ich mir schon. Sie trinken fast jeden Tag zusammen Tee. Die beiden sind so.“ Er hob die Hand und drückte Daumen und Zeigefinger fest zusammen. „Immer zusammen, wie Schwestern. Alle ihre Freunde folgen Madame nach Venezia, weil es ihnen ohne sie zu langweilig ist. Aber hier bei uns ist es nie langweilig. Sogar jetzt haben wir die schöne Oper, das Ballett, das Theater. Und bald, nach Weihnachten, beginnt der Karneval.“

James blickte in den Regen hinaus. „Sedgewick, sollten wir zu Beginn des Karnevals noch immer in Venedig sein“, sagte er, „so erschießen Sie mich bitte.“

„Wird gemacht, Sir“, sagte Sedgewick. „Vielleicht wollen Sie sich dann lieber sofort an die Arbeit machen.“

James nickte. „Zeggio, finden Sie heraus, wohin sie heute Abend geht, damit ich mich entsprechend einkleiden kann.“

„La Fenice, ganz gewiss“, antwortete Zeggio ohne zu zögern.

„Ah ja“, sagte James. „Venedigs prächtigstes Theater. Wo könnte sie sich besser zur Schau stellen?“

„Heute Abend wird Rossinis Oper aufgeführt“, sagte Zeggio. „La Gazza Ladra.“

„Die diebische Elster“, übersetzte James für Sedgewick, dessen zahlreiche Talente sich nicht auf fremde Sprachen erstreckten.

„Wieder und wieder geht sie in diese Oper“, sagte Zeggio. „Aber ich werde fragen, um sicher zu sein. Und dann werde ich jemanden suchen, der Sie zu ihrer Loge bringt und Sie vorstellt, ja?“

„Ich möchte ihr erst dann vorgestellt werden, wenn ich sie etwas besser kenne“, sagte James. „Ich brauche ein oder zwei Tage zur Aufklärung.“

„Er will das Zielobjekt erst auskundschaften“, erklärte Sedgewick Zeggio. „Aber mein Herr versteht sich gut auf Frauen. Mit der werden wir schnell fertig, keine Sorge.“

„Das wollen wir hoffen“, sagte James. Eine große, zweirudrige Gondel näherte sich dem Palazzo Neroni. „Wer ist das?“

Zeggio starrte angestrengt hinaus. „Oh, der“, meinte er schließlich. „Kaum dass sie zurück ist, kommt er auch nach Venedig. Das ist der Kronprinz von Gilenia. Sehr schöner Mann, mit goldenem Haar und kleinen Löckchen. Ein bisschen dumm, aber es heißt, sie gewährt ihm ihre Gunst.“

Gilenia war ein verschwindend kleiner Fleck auf der Landkarte Europas, den nur wenige Menschen kannten, aber es gehörte unter anderem zu James’ Aufgaben, über all diese unbekannten Flecken Bescheid zu wissen. „Prinz Lurenze“, sagte er. „Wie alt ist der Junge noch gleich? Einundzwanzig?“

„Bei allem Respekt, Sir, aber Sie waren sechs Jahre jünger, als man Sie angeworben hat“, sagte Sedgewick.

„Sehr wahr“, pflichtete Zeggio ihm bei. „Signor Cordier ist eine lebende Legende. Bis ich ihn mit meinen eigenen Augen gesehen habe, hätte ich ihn für einen Mythos gehalten.“

„Meinetwegen“, sagte James. „Es gibt aber einen beträchtlichen Unterschied zwischen dem missratenen jüngeren Sohn eines englischen Adeligen und dem Thronfolger einer der ältesten Monarchien Europas. Thronfolger hütet man wie einen Augapfel, weshalb es mich überrascht, dass seine Eltern ihn überhaupt aus den Augen und in der Welt herumreisen lassen.“

„Sie haben ihn mit großem Gefolge hergeschickt“, sagte Zeggio. „Das ist eines seiner Probleme mit den Damen: Er ist nie allein.“

„Das dürfte zu ganz neuen, nicht uninteressanten Erfahrungen im Boudoir führen“, sinnierte James. „Falls er denn Erfahrungen hat, was ich zu bezweifeln wage.“

„Sie glauben, dass der Junge noch Jungfrau ist?“, fragte Sedgewick ungläubig.

