Leseprobe Das doppelte Spiel des Marquess

1. Kapitel

Essex, England, April 1817

Lady Briannon Findlay würde sterben.

Sie saß in der Kutsche ihres Vaters, verkroch sich so weit wie möglich in den Polstern und starrte auf die tödliche Mündung einer polierten Pistole. Beinahe wünschte sie sich, sie hätte sich für den Anlass ein schöneres Kleid angezogen.

Stattdessen würde man ihre Leiche am Straßenrand finden, in dem hässlichsten grauen Samtkleid, das man sich vorstellen konnte. Sie hätte vielleicht eine Chance gehabt, wenn sie ihre Reithosen angehabt hätte. Und ihre Pistole in der Tasche. Leider hatte sie keins von beidem.

„Spielen Sie bitte nicht die Helden“, sagte eine Stimme hinter der Waffe in leierndem Tonfall.

Brynn hatte jegliches Zeitgefühl verloren und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Beckett, der Kutscher, stand in der offenen Tür des Wagens. Seine weiße Lockenperücke war verschwunden und der rote Haarschopf sichtbar. Er war nicht allein. Ein Mann in schwarzem Anzug und mit einer schwarzen Maske, die fast sein ganzes Gesicht bedeckte, stand neben ihm und drückte ihm eine weitere Pistole in die Rippen.

Brynn schlug das Herz wie rasend.

„Da das nun geklärt ist, wollen wir anfangen?“, sagte der Mann mit einem gemächlichen Lächeln. Das Licht der Kutschenlaterne fiel auf seine Zähne und Brynn runzelte die Stirn. Der Wegelagerer, der sie soeben auf der dunklen Straße überfallen hatte, die vom Landsitz ihrer Familie nach Worthington Abbey führte, hatte das schönste Lächeln, das sie je gesehen hatte.

Welcher Räuber lächelte seine Opfer an? Trotz der Pistolen, die er in den Händen hielt, und der Angst, die sie hatte, hatte sie nur Augen für seinen faszinierenden Mund. Ihre Mutter, die ihr gegenüber saß, stieß einen gellenden Schrei aus. Brynn hielt sich mit ihren behandschuhten Händen die Ohren zu, während Lady Dinsmores lang gezogener Schrei in einem Krächzen verebbte.

Der Maskierte war nicht zusammengezuckt. Stattdessen zog er spöttisch eine Augenbraue hoch, was gut zu seinem Grinsen passte. „Meine Dame, nehmen Sie bitte Rücksicht auf das Trommelfell Ihrer Mitreisenden und tun Sie das nicht wieder. Ich versichere Ihnen, ich möchte nicht, dass heute Nacht jemand sein Gehör verliert – nur seine Wertsachen.“

Brynn ließ bei diesen Worten die Hände sinken. In ihren Ohren dröhnte es immer noch, aber sie war sicher, dass sie sich nicht verhört hatte. Er klang beinahe wie ein … ein Gentleman. Er sprach so deutlich wie ein Schauspieler in einem Shakespeare-Stück und betonte jede Silbe. Nein, sie musste sich irren, wahrscheinlich hatte der Schrei ihrer Mutter sie verwirrt. Dieser Mann war ein gemeiner Bandit, der sich aufspielte, sonst nichts. Sie nahm allen Mut zusammen und musterte ihn.

Er reagierte mit einem Grinsen und warf einen Blick auf die Perlen, die Brynn trug. „Fangen Sie mit den Ohrringen an, die Ihre zarten privilegierten Ohren zieren“, sagte er mit unverhohlenem Sarkasmus.

Es juckte ihr in den Fingern, ihm sein herablassendes Lächeln mit einer Ohrfeige aus dem Gesicht zu wischen, doch sie beherrschte sich im Angesicht der Waffe, die auf ihre Familie gerichtet war.

Lord Dinsmore hatte wie versteinert neben seiner Frau gesessen und den Räuber voller Entsetzen angestarrt. Doch jetzt, da Brynn im Begriff war, ihre geliebten Ohrringe abzunehmen, beugte er sich vor, als wolle er aufspringen. „Was glauben Sie, wer Sie sind, Sie elender Sohn einer …“

„Papa, hör auf!“ Brynn streckte die Arme aus, damit er sich nicht auf den Gangster stürzte. „Er ist bewaffnet!“

Lord Dinsmore schien erst jetzt zu sehen, dass eine Pistole auf die Insassen der Kutsche gerichtet war. Er war sofort ernüchtert und setzte sich wieder hin.

Erleichtert begegnete Brynn dem anerkennenden Blick des Angreifers. Der Schurke grinste immer noch. Er war entweder verrückt oder überschätzte sich maßlos. Oder beides? Beides bedeutete nichts Gutes für sie – ein hochnäsiger Verbrecher war gefährlich, ein verrückter erst recht.

Ihr Blick fiel wieder auf die Pistolen. Sogar von der Kutsche aus sah sie, was für kräftige Arme er hatte. Beckett war ein hochgewachsener junger Bursche, auf dem Land geboren und aufgewachsen, doch er hatte keine Chance gegen den Angreifer gehabt. Dabei war er sogar etwas größer und breiter als der Maskierte. Aber natürlich hatte die Pistole, die auf ihn gerichtet war, Wirkung gezeigt.

Sie fragte sich, ob es Colton, ihrem zweiten Kutscher, noch schlimmer ergangen war, und ihr sank das Herz. Er hatte sie zum jährlichen Ball des Duke of Bradburne nach Worthington Abbey fahren sollen und hatte angehalten, weil ein umgestürzter Baum den Weg versperrt hatte. Brynn begriff, dass es eine Falle gewesen war.

„Wo ist unser zweiter Kutscher?“, fragte sie und war stolz, dass sie noch im Besitz einer Stimme war.

„Im Moment unpässlich, fürchte ich“, antwortete der Mann. Er klang ehrlich besorgt, und wenn er nicht zwei Pistolen, eine Maske und die offenkundige Absicht gehabt hätte, sie auszurauben, wäre Brynn warm ums Herz geworden.

Spielen Sie bitte nicht die Helden. Das hatte er gesagt …

„Sie sind der Maskierte Räuber, über den die Zeitungen schreiben“, sagte Brynn. Sie erinnerte sich plötzlich an die vielen Artikel, die in den letzten Monaten erschienen waren. Ein Mann überfiel in London und Umgebung Kutschen, und den Zeitungen zufolge trat er beunruhigend gemäßigt und höflich auf, während er seine Opfer um ihre Wertsachen erleichterte. Offenbar machte er die Bemerkung, man solle nicht den Helden spielen, am Anfang jedes Überfalls.

Die Todesangst auf dem Gesicht von Brynns Mutter machte einer missbilligenden Miene Platz. „Briannon! Du weißt doch, was ich davon halte, dass du die Zeitungen deines Vaters liest! Es schickt sich nicht!“

„Mama!“, stieß Brynn zwischen den Zähnen hervor. „Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt und auch nicht der passende Ort.“

Das Entsetzen ihrer Mutter kam zurück und der maskierte Mann seufzte. „Dieser alberne Name! Ich würde lieber Gauner genannt werden als Räuber. Jetzt aber zur Sache, wenn ich bitten darf.“

Er entsicherte die Pistole und Lady Dinsmores Hände fuchtelten hektisch herum; sie sahen aus wie aufgescheuchte Vögel.

„Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie der rebellischen Lady Briannon all ihren Schmuck überreichen würden und natürlich den Inhalt Ihrer Geldbörsen. Mylord, bitte vergessen Sie Ihre Manschettenknöpfe nicht.“

Lord Dinsmore explodierte. „Hören Sie, Sie Lump, wenn Sie glauben, Sie bekämen von mir etwas anderes als eine gehörige Tracht Prügel, dann …“

„Papa!“, rief Brynn und streckte wieder die Hand nach ihrem Vater aus, denn er machte Miene, aus der Kutschentür zu springen. „Papa, halt!“

Beckett hatte die Augen zugekniffen und erwartete den Schuss ins Herz. Im flackernden Licht der Öllampe im Wagen sah man, wie sich der Hals ihres Vaters über der gestärkten Krawatte dunkelrot färbte. Er besann sich und unterließ die unüberlegte Handlung. Er sank auf die Bank zurück und verstummte frustriert.

„Sie sollten Ihrer Tochter dafür danken, dass sie so vernünftig ist“, bemerkte der Mann mit der Maske belustigt. „Aber vorher geben Sie ihr ihre Habseligkeiten.“

Lord Dinsmore starrte den Räuber immer noch finster an.

