Leseprobe Das Cottage der Träume

Kapitel 1

St. Ives verschwand Mitte Mai unter einem grauen Schleier. Eine Wolkenbank schob sich vom Meer kommend Richtung Küste und warf ihren Schatten auf die Bucht. Ich lebte seit sechs Wochen in England und die Sonne war bisher ein seltener Gast gewesen. Vom Wetter mal abgesehen, gab es keinen anderen Ort, an dem ich lieber verweilte als in Großbritannien. Cornwall, malerisch an der Nordküste gelegen, gehörte seit jeher zu meinem Leben. Obwohl meine Eltern, beide gebürtige Briten, berufsbedingt nach Amerika auswanderten und ich in Arizona aufwuchs, war mein Herz stets in England zu Hause. Es gab rückblickend nichts Schöneres als die Aufenthalte und Sommerurlaube, die wir bei meiner Granny Rose Williams in deren Cottage im beschaulichen Örtchen Zennor verbrachten. Für mich hielt dieser Ort bis heute einen ganz besonderen Zauber inne … etwas Segensreiches, das auch die schmerzlichen Erfahrungen der letzten Jahre heilen konnte.

Plötzlich klapperte es. Ich richtete mich auf und blickte nach draußen. Heftige Windböen peitschten gegen die Fensterscheiben des Cafés Magic Roof, das ich zu meinem Lieblingsplatz in St. Ives, der nächstgrößeren Stadt in der Umgebung, auserkoren hatte. Ein Frühjahrssturm fegte erbarmungslos durch die Straße, wiegte Bäume hin und her und wirbelte Blütenblätter durch die Lüfte, als gerieten sie in einen alles aufsaugenden Strudel. Ich saß in der hintersten Ecke des Kaffeehauses und beobachtete das ungemütliche Treiben auf dem Gehsteig, froh, ein Dach über dem Kopf zu haben. Das Magic Roof besaß eine einzigartige und heimelige Atmosphäre. Es schien, als würden seine Gäste – zwischen Blümchentapeten, antiken Möbeln und auf Chesterfield Sofas sitzend – dem Alltagstrott entfliehen, sobald sie durch die Eingangstür schritten. Vielleicht war es für sie wie der Gang in eine andere Welt, in der man heimlich seinen Träumen nachhing, kniffelige Kreuzworträtsel löste oder aber Musik und Hörbüchern lauschte. Alles, was es neben ein paar Minuten Zeit für das eigene Wohlbefinden benötigte, war eine Tasse heißer Apfelpunsch. So dauerte es meist nicht lange, bis jeglicher Stress wie durch Zauberhand aus ihren blassen Gesichtern verschwunden war. Im Laden duftete es nach einem Hauch Zitrus, gemischt mit Kaffeespezialitäten aus aller Herren Länder und frisch gebackenen Scones, die schon in der Schaufensterauslage verführerisch auf sich aufmerksam machten. Mein Stammcafé Magic Roof war innen wie außen aufsehenerregend und einladend gestaltet, sodass man kaum daran vorbeigehen konnte, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Ein Reihenhaus mit Spitzdach, himmelblauer Fassade und passend lackierten Fensterläden, die bei Wind und Wetter herrlich klapperten. Geranien zierten zumindest in den Frühlings- und Sommermonaten die davor angebrachten Blumenkästen und sorgten für einen erfrischenden Farbkontrast. Das Magic Roof lag im Herzen von St. Ives, der berühmten Künstlerstadt Englands und hob sich mühelos von den traditionellen, steingrauen Gebäuden der Gegend ab. Ein Ort, der Ruhe, Entspannung und das beste Shortbread in der Umgebung versprach. Und obwohl ich meinen Besuch im Café minutiös auskostete, schweiften meine Gedanken unwillkürlich nach Arizona. Denn zwischen Jack und mir kriselte es heftig. Jack. Unser Abschied war frostig gewesen und weder er noch ich wussten, wie und ob es mit uns beiden weitergehen würde.