„Ich würde nicht meine Hand drauf verwetten“, sagte James. „Aber seine Erfahrung dürfte sich in Grenzen halten.“ Er winkte verächtlich ab. „Der Junge wird uns keine Schwierigkeiten machen. Und wenn Magny auf seinem Landsitz bleibt, wie sich das für einen ordentlichen Venezianer gehört, sehe ich auch in ihm kein Problem.“

„Und die Dame?“, fragte Zeggio.

„Oh, mit Frauen hatte mein Herr noch nie ein Problem“, sagte Sedgewick. „Nicht das geringste.“

Derweil in London

John Bonnard, Lord Elphick, stand in seinem Arbeitszimmer hinter dem Schreibtisch. Obwohl er seinen vierzigsten Geburtstag unlängst begangen hatte, war sein dunkelblondes Haar noch kräftig, seine haselbraunen Augen ungetrübt und sein Gebiss fast vollständig. Alles in allem galt er so trotz seiner geringen Größe und eher schmächtigen Statur als einer der attraktivsten Männer Englands.

Hätten Beobachter einen Blick auf sein Innenleben werfen können, wären sie vielleicht anderer Meinung gewesen.

Im Augenblick kam seine äußere Erscheinung diesem Innenleben sehr nah, da er mit finsterer Miene auf einen Brief starrte, der vor ihm lag. Der Brief war so zerknittert, als sei er gleich mehrere Male zerknüllt und wieder geglättet worden.

Die meisten Briefe, die seine geschiedene Frau ihm schickte, endeten derart ramponiert. Beachtlich nur, dass keiner von ihnen je im Feuer landete.

Die zierliche, dunkelhaarige Frau, die ihm auf der anderen Seite des Schreibtischs gegenüberstand, betrachtete ebenfalls den Brief, ehe sie den Blick hob und Elphick ins erzürnte Antlitz sah. Johanna Ide hatte eine Miene aufgesetzt, die stark vermuten ließ, dass sie eine solche Szene nicht zum ersten Mal erlebte. Sie versagte es sich indes, ihre schönen Augen zu verdrehen. Seit über zwanzig Jahren Elphicks Geliebte und Mittäterin in allen Belangen, war sie sich wohl bewusst, was es bedeutete, wenn sich in diesem Fall die Dinge nicht so entwickelten, wie sie beide es siegesgewiss angenommen hatten.

Elphick hatte eben einen weiteren Brief seiner verflossenen Gattin erhalten. Wie immer hatte ihn dies in Rage gebracht.

„Dieses Miststück“, fluchte er.

„Es ist schlimm, mein Lieber, ich weiß. Aber lange wird sie dich nicht mehr behelligen.“

Er sah auf. „Nein, das wird sie nicht. Alles ist arrangiert. Ich habe heute Morgen die Nachricht erhalten: Marta Fazi ist aus dem Gefängnis entlassen worden. Lange genug hat es ja gedauert, und teuer ist es mich zu stehen gekommen. Aber nun ist es geschafft, und sie sollte bereits auf dem Weg nach Verona sein, falls sie nicht bereits dort ist.“

Nun war es an Johanna, irritiert die Stirn zu runzeln. Sie wusste, dass Marta Fazi eine der zahlreichen Frauen war, welcher Elphick sich im Laufe der Jahre bedient hatte. Jede von ihnen glaubte, sie wäre seine einzig wahre Liebe. Johanna, die es besser wusste, unterstützte diese Affären. Das gehörte zum Geschäft und diente lediglich dazu, an die Macht zu kommen. Wäre dem nicht so gewesen, hätten sie und Elphick längst getan, was in Anbetracht ihrer Ambitionen nicht angezeigt war, und schon vor Jahren geheiratet. Doch da sie beide ehrgeizig waren – Seelenverwandte in jeder Hinsicht –, hatten sie jeweils jemand anderen geheiratet. Sie war mittlerweile verwitwet und er geschieden, doch noch immer zögerten sie, einander zu heiraten, ehe nicht alles im Reinen war, was hieß: ehe er nicht Premierminister und seine einstige Gattin vernichtet war. Kurzum: ehe Johanna nicht absolut sicher sein konnte, dass niemand je herausfände, was für ein Mensch Elphick wirklich war, und sie mit ihm die Konsequenzen für sein Tun tragen müsste.

„Ich weiß schon, was du jetzt denkst“, sagte er. „Dir wäre es lieber, ich hätte jemand anderen damit beauftragt, uns die Briefe zu besorgen.“

„Fazi ist kaum des Lesens mächtig“, stellte Johanna nüchtern fest.

