Leseprobe Das Experiment

KAPITEL EINS

Mittwoch, 25.11.2015

Es war Selbstmord.

Wie immer Melanie es auch drehte und wendete, der Beweis starrte ihr mit dem kalten Leuchten der Computermonitore entgegen.

Na ja, eigentlich war es kein Selbstmord.

Es war Mord.

Wenn sie befolgte, was ihr Vorgesetzter ihr gesagt hatte, dann würde sie ihr Baby, in das sie das letzte halbe Jahr ihres Lebens investiert hatte, umbringen. Sechs Monate Datenerhebungen. Rekrutierung von Teilnehmerinnen und Teilnehmern (Klinkenputzen de luxe!); Rumschlagen mit unzuverlässigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die nicht oder zum falschen Termin anrückten (ihr absoluter Lieblingsteil!); Durchführung von Experimenten (die nebenbei bemerkt sehr aufwendig waren) und das Einpflegen von endlosen Zahlenkolonnen (die Neudefinition von Monotonie, insbesondere, wenn man keine Hiwis hatte, auf die man es abwälzen konnte) – all das war dann für die Katz. Ach was, für die Katz … für’n Arsch!

Und wenn auch diese Erhebung keine Ergebnisse brachte, dann löste sich ihre Chance, mit diesem Projekt zu promovieren, schneller auf als die Kopfschmerztablette, die sie gerade in ein Wasserglas warf.

Also doch Selbstmord.

Zumindest vom Karriere-Standpunkt aus betrachtet.

Sie knirschte frustriert mit den Zähnen und unterdrückte den Wunsch, die sie verhöhnenden Monitore mit ihrer Tastatur zu traktieren. Stattdessen griff sie mit einer heftigen Bewegung nach dem Glas, wobei ein Teil des sprudelnden Wassers auf ihre Unterlagen und Notizen schwappte, und stürzte den Inhalt in einer dramatischen Geste hinunter.

Was konnte sie tun?

Genau, ruhig Blut, Optionen abwägen. Klar denken. Im Großen und Ganzen konnte sie das ja.

Erstens: Sie konnte mit den Daten das Modell berechnen, das Dr. Fuhrmann, ihr Vorgesetzter und Doktorvater, ihr vorgegeben hatte. Das hätte die Konsequenzen, wegen derer sie gerade Kopfschmerzen bekam. Die Theorie ihres Chefs hatte nichts mit der Realität der Daten zu tun.

Zweitens: Sie konnte ihm noch einmal ihr Modell vorschlagen. Sie hatte ihre Theorie schon toll gefunden, als sie sie ihm das erste Mal im Kolloquium präsentiert und er sie zerrissen hatte. Und nun passten sogar die Daten. So viel zu „unausgegorener Naivität“! Ha!

Aber genau das war das Problem – Ego. In diesem Falle seines. Er würde vermutlich keine Veröffentlichung ihrer Lösung gestatten, wenn die seinem Modell und seinen bisherigen Publikationen widersprach. Sein Projekt, seine Daten, sein Modell.

Drittens … nein, es gab kein Drittens. Ende der Fahnenstange. Es sei denn …

Sie öffnete die Datendatei. Wenn sie einige Anpassungen vornahm, beispielsweise einige Werte für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Kontrollgruppe systematisch verringerte, dann …

„Scheiße!“

Mit dieser ersten Wortäußerung seit Stunden löste sie sich angewidert von diesem Gedanken und ging zum Fenster.

Jetzt war sie schon so weit, dass sie in Erwägung zog, ihre Daten zu manipulieren, nur damit die zu den Visionen ihres Chefs passten. Das war der Moment für eine Zigarette.

Ein kalter, feuchter Schwall vertrieb die trockene Heizungsluft, als sie das Fenster öffnete. Unten im Hof prangte neben dem Eingang ein Schild „Im Gebäude ist das Rauchen untersagt“.

Sie schnaufte, griff nach dem Aschenbecher auf dem Fensterbrett und zündete sich eine Zigarette an.

So viel Rebellion musste sein.

Mehr würde sie vermutlich ohnehin nicht hinbekommen.

 

„Es tut mir leid, aber ich schließe mich Ihnen nicht an. Ich habe bereits in verschiedenen Zeitschriften Arbeiten zu diesem Thema veröffentlicht und in meinen bisherigen Erhebungen immer dasselbe Muster gefunden.“

Nicht, dass Melanie mit dieser Antwort nicht gerechnet hätte.

Enttäuscht war sie trotzdem.

„Ja, aber in allen Ihren Erhebungen haben Sie immer Psychologie-Studenten untersucht. Ist es nicht möglich, dass … na ja, dass ‚normale Menschen‘ tatsächlich keinen Unterschied wahrnehmen? Es ist ja nicht so, dass ich vorschlagen würde, Ihre Theorie über den Haufen zu werfen.“

Dr. Fuhrmann lehnte sich zurück, zupfte an seiner hässlichen roten Krawatte mit den dunkelblauen Punkten herum, deren Knoten unter seinem Kittel hervorleuchtete wie ein riesiger Marienkäfer und musterte sie eindringlich.

„Frau Lewin, ich glaube, ich habe Ihnen schon einmal auseinandergesetzt, warum ich Ihre These nicht für zutreffend halte.“

Na ja, wenn man den Einlauf vor dem versammelten Institut eine sachliche, auf Argumenten basierende Erklärung nennen wollte.