Kapitel 2

Aus dem Augenwinkel heraus betrachtete ich ein Pärchen, das Händchen haltend und kichernd das Café betrat und sich vielsagende Blicke zuwarf. Er, ein gut aussehender Mittvierziger, strich ihr regennasses Haar zurecht, ehe er seiner Angebeteten die Stirn küsste. Sie gab ihm zwinkernd einen Klaps auf den Hintern, dann nahmen sie an der hohen Fensterfront Platz und ihre Gesichter verschwanden hinter den Getränkekarten. Ich verharrte mit neidvoller Miene. Wann waren Jack und ich das letzte Mal so gelöst und glücklich gewesen? Ob er mich vermisste? All den Fragen zum Trotz bereute ich meine Entscheidung, für einige Zeit nach Cornwall zu reisen, keine Sekunde. Das letzte Mal, als ich in England war, wohnte ich der Beisetzung meiner Granny bei. Ihre Asche wurde dem Meer übergeben. Diesmal war ich hergekommen, um zu heilen. Wir hatten ein inniges Verhältnis zueinander, also nutzten wir jede Gelegenheit, um zu telefonieren. Granny hatte stets gute Ratschläge parat und immerzu ein offenes Ohr, hinzukommend eine erfrischende Prise britischen Humor, der so mancher Situation in der Vergangenheit die Krone aufgesetzt hatte. Es war schrecklich, dass sie nicht mehr unter uns weilte und in jenem Augenblick, einsam im Magic Roof sitzend und über die Zukunft sinnierend, fühlte ich mich mutterseelenallein. Gleichwohl war ich stark und wusste, dass das Leben auf der Erde begrenzt war, die Liebe in meinem Herzen jedoch nicht. In meiner Erinnerung würde sie bis zu meinem letzten Atemzug weiterleben. So motivierte mich die Trauer, das Beste aus meiner Ausgangslage zu machen, auch wenn ich erschöpft und gewissermaßen traumatisiert von meiner Vergangenheit war. Trostspendend war allem voran das schnucklige Cottage meiner Granny, das von dieser einzigartigen Landschaft umgeben war, und nächstes Jahr in meinen Besitz übergehen würde. Das Häuschen in Alleinlage ließ Granny vor Jahren nahe der Klippen und einer einsamen Sandbucht errichten. Umgeben von Hecken und Sträuchern, Wiesen und Weiden bot es den idealen Platz zum Entschleunigen. Der Geruch des Ginsters, der im Frühling die Luft mit zarten Pfirsichnoten versah, gepaart mit dem Salz des Meeres, betörte jeden meiner Atemzüge. Das Rauschen der See und Branden der Wellen klang wie eine Melodie in meinen Ohren, die mich morgens sanft weckte und abends in den Schlaf lullte. Es war mein persönlicher ‚place to be‘.

Mir war klar, dass die Möglichkeit, ein Haus an der englischen Küste zu besitzen, ein sehr großzügiges Geschenk war. Unzählige Menschen wünschten sich fortdauernd an einen anderen Ort, um endlich eine Auszeit von ihrem Alltag zu nehmen und neu anzufangen. Ich bekam diese Chance quasi vor die Füße gelegt und es lag an mir, trotz der Widrigkeiten in meinem Leben, das Beste daraus zu machen.

„Haben Sie noch Wünsche?“, fragte die Kellnerin und ich vernahm, dass in ihren Worten ein Hauch von Ungeduld mitschwang. Was war ihr Problem? War ich etwa schon zu lange in diesem Café? Ein Blick auf die Uhr bestätigte meine Annahme. Schamesröte stieg mir ins Gesicht, ehe ich verstohlen aufsah und ihr ein unschuldiges Lächeln zuwarf, das sie kühn erwiderte.

