Leseprobe Das Band der Schwestern

Kapitel 1

Isabella, Juli 2022

„Wie lautet der Name des Kindes?“

„Carl Mygin Ilsø“

Klar und hell klangen die Worte durch den hohen Kirchenraum. Isabella atmete tief durch. So weit, so gut. Sie hatte es geschafft, den Namen deutlich und ohne Zittern in der Stimme auszusprechen. Jetzt kam der schwierige Teil: An den richtigen Stellen ja zu sagen. Sie konzentrierte sich, um den Worten des Pfarrers zu folgen, der mit gemessener Stimme die Fragen des dänischen Glaubensbekenntnisses vortrug: „Carl Mygin Ilsø, glaubst du an Gott den Vater, den Schöpfer des Himmels und der Erde?“

„Ja.“

„Glaubst du an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn. Empfangen durch …“

Das Gewicht des schlafenden Kindes in ihren Armen hatte etwas Beruhigendes. Es erfüllte Isabella mit Stolz, dass sie es geschafft hatte, ihren Neffen wieder in den Schlaf zu wiegen, nachdem die Klänge der mächtigen Orgel ihn zum Anfang des Gottesdienstes aus seinem Nickerchen aufgeschreckt hatten. Ganz dumm stellte sie sich also nicht an, auch wenn ihre Schwester Dagmar so getan hatte, als könne sie ihr nur in Anbetracht der feierlichen Zeremonie für einige Minuten das Kind überlassen. Am liebsten hätte Dagmar den kleinen Kalle vermutlich selbst über die Taufe gehalten, um sicherzugehen, dass alles seine Ordnung hatte. Isabella schaute hinüber zu ihrer Schwester. Die schlanke Gestalt im einfachen, aber modischen Hosenanzug, die markanten Gesichtszüge unter der hellen Kurzhaarfrisur. Man sah ihr keine Spur von Aufregung an – natürlich nicht. Ebenso wenig, wie ihre sportliche Figur erahnen ließ, dass sie vor wenigen Monaten ein Kind geboren hatte. Dagmar hatte ihr Leben im Griff. Sie selbst hingegen … Isabella schob den Gedanken beiseite und ließ ihren Blick über die dunklen Holzbänke schweifen, die den Kirchenraum ausfüllten. Sie standen in seltsamem Kontrast zu den weißen Säulen und den mit Goldkanten verzierten gotischen Bögen, die die Dachkonstruktion trugen. Selbst an einem drückend heißen Sommersonntag wie heute saßen die Gottesdienstbesucher dicht gedrängt in der ehrwürdigen Trinitatis-Kirke, der Dreifaltigkeitskirche im Herzen Kopenhagens. Eine Kindstaufe war vermutlich immer etwas Besonderes – umso mehr, wenn der jüngste Spross einer bekannten Kopenhagener Familie getauft wurde.

Carl Mygin Ilsø. Isabella sah herab auf das flaumige Köpfchen ihres Neffen, das aus dem Spitzengeriesel des Taufkleides hervorlugte. Kalle schien noch immer fest zu schlafen, unbehelligt von all der Aufregung, die seinetwegen veranstaltet wurde, unbeschwert von dem Gewicht des traditionsreichen Namens, den er tragen sollte. Ob auch er dieses Gewicht einmal als drückend empfinden würde?

Beinahe hätte Isabella über ihren Grübeleien die Taufformel vergessen, und ihr „Ja“ auf die nächste Frage kam einige Augenblicke verspätet. Die letzten zwei Fragen folgten dicht aufeinander, dann war auch das überstanden.

„Carl Mygin Ilsø, ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen.“

Zaghaft lächelte Isabella ihrem Schwager Lars zu, als der breitschultrige Mann vortrat, um seinem Sohn, der beim Kontakt mit dem Taufwasser einige unzufriedenen Grunzlaute ausgestoßen hatte, mit einem Stofftuch behutsam das Haar abzutupfen. Der Kleine beruhigte sich sofort, seufzte tief und schlief wieder ein. Unwillkürlich huschte Isabellas Blick hinüber zu ihrem Großvater, der das Geschehen aufmerksam beobachtet hatte. Carl Ilsø Senior hielt sich ebenso rank wie Dagmar, die Familienähnlichkeit war nicht zu übersehen. Seinen über 80 Jahren zum Trotz stand er kerzengerade neben dem Taufbecken. Die hagere Gestalt mit dem glatt zurückgekämmten weißen Haar überragte noch immer alle anderen Männer, selbst Lars. Neben Carl Ilsø verblasste sogar das goldbestickte Messgewand, das der Pfarrer über dem schwarzen Talar trug. Isabella forschte in den scharf geschnittenen Zügen und glaubte, die Spur eines zufriedenen Lächelns darin zu sehen. Oder täuschte sie sich?

„Das haben wir doch gut über die Bühne gebracht, nicht wahr?“

Diesmal gab es keinen Zweifel an der wohlwollenden Stimmung des Familienpatriarchen, und Isabella nickte erleichtert. Der Gottesdienst war vorüber, und die Taufgesellschaft stand auf dem schmalen Rasenplatz vor der Kirche, wo sie eben vom Fotografen verewigt worden waren.

„Nur Isabella hat mal wieder geträumt. Ich dachte schon, du würdest das Antworten vergessen.“

Betroffen biss sich Isabella auf die Lippe und senkte den Kopf, um dem prüfenden Blick ihrer Schwester auszuweichen. Natürlich war ihr Moment der Unaufmerksamkeit Dagmar nicht verborgen geblieben.

„Es war kaum eine Sekunde“, nahm Lars Isabella in Schutz.

„Außerdem soll man nicht zu allem gleich ja und Amen sagen, so etwas will gut überlegt sein. Wie ist es, Mädchen, leihst du einem alten Mann deinen Arm?“