„Aber sie kennt meine Schrift“, erwiderte er. „Es hatte schon seinen Grund, dass ich ihr seinerzeit so viele Liebesbriefe geschrieben habe. Außerdem wird man sie instruieren, nach welchen Namen sie in besagten Briefen zu suchen hat. Das sollte reichen. Mehr braucht sie nicht zu wissen.“

„Sie ist auch etwas … unzurechnungsfähig“, bemerkte Johanna.

„Was sie mit Francesca anstellt, ist mir egal, solange sie vorher die Briefe an sich bringt“, sagte er.

„Das sehe ich genauso, mein Lieber, aber ich würde dennoch sichergehen wollen, dass Marta die Briefe auch wirklich hat, ehe deine Verflossene ein fatales Missgeschick ereilt.“

„Soweit ich weiß, bringt Marta keine Frauen um“, sagte er und senkte erneut den Blick auf den missliebigen Brief. „Wahrscheinlicher ist, dass sie ihr das reizende Gesicht entstellt. Dann dürfte mit den hochwohlgeborenen Liebhabern Schluss sein.“

Die hochwohlgeborenen Liebhaber waren das eigentliche Problem.

Vor fünf Jahren hatte Francesca Bonnard aus ebendiesem Schreibtisch ein Bündel Briefe entwendet, die sich – so sie von jemandem gelesen wurden, der über diese, unter Spionen gebräuchliche, Art der Kommunikation Kenntnis hatte – als höchst belastend, ja, als geradezu fatal erweisen könnten.

Glücklicherweise war sie zu dem Zeitpunkt, da sie die Briefe gestohlen hatte, die am meisten gehasste und verabscheute Frau Englands gewesen. Hätte sie damals versucht, die heimlichen Transaktionen ihres Gatten mit den Franzosen offenzulegen, würde niemand ihr geglaubt haben. Man hätte die Briefe für Fälschungen gehalten, für einen kläglichen Versuch ihrerseits, ihren schamlos hintergangenen Gatten mit ins Verderben zu ziehen. Vermutlich hätte er sie gar wegen Verleumdung verklagen können.

Doch sie war klug genug gewesen, dies nicht zu tun. Stattdessen war sie außer Landes gegangen und hatte sich zur Hure gemacht, während John Bonnard stetig die politische Erfolgsleiter hinaufgeklettert war und sich nebenbei sogar noch einen Baronstitel gesichert hatte.

Dass er sich dabei nicht nur Freunde gemacht hatte, verstand sich von selbst, und diese Leute suchten jetzt Mittel und Wege, ihn zu Fall zu bringen. Viele Neider waren darunter, doch einer seiner ernst zu nehmenden Gegner, Lord Quentin, hielt sich derzeit in Italien auf, was kein gutes Zeichen war.

Derweil war Francesca Bonnard keineswegs das unrühmliche Ende beschieden worden, das Johanna und Elphick für sie vorausgesehen hatten. Statt elend, irr und siech in der Gosse zu landen, hatte sie gleichfalls den Aufstieg geschafft. Sie verkehrte nun mit Männern, die viel Macht und Einfluss hatten.

Weshalb sie ein leibhaftiges Problem war. Eines, das ihm sehr gefährlich werden konnte.

Derweil in Verona

„Kapieren Sie denn nicht?“, brüllte Marta Fazi den Gentleman an, der ihr die Nachricht ins bescheidene Haus gebracht hatte. „Ich habe meine besten Männer verloren – wegen dieses römischen Dreckschweins. Weiß der Teufel, wer er ist. Drei von ihnen kaputt! Verkrüppelt, nutzlos. Und ein weiteres halbes Dutzend von den Soldaten abgeführt. Die sitzen noch immer hinter Gittern!“

„Wir haben Sie nur deswegen rausgeholt“, erinnerte sie der Kurier. „Hat uns ein verdammtes Vermögen gekostet.“

„Na und? Ich bin es wert“, sagte sie und reckte stolz das Kinn. „Das weiß Mylord Elphick. Aber was soll ich tun, wenn meine besten Männer nicht zu gebrauchen sind?“

„Gebrauchen Sie Ihre zweitbesten Männer“, sagte der Kurier.