Der Akzent der Kellnerin brachte mich derweil zum Schmunzeln. Nach all den Jahren in Amerika redete ich längst nicht mehr wie eine Hiesige. „Nur die Rechnung bitte.“ Obwohl draußen weiterhin der Sturm tobte, wollte ich nach Stunden im Kaffeehaus wieder zurück nach Zennor. Das Einzige, was noch schlimmer war, als im Regen nach Hause zu laufen, war vermutlich den Weg ganz allein im Dunkeln zu gehen.

„Gerne. Einen Moment.“

Die Dame reichte mir den Kassenbon. Ich zückte mein Portemonnaie und legte das abgezählte Geld samt Trinkgeld vor mir auf den Tisch, zog mein Regencape über und verließ zügig das Café.

War es im Bistro noch mollig warm gewesen, blies mir nun der Wind gnadenlos ins Gesicht und pustete meine Haare in Augen und Mund. „Verdammt“, fluchte ich, denn ich hatte weder Gummistiefel noch einen Schirm bei mir, wobei Letzterer gewiss auf und davon geflogen wäre. Ich ließ mich am Vormittag vom Sonnenschein blenden, kleidete mich falsch und nun hatte ich den Salat. Englisches Wetter zu unterschätzen, war eigentlich ein typischer Touristenfehler! Die Bedingungen änderten sich stündlich. Ich sollte es besser wissen. Knurrend zog ich die Kapuze tief ins Gesicht und zurrte sie unter dem Kinn fest. In gebeugter Haltung und mit gesenktem Kopf stapfte ich die Stufen des Cafés hinab und quälte mich den ungeschützten Gehsteig entlang. Binnen weniger Minuten waren Boots und Jeans durchnässt. Es regnete Bindfäden. Bibbernd schlang ich meine Arme um den Körper. Mit einem Wolkenbruch musste man in Großbritannien zwar jederzeit rechnen, doch diesen hautnah mitzuerleben, war etwas ganz anderes. Der Wind pfiff mir um die Ohren und inzwischen prasselte der Regen so stark auf mein Gesicht ein, dass mir schier die Luft wegblieb. Es war eine Herausforderung, gegen die Böen anzukämpfen, die heulend durch die engen Gassen preschten und meinen Körper voranschoben. Meine Beine wurden bei jedem Schritt langsamer, als hätte ich Blei an den Füßen. Warum hatte ich mich an diesem Vormittag nochmals gegen das Autofahren entschieden? Der Fußmarsch nach St. Ives dauerte von meinem Cottage ausgehend etwa eine halbe Stunde. Da ich penibel darauf achtete, mich ausreichend an der frischen Luft zu bewegen, um fit und gesund zu bleiben, stellte das kein Problem dar. Eigentlich. Aber da meine Ausrüstung an diesem Tag jämmerlich war, wünschte ich mich just in ein Taxi, das mich schnellstmöglich und trocken in das mollig warme Cottage meiner Granny zurückbrachte. Wie blöd, dass weit und breit kein Fahrzeug in Sicht war und – wie sollte es auch anders sein – der Akku meines Handys streikte. In den Boots sammelte sich das das Wasser schneller als mir lieb war. Ach, was hätte ich nur für ein Paar Gummistiefel gegeben. Lediglich mein Regencape hielt, was es versprach, doch was machte das noch für einen Unterschied? Der Mairegen roch irgendwie eigenartig. Erdig und markant, vermischt mit eisiger Kälte, die ich im Frühling so nicht mehr erwartet hatte. Temperatursturz! Unter dem Vordach einer Boutique legte ich eine Verschnaufpause ein. Wie würde ich nach Hause kommen, ohne in den gefluteten Straßen schwimmen zu müssen? Ich erspähte ringsum keine Menschenseele und die Boutique hatte bereits geschlossen. Sollte ich besser zur nahe gelegenen Hauptstraße gehen und Trampen, um sicher nach Zennor zu gelangen? Aber war Trampen überhaupt sicher? Hilf mir, flehte ich mit Blick in den Himmel, unwissend, wem diese stumme Bitte galt.