„Aufgrund der bestehenden Forschung bin ich eher willens, die Qualität der von Ihnen erhobenen Daten infrage zu stellen, als tatsächlich anzunehmen, dass unsere Theorie unzutreffend ist.“

Mit anderen Worten: Es war ihre Schuld. Offensichtlich hatte sie nicht die richtigen Daten erhoben. Und nur deshalb war seine, Entschuldigung, ihrer beider Theorie nicht bestätigt worden. Ja, klar, wie hatte sie nur so dumm sein können?

„Sehen Sie sich die Daten einfach noch einmal in Ruhe an.“

Was sollte das denn heißen? Sich die Daten in Ruhe anschauen? Um was zu finden? Glaubte er vielleicht, wenn sie nur lang genug auf den Monitor starrte, würde sich die „richtige“ Lösung schon zeigen?

All das ging ihr durch den Kopf, doch zu ihrer Überraschung und einem guten Teil Frustration begnügte sie sich mit: „Ja, mach ich.“

Fuhrmann nickte, und der Ausdruck in seinem Gesicht wurde etwas weicher. Noch einmal nestelte er an der Krawatte herum. Er schien keine Worte zu finden, was Melanie in gleichem Maße in Erstaunen versetzte und beunruhigte.

Schließlich seufzte er, legte die Hände auf den Schreibtisch und sah ihr direkt in die Augen. „Es gibt da noch etwas, worüber ich mit Ihnen reden muss.“

 

„Ist alles okay?“ Khalila legte ihre Hand auf Melanies Unterarm. Trotz ihrer Jugend hätte ihre Miene jeder besorgten Mutter gut zu Gesicht gestanden.

„Was? Oh, entschuldige, ich bin etwas abwesend.“

Etwas abwesend? Sie fühlte sich, als wären ihre Knie aus Gummi und ihr Magen ein Eisfach. Zum vierten oder fünften Mal griff sie nach der Zigarettenschachtel in der Tasche ihrer Strickjacke, nur um sie wieder zurückzustopfen. Schließlich nahm sie stattdessen den Wasserkocher, der endlich seine Arbeit beendet hatte, und befüllte ihre Teetasse. Stumm bot sie Khalila ebenfalls Wasser an. Während sie ihr eingoss, musterte die junge Frau sie aufmerksam. Ihre schmalen Augenbrauen bildeten einen wachsamen Strich über ihren dunklen Augen.

„Also, ich weiß, ich bin ja hier nur Hiwi und du Doktorandin, aber du machst keinen guten Eindruck. Du bist ziemlich blass und … ist etwas passiert?“

Melanie konzentrierte sich einige Augenblicke lang darauf, ihren Teebeutel möglichst im gleichen Tempo in die Tasse einzutauchen und wieder rauszuziehen. Rein und wieder raus. Rein und wieder raus.

Das hatte etwas Meditatives.

Fast wie irgendwelche tantrischen Übungen.

Anna hätte dazu sicherlich was zu sagen.

Sie schüttelte den Kopf und zwang sich, gedanklich wieder zu Khalila und ihrer Frage zurückzukehren. Es war ja nicht so, dass sie überrascht wäre. Aber es jetzt wirklich zu hören …

„Mein Vertrag wird nicht verlängert. Das Projekt läuft mangels publizierbarer Ergebnisse aus.“

… gar nicht davon zu reden, es auszusprechen. Sie war überrascht, dass sie nicht an dem Kloß in ihrem Hals erstickte.

„Oh, das tut mir leid. Gibt es denn keine Möglichkeit, dich weiter zu beschäftigen? Bei einem anderen Projekt oder so?“

Bevor sie Khalila ihre – eher geringen – Chancen erläutern oder sich weiter in ihrer Anteilnahme suhlen konnte, mischte sich eine dritte Stimme ein.

„Oh, dein Vertrag wird nicht verlängert?“

Mit seinem typischen vom Leuchten strahlend blauer Augen gekrönten Zahnpastagrinsen trat Kevin in die Teeküche. Khalila wich seinem Blick aus, zog den Kopf ein und flüchtete mit ihrer Teekanne. Etwas sprachlos sah Melanie ihr nach und schaute dann Kevin fragend an. Dieser schickte Khalila einen flüchtigen Blick hinterher, ignorierte ihre unausgesprochene Frage und platzierte seinen Kaffeebecher so besitzergreifend wie nur möglich im Vollautomaten.

„Also“, stellte er über das Dröhnen der Maschine hinweg noch einmal fest, „dein Vertrag wird nicht verlängert.“

Es war eine simple Feststellung, weder echtes noch einfach nur höfliches Bedauern lagen darin. Auch sein Gesichtsausdruck ließ nicht erkennen, dass es ihn in irgendeiner Weise interessierte, wie es ihr mit diesem Thema ging. Er grinste einfach weiter vor sich hin.

Melanie pustete auf ihren Tee und kämpfte um ihren Glauben, dass auch Kevin Saalheim der Spezies Mensch angehörte. Sie kannte ihn seit ihrem Studium an der Universität zu Kiel. Er war damals dort wissenschaftlicher Mitarbeiter gewesen. Und sie musste neidlos zugeben, dass er gute Seminare gegeben hatte. Er wusste zweifelsohne Bescheid und konnte sein Wissen auch an die Studierenden vermitteln. Seine Doktorarbeit war ausgezeichnet worden. Und in seiner Disputation, bei der sie anwesend gewesen war, hatte er, wie man so schön sagte, gerockt.