Überrascht starrte Isabella ihren Großvater an. Das konnte nur ein Scherz sein. Carl Ilsøs Miene war undurchdringlich, doch in seinen blauen Augen lag noch immer dieser Ausdruck, den sie nicht recht deuten konnte. War es Freude oder eher Besitzerstolz, eine Art verwegener Triumph? Isabella schritt an der Seite ihres Großvaters die Straße entlang, die von der Trinitatis-Kirke und dem Rundetårnet, dem runden Turm, auf das Schloss Rosenborg und die barocke Anlage von Kongens Have zu führte. Es war ungewohnt, so an der Spitze einer Gruppe zu gehen. Schon als Kind bei Schulausflügen war Isabella immer hinter allen anderen zurückgeblieben. Die heutige Marschordnung hatte jedoch nichts damit zu tun, dass Carl Ilsø seines Alters wegen eine Stütze benötigte, soviel verstand sie. Eher war sie es, die Mühe hatte, mit seinen langen Schritten mitzuhalten. Der Rest der Taufgesellschaft folgte ihnen wie ein Kometenschweif. Natürlich war es Carl, der darauf bestanden hatte, dass sie den Weg von der Kirche zu seiner geräumigen Herrschaftswohnung in der Gothersgade, wo die Tauffeier stattfinden sollte, zu Fuß zurücklegten. Nicht einmal Dagmar hatte es gewagt, dem Großvater zu widersprechen, obwohl Isabella sich sicher war, dass ihrer Schwester dieses „Schaulaufen“ auf dem Präsentierteller ebenso zuwider war wie das altmodische, rüschenbesetzte Taufkleid. Möglichst unauffällig versuchte Isabella, sich während des Gehens nach den anderen umzudrehen: Da gingen Lars und Dagmar mit Kalle im Kinderwagen, eines dieser hypermodernen dreirädrigen Modelle, die aussahen wie die Baby-Version eines Formel-1-Flitzers. Dann kamen ihre Eltern. Ihre Mutter hatte sich beim Vater untergehakt, er aber sah zu Boden wie peinlich berührt. Wie Isabella ihren Vater kannte, waren ihm die neugierigen Blicke der Passanten noch unangenehmer als Dagmar. Doch Ingolf Ilsø hatte die Planung des Festes ganz Carl überlassen, und selbst ihre Mutter hatte sich herausgehalten. Sicher hatten ihre Eltern Dagmar gebeten, um den lieben Friedens Willen mitzuspielen, denn sonst hätte ihre Schwester bestimmt nicht zugelassen, dass so einfach über sie und ihren Sohn verfügt wurde. Isabella blickte erschrocken auf, beinahe wäre sie gestolpert. Sie beschleunigte den Schritt, um sich Carls Tempo anzupassen. Er genoss jede Sekunde des Spaziergangs, das merkte sie deutlich. Geschickt steuerte er um Gruppen von Touristen herum, die gemächlich einher schlenderten und nach den Wahrzeichen der Stadt Ausschau hielten. Dann und wann grüßte und nickte er würdevoll nach rechts oder links, wenn er auf jemanden traf, der ihm offenbar bekannt war. Ein Mann in seiner Position hätte sich ohne weiteres ein luxuriöses Anwesen vor der Stadt kaufen oder gar selbst konstruieren können, aber er war hiergeblieben, im Herzen der Stadt. Hier war Carl Ilsø der ungekrönte König, der Bau-König von Kopenhagen mit seinem Gefolge. Und wer war Isabella? Sein kleines Blumenkind vielleicht, an dessen Seite er sich in der Öffentlichkeit gern sehen ließ? War das alles, wozu sie taugte? Dem Selbstbewusstsein einflussreicher Männer einen dekorativen Rahmen zu verleihen? Isabella schluckte den bitteren Gedanken hinunter und blickte scheu zu dem Mann an ihrer Seite auf. Gern hätte sie mit ihm gesprochen, ihm Fragen gestellt. Dies war sein Revier, seine Stadt. Sicher hätte er ihr viel über Kopenhagen erzählen können. Über die Trinitatis-Kirke und den Runden Turm, das berühmten Stadtwahrzeichen mit seiner charakteristischen halbrunden Kuppel, das einst als astronomisches Observatorium gebaut worden war. Über das Schloss Rosenborg und den barocken Schlossgarten, dessen schnurgerade Wege und symmetrisch angelegte Beete sie nun auf der gegenüberliegenden Seite der Gothersgade erkennen konnte. Die herrschaftliche Wohnung mit den hohen Decken, dem blanken Parkett und den blitzenden Messingleuchtern war Isabella schon immer wie eine fremde Welt erschienen – bewundert und gefürchtet zugleich. Es war ein Ort, den man auf Zehenspitzen und mit angehaltenem Atem betrat. Bei ihren wenigen Besuchen war es ihr wie ein Sakrileg vorgekommen, dort zu schlafen, auch wenn es mehr als genügend Zimmer gab. Ihr Großvater, soviel hatte Isabella schon als Kind begriffen, musste in jedem Fall ein wichtiger Mann sein, wenn er eine solche Wohnung sein Eigen nannte, mit einem Balkon vor seinem Arbeitszimmer, von dem aus er direkt in den königlichen Garten blicken konnte. Bestimmt, so hatte sie es sich damals ausgemalt, kam Königin Margarethe jeden Tag persönlich hierher, um Carl Ilsø in der einen oder anderen Angelegenheit um Rat zu fragen. In Wirklichkeit war ihr Großvater der königlichen Familie vermutlich höchstens eine Handvoll Male bei offiziellen Anlässen begegnet. Dennoch war Isabellas Scheu vor Carl Ilsø geblieben. Wenn es ihr doch endlich gelingen würde, sie zu überwinden! Man sollte meinen, dass sie dazu reichlich Gelegenheit gehabt hätte in den letzten Tagen. Schließlich war sie als Einzige bei ihrem Großvater einquartiert worden, während ihre Eltern in Dagmars und Lars Wohnung übernachteten. Aber Carl Ilsø schien nicht geneigt zu sein, in irgendeiner Weise von seinen Gewohnheiten abzuweichen. Selbst die ältliche Wirtschafterin Frau Ekberg, die jeden Tag zum Putzen und Aufräumen kam, wirkte irritiert von Isabellas Anwesenheit. Also hatte Isabella einfach versucht, so wenig wie möglich zu stören. Auch jetzt schaffte sie es nicht, das Wort an Carl zu richten, bevor sie vor der Haustür angekommen waren. Es war eher ein Palais als ein Haus, und die Tür bestand aus wuchtigem Mahagoni. Daneben prangte das blanke Messingschild einer Anwaltskanzlei, die im Erdgeschoss unter der Wohnung des Großvaters ansässig war. Carl Ilsø schien Isabella völlig vergessen zu haben. Er schaute auf sie herab, als sähe er sie gerade zum ersten Mal. Stumm schob er sie eine Armeslänge von sich und betrachtete sie unverwandt. Als Isabella es endlich wagte, den Blick zu heben, sah sie eine steile Unmutsfalte auf der Stirn ihres Großvaters. Sie hatte gar nichts gesagt, was also konnte sein Missfallen erregt haben? War es etwas an ihrer Kleidung oder ihrer Frisur? Hätte sie ihr helles Haar lieber hochstecken sollen, anstatt es offen zu tragen, damit es ordentlicher aussah? Nein, sein Blick war starr auf den Kragen ihrer Sommerbluse gerichtet. Natürlich, dachte Isabella, die Brosche. Noch heute Morgen hatte sie es hübsch gefunden, wie die leuchtenden Farben der glasierten Keramikbrosche sich von dem hellen Stoff ihrer Bluse abhoben. Schon als Kind war sie nie müde geworden, die Brosche zu betrachten, sie zwischen den Fingern hin- und her zu drehen. Auf den ersten Blick fiel nur das Zusammenspiel der Farben ins Auge, doch wenn man eine Weile genauer hinsah, erkannte man die Gesichter. Es waren zwei, einander zugewandt. Zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen vielleicht, mit lachenden Gesichtern und fliegendem Haar vor einem blauen Hintergrund, der ein Stück Himmel darstellen konnte. Zumindest hatte sich Isabella es immer so vorgestellt. Das Schmuckstück musste handgefertigt sein, doch Isabella hatte nie herausbekommen, von wem.

Es war ihr Großvater, Carl Ilsø selbst, von dem sie die Brosche bekommen hatte. Sie erinnerte sich genau: Es war bei einem ihrer Besuche in Kopenhagen gewesen, zehn oder elf Jahre war sie damals alt. Noch mehr als heute hatte sie sich damals anstrengen müssen, die fremde Sprache zu verstehen, auch wenn ihr Vater zu Hause in Leipzig mit ihr, Dagmar und der Mutter Dänisch sprach. Aber Ingolf Ilsø war, wenn er endlich einmal daheim war, ein wortkarger Mann. Selbst während ihrer obligatorischen Familienbesuche in Kopenhagen hatte er nie viel geredet, obgleich es sein Vater war, den sie besuchten. Aus irgendeinem Grund war Isabella damals eine Weile in dem riesigen Gästezimmer allein gewesen. Obwohl die Mutter ihr streng verboten hatte, irgendetwas anzufassen, hatte die Langeweile irgendwann überhandgenommen. Behutsam hatte sie die wuchtige Holztür des ausladenden Kleiderschranks geöffnet und ihr schlechtes Gewissen mit der Rechtfertigung zum Schweigen gebracht, dass sie ja nichts anfassen wollte. Nur mal gucken.