„Papa“, sagte Brynn bittend und mit leiser Stimme, denn sie hatte schreckliche Angst um ihn. Der Räuber klang vielleicht wie ein Gentleman, doch Brynn ahnte, dass er mit den Pistolen umgehen konnte, die er so zuversichtlich hielt, und nicht zögern würde, sie einzusetzen, wenn man sich ihm widersetzte. Es überlief sie kalt, als sein Blick auf sie fiel. „Bitte tu, was er sagt.“

Erleichtert sah sie, dass ihr Vater widerwillig seine goldenen Manschettenknöpfe mit Gravur löste und sie übergab, ebenso wie den kleinen Beutel mit Münzen, den er immer in der Westentasche hatte. Er nickte ihrer Mutter zu. Unter klagenden Lauten legte Lady Dinsmore eine prächtige Kette mit Amethysten und dazu passende Armbänder und Ringe ab.

Brynn schluckte, zog ihre Handschuhe aus, streifte ihre Ringe ab und legte sie auf den wachsenden Haufen auf ihrem Schoß. Sie war froh, dass die Falten ihres Kleides sie immer noch fest verhüllten, und hoffte, dass sie ihren kostbarsten Besitz verbargen.

„Hier“, flüsterte sie und reichte dem Maskierten eine Handvoll blitzenden Schmucks. „Sie haben, was Sie wollen. Jetzt lassen Sie Beckett los und uns in Ruhe.“

„Würden Sie so freundlich sein“, sagte er zu ihr, wich zurück und neigte spöttisch den Kopf, „auszusteigen und die Sachen in meinen Beutel zu stecken. Wie Sie sehen, habe ich gerade keine Hand frei.“

„Oh, Sie unverschämter Lümmel!“, stieß ihr Vater hervor.

„Keine Sorge, Mylord“, sagte der Mann. „Die Tugend Ihrer Tochter bleibt unversehrt. Ich verlange nur ihre Unterstützung.“

Brynn wurde feuerrot. Wie konnte er es wagen, so ungeniert von ihrer Tugend zu reden? Noch dazu vor ihrem Vater, der aussah, als würde ihn gleich der Schlag treffen.

„Mach dir keine Sorgen, Papa. Ich komme schon zurecht“, sagte Brynn. Sie reckte das Kinn und versuchte, beruhigend zu klingen, obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug. Ihre Mutter schien wieder einen gellenden Schrei zu unterdrücken. Ihr Gesicht färbte sich wie der Himmel bei Sonnenuntergang.

Brynn stand auf und hoffte, dass man ihr ihre Angst nicht so sehr anmerkte wie ihrer Mutter. In den Zeitungen hatte nicht gestanden, dass der Mann auch ein Mörder war – oder Schlimmeres. Sie hoffte inbrünstig, dass man solche scheußlichen Details nicht dezent weggelassen hatte.

Brynn umfasste die Juwelen und Münzen und nahm all ihren Mut zusammen. Sie wollte nicht zulassen, dass ihr die Knie zitterten. Dieser elende Verbrecher durfte nicht merken, wie nervös sie war … vor allem nicht, wenn er sie mit so spöttischen Blicken musterte. Empört hob sie das Kinn noch ein wenig.

„Langsam“, mahnte der Mann, als sie aus der Kutsche stieg. Er machte keine Anstalten, ihr behilflich zu sein, sondern sah einfach träge zu, wie sie den Sprung aus dem Wagen bewältigte – und ohne heruntergelassene Stufen war es reichlich tief.

Brynns Knie hätten beinahe nachgegeben, doch sie blieb auf den Beinen und verwünschte ihn in Gedanken. Diese widerliche Kröte! Sie blickte auf und sah ihn so verächtlich an, wie sie nur konnte. „Wo ist Ihr Beutel?“

„An meiner Taille“, sagte er.

Da sah Brynn ihn – ein Beutel von der Größe einer Damenhandtasche an seinem Gürtel. Er baumelte dort höchst unanständig und erinnerte Brynn an ein bestimmtes Körperteil . Ihr schoss vor Verlegenheit das Blut in die Wangen und sie wandte den Blick ab.

„Sie können nicht erwarten, dass ich …“

„Die Juwelen hineintue? Nein, Mylady, das erwarte ich nicht – ich verlange es. Ihr zweiter Kutscher regt sich und ich würde dem armen Kerl nur sehr ungern noch einmal eins über den Kopf geben.“

Sie biss die Zähne zusammen und eine Woge des Zorns stieg in ihr auf. Er hatte Colton eins über den Kopf gegeben? Er war schlimmer als eine Kröte. Er war ein herzloser Bastard und verdiente eine Schlinge um den Hals und eine Falltür unter den Füßen! Brynn kochte vor Wut und ging mit festen Schritten auf den Maskierten zu. Sie öffnete den Beutel mit den kleinen Fingern und ließ alles hineingleiten. „Da. Jetzt haben Sie alles.“

Wieder lächelte der Mann ein wenig und seine Augen funkelten im Licht der Laterne. Seine Augen und der Mund waren das Einzige, was sie deutlich erkennen konnte. Die schwarze Seidenmaske verbarg alles von der Stirn bis zur Oberlippe, die maskulinen Wangenknochen, die gerade Nase und das Kinn zeichneten sich unter dem Stoff ab. Wenn er kein Räuber gewesen wäre, hätte sie ihn attraktiv gefunden. Brynn hätte beinahe geflucht – ihre Familie war überfallen worden und sie bewunderte seine Gesichtszüge wie eine dumme Gans mit Stroh im Hirn.

Die Miene des Räubers verriet Anerkennung. „Nicht alles“, sagte er mit einem vielsagenden Blick auf ihren Hals.

Brynn griff unwillkürlich nach der Perlenkette, die unter dem Mantel hervorschaute – die Falten mussten verrutscht sein, als sie aus der Kutsche gesprungen war. Was für ein Pech!

Sie trug die Perlen ihrer Großmutter obendrein zum ersten Mal. Sie hatte sich das dreireihige Halsband und die Ohrringe für einen besonderen Anlass aufheben wollen. Bradburnes Ball war eigentlich nichts Besonderes, doch wenn sie ein so spießiges Kleid trug, wollte sie das wenigstens mit schönem Schmuck wettmachen.

Und die Perlen waren wunderschön. Unbezahlbar und unersetzlich. Die Vorstellung, sie an diesen Grobian zu verlieren, brachte ihr Blut in Wallung.

„So schöne Perlen sollten nicht unbemerkt bleiben“, fuhr er fort und richtete die Waffe noch entschiedener auf sie. „Ich will auch sie.“

Brynn stockte der Atem. Verzweiflung bemächtigte sich ihrer. Sie hatte ihm schon die Ohrringe gegeben und selbst das brach ihr das Herz. Es waren Großmutters Lieblingsstücke, Großvaters Hochzeitsgeschenk. Und nun befahl dieser Mann … dieser Schuft … ihr, sie einfach herzugeben?

Sie hob das Kinn und ignorierte die tödliche Waffe, die auf sie gerichtet war. Ein Instinkt, der sie hoffentlich nicht trog, sagte ihr, dass er nicht schießen würde.

„Nein.“

„Nein?“ Seine Stimme hatte einen neuen, tödlichen Unterton und Brynn sank der Mut. „Mylady, ich bewundere zwar Ihre … Hartnäckigkeit …“

„Wenn Sie sie wollen, müssen Sie sie sich selbst nehmen. Ich händige sie nicht einfach aus“, unterbrach Brynn ihn, bevor ihr idiotischer Mut sie verließ. Wenn sie den Maskierten dazu bringen könnte, eine seiner Pistolen ins Halfter zu stecken, hätte Beckett oder Colton – wo auch immer er war – vielleicht die Chance, ihn zu überwältigen. Sie atmete tief durch. Der Plan konnte gelingen. Er konnte. Und sie hatte im Moment nichts anderes.

Seine Mundwinkel zuckten wider Willen über ihre Kühnheit. „Dann tue ich das.“ Er warf einen Blick auf Beckett. „Ich lasse Sie gehen, guter Mann, aber ich versichere Ihnen – meine Waffe bleibt auf Sie gerichtet. Machen Sie fünf Schritte und legen Sie sich auf den Boden. Rühren Sie sich nicht. Gut so – was für ein Eifer!“, lobte er Beckett, als dieser bäuchlings auf die schmutzige Straße plumpste.

Wie Brynn gehofft hatte, steckte er eine seiner Pistolen ins Halfter. Dann schloss er die Tür der Kutsche mit einem energischen Knall, sodass ihre Eltern sie nicht mehr sehen konnten.

„Das Leben Ihrer Tochter liegt in Ihren Händen“, warnte er die beiden durch die Tür und hielt die verbliebene Pistole immer noch auf Brynn gerichtet. „Keine Bewegung!“

Der Blick des Räubers fiel wieder auf Brynn.