Dummerweise spiegelte sich seine Befähigung nicht in seinem Verhalten anderen Menschen gegenüber. Er machte sich an Studentinnen ran – bei denen er dank seines Aussehens auch ziemlich regelmäßig Erfolg hatte. Er ließ Kollegen im Regen stehen, wenn sie ihm nicht nützlich sein konnten. Und er behandelte grundsätzlich alle Leute, die sich in der Hierarchie unter ihm befanden, wie den letzten Dreck.

„Es ist vielleicht nicht das Schlechteste“, hörte sie ihn sagen. „Schließlich bestehen je nach Institution auch verschiedene Qualitätsansprüche an die Mitarbeiter.“

Quod erat demonstrandum.

Melanie gab den Kampf auf.

Kevin war kein Mensch.

Kevin war ein Arsch.

Das stand mit Sicherheit auch in seiner Geburtsurkunde.

Sie hätte es dabei bewenden lassen können. Sie hätte moralisch die Oberhand haben können.

Ihn einfach weiterreden lassen.

Ohne ein Wort hinausgehen.

Ihn einfach stehen lassen.

„Und was qualifiziert einen deiner Meinung nach dafür, hier am Institut zu arbeiten? Oder wo wäre ich deiner Meinung nach besser aufgehoben?“ Die Ruhe, mit der sie diese Fragen stellte, überraschte sie.

„Du wärst an einer Universität oder noch eher an einer Fachhochschule sicher besser aufgehoben als an einem Forschungsinstitut. Zum Beispiel glaube ich, dass du bestimmt gut unterrichten könntest.“

Oh, richtig. Sie hatte ja als Hilfskraft immer seine Seminare vorbereiten müssen, weil solche Tätigkeiten unter seiner Würde waren. Womit sie sich eigentlich – so entschied sie jetzt – seine tollen Seminare selbst zuschreiben konnte.

„Was die Arbeit am Institut angeht, so haben deine bisherigen Erhebungen nicht funktioniert. Offen gesagt – und ich meine das nicht herabsetzend – denke ich, dass du nicht kreativ genug bist. Ich meine, du setzt immer nur das um, was Fuhrmann dir sagt, und das reicht eben einfach nicht.“

Es war nicht die Beleidigung, die sie innehalten ließ. Es war die absolute, ruhige Sicherheit, mit der er sein Urteil ausgesprochen hatte, so als glaube er tatsächlich jedes einzelne Wort.

Während Melanie ihn stumm anstarrte, nahm er seinen Kaffeebecher aus der Maschine, nickte ihr kurz zu und ließ sie einfach stehen.

 

Nach dem Gespräch mit Kevin hatte Melanie beschlossen, dass sie dringend eine Schulter zum Ausweinen oder Alkohol brauchte. Vorzugsweise beides. Glücklicherweise konnte Anna beides bieten. Die Freundinnen hatten zusammen in Kiel studiert und waren beide in Berlin gestrandet. Anna hatte eine Ausbildung zur Psychotherapeutin in der Charité begonnen, und Melanie hatte im Wilhelm-Wundt-Institut für Experimentelle Psychologie angefangen. Annas – für Melanies Begriffe – etwas tussihaftes Auftreten und ihre stets ebenso teure wie farbenfrohe Garderobe täuschten leicht darüber hinweg, dass sie eine sehr gute Beobachterin war. Genau genommen schien es Melanie manchmal so, als wären die Kleidung, der Schmuck und selbst die Art, wie sie sprach, wie ein Schleier, hinter dem Anna in Ruhe sitzen und den Leuten in ihrer Umgebung zusehen konnte. Für die Zwecke von Melanies derzeitigem Problem kam aber noch eine andere Eigenschaft ihrer Freundin zum Tragen: ihre unermüdliche Experimentierfreude, was Restaurants, Bars und Clubs anging.

An diesem Abend saßen sie in einem Pub, das nicht völlig unpassend zu Melanies Stimmung den Namen Loch Ness trug. Es hatte ein Kaminzimmer, das als Raucherzimmer fungierte (sehr stilvoll!) und eine Whiskyauswahl, deren bloßer Anblick schon Schwindelgefühle bei ihr erzeugt hatte.

Jetzt saßen sie bei der dritten (oder vierten? Sie war sich nicht sicher) Runde zusammen, und so langsam kam Melanie zum Kern ihres Problems.

„Und dann hat der mich einfach stehen lassen. Einfach so. Ich fasse es nicht.“

In einer Mischung aus Wut und Unglauben schüttelte sie den Kopf und bemerkte, dass er ein bisschen weiter nach links und rechts schwenkte als beabsichtigt. Vielleicht sollte sie langsam aufhören? Sie bestellte sich noch ein Glas.

Anna beugte sich nach vorn. Der mit pinkfarbenem Nagellack bestrichene Nagel ihres Zeigefingers strich über den Rand ihres Glases. Soweit sich Melanie erinnerte, hielt sich ihre Freundin noch immer an ihrem zweiten Whisky fest. Sie hatte wesentlich zurückhaltender getrunken und – nicht typisch für Anna – mit offensichtlicher Aufmerksamkeit zugehört.