Der Schrank hing voller Damenkleider und Mäntel, was Isabella seltsam fand, denn der Großvater lebte ganz allein in der großen Wohnung. Außer der Haushälterin, die ihr damals fast ebenso viel Respekt eingeflößt hatte wie Carl Ilsø selbst, hatte Isabella hier noch nie eine Frau gesehen – schon gar keine, von der sie sich vorstellen konnte, dass sie solche Kleider trug. Überwältigt hatte sie die leuchtenden Farben angeschaut. Eine Zeit lang hatte der Gedanke, dass Frau Ekberg es sicher sofort merken würde, wenn auch nur eine Kleiderfalte verrutschte, ihrer Neugier einen Dämpfer aufgesetzt. Schließlich jedoch hatte sie nicht widerstehen können und mit den Fingern über die Stoffe gestrichen, denen ein leichter, blumiger Parfümduft anhaftete wie ein Gruß aus einer fernen Zeit. Denn dass es sich nicht um moderne Kleidung handelte, war Isabella sofort klar gewesen. Sie hatte Ähnliches in Filmen gesehen aus den Siebzigerjahren – der Zeit, in der ihre Eltern geboren waren. Die Brosche hatte Isabella schließlich am Revers eines langen Mantels entdeckt. Vorsichtig hatte sie die Anstecknadel aus dem Wollstoff gelöst, um das Schmuckstück genauer zu betrachten. Das Klappen der Gästezimmertür hatte Isabellas Entdeckerfreude ein jähes Ende bereitet. Plötzlich hatte ihr Großvater in der Tür gestanden, wie ein Riese war er vor ihr aufgeragt. Isabella war mitten in der Bewegung erstarrt und hatte es nicht einmal fertig gebracht, die Brosche rasch in der Faust verschwinden zu lassen.

„Gefällt dir wohl, wie?“, hatte Carl Ilsø knapp gefragt. „Meinetwegen, behalte sie.“ Und dann hatte er den Arm ausgestreckt, um über Isabellas Schulter hinweg mit Nachdruck die Schranktür zu verschließen. Isabella hatte es nicht gewagt, Fragen über die Brosche oder die Kleidung in dem Schrank zu stellen – nicht in jenem Moment, und auch später nie. Als sie ihren Großvater das nächste Mal besuchte, war der Kleiderschrank leer gewesen.

Nein, sie hätte nicht ausgerechnet heute diese Brosche anstecken sollen. Unter dem scharfen Blick, mit dem Carl Ilsø sie jetzt musterte, kam sie sich wieder wie ein ertapptes Schulmädchen vor. Schließlich drehte Carl sich abrupt um und ging wortlos ins Haus. Isabella blieb noch einige Minuten auf dem Bürgersteig stehen und ließ den Rest der Familie passieren, bevor sie das Gebäude betrat.

Kapitel 2

Isabella, Juli 2022

„Darf man gratulieren?“

„Wie bitte? O ja, natürlich. Danke schön.“

Vorsichtig lächelte Isabella zu dem jungen, dunkelhaarigen Mann auf, der scheinbar lässig über das Treppengeländer gelehnt dastand und zu ihr hinabblickte. Er war just in dem Moment die Treppe hinuntergekommen, als Isabella sich anschicke, nach den anderen Taufgästen die Wohnung ihres Großvaters zu betreten. Irgendetwas an dem Mann kam ihr vage bekannt vor. Wohnte er hier im Haus?

„Du weißt nicht mehr, wer ich bin, oder?“

Der Mann musste bemerkt haben, wie Isabella ihn verstohlen musterte. Er lächelte noch immer auf eine Weise, die Isabella die Röte ins Gesicht trieb.

„Isabella – oder darf ich immer noch Libella sagen?“ Isabella hob ruckartig den Kopf, als sie ihren vertrauten Spitznamen aus Kindertagen aus dem Mund des fast völlig Fremden hörte. Dann kam die Erinnerung zurück, und sie biss sich auf die Lippe, um ein Stöhnen zu unterdrücken.

Richtig, ihre Abiturfeier vor vier Jahren. Auch zu diesem wichtigen Anlass hatte es sich ihr Großvater nicht nehmen lassen, ein Fest auszurichten und alle Leute einzuladen, die ihm wichtig erschienen. So kam es, dass Isabella zwar ihr Abitur an einem Leipziger Gymnasium bestanden hatte, die Feier aber in Kopenhagen stattfand mit Gästen, von denen Isabella außer ihrer eigenen Schwester kaum jemanden kannte. Sicher, fast alle waren im gleichen Alter gewesen – die Sprösslinge der einflussreichen Kopenhagener Familien, mit denen Carl Ilsø verkehrte. Dennoch hatte es reichlicher Mengen an Alkohol bedurft, um die Stimmung zu lockern. Isabella, die nicht ans Trinken gewöhnt war, hatte recht verschwommene Erinnerungen an den Verlauf des Abends. Ja, sie war diesem Jungen begegnet. Soweit sie wusste, war er nur wenige Jahre älter als sie und arbeitete damals bereits für ihren Großvater, obwohl er noch studierte. Hatte er zu dieser Zeit auch schon hier gewohnt? In dem Fall musste die Arbeit sich wirklich lohnen, oder er musste anderweitig über gute Beziehungen verfügen. Eine Wohnung im zentral gelegenen Stadtteil Frederiksberg, selbst wenn es nur ein Dachgeschosszimmer war, konnte sich kaum jemand in ihrem Alter leisten, der nicht mit dem viel zitierten Silberlöffel im Mund geboren worden war. Aus irgendeinem Grund fand Isabella diese Erkenntnis ernüchternd. Bei ihrer Abiturfeier war der junge Mann ihr sympathisch gewesen. Er war weniger laut und raumgreifend als die anderen, schien ehrlich an ihr interessiert und auf eine bodenständige Art und Weise humorvoll. Sie erinnerte sich, dass er sie zum Lachen gebracht hatte. Sie hatten sich unterhalten und sogar getanzt. Jetzt allerdings fragte sie sich beklommen, was sie ihm noch alles über sich erzählt hatte, und ob er etwa jedes Detail über die Jahre hinweg im Kopf behalten hatte. Was sagte das über den Charakter eines Menschen aus?

„Äh, Sie sind … Du bist Rune, richtig?“ Immerhin, der Name fiel ihr ein, auch wenn sie sich erst wieder daran gewöhnen musste, dass sich in Dänemark alle Leute duzten.

„Ja, und … Nichts für ungut, ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen. Vergiss einfach, was ich gesagt habe.“ Plötzlich wirkte der Mann namens Rune überhaupt nicht mehr lässig, sondern geradezu unsicher. Vielleicht hatte er einfach nur nett sein wollen? Isabella entspannte sich ein wenig.

„Das ist schon okay“, erwiderte sie.

In dem Moment streckte Dagmar den Kopf aus der Wohnungstür und rief halblaut: „Isa, kommst du?“ Sie wirkte völlig ruhig. Man musste sie so gut kennen wie Isabella, um den gereizten Unterton in ihrer Stimme wahrzunehmen. Einen Augenblick später entdeckte Dagmar den jungen Mann und warf der Schwester unter gerunzelten Brauen einen langen Seitenblick zu, doch Rune schien nichts davon zu bemerken.

„Hej, du bist Dagmar, nicht wahr? Herzlichen Glückwunsch zur Taufe. Vielleicht erinnerst du dich nicht an mich. Ich bin Rune, Rune Conradsen. Wohne oben im Dachgeschoss. Darf ich später zum offiziellen Gratulieren vorbeikommen und das Baby mal sehen?“

„Ja, natürlich.“ Dagmar besann sich auf ihre Umgangsformen und lächelte unverbindlich. „Freut mich, dich zu sehen Rune. Bis später.“

Resolut packte sie Isabella am Handgelenk und zog sie in die Wohnung.