Ihr stieg eine tiefe Röte in die Wangen, als er sie von Kopf bis Fuß musterte. Seine Augen glitzerten im Mondlicht. Sie spürte beinahe körperlich, wie sein Blick über ihre Gestalt wanderte. Er wollte sie provozieren. Zum Glück war die Kutschentür geschlossen und ihren Eltern blieb die Unverschämtheit dieses Mannes erspart. Aber so konnte sie ihren Vater nicht davon abhalten, etwas Unbedachtes zu tun. Ihr Gesicht glühte unter seinem ungenierten Blick. Sie beherrschte sich eisern und biss die Zähne so fest zusammen, dass sie beinahe knirschten. Sie fühlte sich nackt, als würde er sie ausziehen.

Das furchtbar altmodische graue Samtkleid trug sie, weil ihre Mutter darauf bestanden hatte. Die langen Ärmel und das hohe Mieder, das bis zum Schlüsselbein reichte, boten Schutz vor jeder Kälte. Sie hatte gestern Morgen nur ein wenig gehustet, doch das hatte Mama schon in höchste Aufregung versetzt. Brynn war froh gewesen, dass Lady Dinsmore nicht auf einem wollenem Umhang bestanden hatte. Aber jetzt malte sich dieser Gangster offensichtlich aus, dass er den schweren Samt von ihren Schultern streifte und das Kleid zu Boden fiel. Brynn begriff, dass ihre spießige Aufmachung ihn nicht davon abgehalten hatte, sich vorzustellen, was darunter war. Als sein lüsterner Blick auf ihren Brüsten ruhte, hätte sie fast die Beherrschung verloren.

„Sind Sie fertig?“, fauchte sie und widerstand dem Drang, das Kleid um sich zu ziehen, als wäre es ein Schutzschild.

Der Mann antwortete nicht, sondern führte die freie Hand an seine Lippen. Er ließ sie nicht aus den Augen und streifte seine Lederhandschuhe Finger für Finger ab, wobei er die Zähne zu Hilfe nahm. Brynn runzelte die Stirn, doch dann begriff sie – er würde seine Finger brauchen, um den feinen Verschluss der Perlenkette zu öffnen.

Sie versuchte, Blickkontakt mit Beckett aufzunehmen, aber der Diener lag mit dem Gesicht nach unten im Schlamm. Sie hätte am liebsten mit dem Fuß aufgestampft. So viel zu ihrer Idee, die Pläne des Banditen mit Becketts Hilfe zu durchkreuzen. Sie musste allein mit der Situation fertig werden.

Der Mann mit der Maske vertrat ihr den Weg, sodass sie zwischen ihm und der Kutsche eingesperrt war. Er war fast zwei Köpfe größer als sie, und so sah Brynn nur seine breite Brust vor sich. Er steckte den Handschuh ein und trat noch dichter an sie heran. Brynns Herzschlag setzte aus. Sie hatte ihr Vorhaben wohl nicht richtig durchdacht. Alles an dem Mann war gefährlich. Seine ganze Erscheinung strahlte eine im Zaum gehaltene Kraft aus. Brynn wollte nicht glauben, dass er ihr etwas tun würde, aber sie war klug genug, ihn nicht noch mehr zu provozieren. Sie hielt den Atem an, als er die Hand nach ihr ausstreckte.

„Halten Sie still, Mylady“, sagte er, als könne er ihre Gedanken lesen. „Halten Sie meine Höflichkeit nicht für Schwäche. Gewalt gegen Frauen ist mir zwar zuwider, aber wenn es sein muss, schrecke ich nicht davor zurück.“

Brynn glaubte ihm. Aber sie gönnte ihm nicht die Genugtuung, sich ihre Panik anmerken zu lassen. „Würden Sie uns beiden einen Gefallen tun und weitermachen?“

Sie stand wie eine Statue da, als seine Hand sich näherte. Es hatten sie schon Männer berührt – um ihr die Hand zu küssen, sie in einen Saal zu führen oder beim Einsteigen in eine Kutsche zu helfen. Aber die Finger dieses Mannes, die ihre Schulter und ihr Schlüsselbein streiften, als sie den Verschluss der Kette suchten, waren nicht so behutsam.

Brynn spürte, wie Hitze unter seinen Fingern aufwallte, als wolle er mehr als nur die Perlenkette. Sie bewegten sich langsam, als würde es ihm ein heimliches Vergnügen bereiten, von dem sie aber wissen sollte. Eine quälende Kurzatmigkeit überkam sie. Brynn errötete heftig, als sie sich vorstellte, was für schmutzige Gedanken seine verdorbene Fantasie wohl beschäftigten. Wenigstens waren seine Hände nicht rau. Als ihr das auffiel, begriff sie, dass dieser Mann wahrscheinlich kein armer Bauer war, der in der Nähe von Ferndale und Worthington Abbey wohnte. Ihre Augen wurden schmal und sie nahm noch mehr Einzelheiten war, die ihr bisher entgangen waren – zum Beispiel seine maßgeschneiderte Kleidung, die ihm genau passte. Der Stoff war gut und teuer. Das passte auch zu seiner kultivierten Sprache. Ihre Neugier war geweckt und darüber vergaß sie ihre Angst.

Wenn er kein gewöhnlicher Räuber war, was dann?

Unbewusst beugte sie sich vor. So weit, dass sie den Geruch wahrnahm, der ihn umgab. Es war ein angenehmer Duft – nach Wald, Zedern und Rauch, und sie hatte plötzlich ein ganz seltsames Gefühl, das sie manchmal hatte, wenn sie mit Apollo über einen breiten Bach sprang.

Sie blickte forschend zu ihm auf, um zu sehen, ob vielleicht etwas verriet, wer er war. Seine Haare waren völlig von der breiten Krempe seines Hutes verborgen. Die Augen, die im Licht silbern gefunkelt hatten, waren jetzt dunkel und unergründlich. Sein Gesicht wirkte hart, bis auf den weichen Schwung der Lippen. Für einen Mann hatte er einen sehr feinen Mund.

Es gab ihr einen Stich. Warum machte sie sich Gedanken über die Lippen dieses schrecklichen Kerls?

Ein Finger des Räubers streifte die Haut ihres Nackens länger als nötig, genau über dem züchtigen Ausschnitt ihres Kleides. Sie atmete tief durch und beugte sich noch ein wenig vor.

„Haben Sie das Gleichgewicht verloren, Lady Briannon?“ Seine Stimme klang schelmisch, und in ihr fing es an zu summen. Sie erstarrte und erkannte, wie nah sie ihm gekommen war. Entsetzt wich sie zurück. Er wollte sie durcheinander bringen, der Mistkerl.

Sie sprach mit all der Verachtung, die sie aufbieten konnte. „Ich habe es satt, dass Sie nicht einmal einen Verschluss aufmachen können. Sind Sie immer noch nicht fertig? Brauchen Sie Unterricht im Abnehmen von Halsketten?“

Seine Finger setzten ihre Tätigkeit fort. „Ich bin an jedem Unterricht interessiert, den Sie anbieten. Aber ich kann Ihnen versichern“, sagte er, als die Kette endlich aufging, „ich habe reichlich Erfahrung darin, Damen jegliche Zierde abzunehmen.“

Brynn hörte sein zweideutiges Lachen und erstarrte. „Das glaube ich Ihnen sofort.“ Er zog sie auf. Wollte sie in Verlegenheit bringen. Das brachte sie erst recht in Wut.

Die Finger des Mannes strichen über ihren Nacken, als er ihr die Kette abnahm. Der Maskierte Räuber hatte offenbar viel Erfahrung darin, feine Damen zu betören. Brynn biss die Zähne zusammen und vergaß ihren Stolz über ihre geliebten Perlen. Ohne nachzudenken, packte sie seine Hand und erschrak, weil sich seine Haut so warm anfühlte. „Bitte nicht – ich gebe Ihnen alles, nur die nicht.“

„Aber die will ich.“

Sie reckte das Kinn. Sie würde nicht betteln, doch ihre Hände krampften sich um seine und um die Perlenkette. „Ich glaube nicht, dass Ihnen die Perlen stehen, Sir.“

Seine Augen weiteten sich bei dieser frechen Bemerkung. „Ja, sie passen besser zu vertrockneten alten Damen oder“, er musterte sie von oben bis unten und umfasste ihr Handgelenk, „jungen Damen in Trauer.“

Brynn knirschte mit den Zähnen und verwünschte ihr hässliches Kleid. „Ich bin nicht in Trauer! Lassen Sie mich sofort los!“

„Geben Sie mir die Perlen, dann tue ich es.“

Ihre Finger umklammerten seine. Sie konnte nicht nachgeben. Es ging nicht mehr nur um die Perlen ihrer Großmutter. Es ging ums Prinzip.

„Bekommen Sie immer, was Sie wollen?“, zischte sie.

„Meine Ausbeute kann sich sehen lassen.“

Natürlich – er manipulierte arglose Frauen mit seinen Blicken und Worten und diesem sündigen Mund. Ihre Finger krallten sich in seine, sie wollte nicht loslassen, und er war so dreist, sie anzulächeln. Brynn hätte ihm am liebsten die Pistole entrissen und ihm das Grinsen aus dem Gesicht geschossen.