„Warum hast du ihm nicht geantwortet?“

Sie stellte diese Frage sehr nüchtern. Das tat sie bei solchen Gesprächen immer – auch wenn sie selbst es nicht mehr war.

Ja, warum?

Im Moment konnte sich Melanie nur daran erinnern, wie wütend sie danach gewesen war. Hatte sie vielleicht befürchtet, dass er recht haben könnte? War sie vielleicht wirklich nicht für eine Karriere in der Wissenschaft geeignet?

Donnerwetter! Die Bedienung war echt schnell! Statt zu antworten, stürzte sie ihren neuen Whisky hinunter.

„Aha“, fuhr Anna fort, als hätte Melanie ihr gerade in einem stundenlangen Monolog ihre Gründe dargelegt. „Was hättest du denn gern geantwortet?“

„Dass er ein Arschloch ist und sich um seinen eigenen Scheiß kümmern soll“, erklärte Melanie dem Boden ihres Glases.

„Nachdem du ihn erst gefragt hattest, warum du nicht ans Institut gehörst?“

„Nein. Ich hätte ihm gesagt, dass man … dass man nun mal nicht ‚kreativ‘ sein kann, wenn einem immer der Chef im Nacken sitzt und sagt, was man zu tun hat. Dass ich von meinem Chef und seinem Projekt abhängig bin. Und dass er einfach nur Glück hat, dass seine Daten immer stimmen oder er klug genug ist, seine Theorien einfach seinen Daten anzupassen. Arschloch! Also er, nicht du.“

„Das freut mich.“ Anna schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelte. „Aber vielleicht ist das der Punkt. Wenn du ihm das sagst, was du auf dem Herzen hast, dann hast du diese negative Energie aus deinem System rausgelassen, und dann kannst du dich wieder auf etwas anderes konzentrieren. Deine Arbeit zum Beispiel. Oder das, was du nach dem Institut machen willst.“

Melanie stutzte.

Das klang tatsächlich nach einer guten Idee.

 

Als sie aus dem U-Bahnhof Krumme Lanke heraustrat, konnte sich Melanie beim besten Willen nicht erinnern, wie sie überhaupt in die U-Bahn gekommen war. Nicht, dass das etwas ausmachte. Sie war auf dem Weg zu Kevin, um ihm mal so richtig ihre Meinung in seine arrogante Visage zu sagen. Mal sehen, was dann von seinem dämlichen Grinsen übrig blieb.

Aus irgendeinem Grund nahm ihre Meinung in ihrer Vorstellung die Form einer Sahnetorte an, die sie in seinem Gesicht verteilte.

Sie lachte.

Ein paar blöde Zehlendorfer Bonzenkinder, die auf der Treppe vor einer Kaiser’s-Filiale rumlümmelten, glotzten sie an, als sie an ihnen vorbeikam. Sie steckte ihnen die Zunge raus, kicherte und ging weiter.

Sie erinnerte sich, dass Kevin in einem der Häuser entlang der Argentinischen Allee zwischen Krumme Lanke und Mexikoplatz wohnte; sie war damals auf der Einweihungsfeier gewesen, nachdem seine Eltern ihm dort eine Haushälfte geschenkt hatten.

Siehe blöde Bonzenkinder.

Sie kicherte wieder.

Der Weg war länger, als sie ihn in Erinnerung hatte, aber schließlich fand sie sich vor einem offen stehenden, schmiedeeisernen Tor wieder. In der Auffahrt sah sie Kevins Wagen. Oder zumindest einen Wagen. Oder einen Schatten, der aussah wie ein Wagen, denn das Licht ging nicht an, als sie in die Auffahrt trat, und es war dunkel wie in einem Bärenarsch.

Noch ein Kichern.

Sich auf der Motorhaube abstützend holte sie tief Luft.

So weit, so gut.

Sie unterdrückte ihren erneuten Drang zu kichern und konzentrierte sich stattdessen darauf, wütend zu sein.

Richtig.

Wütend.

Deswegen war sie doch hier, oder? Wie hatte Anna es ausgedrückt? Ihm sagen, was sie dachte, damit sie das aus ihrem System kriegt oder so. Sie war sich nicht so sicher.

Als Nächstes – sie wusste nicht so genau, wie sie hierhergelangt war – stützte sie sich am Türrahmen ab und drückte auf den Klingelknopf.

Es schellte.

Sie wartete.

Nichts passierte.

Grummelnd drückte sie noch einmal. Da hatte der Trottel schon so eine laute Klingel und hörte sie dennoch nicht.

Moment, wieso war die Klingel so laut?

Die Tür stand einen winzigen Spalt offen. Da sie so dicht an dem Türrahmen lehnte, war ihr das gar nicht aufgefallen.

Auch egal.

Melanie gab der Tür einen Schubs und betrat die Wohnung.

„Hallo?“

Etwas unschlüssig stand sie in dem hell erleuchteten Hausflur. Das hatte sie sich irgendwie anders vorgestellt. Kevin hätte die Haustür aufmachen sollen, sodass sie ihm sagen konnte, was sie von ihm hielt. Dann hätte er sich für sein blödsinniges Gerede entschuldigt und ihr angeboten, sie nach Hause zu fahren. Das war der Plan gewesen. Aber stattdessen stand sie jetzt hier. Sollte sie vielleicht ihre Schuhe ausziehen? Doch ihm auf Socken eine Standpauke zu halten wäre irgendwie lächerlich.