„Keine gut durchdachte Kleidung für einen Spaziergang im Regen.“

Ich wirbelte erschrocken herum. Ein fremder Mann, von dem ich lediglich die Umrisse erkannte – ein breitschultriger Riese mit wuscheligem Haar und tiefer Stimme – kam wie aus dem Nichts auf mich zugeschritten und reichte mir höflich seinen aufgespannten Schirm, der schon ziemlich in Mitleidenschaft gezogen war.

„Als würde der noch was nutzen! Ich bin patschnass“, gab ich bissig zurück und wich zur Seite. Ob dieser Kerl anständig und vertrauenswürdig war?

„Tatsächlich. Sie sind so nass wie ein begossener Pudel.“ 

„Ist das englischer Humor?“ Dumme Sprüche waren das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte.

„Eher eine Redewendung.“ Er trat noch näher.

Ich spitzte die Lippen, denn im gedimmten Licht der Boutique sah der Fremde hinreißend aus. Gut gebaut, mit einem hübschen Gesicht und smaragdfarbenen Augen, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. Seine Haare schimmerten rötlich, was für einen Briten nicht ungewöhnlich war und waren vom Regen ganz krisselig und zerzaust.

Er lächelte verschmitzt. „Suchen Sie Ihr Hotel?“

„Ich befinde mich auf dem Heimweg.“

Er neigte den Kopf zur Seite und blickte so sanftmütig drein – wie ein kleiner Welpe, der geknuddelt werden wollte.

„Auf dem Heimweg? Sie sind doch Amerikanerin, oder täusche ich mich?“

„Amerikanerin mit englischen Wurzeln“, ergänzte ich stolz.

Der Schönling weitete erfreut seine Augen und fuhr sich durchs Haar. Im selben Moment stieg mir ein Hauch von rauchigem Whisky in die Nase, der mich an das benachbarte Schottland erinnerte.

„Tatsächlich? Aber vermutlich sind Ihre Heimatkenntnisse eingerostet, wenn ich mir Ihre Kleidung so ansehe …“ Ich quälte ein Lächeln hervor. „Ich bin Charlie.“ Der Jungspund reichte mir die Hand.

„Brown?“

„Nein“, er grinste amüsiert, „O’Sullivan. Charles Peter O’Sullivan. Aber ich bitte Sie – nennen Sie mich einfach nur Charlie.“ 

„Nun, einfach-nur-Charlie. Ich bin Ashley. Hopkins.“

„Und Sie kommen aus Amerika?“ 

„Arizona.“ 

„Oh, Arizona? Bemerkenswert. Dieses Wetter muss ein echter Klimaschock für Sie sein.“

„Ist nicht mein erster Besuch in der Gegend“, gab ich plump zurück. Charlie blinzelte. Ich musste im Stillen zugeben, dass er wirklich umwerfend gut aussah. 

„Hören Sie, Ashley Hopkins aus Arizona. Es wäre mir eine Ehre, Sie in meinem Wagen sicher nach Hause zu geleiten. Was halten Sie davon?“

Ich strauchelte. Natürlich war ich nicht abgeneigt, die Hilfe eines Einwohners anzunehmen. Das Wetter konnte ich wohl kaum noch ändern. Charlie war ein echter Kerl in seiner Lederjacke und den lässigen Regenstiefeln, die den Eindruck eines Cowboys am falschen Ort erweckten. Andererseits hatte ich Sorge, dass er mir etwas antun würde, weshalb ich skeptisch blieb. „Danke, aber ich komme schon zurecht“, log ich.

Er schüttelte schelmisch den Kopf. „Keine Bange, ich tue Ihnen nichts an. Als englischer Gentleman ist es mir ein Anliegen, Ihnen zu helfen. Ist das Wetter nicht Grund genug, meine Hilfe anzunehmen?“

Konnte er etwa Gedanken lesen? Ich sah ihm in die Augen und spürte kurzzeitig ein warmes, elektrisierendes Gefühl in meinem Unterleib aufflammen. Dieser O’Sullivan sah nicht nur ausgesprochen gut aus, er war ein anständiger Mann. Ja … mein Bauchgefühl sagte mir, dass ich ihm ruhig trauen konnte. Immerhin war er die Direktantwort auf mein Stoßgebet gewesen.