Die Stimme des Mannes unterbrach ihre mörderischen Gedanken. „Perlen stehen Ihnen nicht. Sie brauchen Rubine, die passen zu Ihrer trotzigen Art.“

„Und Sie brauchen keine Kette, sondern eine Schlinge um den Hals.“

Der Mann lachte laut über die Beleidigung, dann senkte er die Stimme und neigte den Kopf. Beinahe hätte seine Wange ihre gestreift.

Ein ersticktes Keuchen kam aus ihrer Kehle, seine Anwesenheit ließ sie beinahe die Nerven verlieren.

„Vielleicht, aber machen Sie bitte keine Szene, Lady Briannon. Denken Sie an Ihre Eltern. Wollen Sie wirklich für diese albernen Perlen Ihr Leben riskieren?“

Brynn schluckte. Seine Nähe und seine sanfte Stimme brachten ihre Entschlossenheit ins Wanken. Sie schaute zu ihm auf. „Sie sind mehr wert, als Sie ahnen“, sagte sie leise.

Etwas blitzte in seinen Augen auf – Mitgefühl vielleicht –, doch dann wurde sein Blick wieder hart. Er musterte sie eingehend, wich zurück und nahm ihre behandschuhte Hand in seine. Er beugte sich übertrieben darüber und drückte seine Lippen auf ihre Knöchel. Sie spürte das Brennen sogar durch den Samt ihrer Handschuhe.

„Die hungernden Armen, denen dieser Schmuck etwas zu essen bringen wird, werden es auch so sehen“, sagte er. „Adieu, Mylady. Danke für Ihre großzügige Spende.“

Großzügige Spende? Brynn stand entgeistert da, die Hand immer noch halb erhoben, als der Mann mit einem schelmischen, jungenhaften Grinsen den Rückzug antrat. Er kletterte über den Baumstamm, der als Barrikade gedient hatte, und verschwand in der Nacht. Sie starrte ihm nach und fragte sich, welche Sorte Räuber seine Beute den Armen gab. Vielleicht hatte er gelogen.

Er lügt nicht.

Das spürte sie ebenso deutlich wie ihren eigenen Zorn, der sich kein bisschen abgekühlt hatte. Verdammter Räuber. Jetzt musste sie bei allem Groll auch noch an Menschen denken, die Hunger litten, und sich schuldig fühlen.

„Briannon, Liebling?“, rief ihre Mutter mit gedämpfter Stimme. „Ist er weg?“

Brynn wandte sich von der finsteren Straße ab und sah, dass Beckett nach wie vor im Schlamm lag. Sie seufzte tief und fühlte immer noch die Finger des Räubers wie ein Brandzeichen im Nacken. Sein sinnliches, aufreizendes Lächeln grub sich in ihre Erinnerung.

„Ja, Mama“, sagte sie und half Beckett beim Aufstehen. „Verschwunden – wie schlechte Luft.“

2. Kapitel

Der Marquess of Hawksfield, Lord Archer Nathaniel David Croft massierte seine Nase mit Daumen und Zeigefinger. Kopfschmerzen waren im Anmarsch.

Er griff nach der letzten Ausgabe der Times, die Porter ihm gemeinsam mit den Sachen gebracht hatte, die er heute Abend tragen würde. Er hätte lieber in Ruhe bei einer Zigarre und einem Glas Whisky gelesen, statt auf dem albernen Ball zu erscheinen, den sein Vater, der Duke of Bradburne, heute Abend in Worthington Abbey gab.

Er schlug die Zeitung auf und ein beschriebenes Stück Pergament fiel heraus und landete auf dem Tisch. Er griff neugierig danach. Das Papier war mit Tintenflecken übersät und kaum lesbar, doch er konnte die vier hastig hingekritzelten Worte entziffern:

Ich kenne dein Geheimnis.

„Porter?“, fragte er in beherrschtem Ton und faltete das Papier hastig zusammen. „Wer hat die Zeitung gebracht?“

Sein Kammerdiener runzelte die Stirn. „Ich, Mylord. Stimmt etwas nicht?“

„Nein.“ Archer knüllte den Bogen in seiner Faust zusammen und seine Gedanken fuhren Karussell.

Wie jeder Mann hatte auch er seine Geheimnisse. Ziemlich viele sogar. Aber nur eins davon rechtfertigte einen Drohbrief.

Archer warf seinem Diener einen raschen Blick zu. Er überlegte und schlug sich den Gedanken aus dem Kopf, dass er die Nachricht in die Zeitung geschmuggelt hatte. Er vertraute Porter, und außerdem konnte die Zeitung zuvor durch Dutzende Hände gegangen sein. Jeder hätte den Brief in die Zeitung stecken können. Oder vielleicht war die Nachricht für einen anderen Gast bestimmt, der sich für die Dauer seines Aufenthalts seine Tageszeitung nach Essex nachschicken ließ. Es befanden sich sicher mindestens zwanzig Männer unter dem Dach von Worthington Abbey, deren Geheimnisse für Erpresser interessant waren.

Archer spielte nachdenklich mit dem Papierknäuel und verwarf die zweite Theorie. Die Nachricht war für ihn bestimmt. Er spürte es. Jemand hatte sein Geheimnis entweder erraten oder etwas beobachtet. Und der Jemand war ein Feigling.

Er konnte seinen ganzen Haushalt auseinandernehmen, um den Schuldigen zu finden. Sonst blieb ihm nur übrig, abzuwarten, ob weitere Nachrichten kommen würden oder ob der Schreiberling seine Identität preisgeben würde.

Sein Herz schlug unruhig, doch Archer ignorierte es. Er legte die Zeitung beiseite und ging auf das Kaminfeuer zu. Er warf das zusammengeknüllte Papier in die Flammen.

„Soll ich Ihnen helfen, Mylord?“, fragte Porter.

Archer wandte sich von dem Papier ab, das zu schwarzer Asche zerfiel, und musterte die Kniehosen aus dunkelblauer Seide, die sein Diener hochhielt.

Er schüttelte den Kopf. Kniehosen! Der bloße Anblick ärgerte ihn.

„Ich meide Almack’s aus gutem Grund, Porter.“

Herren durften Londons begehrtesten Klub nur betreten, wenn sie die weibischen Kniehosen trugen. Archie verachtete sie, und heute Abend war ihm nicht danach, der Tradition zu folgen. Sie sahen wirklich an jedem Mann lächerlich aus.

Er schlüpfte aus seinen bequemen Hirschlederhosen und wünschte, er könnte sie auf dem Ball seines Vaters tragen, der unten schon in vollem Gange war. Natürlich nicht dieses Paar – der Hosenboden wies einen großen Matschfleck auf, denn Morpheus hatte ihn vor einer Viertelstunde abgeworfen. Der schwarze Wallach hatte gescheut, als Archer ihn auf den Hof von Pierce Cottage gelenkt hatte. Archer hatte gemerkt, dass sich etwas zwischen den Bäumen am Rand des Heufeldes bewegte – wahrscheinlich ein Fuchs. Dann hatte Morpheus sich aufgebäumt und ihn abgeworfen.

Er entschied sich für die schwarze Hose, die Porter ihm als Nächstes hinhielt, und nahm sie seinem Kammerdiener aus der Hand. „Ich hetze Sie nur sehr ungern, Porter, aber ich bin schon spät dran.“

Das verdammte Pferd. Es hatte gebuckelt und ausgeschlagen und war im Kreis gelaufen, als Archer versucht hatte, es einzufangen. Archer hatte die Zügel nicht zu fassen bekommen und laut auf Brandt Pierce geschimpft, der in der Tür der Hütte stand und sich vor Lachen ausschüttete.

Porter kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und behielt seine Gedanken für sich. Wieder einmal wusste Archer die Diskretion seines Kammerdieners zu schätzen. Er konnte sich darauf verlassen, dass Porter, ein stämmiger Mann mit blondem Haar, das sich bereits lichtete, nicht nachfragen würde, wo der junge Lord Hawksfield vor einer Stunde gewesen war, als er eigentlich mit Lord Bradburne die Gäste hätte empfangen sollen.

Archer hätte sich nur eine halbe Stunde verspätet, wie es sich gehörte, wenn Brandt ihm geholfen hätte, Morpheus zu bändigen, statt belustigt zuzusehen. Immerhin hatte er Archers Grauschimmel satteln lassen, sodass Archer nach Worthington zurückreiten konnte.

Auf dem Weg zu dem Pfad, der zu seinem Landsitz führte, hatte Archer sich in den Steigbügeln hingestellt, um sein lädiertes Gesäß zu schonen. Er hatte dem Stallmeister über die Schulter hinweg zugerufen, dass Brandt gefeuert sei und er ihm eine neue Stelle suchen sollte. Der Stallmeister hatte eine unhöfliche Geste gemacht und Archer hatte gelacht. Dann war er in Richtung Waldweg verschwunden.