„Hallo?“

Sollte sie vielleicht einfach warten, bis er sich mal hierher bequemte?

„Hallo? Deine Tür war offen. Ach, Scheiße!“

Sie stampfte ins Wohnzimmer. Auch hier war alles hell erleuchtet. Sie schaute durch die gläserne Terrassentür in den aus einer Rasenfläche bestehenden Garten, doch da war keine Spur von Kevin. Die durch einen Tresen vom Wohnzimmer abgetrennte Küche war ebenfalls leer. Eine offene Flasche Wein, ein Weinglas, ein angeschnittenes Brot und eine Schale Oliven standen auf der Ablage.

Langsam machten die Wut und die Frustration über die verpasste Gelegenheit für eine ideale Standpauke einem mulmigen Gefühl in Melanies Magengrube Platz.

„Kevin?“

Sie kehrte in den Flur zurück. Die erste Tür zur Rechten stand offen. Der Raum war dunkel. Nur das Licht, das aus dem Flur hereinfiel, ließ einen Schreibtisch sowie einen Computer, einige Ordner und Papiere auf dem Schreibtisch erahnen.

Sie klopfte an der nächsten Tür. Keine Antwort. Erstaunt darüber, wie nüchtern sie sich gerade fühlte, versicherte sie sich, dass sie ihn schlagen würde, wenn das nur ein blöder Scherz war, und öffnete die Tür.

Sein Schlafzimmer.

Leer.

Gott sei Dank.

Blieb nur noch das Bad. Sie drehte sich um und klopfte.

Keine Reaktion. Sie drückte die Klinke herunter.

Abgeschlossen.

„Kevin?“

 

„Tu mir ’nen Gefallen: halt die Klappe, ja?“

Alexander Schleicher war wirklich ein netter Kerl. Ein junger Polizist, der voll mit dem Herzen dabei war. Unerfahren, natürlich, aber deswegen war er ja mit ihm unterwegs. Und selbst bei der nächtlichen Bereitschaft war er mit deutlich mehr Elan dabei, als Gerd bei vielen ihrer Kollegen entdecken konnte. Jemand, der nicht die Na-ja-tot-isser-ja-schon-Einstellung an den Tag legte und die Leute vor Ort ewig warten ließ. Aber gerade dieser Elan und die ständige gute Laune, die er verströmte wie den Geruch eines penetranten Rasierwassers, waren Gerd in diesem Moment, in der Nacht am Ende dieses speziellen Tages, so was von zuwider, dass es jeder Beschreibung spottete.

Schleicher kniff die Lippen zusammen, warf ihm einen ebenso überraschten wie pikierten Seitenblick zu und konzentrierte sich dann wieder auf die Straße. Im gelben Licht der vorbeiziehenden Straßenlaternen las Gerd noch einmal die Zusammenfassung des Gutachtens, das er heute in seinem Postkasten gefunden hatte. Die Gutachterin, mit der er lediglich einmal gesprochen hatte, kam darin zu dem Schluss, dass er kein guter Vater wäre. Tobias sollte besser bei seiner Mutter untergebracht bleiben. Ein paar Floskeln in diesem Absatz, eine „Empfehlung“ in jenem Absatz, und schon war er der schlimmste Vater, den die Nation zu bieten hatte. Was glaubte so eine Psychotante eigentlich zu wissen? Wegen irgendwelcher Tintenkleckse, die er sich hatte ansehen müssen, war er jetzt kein guter Vater mehr, oder wie? Er blätterte zurück und las einzelne Stellen des Gutachtens noch einmal; eine Ansammlung verklausulierter Worthülsen, die vor seinen Augen zu einer einzigen großen Anklage gegen ihn verschwammen. Wenn er einem Staatsanwalt so einen dünnen Fall präsentiert hätte, dann hätte man ihn aus dem Präsidium gelacht.

Ein Räuspern forderte seine Aufmerksamkeit ein.

„Was haben wir?“, fragte sein Kollege mit gedämpfter Stimme.

Gerd machte ein unbestimmtes Geräusch, stopfte das Gutachten in seine Jackentasche. Ohne seinen Notizblock zu bemühen, betete Gerd herunter, was er bisher wusste.

„Das Haus gehört einem Herrn Doktor Kevin Saalheim. Um 0:20 Uhr ging ein Notruf von hier ein. Eine Melanie Lewin hatte die Wohnung durch die offene Haustür betreten. Sie fand die Badezimmertür verschlossen vor. Auf wiederholte Rufe und Anklopfen reagierte niemand. Sie brach die Tür auf und entdeckte ihn in der Wanne. Daraufhin hat sie ihn aus dem Wasser geholt und den Notarzt gerufen. Und der hat dann die Kollegen von der Streife gerufen. Denen fiel auf, dass die Haustür beschädigt war. Deswegen und aufgrund der generellen Umstände, die ein Fremdverschulden nicht ausschließen, haben sie uns gerufen.“

Schweigen schloss sich an, denn mehr gab es nicht zu sagen. Ein paar Minuten später waren sie am Ziel. Gerd, der die Zeit zum Nachdenken genutzt hatte, seufzte.

„Schleicher?“

Der junge Mann war schon ausgestiegen, steckte jetzt aber noch einmal den Kopf ins Auto.