Isabellas Fehlen an der langen Festtafel konnte kaum jemandem aufgefallen sein. Eben begann die traditionelle Begrüßungsansprache ihres Großvaters, und im Anschluss stießen alle Gäste auf das Wohl des kleinen Stammhalters an. Sowohl Dagmar als auch ihre Mutter hatten scheinbar mühelos den Dreh heraus, höfliche Konversation mit ihren Gästen zu betreiben und zwischendurch immer wieder den geschäftig hin- und her eilenden Serviererinnen zur Hand zu gehen. Der strenge Blick, mit dem Frau Ekberg das Geschehen überwachte, konnte sie nicht aus der Fassung bringen. Isabella hingegen fühlte sich ungelenk und fehl am Platz. Sie sah sich nach ihrem Vater um, doch selbst Ingolf Ilsø schien sich an diesem Tag inmitten einer Gruppe von Männern gut zu unterhalten. Vielleicht waren es Berufsgenossen, Ingenieure oder andere Baufachleute, mit denen er kniffelige technische Probleme erörterte, denn für Smalltalk hatte ihr Vater noch nie etwas übrig gehabt. Immer wieder klingelte es an der Tür. Isabella nahm Glückwünsche entgegen, bedankte sich artig, arrangierte Blumen, Grußkarten und Pakete auf dem Gabentisch, der in einem der Gästezimmer aufgebaut war. Das immerhin konnte sie tun, um sich nicht völlig unnütz vorzukommen. Außerdem war es leichter, die nagenden Gedanken an ihre Zukunft auf Abstand zu halten, solange sie hier und jetzt beschäftigt war. Irgendwann hatte sie den Überblick über die Gratulanten verloren. Den jungen Mann namens Rune Conradsen hatte sie bisher nicht gesehen. Dann und wann schielte sie nach dem kleinen bunten Päckchen, das sie selbst auf den Gabentisch gelegt hatte. Was Dagmar wohl sagen würde, wenn sie es öffnete? Der Inhalt des Päckchens war das Werk einer einzigen durchwachten Nacht. Der tiefblaue, samtige Stoff war Isabella sofort ins Auge gefallen, als sie am späten Abend ruhelos durch die Straßen getigert war. Sie hatte ihn gekauft, sich daheim in ihrem ehemaligen Kinderzimmer über ihren Zeichenblock gebeugt und innerhalb weniger Minuten das Motiv entworfen, das sie später mit ihrer elektronischen Nähmaschine auf den kleinen blauen Samtpulli aufstickte. Es zeigte die Dächer Kopenhagens unter dem Sternenhimmel, mit der markanten Kuppel des Runden Turms im Vordergrund. Das gleichmäßige Rattern der Nähmaschine war Balsam gewesen für Isabellas aufgewühlte Seele, und als der Morgen graute, war sie mit ihrem Werk zufrieden. Sie hoffte, dass Dagmar sich auch freuen, und dass der kleine Carl den Pulli tatsächlich tragen würde. Immer wieder schlich sie an den anderen Gästen vorbei in die Ecke des großen Wohnzimmers, wo ihr Neffe etwas abseits von dem übrigen Getümmel auf seinem bunten Spielteppich lag und sich mit großen Augen umsah. Er war bereits von einem Schoß zum nächsten weitergereicht worden und hatte die Gäste mit seinem zahnlosen Lächeln entzückt. Jetzt schien er wieder müde zu werden. Eine Weile sah Isabella zu, wie die winzige Brust sich gleichmäßig hob und senkte, und die blauen Augen zuzufallen begannen. Dann ging sie hinaus. Im Korridor traf sie auf Lars, der vor dem Garderobenspiegel nervös an seiner Krawatte nestelte, sich mehrmals kräftig räusperte und einen zerknitterten Zettel aus seiner Hosentasche zog.

„Willst du etwa eine Rede halten?“, fragte sie überrascht.

Er nickte. Seine angespannte Haltung zeigte Isabella deutlich, dass der stille Lars sich nicht eben darauf freute, vor den zahlreichen Besuchern zu sprechen. Sie hätte einwenden können, dass das gar nicht nötig sei, schließlich hatte ihr Großvater bereits im Namen der Familie alle Gäste begrüßt. Aber darum ging es nicht, verstand sie. Carl Ilsø mochte für heute die Gastgeberrolle übernommen haben, der Familienvater jedoch war Lars. Ihr Schwager hatte zwar ein ruhiges Gemüt, wusste aber auf seine bedächtige Art durchaus, was er wollte. Er würde es sich nicht nehmen lassen, das zu tun, was er für seine Pflicht hielt.

„Warte mal.“ Isabella trat näher an ihn heran, lockerte seinen Krawattenknoten ein wenig und zog den schiefen Schlips glatt.

„So, jetzt ist es besser.“ Aufmunternd legte sie ihre Hand auf seinen Unterarm. Da trat Dagmar auf den Flur hinaus und betrachtete die beiden mit einem fragenden Blick.

„Lars möchte eine Rede halten“, erklärte Isabella im Flüsterton. „Könntest du …“ Erst sah es so aus, als wollte Dagmar etwas einwenden, doch dann nickte sie und ging zurück in Richtung Wohnzimmer. Wenige Sekunden später hörte Isabella, wie ein Löffel rhythmisch gegen ein Glas klirrte. Die Aufmerksamkeit der Gäste war geweckt. Von der Rede bekam Isabella nur die ersten Worte mit. Kalle, der eben noch kurz vorm Einnicken gewesen war, machte sich mit einem leisen Jammerlaut bemerkbar. Sicher wäre Dagmar sofort aufgesprungen, wenn ihr Mann nicht eben in diesem Moment ihre Hand genommen hätte. Stattdessen war es Isabella, die ihrer Schwester ein tonloses „Ich gehe“ zuflüsterte, sich von der Festtafel wegschlich und mit dem Kleinen im Arm den Raum verließ. Diesmal jedoch gelang es ihr nicht, ihren Neffen wieder zu beruhigen. Auch zum Spielen und Umherschauen war er nicht mehr aufgelegt.

„Was hat er nur?“, sorgte sich Dagmar, als selbst sie es nicht mehr schaffte, ihren Sohn zu trösten. „Ich glaube, er bekommt Fieber. Seht mal, er hat ganz glasige Augen. Wenn er nur nicht krank wird, das hätte uns gerade noch gefehlt!“ Dagmars ruhige Selbstsicherheit bekam deutliche Risse. Dies war etwas, das sie nicht unter Kontrolle hatte.

„Vielleicht ist es einfach die Hitze heute, die ungewohnte Umgebung und die vielen Leute“, beschwichtigte Lars.

„Oder das erste Zähnchen ist unterwegs“, meinte die Mutter. „In diesem Alter ist das ganz normal, da kann man nichts machen.“ Trotz ihrer beruhigenden Worte und ihres aufmunternden Lächelns wirkte auch sie nervös. Hier, bei diesem großen Fest im vornehmen Rahmen, war Kinderweinen offenbar nicht angebracht, selbst wenn es eine Kindstaufe war. Die Gäste wollten den Täufling gern anschauen, darüber debattieren, wem er ähnelte, oder ihn eine Weile auf dem Arm halten – solange er friedlich blieb. Isabella bot an, mit dem Kinderwagen einen Spaziergang zu machen, und nach einigem Zögern stimmte Dagmar zu. Isabella atmete auf, als sie endlich die überfüllte Wohnung und Dagmars gefühlte hundert Ermahnungen hinter sich gelassen hatte. Sie wusste genau, wohin es sie zog. Ihr Neffe mochte im modernsten Sport-Kinderwagen liegen, den der Markt zu bieten hatte, und der dazu geschaffen war, einen Marathon zu laufen – sie würde trotzdem damit spazieren. Im Schatten der hohen Bäume ging Isabella langsam die Kieswege von Kongens Have, des Königlichen Gartens entlang. Hierher konnte selbst die schlimmste Nachmittagshitze nie ganz vordringen. In der Nähe des Spielplatzes, dessen Zentrum ein märchenhafter Lindwurm mit langem Schwanz und ein Drachenei aus schwarzem Granit bildete, hob Isabella Kalle aus dem Wagen, strich sein verschwitztes Haar glatt und setzte sich mit ihm auf eine Bank.