Mit finsterem Blick starrte sie an ihm vorbei, eilte zu einem schmalen Bord, auf dem eine Marienfigur stand, und drehte sie mit dem Gesicht zur Wand. „Warum schaut sie mich so vorwurfsvoll an?“, klagte sie. „Sie weiß doch, was ich durchgemacht habe. Dieser grausame Mann. In der Hölle soll er schmoren!“

„Vergessen Sie jetzt diesen grausamen Mann“, mahnte der Kurier.

Sie fuhr herum, und ihre schwarzen Augen funkelten vor Zorn. „Ihn vergessen? Wissen Sie, was er mir angetan hat?“

„Ich weiß, dass er Sie die Beherrschung hat verlieren und randalieren lassen, woraufhin Sie ins Gefängnis kamen, aus dem wir Sie mit hohem Aufwand …“

„Meine Smaragde!“, schrie sie. „Meine schönen Smaragde! Er hat sie gestohlen!“

„Dieser Auftrag ist wichtiger als …“

„Königinnen haben diese Smaragde getragen!“, wütete sie weiter. „Sie gehörten mir!“ Sie schlug sich mit der Faust an die Brust. „Wissen Sie eigentlich, was ich tun musste, um diese schönen Steine zu bekommen?“ Ihre dunklen Augen füllten sich mit Tränen. Sie, die zum Vergnügen quälte und verstümmelte und mit einem Lächeln auf den Lippen tötete, weinte wegen lebloser grüner Mineralien. „Wie Kinder habe ich sie geliebt. Wie mein eigen Fleisch und Blut. Meine kleinen Lieblinge. Wo soll ich jemals Smaragde herbekommen, die ihnen gleich sind? Oh, wenn ich dieses Schwein finde, das sie mir …“

„Das kann warten. Jetzt …“

„Wer hat mir das angetan? Wer ist er?“

„Das wissen wir nicht. Und wir haben auch keine Zeit, es herauszufinden. Vergessen Sie ihn. Vergessen Sie die Smaragde. Sie werden sie niemals zurückbekommen. Sie befinden sich längst wieder in dem Kronschatz, aus dem sie einst entwendet wurden.“

„Nein!“, schrie sie, schnappte sich die kleine Madonna und schleuderte sie quer durchs Zimmer, wo sie an einer Stuhllehne zerschellte. „Ihn vergessen? Marta Fazi vergisst nie! Niemals. Nicht mal einen Ring hat er mir gelassen. Nicht einen Ring! Nichts. Alles weg! Futsch!“

Sie hat Juwelen. Viele Juwelen“, sagte der Kurier. „Ihre Juwelen sind berühmt.“

Der Sturm legte sich jäh.

„Mrs Bonnard hat Saphire, Perlen, Rubine, Diamanten“, zählte der Kurier auf. „Und Smaragde.“

„Smaragde?“, fragte Marta Fazi und strahlte wie ein Kind, dem Süßes versprochen wird.

„Sehr schöne Smaragde, die einst der Kaiserin Josephine gehörten“, sagte der Kurier. „Besorgen Sie uns einfach die Briefe, und niemand wird sich darum scheren, wenn Sie dabei ein paar von den Klunkern mitgehen lassen. Wenn Sie Seiner Lordschaft die Briefe sicher aushändigen, wird er Ihnen sogar die Kronjuwelen schenken.“

Venedig, am selben Abend in der Oper

Obwohl die Saison noch nicht offiziell begonnen hatte, waren Logen und Parkett des Fenice gut besetzt. Was zum einen daran lag, schloss James, dass Rossinis beliebte Oper Die diebische Elster aufgeführt wurde, und zum anderen daran, dass Francesca Bonnard mit ihren Freunden eine der teuersten Logen belegte. Fast schien es, als schauten mehr Gäste zu ihrer Loge als zur Bühne.

Doch da dies Italien war, taten viele weder das eine noch das andere.

Er wusste wohl, dass italienische Theater sich grundlegend von denen in England unterschieden. In Italien dienten Theater der Geselligkeit. Um diesem Bedürfnis zu genügen, waren Treppen und Erfrischungsräume sehr großzügig bemessen. In den weiten Hallen des Foyers war bis vor Kurzem gar dem Glücksspiel gefrönt worden. Nun, da dies verboten war, musste man sich beim Theaterbesuch auf Backgammon beschränken.

Während der Saison gingen die begüterten und gebildeten Stände vier- bis fünfmal die Woche ins Theater. Da sie als zweites Zuhause genutzt wurden, waren die Logen sehr geräumig und oft wie Salons eingerichtet. Von manchen aus konnte man kaum die Bühne sehen.