„Jo?“

„Es heißt ‚Ja‘. Sprich doch mal Deutsch.“ Dann verbiss er sich diesen Tonfall und fuhr mit ruhigerer Stimme fort. „Bitte entschuldige das Anrüffeln vorhin.“

Das leichte Lächeln, das auf seinem Gesicht lag, kehrte auch in seine Augen zurück.

„Is’ schon okay.“

Im Geiste des Augenblicks unterdrückte Gerd den Reflex, Schleicher wegen seiner Ausdrucksweise zurechtzuweisen, und stieg aus. Der Notarztwagen stand in der Auffahrt direkt vor einem nagelneuen Audi Q7. Zwei Streifenwagen sicherten die Zufahrt nach links und rechts. Am Rand des Weges von der Auffahrt zur Haustür saß auf einem Stein eine in eine Decke gehüllte junge Frau, neben ihr eine Polizeibeamtin.

Als er die Haustür erreichte und sich in einen Plastikeinweganzug zwängte, fiel ihm zuerst ein säuerlicher Geruch auf. Sein Blick folgte seiner Nase. Jemand hatte sich in das (ziemlich ungepflegte) Blumenbeet zwischen Weg und Auffahrt übergeben. Ein Blick zurück auf das in eine Decke gewickelte Häufchen Elend am Wegesrand engte den Verdächtigenkreis stark ein.

Vollständig eingehüllt schaltete er seine Taschenlampe ein und leuchtete er das Schloss der Haustür an und betrachtete es näher. Ein Teil des Schließblechs war auf der Innenseite herausgebrochen worden; es befanden sich aber weder das Blech noch Holzsplitter des Rahmens bei der Tür. Er probierte die Tür aus. Sie ging zu, öffnete sich aber langsam wieder, wenn sie nicht verriegelt oder abgeschlossen wurde.

Wenige Schritte weiter stand er im Bad. Die Luft war klebrig-feucht, und die Kälte, die durch die geöffnete Wohnungstür eindrang, half nicht, sie zu verbessern, zumal das schmale Fensterchen in dem Raum kaum einen Luftzug zuließ. Hier war wesentlich deutlicher, dass diese Tür auch gewaltsam geöffnet worden war: Sie hing leicht schief in den Angeln. Diesmal lagen auch Pressholzsplitter am Boden. Sofort fiel Gerd auch der große rote Fleck an den Kacheln über dem Kopfende der Badewanne ins Auge. Dünne rote Rinnsale hatten ihren Weg von da bis in das Badewasser gefunden und dieses leicht rot gefärbt.

Der Notarzt kniete über einem jungen Mann. Er blickte auf, als Gerd reinkam, doch ehe er das Wort an ihn richten konnte, kam Schleicher hinzu und rutschte beinahe auf den nassen Bodenkacheln aus.

„Uh, sorry.“

Gerd überging den Anglizismus und präsentierte seinen Dienstausweis.

„Guten Abend. Matussek, Schleicher, Kriminalpolizei.“

„Ah ja.“ Der Arzt erhob sich. Als er seine Gummihandschuhe abstreifen wollte, hielt ihn Gerd mit einer stummen Geste davon ab. „Küber ist mein Name. Ich würde sagen, es gibt hier nicht viel für Sie zu holen. Der junge Mann ist tot – kein Pupillenreflex, kein Puls, keine Atmung, offene Verletzung am Hinterkopf. Und so wie es aussieht, würde ich sagen, dass er in der Badewanne ausgerutscht ist, sich den Kopf angeschlagen hat und dann entweder daran verstorben ist oder bewusstlos unter Wasser rutschte und ertrank. Sieht aus wie ein Unfall – so was haben wir zwei, drei Mal im Jahr. Wenn auch glücklicherweise nicht immer mit so fatalem Ausgang.“

Gerd dankte dem Arzt für seinen Bericht und wartete, bis er die Wohnung verlassen hatte, ehe er mit den Augen rollte und den Kopf schüttelte. Warum hielt sich nur jeder für einen Kriminalpolizisten? Als wenn er dem Notarzt erklären würde, wie er die Leute zu untersuchen und behandeln hätte.

Gerd beugte sich über den Toten und blickte ihm ins Gesicht. Ein Ausdruck von Überraschung lag darin. Er schaute noch einmal auf den Fleck an der Wand.

„Wie groß, schätzt du, ist der Kerl hier?“

„Ich denke, so zwischen eins siebzig und eins achtzig.“

„Ja, sehe ich auch so. Und wie hoch schätzt du den Fleck?“

Schleicher musterte das Blut an der Wand.

„Irgh … ähm, ich schätze, ungefähr genauso hoch, vielleicht ein bisschen tiefer. Also, wenn man in der Wanne steht.“

„Ja, das denke ich auch.“

Vor seinem inneren Auge sah er den jungen Mann in der Wanne stehen; möglicherweise nach dem Shampoo greifend, das auf dem Seifenhalter stand. Dann ein heftiger Ruck, als er abrutschte und nach hinten stürzte. Gerd ließ diesen Film einige Male ablaufen, doch in keiner Version schlug der Kopf des Mannes so weit oben an der Wand auf. Und dann war da noch die Eingangstür, deren Zustand insofern zu der Badezimmertür passte, als man sie auch aufgebrochen hatte. Aber wo waren dann Spuren des ersten Eindringens? Holz- und Metallsplitter und dergleichen?