„Schön hier, nicht wahr? Schau!“ Sie lächelte unwillkürlich, als das Kind verstummte und sich umzusehen begann. Dann jedoch wurde ihr mit einem Schlag ihre ganze verzweifelte Lage bewusst, und die Gedanken, die sie bisher erfolgreich verdrängt hatte, stürmten auf sie ein. Hier saß sie mit ihrem Neffen, sozusagen im Schoße ihrer Familie, mitten in dieser märchenhaften Stadt, in der ihr Vater zu Hause war, und war doch heimatlos. Die letzten Tage über hatte allein der Gedanke an die bevorstehende Familienfeier sie aufrecht gehalten. Wenn sie auch sonst nicht wusste, wie es weitergehen sollte – nach Kopenhagen fahren und ihren Neffen über die Taufe halten, wie sie es versprochen hatte, das musste sie einfach tun. Sie würde Dagmar und das Vertrauen, das die Familie in sie setzte, nicht enttäuschen. Doch nun ging das Fest seinem Ende zu, und was sollte danach werden? Natürlich konnte Isabella nach Leipzig zurückkehren, vorübergehend in ihrem alten Kinderzimmer wohnen, bis sie etwas anderes gefunden hatte, und ihr Studium der Kunstgeschichte wieder aufnehmen. Brotlose Kunst, wie Kilian es lächelnd genannt hatte. Kilian und sein Lächeln. Auch über die wenigen Kommilitoninnen, mit denen sie sich außerhalb des Studiums traf, hatte er gelächelt – und sie hatte die Kontakte einschlafen lassen. Wenn sie jetzt daran zurückdachte, schämte sie sich ihrer Schwäche. Es war nichts, das sie bewusst beschlossen hatte. Nein, es geschah einfach ganz allmählich, sodass sie es zunächst kaum bemerkte. Kilians Lächeln war wie die Sonne gewesen, die sie wärmte. In seiner Nähe war sie aufgelebt, neben ihm war alles andere verblasst. Und jetzt, nachdem er seinen Glanz endgültig von ihr ab und einer anderen atemlosen Bewunderin zugewandt hatte, wusste sie kaum, wie sie weiterleben sollte. Sie war ein Niemand. Doch vielleicht war es gar nicht so schlimm, hier in Kopenhagen ein Niemand zu sein. Vielleicht konnte sie hier wieder zu jemandem werden. Konnte die Sprache besser sprechen lernen, neue Bekanntschaften schließen, Tätigkeiten finden, die ihr Freude bereiteten und Orte, an denen sie sich wohlfühlte. Auch wenn ihr Großvater Carl Ilsø kaum zugänglicher geworden war als früher – der kleine Kalle jedenfalls schien sie zu mögen, das war immerhin ein Anfang.

„Darf ich mich zu dir setzen?“ Isabella schrak aus ihren Gedanken auf, als eine ältere Dame sie ansprach, und blinzelte verwirrt. Es fühlte sich noch immer ungewohnt an, von Fremden geduzt zu werden. Vermutlich war es eher Kalle, für den die Passantin sich interessierte. Vielleicht hatte sie selbst Enkelkinder. So nickte Isabella hastig, und die Dame setzte sich neben sie. Tatsächlich dauerte es nicht lange, ehe sie sich zu dem Jungen hinüberbeugte.

„Ja, das ist was Hübsches, was Mama da hat.“

„Tante“, erwiderte Isabella mechanisch. „Der Kleine ist mein Neffe.“ Erst da bemerkte sie, dass die Hand des Kindes sich fest um ihre Brosche geschlossen hatte. Erschrocken versuchte sie, die winzigen Finger zu lösen. Wenn Kalle sich an der Anstecknadel verletzte, würde Dagmar ihr das nie verzeihen! Der Kleine verzog unwillig das Gesicht und wollte nicht loslassen, ließ sich jedoch ablenken, als Isabella eine Rassel aus dem Kinderwagen holte und ihm hinhielt. Die fremde Frau lächelte, als das Kind den bunten Ring in den Mund steckte.

„Ein schönes Schmuckstück hast du“, wandte die Frau sich dann wieder an Isabella. „Darf ich fragen, woher es stammt?“

Isabella zögerte, während sie ihre Sitznachbarin aus den Augenwinkeln musterte. Die Dame sah hübsch aus in ihrem langen bunten Sommerkleid. Trotz des dichten, schlohweißen Haars und der wettergegerbten braunen Haut hatte ihr Gesicht etwas beinahe Mädchenhaftes. War ihre Frage ernst gemeint, oder versuchte die Frau nur, höflich zu sein? Isabella ärgerte sich über sich selbst. War es schon so weit gekommen mit ihr, dass sie sich nicht einmal mehr auf ein harmloses Geplauder einlassen konnte? Sie gab sich einen Ruck und antwortete ehrlich: „Es ist ein Familienerbstück, glaube ich. Mein Großvater hat sie mir geschenkt. Genaueres weiß ich leider auch nicht. Ich habe mich immer gefragt, wem es ursprünglich gehört hat.“

Die Dame nickte bedächtig, dann streckte sie zögernd die Hand aus. „Darf ich mal sehen? Ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht …“

Isabellas Herz begann heftig zu klopfen. Konnte es tatsächlich sein, dass diese Frau, der sie ganz zufällig begegnet war, etwas über ihre Brosche wusste? Das war kaum möglich, oder? Während sie mit der linken Hand geistesabwesend Kalles Köpfchen tätschelte, drehte die Frau mit der rechten behutsam die Brosche hin und her. Einige Augenblicke lang schien sie tief in Gedanken versunken, dann sagte sie mit einer Stimme so leise, dass sie beinahe brach: „Doch, es sind die beiden, genau wie auf den Bildern. Ich habe ihre Porträtskizzen gesehen, verstehst du? Manchmal sehe ich sie vor mir, als wäre es gestern gewesen. Zwei Frauen – so verschieden wie Feuer und Wasser, und doch die besten Freundinnen.“

„Frauen?“, fragte Isabella verwirrt. „Ich dachte immer, dass das Bild zwei Kinder zeigt.“

Ein wehmütiger Ausdruck zog über das Gesicht der alten Dame.

„Nein, es waren Frauen. Obwohl sie manchmal, wenn man ihnen zusah, tatsächlich wie zwei kleine Mädchen wirkten. Dabei waren sie selbst schon Mütter. Sie waren so jung – genau wie du jetzt. Wir alle waren jung, hatten große Träume. Die Welt wollten wir verändern – und konnten letzten Endes kaum auf uns selbst achtgeben. Es war eine schreckliche Tragödie.“

„Was ist passiert?“, fragte Isabella atemlos, doch ihre Gesprächspartnerin seufzte nur und blieb mit gesenkten Kopf unbeweglich sitzen. Dann straffte sie plötzlich die Gestalt und sah auf, als erinnere sie sich eben erst wieder daran, dass sie nicht allein war.

„Ihr stammt nicht von hier, oder?“ Der Blick, mit dem sie Isabella musterte, war mit einem Mal durchdringend.

„Nein“, gab Isabella zu und suchte nach den richtigen Worten, um das Vertrauen der Fremden nicht zu zerstören. Sie musste unbedingt mehr erfahren!

„Du hörst sicher, dass Dänisch nicht meine Muttersprache ist. Meine Schwester und ich sind in Deutschland aufgewachsen, aber unser Vater ist Däne – Erzkopenhagener, wie er sagt.