„Mylord?“, sagte Porter, als er die Schultern und den Rücken von Archers maßgeschneidertem Jackett glattstrich.

„Hmm?“, grunzte Archer und beeilte sich, seine Manschettenknöpfe zuzuknöpfen. Seine Finger verharrten kurz auf dem winzigen Würfel aus Silber. Archer erinnerte sich gut an den Tag, an dem sein Vater ihm die Knöpfe in einer kleinen Schachtel überreicht hatte. Die ersten Manschettenknöpfe eines Mannes sind ein Grund zum Feiern, hatte der Herzog freudig verkündet.

Aber es war lange her, dass sein Vater ihm etwas Wertvolles gegeben hatte.

Porter räusperte sich. „Wie wäre es damit?“, sagte er und hielt ihm einen Kamm mit weit auseinanderstehenden Zinken hin.

Archer musterte sich im Spiegel. Seine Haare waren zerzaust, außerdem hatten sich Heuhalme und ein paar Blätter darin verfangen. Er lächelte und fuhr sich mit dem Kamm durchs Haar. Porter wandte sich derweil ab und hob die abgelegten schwarzen Hosen auf. Hoffentlich dachte der alte Junge, Archer wäre mit einer der vielen Debütantinnen, die in Worthington Abbey zu Besuch waren, auf einem Heuboden gewesen. Solche Geheimnisse hatten die meisten Männer der High Society.

Archer schaute ins Feuer. Von der Nachricht war nur noch Asche übrig und er fühlte sich seinen Standesgenossen so fern wie immer.

Zehn Minuten später stand er in einem makellosen schwarzen Anzug und einer schneeweißen Krawatte an der steinernen Balustrade. Hier hatte er schon unzählige Male gestanden und in den Ballsaal hinuntergestarrt, in dem es von den aufgetakelten Gästen seines Vaters wimmelte. Gefallen hatte es ihm nie. Er schaute auf die Menge herab und konnte seinen Abscheu nicht verbergen. Es war sein Zuhause, doch er hätte sich nicht unwohler fühlen können. Er setzte das Whiskyglas an die Lippen und schluckte das Feuer. Es brannte auf dem Weg in den Magen, doch er genoss das Gefühl. Er stellte das leere Gläser einem Diener, der vorbeikam, auf das Tablett und ließ sich noch einen bringen. Er würde in den nächsten Stunden reichlich Whisky brauchen, um es mit den Scharen kichernder Frauen, selbstzufriedener Dandys und nicht zuletzt den Müttern aufzunehmen, die ihre Töchter verkuppeln wollten.

„Mein Junge!“, dröhnte die Stimme des Herzogs hinter Archer. Sein Vater schlug ihm auf die Schulter. „Du siehst ja richtig wütend aus! Es ist ein Ball! Komm, trink etwas und tanz ein bisschen!“

Archers Vater fiel nicht oft in Essex ein, doch wenn er es tat, brachte er gefühlt ganz London mit. In den letzten Wochen war Worthington Abbey aus allen Nähten geplatzt, denn es hatte mindestens drei Dutzend enge Freunde und Bekannte des Herzogs beherbergt. Archer hatte seit seiner Ankunft, die sein Vater angeordnet hatte, nachdem die Einladungen für die Hausparty verschickt worden waren, keine Minute für sich gehabt. Doch morgen Nachmittag würden sich die oberen Zehntausend von London auf die Rückreise begeben und dann hatte Archer Worthington Abbey für sich allein. So war es ihm und seiner Schwester Eloise am liebsten.

Er musste nur diesen Abend überstehen und dabei Junggeselle bleiben, dann hatte er wirklich Grund zu feiern. Sein Titel und sein Vermögen – oder das, was seinem vergnügungssüchtigen Vater sei Dank noch übrig war – machten Archer zu einem begehrten Junggesellen. Wahrscheinlich stand auch sein Vater auf der Liste, aber die Mütter der Oberschicht mussten mittlerweile wissen, dass Bradburne nicht wieder heiraten würde. Die Herzogin war schon zwölf Jahre tot und er hatte nie einen Hauch Interesse bekundet, eine neue Frau zu nehmen. Das war eine der wenigen Entscheidungen seines Vaters, die Archer begrüßte.

„Das Tanzen überlasse ich dir“, sagte Archer und nahm das zweite Glas Whisky, das der beflissene Diener gebracht hatte.

Sein Vater lachte. Er wusste, dass die feine Gesellschaft ihn den Tanzenden Herzog nannte, und der alberne Spitzname störte ihn überhaupt nicht. Hätte man Archer einen so weibischen Namen gegeben, hätte er die Person, egal ob Mann oder Frau, erwürgt, die ihn ersonnen hatte.

Archers Blick schweifte über den Saal, der unter ihm lag, und da fiel ihm auf, dass kaum jemand tanzte. Ein Hauch Panik schwang in dem Geplauder mit und viele Gäste drängten sich um den langen Tisch mit den Leckereien.

„Was ist los?“, fragte Archer.

„Lord Dinsmore“, sagte Bradburne und nahm einen tiefen Schluck aus seinem eigenen Whiskyglas. Er hatte sich schon oft nachschenken lassen.

Archer straffte die Schultern und versuchte, ihn in der Menge ausfindig zu machen. „Was ist mit ihm?“

„Er behauptet, der Maskierte Räuber hätte ihn auf dem Weg hierher nach Worthington Abbey überfallen. Kannst du dir das vorstellen? Und hat ihn völlig ausgeraubt. Ich habe Heed beauftragt, den Constable der Ortspolizei kommen zu lassen.“

Archers Finger krampften sich um das Whiskyglas. „So? Gut“, murmelte er. Der nächste Constable war vier Städte entfernt, in Greenbriar, und würde erst in ein paar Stunden auftauchen. „Ich hoffe, dass niemand verletzt wurde.“

„Nein, zum Glück nicht. Das würde die Feierlaune erheblich dämpfen. Und ich bin froh, dass niemand erschossen wurde. Dinsmore sagte, der Kerl hätte zwei Pistolen gehabt. Und den Kutscher bewusstlos geschlagen!“

Archer rollte die Augen über die Prioritäten seines Vaters. Der Herzog sorgte sich mehr um seinen Ball als darüber, ob bei einem bewaffneten Raubüberfall Menschen verletzt worden waren. Archer hätte sich nicht über die Oberflächlichkeit seines Vaters wundern sollen, aber er tat es. Es ärgerte ihn immer wieder aufs Neue.

„Ich sollte wohl hinuntergehen und mein Beileid aussprechen“, sagte Archer und leerte sein Glas in einem Zug.

Sein Vater sah etwas verblüfft aus und klopfte ihm dann noch einmal auf die Schulter. „Gut so, mein Sohn. Ich bin froh, dass du doch mehr tun willst, als hier oben zu stehen und uns alle finster anzustarren.“

Archer warf seinem Vater einen Seitenblick zu. Das rötliche Gesicht des Herzogs, seine rundliche Taille und die Pausbacken legten ein beredtes Zeugnis von seiner Lebensweise ab. Archer hatte immer gehört, er sehe seiner verstorbenen Mutter ähnlich – groß, dünn und dunkelhaarig. Aber die äußeren Unterschiede spielten kaum eine Rolle. Wenn der Vater der Tanzende Herzog war, wurde von dem Sohn erwartet, dass er selbst genauso oberflächlich war, wenn auch auf andere Art. Lord Bradburne war als fröhlicher Lebemann bekannt, Archer als mürrischer Einsiedler. Es passte ihm bisher ganz gut. Sein Vater zog immer viel Aufmerksamkeit auf sich, Archer brauchte und wollte gar keine.

Bradburne schritt die Treppe hinunter, die zu dem großen rechteckigen Ballsaal führte und ging auf Lord und Lady Rochester zu. Rochester hatte sich von seiner Frau abgewandt und sprach mit einem aufgetakelten Hallodri, dessen Namen Archer glücklicherweise vergessen hatte. Er sah von der Treppe aus zu, wie sein Vater den Arm um Lady Rochesters schmale Taille legte. Sie und Bradburne tauschten einen flüchtigen Blick, dann zog er die Hand zurück und klopfte Rochester kumpelhaft auf die Schulter. Archers Vater war fünfundfünfzig, wurde seinem Ruf als Wüstling jedoch immer noch gerecht. Er liebte weibliche Gesellschaft einfach zu sehr, manchmal sogar mehr als ein Kartenspiel oder einen guten Branntwein.

Archer schaute beiseite und richtete den Blick auf den Tisch mit den Erfrischungen. Dort stand seine Schwester und unterhielt sich widerwillig mit zwei jungen Damen. Wie immer war Eloise’ Gesicht von einem Schleier verhüllt, um die tiefen Narben zu verbergen, die ihr Gesicht entstellten. Es waren die Folgen eines Brandes, bei dem sie als Kind verletzt worden war, des Brandes, der die Herzogin das Leben gekostet hatte. Das hielt seine mutige Schwester jedoch nicht davon ab, der liebenswürdigste, gütigste Mensch unter allen Anwesenden zu sein. Der Herzog merkte nichts davon. Er nahm kaum Notiz von ihr und das machte Archer immer wütend.