Während der Vorstellung wurde gegessen, getrunken und geplaudert. Man spielte Karten, flirtete und verführte. Bediente gingen ein und aus. Die Oper oder das Stück waren nur Kulisse. Zumindest meist.

Denn manchmal, wenn vorn auf der Bühne etwa eine beliebte Arie gesungen wurde, konnte es mit einem Mal ganz still im Saal werden, und das Publikum lauschte gebannt.

Von einem solch andächtigen Schweigen konnte indes keine Rede sein, als James die Loge betrat, in der Francesca Bonnard Hof hielt. Auf der Bühne wurde leidenschaftlich gestritten und lauthals geschrien, doch niemand schenkte den Bemühungen der Schauspieler die geringste Beachtung.

Auch James schenkte man keine Beachtung. Er schien nur einer von vielen bezopften und livrierten Dienern, die in der Loge ein und aus gingen und dies und jenes brachten: Essen, Wein, einen Schal. Es war ganz leicht, den Dienstboten zu spielen. Jene, die sich von ihm bedienen ließen, nahmen ihn kaum zur Kenntnis. Würde er den Kronprinz von Gilenia vor einem Dutzend Zeugen hinmeucheln, könnte nicht einer von ihnen später James als den Mörder benennen. Niemand würde sich an ihn erinnern, wüsste weder was für eine Perücke noch welche Livree er getragen hatte.

Weshalb er sich da so sicher war? Weil er zwei äußerst unangenehme Zeitgenossen unter ganz ähnlichen Umständen unerkannt ins Jenseits befördert hatte.

Lurenze hingegen war einfach nur im Weg. Glaubte man jedoch dem Ruf, der besagter Dame vorauseilte, würde wohl immer ein Mann – oder derer mehrere – im Weg sein, und da konnte es James nur recht sein, dass das Hindernis jung war und nicht besonders intelligent zu sein schien. Der französische Comte de Magny mit seinem Vorsprung an Alter und Erfahrung – wozu auch zählte, während des Terreur und der turbulenten Jahre danach buchstäblich nicht den Kopf verloren zu haben – hätte sich als weitaus hinderlicher erweisen können.

James richtete sein Augenmerk von dem golden gelockten Jüngling auf die Kokotte an seiner Seite. Die beiden saßen in vorderster Reihe, Lurenze auf dem Ehrenplatz zu ihrer Rechten. Er saß ihr zugewandt und himmelte sie ehrfürchtig an. Sie hielt den Blick auf die Bühne gerichtet und tat, als bemerke sie seine Bewunderung nicht.

Von dort, wo James stand, bot sich ihm nur die Rückansicht: ein makellos geschwungener Hals und ebensolche Schultern. Ihr Haar, in kunstvoller Nachlässigkeit aufgesteckt, war von einem dunklen Kastanienbraun und schimmerte rot, wo das Licht es einfing. Einzelne lose Strähnen ließen sie dezent zerzaust aussehen – nicht so, als wäre sie eben erst dem Bett entstiegen, eher so, als wäre sie just der Umarmung eines Liebhabers entschlüpft.

Raffiniert.

Und effektiv. Selbst James, erfahren und verdorben wie er war, konnte sich einer Regung des Unterleibs nicht erwehren, spürte seinen Blick sich verengen und seinen Verstand erweichen.

Aber was hatte er erwartet? Bei ihrem Preis sollte sie sich wohl darauf verstehen, männliche Begierde zu entfachen.

Sein Blick schweifte tiefer.

Eine Kette aus Saphiren und Diamanten schmückte ihren langen, samtenen Hals. Passende Ohrgehänge hingen von ihren muschelgleichen Ohren herab. Während Lurenze ihr etwas ins Ohr flüsterte, ließ sie ihre Stola weiter von den Schultern gleiten.

Und da staunte James nicht schlecht.

Das Kleid ließ ihren Rücken frei!

Ihre Schulterblätter schimmerten hell. Auf dem rechten prangte ein auffälliges Muttermal.

Mit Mühe ließ er seine Augen wieder im Kopf und seine Zunge im Mund verschwinden.