„Dann bist du sicher öfter hier“, erwiderte die Dame, und ihre Miene erhellte sich zu einem Schmunzeln, auch wenn es flüchtig war. „Bestimmt kennst du auch Christiania.“

„Nein.“ Beschämt biss sich Isabella auf die Lippe. „Bisher nur vom Hörensagen. Ich …“

Wie sollte Isabella dieser Frau etwas erklären, das sie selbst kaum verstand? Wohl war im Laufe der Jahre einige Mal die Rede auf den Stadtteil Christiania gefallen, wenn sie mit ihren Eltern und ihrer Schwester in Kopenhagen gewesen war. Doch wann immer Carl Ilsø auch nur den Namen hörte, verdüsterte sich sein Gesicht derartig, dass das Gespräch sofort verstummte – um wenige Augenblicke später mit jener überströmenden Lebhaftigkeit, mit der ihre Mutter peinliche Situationen zu überbrücken gelernt hatte, auf ein anderes Thema gelenkt zu werden. So wusste Isabella nur das, was sie dann und wann flüchtig aus der Presse mitbekommen hatte. Christiania war ein Teil Kopenhagens, gelegen in den historischen Wall – und Kanalanlagen, die einst das Befestigungswerk der Stadt ausgemacht hatten. Hier hatte irgendwann in den 1970er Jahren eine Gruppe von jungen Leuten Häuser besetzt und eine Art Kommune gegründet – eine Freistadt, wie sie es nannten. Aus irgendeinem Grund war es ihnen bis heute gelungen, sich jedem Räumungsversuch vonseiten der Obrigkeit zu widersetzen. Wenn man Carl Ilsø glauben durfte, war die sogenannte Freistadt bevölkert von halluzinierenden Hippies, Drogendealern und Kleinkriminellen. Der Umstand, dass dieser Schandfleck nach all den Jahren noch immer existierte, bestätigte lediglich die Unfähigkeit der heutigen Politiker und die Krankhaftigkeit der postmodernen Gesellschaft im Allgemeinen. Isabella fragte sich, warum sie diese Erklärung bisher kritiklos akzeptiert hatte. Es war nicht so, dass ihr Großvater ihr jemals direkt verboten hatte, Christiania zu betreten. Selbst wenn er es getan hätte – er war schließlich nicht ihr Vormund, und zumindest bei ihrem letzten Besuch in Kopenhagen war sie volljährig gewesen. Warum also hatte sie den Stadtteil, der inzwischen eine der bekanntesten Sehenswürdigkeiten Kopenhagens darstellte, nie besucht?

„Du solltest hinfahren, wenn du mehr über deine Brosche erfahren möchtest“, unterbrach die alte Dame Isabellas Gedanken. „Wie ich gehört habe, wohnt die Frau, die sie gemacht hat, noch immer dort. Inzwischen ist Mimi Conradsen eine recht bekannte Keramikerin. Sicher freut es sie zu erfahren, dass ein Schmuckstück, das sie vor so vielen Jahren hergestellt hat, heute wieder getragen wird. Ob sie dir allerdings etwas über ihre Freundin erzählen wird, muss sie selbst entscheiden. Es war ein fürchterlicher Schock damals für uns alle, die wir Elvira Ilsø gekannt haben.“

„Elvira Ilsø? Aber … dann ist sie …“

Vermutlich hatte die Frau den Namen nur versehentlich laut ausgesprochen und bereute es nun. Die Erinnerung schien geradezu schmerzhaft zu sein, jedenfalls erhob sich die Fremde hastig von der Bank und behauptete, die Zeit vergessen zu haben und sich beeilen zu müssen. Ohne auf Isabellas gestammelte Worte zu achten, entfernte sie sich hastig auf einem der Kieswege, und wenige Augenblicke später war sie hinter einer Wegbiegung verschwunden. Der kleine Kalle schien über ihren plötzlichen Aufbruch ebenso erschrocken zu sein wie Isabella. Er klammerte sich an seiner Tante fest und wollte sich nicht in den Kinderwagen legen lassen. Als es Isabella endlich gelungen war, ihn so weit zu beruhigen, dass sie mit ihm im Wagen losgehen konnte, war von der alten Frau nichts mehr zu sehen.

Hatte sie tatsächlich Elvira Ilsø gekannt? Ihre Großmutter, von der Isabella nicht mehr wusste als den Namen? Selbst der war ihrem Vater nur durch Zufall entschlüpft, normalerweise redete er nie von seiner Mutter. Was mochte damals vorgefallen sein, das so schrecklich war, dass niemand je darüber sprach?

Kapitel 3

Mimi, Kopenhagen, April 1971

„Bist du sicher?“ Die reine Fassungslosigkeit sprach aus Arnos Zügen, als er Mimi anstarrte. Wie so oft hatte er die runde Brille hoch in die Stirn geschoben, wo sie sich in seinem halblangen dunklen Haar verfangen hatte. Mimi nickte, während sie die Hand ausstreckte, um eine der wirren Strähnen glattzustreichen. Nachher vor dem Zubettgehen, das wusste sie jetzt schon, würde er sie bitten, das Brillengestell so vorsichtig wie möglich aus seiner Haarmähne zu lösen, um ihm nicht allzu viele Haare auszureißen. Arno konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, seine Brille nur auf der Nase zu tragen wie andere Leute. Es war eine der kleinen, verrückten Angewohnheiten, die sie so an ihm liebte. Gerade jetzt, in diesem Augenblick, schien ihre Liebe so groß, so allumfassend zu sein, dass sie ihr fast den Atem nahm. Doch auch Angst mischte sich in das Gefühl, das sie zu überwältigen drohte. Wie würde er reagieren? Freute er sich überhaupt? Was dachten sie sich eigentlich dabei in Zeiten wie diesen, in denen die Zukunftsaussichten unsicherer waren als je zuvor?

Ihre Blicke hingen an seinem Gesicht, versuchten jede noch so winzige Regung seines Mienenspiels zu erfassen, während sie mit zitternder Stimme murmelte: „Ich … bin beim Arzt gewesen und …“

„Aber das ist ja fantastisch!“ Ein langsames Lächeln erhellte seine schmalen Züge.

„Menschenskind. Ein Kind! Wir werden Eltern!“ Er schlang die Arme um Mimis Taille, hob sie hoch und drehte sich mit ihr im Kreis, bis sie beide kichernd und nach Atem ringend auf das verschlissene Sofa fielen. In Mimis Kopf drehte sich alles wie nach einer Karussellfahrt im Tivoli, schwindelig vor Erleichterung und Freude. Irgendwo ertönte ein lautes Pochen. Bestimmt hämmerte Frau Hansen aus der Wohnung unter ihnen schon wieder mit dem Besenstiel an die Decke wegen des Lärms. Doch in diesem Moment war es Mimi egal, was die strenge Nachbarin von ihnen dachte. Arno riss das Fenster der Mansardenwohnung auf, streckte nicht nur den Kopf, sondern den gesamten Oberkörper hinaus in die regenfeuchte Aprilluft und brüllte aus vollem Hals: „Hört alle her: Wir kriegen ein Kind!“

Die Neuigkeit war zu groß für das winzige Zimmer. Hand in Hand gingen sie nach draußen, durchstreiften die Straßen in der nebeligen Abenddämmerung. Arno konnte nicht anders als jedem, dem sie unterwegs begegneten, sofort die frohe Botschaft mitzuteilen. Dabei wirkte er in seinem Eifer selbst wie ein kleiner Junge. Lächelnd ließ Mimi ihn gewähren und nahm Glückwünsche von Wildfremden entgegen.

„Man sieht noch gar nichts.“

„Das kommt noch.“

Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre ihr der Rummel peinlich gewesen, doch jetzt wärmte sie sich an Arnos kindlicher Freude. Als sie wieder an ihrem Hauseingang ankamen, hatte sich die Nachricht bereits herumgesprochen. Der lange Willy aus dem Kellergeschoss, der in seinen weiten Hosen ein bisschen aussah wie ein Clown auf Stelzen, und der sich unter seiner eigenen Wohnungstür hindurch ducken musste, winkte mit einer Flasche und zog Arno hinter sich her in Richtung Kellertreppe. Im Vorbeigehen klopfte der vierschrötige Maurer Jessen, der normalerweise jeden wissen ließ, wie wenig er für Studentenspinner und Hippie-Revoluzzer übrig hatte, ihm kumpelhaft auf die Schulter.