„Na gut, einverstanden.“

„Perfekt – warten Sie hier. Mein Wagen parkt gleich da vorn um die Ecke.“

Ich nickte, doch kaum war er ein paar Schritte gegangen, lief ich ihm hinterher und blieb atemlos vor ihm stehen. „Aber Charlie – ich halte Sie doch hoffentlich von nichts Wichtigem ab?“ Der gut aussehende Retter zwinkerte mir ganz entspannt zu.

„Oh, nein. Ich hatte ursprünglich vor, meinem Onkel einen Besuch abzustatten, aber da ich unangemeldet gekommen wäre, spielt es überhaupt keine Rolle, wenn ich mich verspäte. Nun, da Sie jetzt schon hier stehen – begleiten Sie mich zu meinem Auto?“

„Ich … ähm, ja … natürlich!“, haspelte ich nervös. Plötzlich spielte es keine Rolle mehr, dass es in Strömen regnete und wir in eine finstere Seitenstraße einbogen. Es war eher schicksalhaft mit einem Hauch Romantik, was nicht zuletzt an meiner gut aussehenden Begleitung lag, die sich als wahrlich ritterlich entpuppte. Ich fühlte mich wie eine Zeitreisende, als Charlie voller Stolz die Beifahrertür seines historischen Wagens öffnete. Ein Bentley S3 Steel Saloon aus dem Jahre 1963, wie er stolz anmerkte. 

„Mylady …“

Mein Herz schlug Saltos, als diese Worte aus Charlies Mund kamen. Wie aufmerksam er doch war. Er streckte seine Hand aus, um mir gentlemanlike in den Wagen zu helfen. Störte es ihn denn gar nicht, dass ich pitschnass war? Keinesfalls wollte ich schuld sein, wenn das sündhaft teure Leder des authentischen Autositzes Schaden nahm.

„Kommen Sie?”

Ich zögerte, griff zu, duckte mich und nahm mit gemischten Gefühlen auf dem Beifahrersitz Platz. Das Leder unter mir schmatzte vor Nässe, als ich mich vorsichtig zurücklehnte. Wie peinlich! Die Sitze bestanden aus einer gemeinsamen Bank und erinnerten eher an eine gemütliche Couch. Auch in seinem Auto roch es nach kräftig herben Whiskynoten, was ich auf eine Flasche Scotch im Fußraum zurückführte. Mein aufmerksames Auge war Charlie nicht entgangen.

„Keine Bange, Mylady. Die Flasche gehört meinem Cousin Ed. Ich habe höchstens mal einen kleinen Schluck davon probiert.“ Ich nickte halbherzig und hoffte, dass mein unerwarteter Chauffeur die Wahrheit sagte und weder ein Trinker noch ein heimtückischer Mörder war.

Während er freundlich lächelnd die Beifahrertür schloss, kämpfte ich gegen eine plötzlich aufsteigende Panik an. Mir wurde heiß, kalt, dann wieder heiß. Meine Gedanken und Spekulationen drehten sich wie das Rad einer Kornmühle. Was, wenn er wirklich ein komplett durchgedrehter Killer war? Ein Serienmörder, dessen Masche, fremden Frauen seine Hilfe anzubieten, sein heimliches, unterirdisches Beinhaus mit den Knochen unschuldiger Opfer füllte? Ich schluckte schwer, als er die Fahrertür öffnete und breit grinsend neben mir Platz nahm. Eigentlich sah er harmlos aus. Aber jedes Kind wusste, dass man bei Fremden nicht mitfährt. Charlie schien mein verkrampftes Verhalten zu bemerken. Er sah mir direkt in die Augen und fragte, ob alles in Ordnung sei. Sein Blick war voller Mitgefühl und Sorge, sofern ich es richtig deutete. Und diese Augen … Sie waren leuchtend grün mit winzigen Goldsprenkeln und strahlten wie der Spiegel eines Waldes, über dem die Sonne aufging.