Nun gut, dachte er, sie war wirklich nicht zu verachten – und verwegen noch dazu. Irgendjemandem schien sie diese Saphire wert zu sein, und das wollte etwas heißen. James wüsste nicht, schon mal ihresgleichen gesehen zu haben, und er hatte im Laufe der Jahre so einiges an wertvollem Schmuck in die Finger bekommen. Diese Saphire waren gar noch besser als die Smaragde, die er Marta Fazi vor ein paar Monaten abgeknöpft hatte.

Die Weinflasche in der Hand und eine Serviette über dem Arm, trat er näher, um ihre Gläser nachzufüllen.

Lurenze, der sich ihr so weit zugeneigt hatte, dass seine goldblonden Locken sich in ihren Ohrringen zu verfangen drohten, hielt irritiert inne, lehnte sich ein wenig zurück und runzelte dann die Stirn. Mit gezücktem Lorgnon nahm er ihren halb nackten Rücken in Augenschein. „Aber das ist ja eine Schlange!“, stellte er fest.

Nein! Im Ernst?

Überrascht beugte auch James sich vor. Und tatsächlich – der Prinz hatte recht: Das war kein Muttermal, sondern eine Tätowierung.

„Du da, was fällt dir ein, die Dame so dreist anzustarren?“, sagte Lurenze. „Unverschämte Person. Mach den Mund wieder zu. Und pass auf, bevor du den Wein …“

„Hoppla“, sagte James und neigte die Flasche noch ein wenig weiter, bis der Wein auf den Schurz von Seiner Hoheit Hose spritzte.

Bestürzt blickte Lurenze auf den dunklen Fleck, der sich in seinem Schritt ausbreitete.

Perdono, perdono“, stammelte James in gespielter Zerknirschung. „Sono mortificato, eccellenza.“ Er nahm sich die Serviette vom Arm und begann umständlich und wenig sanft, den feuchten Fleck zu bearbeiten.

Bonnards Blick blieb auf die Bühne gerichtet, doch ihre Schultern zuckten kaum merklich. Zu seiner Linken hörte James ein unterdrücktes Kichern, das von der einzigen anderen Frau in der Loge kommen musste. Er vermied es, in ihre Richtung zu schauen, und hantierte weiter mit dem Tuch herum.

Der echauffierte Prinz stieß seine Hand fort. „Aufhören! Das reicht! Verschwinde! Ottar! Wo ist mein Diener? Ottar!“

Nahezu gleichzeitig wandten sich einige Hundert Köpfe ihnen zu, und einige Hundert Stimmen zischten in einhelliger Empörung: „Schsch!“

Ninettas Arie würde gleich beginnen.

Perdonatemi, perdonatemi“, flüsterte James. „Mi dispiace, mi dispiace.“ Unter weiteren Entschuldigungen begann er sich rückwärts zu entfernen, der Inbegriff serviler Ehrfurcht und Beschämung.

Und da wandte La Bonnard sich um und schaute James geradewegs ins Gesicht.

Er hätte darauf vorbereitet sein sollen. Ganz routiniert hätte er reagieren sollen, aber er tat es nicht. Seine Reaktion kam einen halben Herzschlag zu spät. Ihr Blick erwischte ihn kalt, und ihr unirdisches Antlitz ließ ihn wie angewurzelt innehalten.

Isis hatte Lord Byron sie genannt, nach der ägyptischen Göttin. Jetzt wusste James auch, weshalb: diese seltsam langen, schmalen grünen Augen … der breite Mund … der exotische Zug von Nase, Kinn und Wangen.

Da spürte auch James es – die Macht ihres bemerkenswerten Gesichts und ihrer göttlichen Gestalt trafen ihn wie ein Schlag. Heiß durchfuhr es ihn, vom Kopf bis zu den Zehen und von den Zehen wieder hinauf zum Kopf, und das in einer Geschwindigkeit, die ihn schwindeln ließ.

Das alles dauerte nicht länger als einen Herzschlag – immerhin war er ein alter Hase –, dann wandte er den Blick ab. Doch er war sich bewusst, war sich wütend bewusst, dass er zu langsam gewesen war.

Und er war sich bewusst, ja, war sich wütend bewusst, dass sie ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hatte.

Mit einem Blick. Einem bloßen Blick.

Und das war noch nicht alles.

Seelenruhig maß sie ihn von oben bis unten. Von unten bis oben. Erst dann sah sie beiseite und wandte ihren Blick wieder der Bühne zu.

Aber in diesem letzten, verstohlenen Augenblick, ehe sie sich wieder umdrehte, sah James noch, wie ein genüssliches Lächeln um ihre Lippen spielte.