Später nahm Willys gertenschlanke, schöne Freundin Lone mit der langen blonden Haarmähne, neben der sich Mimi bisher immer wie ein Bauerntrampel aus der Provinz gefühlt hatte, sie mit ungewohnter Verlegenheit aus der fröhlichen Trinkrunde der Männer beiseite und fragte schüchtern, wie es sich anfühle, schwanger zu sein.

„Mir ist ein bisschen schwummerig im Magen“, gab Mimi zu. „Alles riecht irgendwie anders und schmeckt anders. Ich könnte dauernd heulen und lachen gleichzeitig. Es ist einfach überwältigend.“ Mimis Stimme brach, und sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. „Entschuldige bitte, ich …“

„Du hast so ein Glück!“ Die aufrichtige Freude in der Stimme von Lone ließ sie unter Tränen lächeln. Heute schienen alle ihr und Arno wohlgesonnen zu sein. Als sie später die vielen knarrenden Holzstufen zu ihrer eigenen Wohnung hinaufgingen, nickte ihnen selbst Frau Hansen stumm zu.

Am nächsten Morgen passte die Nachbarin die beiden erneut im Treppenhaus ab. Mimi biss sich bekümmert auf die Lippen. War die gute Stimmung von gestern bereits verflogen? Wollte die Frau sie wieder einmal auf irgendeine ungeschriebene Hausregel aufmerksam machen, die sie nicht beachtet hatten? Selbst im diffusen Licht der Flurlampe nahm sich das spitze Vogelgesicht ihrer Nachbarin noch unruhiger aus als sonst.

„Ich gratuliere Ihnen schön“, sagte sie. Dabei wirkte sie fast freundlich und gleichzeitig nervös trotz des steifen „Sie“. Dass die jüngeren Leute sich untereinander sofort duzten, obwohl sie einander kaum kannten, war für Menschen wie Frau Hansen garantiert ein Zeichen mangelhafter Erziehung. Nachdem sie einige Augenblicke lang mit Ja und Ähm herumgedruckst hatte, rückte sie heraus: „Werden Sie Ihre Verhältnisse jetzt in Ordnung bringen? Ja, Sie wissen schon … Es ist doch wichtig, dass das Kleine versorgt ist, falls irgendetwas passiert. Ich meine es nur gut mit Ihnen“, setzte sie noch beinahe entschuldigend hinzu, aber da hatte Arno Mimi schon beim Arm gepackt und zog sie mit sich außer Hörweite. Am liebsten hätte er wohl zwei Treppenstufen auf einmal genommen.

„Diese scheinheilige alte Schachtel! Wieso muss sie ständig ihre Nase in unsere Angelegenheiten stecken?“, regte er sich auf.

„Arno, glaubst du nicht, dass …“ Mimi senkte den Blick. Wie sollte sie es ihm erklären? Bisher hatte die Nachbarin trotz aller Versuche, sich im Guten mit ihr zu einigen, stets etwas an ihnen auszusetzen gehabt. Trotzdem glaubte Mimi durchaus daran, dass die Frau ihnen im Grunde nicht feindlich gesinnt war. Wie sie so dagestanden und den Zipfel ihrer Kittelschürze in den rauen, abgearbeiteten Händen hin- und hergedreht hatte, erinnerte Frau Hansen Mimi plötzlich an ihre eigene Mutter. Doch Arno war noch immer außer sich und sah sich mit wilden Blicken in dem schäbigen Korridor um.

„Ich hasse dieses Haus, dieses enge, verwinkelte, spießbürgerliche … Ich kriege keine Luft hier!“

Ehe Mimi es sich versah, war er fort, und die Haustür fiel krachend hinter ihm ins Schloss.

Mimi sah ihm nach und seufzte, dann begann sie, die Treppen zu ihrem Mansardenzimmer wieder hinaufzusteigen. Er würde wiederkommen, das wusste sie inzwischen. Im Grunde war Arno der gutmütigste Mensch der Welt. Nur wenn er sich in seinem Tatendrang eingeengt fühlte, musste er laufen. Er lief und lief, bis all die aufgestaute Energie aus ihm herausgesprudelt war und er müde wurde. Dann würde er sie brauchen, und Mimi würde da sein.

Als sie ihn kennenlernte, hatte sie versucht, mit ihm Schritt zu halten. Wenn Mimi jetzt daran zurückdachte, konnte sie kaum glauben, dass erst wenige Monate vergangen waren, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Die langhaarigen jungen Leuten, die im Juli 1970 in Scharen aus Kopenhagen kamen, erhitzten in dem kleinen Dorf Frøstrup an der jütländischen Westküste die Gemüter der ortsansässigen Landwirte und Fischer. Während die einen neugierig darauf waren, was wohl hunderte von jungen Hauptstädtern dazu veranlasst haben mochte, ausgerechnet in ihrem kleinen Dorf ein Zeltlager für den Sommer herzurichten, hätten andere die „herumlungernden Hippies“ am liebsten mit Knüppeln davongejagt. Mimis eigener Vater gehörte zu denen, die am lautesten gegen die Invasion von „arbeitsscheuen Subjekten“ aus der Stadt protestierten. Als Mimi das Sommerlager zum ersten Mal besuchte, tat sie es vor allem, um ihrem Vater zu beweisen, dass die Bewohner nicht allesamt gefährliche Kriminelle sein konnten. Und sie sollte Recht behalten. Doch selbst sie hatte nicht mit dem Anblick von kleinen Kindern gerechnet, die unbekümmert in dem hohen Gras zwischen Zelten und behelfsmäßigen Holzhütten hin- und herliefen. Konnten ganz normale Familien freiwillig derart primitiv leben?

„Ihr ahnt ja gar nicht, wie reich ihr hier seid“, erklärte Arno ihr wenig später. Es war leicht, mit Arno Conradsen ins Gespräch zu kommen, obwohl Mimi sich anfangs unsicher fühlte – aber auch ein wenig trotzig. Immerhin war es IHR Dorf, und die anderen waren die Gäste. Doch Arno, dieser kleine, schmal gebaute Mann mit dem ausdrucksstarken Gesicht und den schlanken Händen, die niemals ruhten, hatte irgendetwas an sich. Man musste ihm einfach zuhören, wenn er redete – und nicht nur das. Mimi war noch nie jemandem begegnet, der so viel reden und gleichzeitig dermaßen intensiv zuhören konnte. Sein wacher Blick hinter der runden Brille, die Art, wie er den Kopf schief legte und konzentriert das Kinn in die Hände stützte. All das verlieh einem das Gefühl, als gäbe es gerade jetzt auf der ganzen weiten Welt nichts Wichtigeres, als dass sie miteinander sprachen. Arno und die anderen jungen Leute redeten von Freiheit und einem Leben im Einklang mit der Natur. Ob dieser großen Worte runzelte Mimi nachdenklich die Stirn. Die Stadt sei ein Gefängnis, das die Seele einsperre, sagten sie. Seele … dieses Wort hatte Mimi bisher nur in der Kirche gehört. Aber jetzt kamen diese Leute daher und behaupteten, dass auch die Kirche ein Gefängnis sei und das Denken der Menschen mit Furcht beherrschen wolle.

„Freiheit, Mimi“, sagte Arno und tippte ihr sanft mit dem Finger gegen die Stirn. „Freiheit, die beginnt hier drinnen. Und hier.“ Dabei legte er sie Hand auf sein Herz, und Mimi spürte, wie ihr eigenes Herz unwillkürlich schneller zu schlagen begann. Aber dann schüttelte sie langsam den Kopf.