Eloise’ Mutter war bei ihrer Geburt gestorben und die Herzogin hatte sie aufgenommen. Archers Mutter war eine Heilige gewesen. Nicht nur, weil sie das Kind bei sich aufgenommen hatte, sondern auch, weil sie die ständige Untreue seines Vaters geduldet hatte. Vor dem Tod der Herzogin hatte es Eloise an nichts gefehlt. Sie war ein uneheliches Kind, aber es bestand kein Zweifel, wer sie gezeugt hatte – sie und Archer hatten die gleiche Nase, das gleiche Kinn und seltsamerweise auch das gleiche Lachen – und die verstorbene Herzogin hatte unmissverständlich klargemacht, dass Eloise zur Familie gehörte.

Archer starrte sie an. Eloise wahrte die Höflichkeit, doch ihre Lippen, die unter dem Rand des Schleiers hervorschauten, waren verkniffen. Er wünschte, er könnte etwas tun, um sie beide von ihrem Unglück zu erlösen. Er würde nachher zu ihr gehen, wenn er die lästige Pflicht erfüllt hatte, die Gäste seines Vaters zu begrüßen.

Er richtete den Blick nach vorn, ging mit ernster Miene die Treppe hinunter und machte sich auf den Weg durch den Saal. Archer nickte den Damen, die seinen Namen murmelten, und den Herren, die ihn anknurrten, nur flüchtig zu. Es wäre taktisch unklug gewesen, Gespräche anzufangen. Die Debütantinnen und ihre Mütter wollten alle das Gleiche – einen Titel oder ein Vermögen oder am besten beides. Archer hatte Ersteres, aber Letzteres war noch in Arbeit.

Er hatte dafür gekämpft, die Familie vor dem finanziellen Ruin zu bewahren, an dessen Rand sein Vater sie mit seiner Verschwendungssucht gebracht hatte. Aber es würde immer Frauen geben, die dem Reichtum entsagten, um Marchioness zu werden.

Seine Marchioness. Archer hatte jedoch nicht die Absicht, zu heiraten – nicht jetzt und auch nicht später, nicht einmal, um das schwindende Vermögen zu retten. Er schätzte seine Freiheit zu sehr und seit er gesehen hatte, wie sehr seine Mutter unter seinem ehebrecherischen Vater gelitten hatte, hatte er beim Gedanken an eine Heirat einen schalen Geschmack im Mund.

Niemand hinderte ihn daran, sein Ziel zu erreichen. Es hatte seine Vorteile, wenn man als mürrisch galt, und einer davon war es, dass man nur wenig Kontakt mit Standesgenossen pflegen musste. Die Menge der Gäste machte ihm mit ängstlicher Miene Platz, und wenig später verbeugte er sich vor den drei Leuten, die auf dem benachbarten Landsitz lebten.

Die gleichen Leute, die er gerade ausgeraubt hatte. Das war sein Geheimnis.

„Lord Hawksfield!“ Lady Dinsmores Begrüßung klang fast genauso schrill wie das haarsträubende Kreischen, das sie auf dem Weg zwischen Ferndale und Worthington Abbey von sich gegeben hatte, und er hätte am liebsten den Rückzug angetreten. Archer hatte erwartet, dass es auf der Landstraße von aufgedonnerten Ballgästen wimmeln würde und dass die Damen ihren besten Schmuck tragen würden. Doch er hatte nicht im Entferntesten damit gerechnet, dass er auf die Kutsche der Nachbarn treffen würde, in der die geheimnisvolle Lady Briannon saß, die er seit Jahren nicht gesehen hatte. Ebenso wenig damit, dass sie sich so stürmisch und töricht weigern würde, die Perlenkette herauszugeben. Sie war nicht sein typisches Ziel – er nahm lieber Leuten ihren Reichtum ab, die ihn zur Schau stellten –, doch Archer hatte nur sehr leichte Gewissensbisse verspürt. Den Dinsmores fehlte es nicht an Geld und die Kostbarkeiten, die er ihnen weggenommen hatte, darunter auch die Perlen der Dame, würden bald ersetzt sein.

„Mylady“, erwiderte er, leise und ausgesprochen höflich wie immer. Archer wandte sich dem Mann an ihrer Seite zu. „Lord Dinsmore. Ich bedaure das Unglück, das Ihnen heute Abend widerfahren ist. Ich hoffe, dass keiner von Ihnen verletzt wurde.“

„Gott sei Dank nicht“, sagte Lord Dinsmore, befingerte seine Krawatte und fügte hinzu: „Aber der Übeltäter ist nur mit knapper Not einer gehörigen Tracht Prügel entgangen, das versichere ich Ihnen.“

Ein paar andere Männer scharten sich um Lord Dinsmore und riefen „Hört, hört!“ und „Das ist die richtige Einstellung!“

Archer verkniff sich ein Lächeln. Solche Geschichten wurden im Minutentakt ausgeschmückt. Er räusperte sich und trank noch einen Schluck Whisky. Es war immer eine Herausforderung, bei einem Überfall seine Stimme zu verstellen, und meistens führte es zu einem lästigen Kratzen im Hals. Es musste jedoch sein, denn sein Bariton war unverkennbar. Die Tonlage, in der er als Maskierter Räuber sprach, klang wie die Stimme eines burschikosen Theaterschauspielers. Archer wand sich jedes Mal. Es machte ihm keinen Spaß, wie ein burschikoser Was-auch-Immer zu klingen, geschweige denn wie ein Schauspieler. Aber egal. Ein bis drei Gläser Whisky kurierten seine angegriffene Kehle wieder.

„Das denke ich auch“, sagte Archer zu Dinsmore. „Er kann sich glücklich schätzen. Der Constable wird gleich da sein. Wenn Sie den Räuber beschreiben können, bin ich sicher, dass der Schurke schnell zur Rechenschaft gezogen wird.“

„Und wir unser Eigentum zurückbekommen!“, kreischte Lady Dinsmore.

Archer nickte weise, anstatt zu antworten. Die Silbermünzen, die Lord Dinsmore ihm ausgehändigt hatte, würden noch vor dem Morgengrauen verteilt werden, und die Juwelen würden nach Schottland zu einem Pfandleiher gebracht werden, dem Brandt vertraute. Archer glaubte felsenfest daran, dass sein ältester Freund sich erst von dem Pfandleiher verabschieden würde, wenn sie einen guten Tausch gemacht hatten.

Brandt war der Einzige, der die Wahrheit wusste. Doch die geheimnisvolle Nachricht, die jetzt als Häuflein Asche in seinem Kamin lag, machte Archer Sorgen. Der Absender hatte offenkundig etwas im Sinn. Wenn das Geheimnis ans Licht kam, wäre es der Ruin seiner Familie.

Doch jetzt war nicht die Zeit, über einen solchen Ausgang zu grübeln. Er sah Lady Briannon an und wartete ab, bis der Moment des verlegenen Schweigens vorüber war. Sie hatten einander schon als Kinder gekannt, waren sich aber seit Jahren nicht mehr in der Öffentlichkeit begegnet. Es wäre ein Fauxpas gewesen, die junge Dame anzusprechen, ohne dass sie einander vorgestellt worden waren.

Er wollte sich auf keinen Fall unangemessen verhalten, also stand er da und ihm wurde immer heißer. Sie hatten heute schon genug schlechtes Benehmen erlebt und er wollte nicht, dass sie Ähnlichkeiten zwischen ihm und dem Räuber feststellten. Archer spielte den Frauenhelden, wenn er seine schwarze Kleidung anzog und die Seidenmaske aufsetzte. Das Theater war notwendig, ebenso wie die verstellte Stimme, damit nicht herauskam, wer er war. Doch heute Abend auf der abgelegenen Landstraße hatte er sich dabei ertappt, dass es ihm Spaß machte. Lady Dinsmore musste wirklich neben der Spur sein, wenn sie nicht einmal daran dachte, sie einander vorzustellen. Aber die verwitwete Countess Falthorpe, die neben Lady Dinsmore stand, war nicht abgelenkt.

„Lord Hawksfield, Sie haben noch keine Bekanntschaft mit Lady Briannon gemacht?“

Die junge Frau stand bescheiden neben ihrer Mutter. In der Finsternis des Waldwegs hatte er sie für brünett gehalten, doch jetzt, im Licht des Kronleuchters, sah er, dass ihr Haar eher kupferrot als braun war.

Ihr hochgestecktes Haar schimmerte im Licht. Und sie war zierlich wie eine Elfe. So klein, dass er sie wahrscheinlich mit einer Hand hochheben konnte. Sie hatte größer gewirkt, als sie sich ihm auf der einsamen Straße widersetzt hatte.