„Tja, Schleicher, ich sag mal, wir warten jetzt, bis die Kolleginnen und Kollegen vom Erkennungsdienst endlich da sind. Und dann reden wir mit Frau Lewin.“

 

Der Erkennungsdienst hatte mit seiner Arbeit begonnen. Der Tatort war abgesperrt, taghell ausgeleuchtet und wimmelte nur so von weiß gekleideten Gestalten. Also holte Schleicher die junge Frau zu ihrem Wagen, wo er ihr Tee aus seiner Thermoskanne anbot. Zu Gerds Erstaunen stürzte sie die heiße Flüssigkeit hinunter und bat sofort um einen weiteren Becher. Sie musste eine Speiseröhre aus Asbest haben.

Während sein Kollege die Zeugin belehrte und ihre Personalien aufnahm, betrachtete Gerd sie genauer. Leicht überdurchschnittliche Größe, relativ breite Schultern für eine Frau. Sportlerin? Eine dunkelblonde Mähne, von der ihr immer wieder Strähnen in ihr Sommersprossengesicht fielen, und dunkelblaue Augen – wobei das im Moment wegen des ganzen Rots um ihre Pupillen eher schwer auszumachen war. Ihre Bewegungen waren fahrig, und sie wirkte erschöpft, was ihn angesichts dessen, was sie erlebt hatte, und der Fahne, die sie hatte, nicht überraschte. Sie war mit einer Blutabnahme einverstanden gewesen, aber auch so war klar, dass Frau Lewin unter Alkoholeinfluss gestanden hatte. Oder noch immer stand.

Ihm fiel auf, dass sie abgesehen von ihrer Erschöpfung erstaunlich gelassen wirkte. Es war einigermaßen offensichtlich, dass es ihr nicht gut ging, aber sie hörte Schleichers Belehrung augenscheinlich aufmerksam und gefasst zu und gab klare und sofortige Antworten auf seine Fragen zu ihrer Person.

„Ihr Beruf?“

„Ich bin Doktorandin. Psychologie.“

Ach du Scheiße. Gerd unterdrückte eine Bemerkung …

„Was? Ist das ein Verbrechen?“

… doch anscheinend verriet ihn sein Gesichtsausdruck. In der offenen Autotür hockend starrte sie zwischen ihren Haarsträhnen hindurch zu ihm herauf. Er fühlte sich ertappt, ignorierte aber ihre Fragen und signalisierte Schleicher, mit der Aufnahme der Personalien fortzufahren.

Sie schien seinen Ausfall aber auch schon wieder vergessen zu haben, als Gerd schließlich das Wort an sie richtete.

„Sie haben heute, um 0:20 Uhr die 112 angerufen und einen Krankenwagen hierherbestellt?“

„Ja.“

„Sie haben Herrn Kevin Saalheim in seiner Badewanne vorgefunden?“

„Ja.“

„Was haben Sie mitten in der Nacht hier gemacht?“

„Ich war … bin ziemlich angetrunken. Mein Tag war ziemlich beschissen. Und ich kam hierher, weil … weil ich am Nachmittag, also gestern Nachmittag, einen Streit mit Kevin hatte.“

Gerd tauschte einen Blick mit Schleicher.

„Haben Sie zu Hause getrunken, oder waren Sie dafür in einem Lokal?“

„Ich war im Loch Ness. Mit einer Freundin. Das ist in der Nähe von dort, wo ich wohne, und meine Freundin hatte es mir wegen der Whisky-Auswahl empfohlen. Und es hat ein Raucherzimmer.“

„Der Name dieser Freundin?“

„Anna Behm.“

„Wo können wir Frau Behm erreichen?“

Sie gab ihnen Adresse und Telefonnummer; er machte sich eine Notiz und fuhr fort.

„Von wann bis wann waren Sie dort?“

„Ich schätze von acht bis zehn, vielleicht halb elf oder so.“

„Und hatten Sie von vornherein vor, Herrn Saalheim aufzusuchen?“

„Nee, das war erst nach einer … Nach einer Weile hatte ich eine ganze Menge getrunken – Shit, ich musste mit Karte bezahlen, weil ich nicht genug Bargeld dabeihatte. Irgendwann hatte ich mich da reingesteigert. Also, dass ich ihm sagen wollte, was ich von ihm hielt. Also eben wie wenn man sich im Suff etwas in den Kopf setzt. Ich muss ziemlich in Fahrt gewesen sein. Auf dem Weg sind mir die Leute ziemlich aus dem Weg gegangen.“

„Wie sind Sie hierhergekommen?“

„Mit der U-Bahn. Ich bin Krumme Lanke ausgestiegen.“

„Wann kamen Sie hier an?“

„Puh, ich schätze, etwa gegen zwölf oder kurz nach zwölf. Ich hab erst auf die Uhr geguckt, nachdem ich den Krankenwagen gerufen hatte. Als ich ankam, stand das Tor offen und der Wagen parkte vor der Tür. Das Licht im Vorgarten war aus, ich hab mir den Fuß angestoßen, aber im Haus war Licht, und deswegen ging ich davon aus, dass er zu Hause war. Ich bin also zur Tür gegangen, weil am Tor zu klingeln wäre ja eh sinnlos gewesen – also, weil es sowieso offen war. Die Tür stand einen Spaltbreit auf, aber ich habe trotzdem geklingelt. Obwohl … ich habe erst geklingelt und dann gemerkt, dass was mit der Tür nicht stimmte. Und als dann immer noch keine Antwort kam, bin ich halt doch irgendwann rein. Ich fand das alles sehr komisch und habe mich umgesehen. Im Wohnzimmer war Licht, in der Küche standen Wein und Brot. Und ihn habe ich dann auch gefunden.“ Sie schluckte schwer. „Also erst war die Badezimmertür abgeschlossen, und er hat nicht geantwortet. Dann habe ich irgendwann Panik bekommen und die Tür aufgebrochen.“

„Sie haben die Tür aufgebrochen?“, fragte Schleicher nach.