„Ich denke schon“, murmelte ich. Ohne Zweifel wäre ich ein leichtes Opfer. Nicht nur, weil hier weit und breit kein Zeuge war – auch die Tatsache, dass er sich in Cornwall bestens auskannte, spielte ihm in die Karten. Mein Herz raste. „Vielleicht sollte ich doch lieber laufen …“

„Tatsächlich? Keine so gute Idee. Da draußen tobt ein Jahrhundertsturm!“ Er startete den Motor seines Bentleys. Es holperte. „Ich bringe Sie wohlbehalten nach Hause, Ashley, vertrauen Sie mir.“

Wenn er ein Killer war, dann wenigstens ein verdammt gut aussehender!

Als der Wagen anrollte, ruckelte es wie in einem Flugzeug bei Turbulenzen. Nun war ich mir nicht mehr sicher, was gefährlicher war: Charlie oder aber sein historisches Fahrzeug. „Wo wohnen Sie eigentlich?“, fragte er, ehe er das Auto wieder zum Stehen brachte. „Ich weiß ja gar nicht, wohin ich Euch geleiten darf, Mylady.“

„Ich wohne im Williams-Cottage in Zennor, falls Ihnen das geläufig ist.“

Er horchte auf. „Sie sind die Erbin? Machen Sie Witze?“

Fast beleidigt starrte ich in das verwunderte Gesicht des hübschen Briten und entdeckte ein Grübchen oberhalb seiner Wange. Es schmeichelte seinen ohnehin perfekten Gesichtskonturen, die wie in Stein gemeißelt schienen.

„Ich nehme an, Sie kennen das Cottage?“

„Ich bitte Sie, jeder kennt es. Rose war eine gute Freundin meines Vaters. Ihr Verlust tut mir sehr leid. Sie war eine wunderbare Frau, immer freundlich und einen saloppen Spruch auf den Lippen.“

Ich lachte gelöst. Der Bentley bahnte sich in Schrittgeschwindigkeit seinen Weg durch den strömenden Regen. Ich atmete erleichtert auf. Meine wirren Gedanken, dass Charlie ein kaltblütiger Mörder war, schob ich vorerst beiseite.

„Leider konnte meine Familie bei der Beerdigung nicht anwesend sein. Zu diesem Zeitpunkt waren wir in Deutschland bei Verwandten.“

Ich zwang mich zu einem Lächeln und als ich ihn genauer inspizierte, bemerkte ich plötzlich Schweißperlen auf seiner Stirn – dabei war es alles andere als heiß im Auto.

„Alles in Ordnung, Charlie?“

„Oh, ich versichere Ihnen, das haut mich aus den Socken.“ Er grinste. „Jeder im Ort liebt dieses außergewöhnliche Cottage und Sie sind die Glückliche, die es bewohnen darf. Es gäbe ein hervorragendes B&B ab, sofern man vorher den Wildwuchs bändigt und den Garten wieder auf Vordermann bringt. Sie wissen schon …“

Ich runzelte die Stirn. Der Garten war seit Jahren sich selbst überlassen. Sträucher, Büsche und Bäume schränkten nicht nur die Sicht auf das Haus ein, sondern verhinderten auch den Meerblick vom Cottage ausgehend. Grannys Garten wirkte eher wie ein Dschungelterrain, nur ohne all die exotischen Pflanzen und das Getier, das sich so im Regenwald tummelte. „Genau genommen habe ich erst einmal nicht vor, das Haus zu vermieten, wenngleich Ihre Idee wirklich interessant klingt.“ Charlie warf mir einen liebevollen Blick zu und die Worte, die daraufhin folgten, berührten mein Innerstes wie eine warme Umarmung, die von Herzen kam.

„Für mich sind Sie mit Ihrer toughen Art jetzt schon die perfekte Nachfolgerin! In diesem Sinne; herzlich willkommen in Cornwall, Mylady.“