„O ja!“, rief Lady Dinsmore. Endlich fiel ihr ein, was zu tun war. „Darf ich Ihnen unsere Tochter, Lady Briannon, vorstellen? Sie hat nächste Saison ihr Debüt.“

Eine leichte Röte überzog Briannons Wangen beim Überschwang ihrer Mutter, aber sie sagte nichts dazu. Das war Archer sympathisch.

Er verbeugte sich wieder, die Hände auf dem Rücken gefaltet. „Mylady, ich hoffe, dass Sie den heutigen Abend trotz Ihrer Erlebnisse genießen können.“

Er machte sich auf eine giftige Antwort gefasst. Vielleicht würde sie sagen, dass sie nur eins genießen könnte, nämlich zu sehen, wie dieser maskierte Taugenichts an den Füßen aufgehängt wurde. Ja, das traute er ihr zu.

„Natürlich, Mylord“, sagte sie und machte einen halbherzigen Knicks.

Er wartete auf mehr, doch sie schaute zu Boden, die schmalen, aber wohlgeformten Lippen fest verschlossen. Archer runzelte die Stirn. Wo war das entschlossene Mädchen geblieben, das ihm so stolz entgegengetreten war?

Ihr distanzierter Ton schreckte ihn ab und auch ihre Mutter wirkte enttäuscht. Die Gräfin stimmte einen Monolog auf die Vorzüge ihrer Tochter an, doch Archer hörte kaum hin. Das Feuer, das ihm an Lady Briannon aufgefallen war, war irgendwo zwischen der Landstraße und dem Ballsaal erloschen. Oder vielleicht, dachte er ein wenig schuldbewusst, hatte erst der Maskierte Räuber das Feuer entfacht. Mit ihrem Blusenkleid, dem blassen Gesicht und ihrem trübsinnigen Auftreten wirkte Lady Briannon fade. Es war wirklich ein Jammer.

Schließlich war Lady Dinsmore mit den Lobliedern auf ihre Tochter fertig. Deren Ohren hatten sich feuerrot verfärbt.

Briannon hatte wohl gespürt, dass die Qual bald vorbei sein würde, denn sie hob den Blick und sah ihn durch ihre tiefbraunen Wimpern an. Ihre Augen waren von einem funkelnden Haselnussbraun. Sie schaute ihn kurz an und wandte den Blick dann gleich wieder ab. Verdammt. Er hatte wohl ein grimmiges Gesicht gemacht. Archer versuchte, etwas freundlicher dreinzuschauen.

„Tanzen Sie gern Quadrille, Lord Hawksfield?“, zirpte Lady Dinsmore.

Lord Dinsmore hatte sich davon gestohlen, als seine Frau Lady Briannons positive Eigenschaften aufzählte, ebenso die anderen Männer und Frauen ringsum. Nur Countess Falthorpe war geblieben. Sie ließ ein dröhnendes Lachen hören, das sich für Damen eigentlich nicht gehörte. Doch als reiche Witwe fortgeschrittenen Alters hatte sie viele Freiheiten.

„Lord Hawksfield steht lieber, möglichst mit einem Glas Punsch, glaube ich“, sagte sie, immer noch belustigt.

Er hob sein Glas. „Das ist Whisky, Madam!“

„Aber junge Männer tanzen doch so gern Quadrille, nicht wahr?“, beharrte Lady Dinsmore. „Oder jedenfalls einen ländlichen Tanz? So eine Energie!“

In diesem peinlichen Augenblick hörte Archer, dass die Musik des Quartetts verstummte. Notenblätter raschelten, und dann ertönten die ersten Klänge eines Walzers. Lady Dinsmore hielt den Atem an. Es tat ihm beinahe körperlich weh.

„Was für ein Glück!“, rief sie.

„Mama!“, zischte Lady Briannon. „Das ist ein Walzer!“

Der Lieblingstanz seines Vaters, denn beim Walzer kam man der Frau viel näher als bei der Quadrille oder ländlichen Tänzen. Archer tanzte keinen Walzer. Natürlich kannte er die Schritte. Er wollte nur weder Müttern noch Töchtern Hoffnungen machen.

Er verzog den Mund und hoffte, dass es als Lächeln durchging. „Lady Briannons Tanzkarte ist sicher schon ausgefüllt.“

„Unsinn! Wir sind doch gerade erst gekommen. Es wäre eine Ehre für Sie, als Erster mit meiner Tochter zu tanzen, Lord Hawksfield.“

Das war eine dieser Mütter, die ihre Tochter verkuppeln wollte, dachte er. Es fehlt nur noch, dass sie sie mir in die Arme schubst.

Jetzt konnte er nicht mehr ablehnen, es wäre zu unhöflich gewesen. Er stellte sein Whiskyglas auf den Tisch mit den Erfrischungen und reichte Briannon den Arm. Er lächelte gezwungen und wünschte, er könnte in den Stall fliehen und mit Brandt eine Runde Karten spielen. Die unverhohlene Genugtuung auf Lady Dinsmores Gesicht war fast unerträglich.

„Lieber nicht“, sagte Briannon so leise, dass nur Archer es verstand.

„Wir wollen Mama doch nicht enttäuschen, oder?“, sagte er.

Sie sah ihn finster an, schob jedoch ihre behandschuhte Hand in seine, ohne zu widersprechen. Sie kniff die Lippen noch zusammen, als sie die Tanzfläche betraten und mit den anderen Paaren im Takt der Musik herumwirbelten.

Archer legte ihr den Arm um die Taille und nahm ihre Hand. Das Mädchen machte ein Gesicht, als wäre es auf dem Weg zum Galgen.

„Es ist gar nicht so skandalös, Lady Briannon“, murmelte er. „Angeblich tanzt man sogar bei Almack’s Walzer.“

Sie sagte nichts, während sie die Schrittfolge abarbeiteten. Archers Tanzkünste waren ein wenig eingerostet. Er hasste Tanzen aus tiefster Seele und der Dame ging es wohl auch so, denn sie war steif wie ein Holzklotz.

„Wie ich sehe, können Sie den Blick nicht von meiner Krawatte abwenden, Lady Briannon“, sagte er. Es war eine gute Gelegenheit, sie aufzuziehen, und er konnte nicht widerstehen. „Mein Kammerdiener wird sich freuen, dass Sie seine Arbeit zu schätzen wissen.“

„Sie sehen sehr gut aus, Mylord.“

„Sie auch.“

„Danke, Mylord.“

Archer biss sich auf die Zunge und tat, was von ihm erwartet wurde. Sie wirbelten zwischen den anderen Paaren über die Tanzfläche. Dann und wann streifte Briannons Körper den seinen, doch Archer ertappte sich dabei, dass seine Aufmerksamkeit abschweifte. Nicht einmal ein Blick auf ihren Ausschnitt war ihm vergönnt, denn leider war ihr Mieder hochgeschlossen. Er fing ein paar überraschte Blicke auf, darunter einen von seinem Vater, der mit keiner Geringeren als Lady Rochester tanzte. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Lady Briannons auch sehr hübsche Stirn und suchte nach einem Gesprächsthema für die scheue kleine Maus.

„Sind Sie oft in Ferndale?“, fragte er.

„Ja, Mylord. Wenn wir nicht in der Stadt sind.“

„Wie geht es Lord Northridge?“, hakte er nach. Er meinte ihren älteren Bruder. Er war ihm im Laufe der Jahre ein paar Mal begegnet. Sie hatten sich als Kinder gekannt, aber nie in den gleichen Kreisen verkehrt. Kein Wunder, dachte Archer, denn sein Bekanntenkreis war eher klein.

Soweit er sich erinnerte, galt Graham Findlay, Viscount Northridge, als gewandt mit dem Schwert, guter Kartenspieler, temperamentvoll und weiblicher Gesellschaft zugetan. Er war der erste Erbe des gewaltigen Vermögens seiner Familie und des Titels seines Vaters. Sie waren sich in der Vergangenheit begegnet, doch bei diesen Anlässen hatte Archer gefunden, dass der junge Viscount dem Herzog etwas zu ähnlich war – er war auch so vergnügungssüchtig. Aber vielleicht hatte Northridge sich in den letzten Jahren verändert? Brandt erwähnte dann und wann, der Viscount sei in Ferndale. Vielleicht war ihm das ruhige Leben in Essex mittlerweile lieber als der Trubel von London.

„Graham geht es gut, danke“, erwiderte Lady Briannon und übertönte kaum die Violinen. „Er hat soeben sein letztes Jahr in Oxford vollendet.“

Archer war sicher, dass die meisten jungen Damen, die auf der Jagd nach einem Ehemann waren, die Gelegenheit genutzt hätten, zu fragen, ob ihm das Studium Freude gemacht hatte. Sie hätten so getan, als hätten sie nie das Gerücht gehört, dass man ihn wegen schlechter Noten aus Eton hinausgeworfen hatte oder dass Cambridge ihn suspendiert hatte, weil er einen Boxverein gegründet und eine Spielhölle eröffnet hatte.