Frau Lewin schaute zum ihm hoch, hob eine Augenbraue und schnaufte einmal.

„Während meines Studiums habe ich Kampfsport gemacht, und ich versuche in Form zu bleiben.“

So wie sie es aussprach, klang es fast wie eine Herausforderung. Von dem Häufchen Elend von vor zwei Stunden war nicht mehr viel zu sehen.

Gerd räusperte sich. „Beschreiben Sie bitte die Lage des Körpers, als Sie in das Bad kamen.“

„Er lag auf dem Rücken im Wasser und …“, sie schauderte, „… starrte an die Decke. Das Wasser war rot. Ich habe ihn aus dem Wasser gezogen und geschaut, ob ich irgendwas machen kann. Das Wasser war noch warm.“

Nach der Befragung setzten sie Frau Lewin in einen Streifenwagen und schickten sie nach Hause. Gerd beobachtete, wie sie davonfuhr, und schlürfte den Kaffee, den ein Mitarbeiter des Erkennungsdienstes dankenswerterweise mitgebracht hatte.

Zwei Psychologen. Na toll. Einer tot, vermutlich ermordet, und die andere eine potenzielle Verdächtige. Und da sie Kollegen waren …

„Hey, Schleicher!“

„Ja?“

Gerd reichte ihm den zweiten Becher.

„Wo arbeitete dieser Saalheim noch gleich beziehungsweise die Lewin?“

Schleicher nahm den angebotenen Becher mit der einen Hand und fischte mit der anderen seinen Notizblock aus der Brusttasche. Dabei schaffte er es, die Hälfte des Kaffees über seinen Schuhen zu verteilen.

„Mist. Ähm … Wilhelm-Wundt-Institut für Experimentelle Psychologie. Sitzt hier in Zehlendorf.“

„Mhm.“

Niemand, dessen Vordertür nicht zuging, würde einfach so baden gehen und seine Wohnung offen lassen, erst recht nicht jemand, der, obwohl allein lebend, sein Badezimmer abschloss, wenn er in die Wanne stieg. Die abgeschlossene Badezimmertür stellte noch einmal ein Problem für sich dar.

Aber dann waren da eben noch die Höhe des Blutflecks an der Wand und die Lage der Leiche, die ihre Zeugin beschrieben hatte.

Und dann war da noch die Zeugin selbst.

Ihre Aussage war recht detailliert und in sich konsistent gewesen; auch ohne Außensteuerung. Sie hatte Schilderungen eigenpsychischen Erlebens enthalten, und zwar bei gleichzeitiger Selbstbelastung durch die Erwähnung des Streits mit dem Opfer. Hinzu kam die Schilderung nebensächlicher Details wie zum Beispiel der Kartenzahlung in der Kneipe – wenn sich jemand eine Geschichte ausdachte, fehlten solche Details häufig.

„Sag mal, Schleicher, was hältst du von der Aussage unserer Zeugin?“

„Das war eine Aussage wie aus dem Lehrbuch.“

„Genau das macht mich nachdenklich.“

„Wie meinen?“

„Die junge Dame hat Psychologie studiert. Nun gibt es nicht an jeder Universität das Studienfach forensische Psychologie, aber an manchen schon. Notieren wir uns mal, sie zu fragen, wo sie studiert hat.“

„Wieso?“

Gerd grummelte kurz in sich hinein, hob seinen Becher an die Lippen und spülte eine Gemeinheit hinunter, bevor er sie aussprechen konnte.

„Wenn sie die Kriterien kennt, nach denen Aussagen auf ihre Glaubwürdigkeit hin bewertet werden, dann …?“

Auf dem Nachbargrundstück schaltete jemand die Außenbeleuchtung an. Derselbe Effekt trat in Schleichers Gesicht auf.

„Dann kann sie ihre Aussage so gestalten, dass sie glaubwürdiger klingt.“

„Mhm. Wir müssen … Sag mal, Schleicher, muss das jetzt sein? Geht’s noch?“

Unvermittelt hatte sein Kollege sein Smartphone gezückt und begonnen, darauf herumzutippen.

„Moment – das hat mit dem Fall zu tun, ich schwör’s!“ Ein bisschen zu triumphierend für Gerds Geschmack hob der junge Mann den Zeigefinger. „Hier ist es! Dieses Loch Ness ist ein Pub. Und es hat eine Website. Und vielleicht …“ Er hielt ihm das Gerät unter die Nase. Das Display zeigte einen Google-Maps-Ausschnitt. „… sollten wir Frau Lewin das nächste Mal auch noch dazu befragen.“