Lady Briannon starrte immer noch seine Krawatte an. Archer dachte an das Gespräch mit Briannon, nachdem sie aus der Kutsche ihres Vaters gestiegen war, und fragte sich, warum ihr Auftreten sich so verändert hatte. Er seufzte. Anscheinend war sie nur wegen des Verlusts ihres Schmucks außer sich gewesen, mehr nicht.

Er schaute nach unten und sah, dass Lady Briannon zu ihm aufblickte.

„Was ist?“, fragte er. Es klang schroffer als beabsichtigt. Es war schon das zweite Mal, dass sie ihm bei einem geheimen Gedanken ertappt hatte.

Einen Moment war er nicht sicher, ob sie antworten würde. Doch dann sah sie ihm in die Augen, und Archer fiel auf, wie energisch ihr Kinn wirkte, das ihn an einen geschliffenen Diamanten erinnerte. Er sah auch, dass sie ein paar winzige Sommersprossen auf der Nase hatte. Sie hatte versucht, sie zu überpudern.

„Es ist für mich genauso eine Qual wie für Sie“, sagte sie.

Er vergaß die Sommersprossen und starrte sie an. „Was haben Sie gesagt?“

„Ich glaube, Sie haben es gehört“, sagte sie und fügte milde hinzu: „Mylord.“

„Wie kommen Sie auf die Idee, dass es eine Qual für mich ist, mit Ihnen Walzer zu tanzen?“

Lady Briannon lächelte und dabei veränderte sich ihr Gesicht so sehr, dass er beinahe aus dem Takt kam.

„Weil Sie aussehen, als würden Sie in eine Zitrone beißen“, sagte sie. „Und da das nicht der Fall ist, denke ich, dass es entweder an meinen bescheidenen Tanzkünsten liegt – oder an den anderen Leuten im Saal.“

„Warum gibt es nur diese beiden Möglichkeiten?“ Archer konnte sich diese Frage nicht verkneifen.

Lady Briannons Lächeln wurde breiter. Auf ihrer linken Wange erschien ein Grübchen. „Ich hatte Unterricht bei den besten Tanzlehrern aus Paris. Und aus Italien. Mama hat darauf bestanden.“

Archer klappte die Kinnlade herunter, der Funke des Humors erlosch schnell. Bestimmt hatte die Gräfin bei der „Erziehung“ ihrer Tochter keine Kosten gescheut. Alle jungen Damen im Saal hatten einen Haufen nutzloser, oberflächlicher Dinge gelernt, und das nur, um sich einen Mann zu angeln. Sein Blick streifte seine Schwester, die in Richtung Ausgang huschte, und er verspürte einen Stich Mitleid. Vielleicht doch nicht alle Damen. Auch Eloise war die nötige Erziehung zuteil geworden, aber wegen ihrer Entstellung hatte sie kein Debüt gehabt. Doch sie war nicht an der Tragödie zerbrochen.

„Sehen Sie“, sagte Lady Briannon gerade, „ich fürchte, uns bleibt nichts anderes übrig, als den anderen die Schuld zu geben.“

Da lachte Archer, und mehr als nur ein paar Leute wandten den Kopf. Er unterdrückte es schnell. Er war nicht für Gefühlsausbrüche bekannt, schon gar nicht im Umgang mit einer unerfahrenen Debütantin.

Er ließ sie los und verbeugte sich, als die Musik aufhörte. „Sie haben recht, es liegt auf jeden Fall an den anderen hier. Sie tanzen sehr gut. Danke für den Walzer, Lady Briannon.“

Sie zögerte, als wäre sie von seiner Aufrichtigkeit überrascht. „Es war mir ein Vergnügen, Mylord.“

Er musterte sie. Das Wort „Vergnügen“, das über diese vollen Lippen kam, ließ ihn an einen anderen Zeitvertreib denken als an Tanzen. Er wusste jedoch, dass solche Wünsche unvernünftig waren. Also wich Archer einen Schritt zurück und hielt nach ihrer Mutter Ausschau, die sie beide mit unverhohlener Begeisterung beobachtet hatte.

Lady Dinsmore unterhielt sich gerade angeregt mit einem anderen Gast, aber er war sicher, dass sie gleich wieder auf sie beide zusteuern würde. Er wandte sich von Briannon ab und suchte nach seinem Whiskyglas, denn er wollte gehen. Leider war das Glas weggeräumt worden.

„Gut tanzen zu können, ist immer hilfreich für ein Mädchen, das in der Saison positiv auffallen will“, sagte er. Es war eine unbedenkliche, leidenschaftslose Bemerkung.

„Positiv auffallen“, echote Briannon. Dann gab sie einen Ton von sich, der verdächtig nach einem Schnauben klang. „Ich würde mich lieber von einer Klippe stürzen, als zu …“ Sie brach mit angewiderter Miene ab.

Archer neigte hoffnungsvoll den Kopf. „Als zu …?“

Briannon schloss den Mund, dann reckte sie ihr energisches Kinn und vollendete den Satz: „Als allen heiratsfähigen Herren präsentiert zu werden wie eine Zuchtstute.“

Archer blieb vor Verblüffung der Mund offen. Sie hatte seine Herausforderung tatsächlich angenommen.

„Kommen Sie“, sagte er und kümmerte sich nicht um die vielen Augenpaare, die sie beide beobachteten. Jetzt, da ihre kratzbürstige Seite zum Vorschein gekommen war, wollte er noch mehr davon sehen. „So schlimm ist es doch nicht. Zuchtstuten bekommen nicht jeden Tag mehrere Kleider und reichlich Schmuck.“

Briannons Augen weiteten sich. „So sehen Sie die Frauen, die Sie kennen? Als bloße Modepuppen?“

„Nicht die Frau, die ich zuletzt kennengelernt habe“, sagte er. Er wollte sie mit ihrem hässlichen grauen Kleid aufziehen. Das hatte er auf dem Waldweg getan und die Provokation war gelungen.

Aber diesmal nicht.

Sie sah so niedergeschmettert aus, dass Archer sich am liebsten geohrfeigt hätte. Sie kniff den Mund zusammen und das belustigte Funkeln in ihren Augen erlosch mit einem Schlag.

„Natürlich, Mylord“, sagte sie und errötete vor Verlegenheit. Sie raffte ihren Samtrock zusammen und warf einen erschrockenen Blick auf ihre Mutter, die sich durch die Menschenmassen einen Weg zu ihnen bahnte. „Würden Sie mich bitte entschuldigen?“

Archer starrte ihr nach, die Entschuldigung war ihm im Hals stecken geblieben. Seine Worte waren kalt und gleichgültig gewesen, doch er sollte sich deshalb nicht schuldig fühlen. Er sollte sich, was Lady Briannon betraf, überhaupt nicht schuldig fühlen. Er hatte nur eine Stunde zuvor ihre Kutsche überfallen und ihren Kutscher bewusstlos geschlagen. Schuldgefühle konnte Archer sich nicht leisten.

Aber diese junge Dame vereinte so viele Gegensätze – sie war in einer Minute langweilig und leblos und in der nächsten ein feuerspeiender Vulkan! Archer dachte daran, wie sich ihre kleine zierliche Gestalt beim Walzer in seinen Armen angefühlt hatte, und fragte sich eine Minute, was sich unter all diesen unschönen Hüllen aus Samt verbarg. Er schüttelte den Gedanken ab. Er sollte keine unnötigen Bande knüpfen, mit niemandem, nicht einmal mit seiner reizenden, wenn auch rätselhaften Nachbarin. Ja, Lady Briannon hatte sein Interesse geweckt – mit ihrem Mut bei dem Überfall und ihre gewagten Bemerkungen über die Pflichten einer Frau. Doch trotz dieses Aufblitzens von Intelligenz und Temperament war sie mit Sicherheit so wie alle anderen jungen Damen aus ihrer Kaste. Verwöhnt, anspruchsvoll und dumm. Er fand einfach keinen Geschmack an naiven Debütantinnen. Vorerst kam er mit ihr nicht weiter als bei den üblichen Begegnungen mit Frauen, denen es nichts ausmachte, wenn sie einander völlig fremd blieben. Sich mit einer Frau aus seiner gesellschaftlichen Klasse einzulassen, wäre Wahnsinn, vor allem jetzt, da offenbar jemand in der Nähe war und drohte, sein Geheimnis zu verraten und ihn zu ruinieren.

Viele hielten ihn für rücksichtslos, doch Archer hatte ein Gewissen. Keine Dame verdiente das Schicksal, das sie erleiden konnte, wenn er sie heiratete. Er atmete entschlossen durch. Nicht jetzt und erst recht nicht nach dem verdammten Drohbrief.