„Es klingt ja alles sehr schön, wenn ihr von Freiheit und Natur sprecht, und dass ihr gegen die Geldwirtschaft seid“, widersprach sie zögernd und suchte nach den richtigen Worten. „Aber ihr wisst nichts davon, wie hart diese Natur sein kann. Wie es im Herbst und Winter hier an der Küste zugeht. Wenn man um das Leben der Fischer bangen muss, die in einem Sturm draußen auf dem Meer sind. Oder selbst im Sommer, wenn ein einziges kräftiges Gewitter eine ganze Ernte zunichtemachen kann. Wovon sollen die Menschen dann leben, wenn sie nicht in den Jahren zuvor Geld beiseitegelegt haben? Wo sollen sie Trost und Hoffnung finden, wenn sie nicht mal zu Gott beten dürfen?“

Niemand hätte ob dieser Rede überraschter sein können als Mimi selbst, die während ihrer gesamten Schulzeit wohl nie mehr als einen Satz am Stück gesagt hatte. Vorsichtig schaute sie sie zu dem jungen Mann namens Arno hinüber. Wurde er böse? Aber nein, er lächelte verschmitzt, als gefalle es ihm, dass sie ihm widersprach.

Er diskutierte leidenschaftlich gern, das merkte Mimi schnell, und in den nächsten Tagen und Wochen verbrachte sie mehr und mehr Zeit bei den jungen Leuten im Sommerlager. Selbst als sich die Fronten zwischen den Dörflern auf der einen und den Lagerbewohnern auf der anderen Seite immer mehr verhärteten, als es zu Prügeleien und gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei kam, zog es Mimi weiterhin ins Lager. Dass einige der jungen Leute offen von Aufstand und Revolution sprachen, erschreckte sie. Aber sagte nicht Arno immer wieder, er sei gegen Gewalt? Selbst mit den Polizisten, die das Lager auf Drogen und angebliches Diebesgut durchsuchten, fing er Gespräche an. Mimi bewunderte seine schier unerschöpfliche Energie. Das Leben, das ihre Eltern führten, begann sie dagegen mit kritischen Augen zu sehen. Irgendwann einmal musste ihre Mutter ein hübsches Mädchen gewesen sein, und ihr Vater der stärkste Mann in Frøstrup, der es beim Ringen mit jedem aufnahm. Die Geschichte hatte Mimi bestimmt hundert Mal gehört. Doch nun war das Gesicht der Mutter von Sorgenfalten verhärmt, die Augen huschten unstet hin und her in einer merkwürdigen Mischung aus Emsigkeit und Sorge. Ihre größte Furcht schien zu sein, was wohl die Nachbarn von ihr dachten, und jeder Winkel des Hauses musste stets blitzblank sein. Dabei hatte die Tochter sie zu unterstützen. Auch im Stall half Mimi, das war selbstverständlich. Die harte Arbeit machte ihr kaum etwas aus, und im Gemüsegarten beschäftigte sie sich sehr gern. Sie mochte es, wenn die Pflanzen unter ihrer Fürsorge gediehen. Der Vater jedoch schien die hektische Geschäftigkeit um ihn herum kaum zu bemerken. Er machte sich noch nicht einmal die Mühe, seine speckige Joppe auszuziehen, wenn er in der Küche hastig und wortlos sein Essen herunterschlang. An dem Tag, als er Mimi verbot, das Sommerlager wieder zu betreten, geschah auch dies ohne viele Worte. „Mit den langhaarigen Taugenichtsen lässt du dich nicht mehr ein, Annemarie! Basta!“ Zur Bestätigung schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch, war schon im Begriff aufzustehen und die Küche zu verlassen. Eine Antwort erwartete er nicht. Er war es gewohnt, dass seinen Worten Folge geleistet wurde. Doch an diesem Tag, ohne zu wissen, woher sie den Mut nahm, widersprach Mimi ihm. „Du hast nicht über mich zu bestimmen, ich bin nicht dein Eigentum. Ich bin erwachsen und kann für mich selbst denken!“

Nach diesem Tag schien es, als sei der Vater geschrumpft. Zum ersten Mal nahm Mimi jetzt seine gebeugten Schultern wahr und den Gang, der etwas Trottendes hatte. Er sprach kein Wort mehr mit ihr und sie nicht mit ihm, während die Mutter sie beide noch ängstlicher als sonst betrachtete. Schnell und umsichtig erledigte Mimi ihre gewohnten Arbeiten. Niemand sollte ihr Faulheit nachsagen! Darüber hinaus jedoch hielt sie es keine Minute länger als unbedingt nötig im Elternhaus aus. Als der Sommer zur Neige ging und Arno ihr anbot, mit ihm nach Kopenhagen zu kommen, zögerte sie keinen Augenblick. Am letzten Nachmittag, als im Sommerlager bereits Aufbruchsstimmung herrschte, bestand Arno darauf, sie zu ihren Eltern zu begleiten. Selbst hier versuchte er, Frieden zu stiften. Mimi deckte den Tisch in der Küche, die Mutter servierte Kaffee und Marmeladenschnitten, nestelte nervös an ihrer Schürze und wusste nichts zu sagen. Als Arno anbot, beim Abwasch zu helfen, sah sie derartig erschrocken drein, dass Mimi ein Kichern unterdrücken musste. Später, als sie für Arno ein Bier aus der Speisekammer holte, raunte die Mutter Mimi im Vorbeigehen zu, wie gut der junge Mann aussehe, und wie höflich er sei, und da kicherten die beiden tatsächlich hinter vorgehaltener Hand wie zwei Schulmädchen. Ihr Vater jedoch stand in der Küchentür mit einem Gesicht wie eine Gewitterwolke. Einen Augenblick lang zögerte er wohl, ob er hineingehen sollte, doch dann drehte er sich auf dem Absatz um und schlug heftig die Tür hinter sich zu. An diesem Abend saß die Mutter lange allein in der Küche und wartetet auf ihn.

Und nun hockte Mimi in dem winzigen Mansardenzimmer und wartete auf Arno. Es war nicht dasselbe, das wusste sie. Arno war niemals böse auf sie. Er erwartete auch nicht von ihr, dass sie sich um den sparsamen Haushalt kümmern sollte, bloß weil sie eine Frau war. Sie taten alle Arbeiten gemeinsam. Nur der Blumenkasten vor dem Fenster, in den sie Petersilie und Schnittlauch gesät hatte und die kleine Heidekrautstaude, die sie am Morgen vor ihrer Abreise in Frøstrup aus dem sandigen Boden ausgegraben hatte, war ganz allein ihre Domäne. Manchmal gab es Orte, an die sie Arno nicht folgen konnte – weder seinen weit ausgreifenden Schritten noch seinen hochfliegenden Gedanken. Und das Kind, das sie unter dem Herzen trug, würde ein Stadtkind sein, die schmalen Kopfsteinpflasterstraßen und Höfe zwischen den Mietshäusern des alten Hafenviertels Christianshavn sein Spielplatz. Würde es je seine Großeltern kennenlernen? Je zwischen den weiten Dünen der Westküste toben, weichen Sand und die scharfkantigen Halme des Strandhafers unter den Füßen spüren? Gegen den Sturm anrennen und so laut schreien dürfen, dass es ihm selbst in den Ohren gellte, ohne dabei irgendjemanden zu stören? War das die Freiheit, um die Arno und seine Freunde sie einst so beneidet hatten?

„Du musst unbedingt mitkommen!“ Die Worte rissen Mimi aus ihren Gedanken. Sie hatte Arno nicht kommen gehört, obwohl er die Treppen ebenso ungeduldig hinaufgerannt sein musste, wie er sie wenige Stunden zuvor hinuntergestürmt war.

„Das musst du sehen, komm!“

„Was? Was muss ich sehen? Warte!“ Obwohl er schon beim Eintreten völlig außer Atem gewesen war, konnte Arno es kaum abwarten, bis sie ihre Schuhe angezogen und die Jacke übergestreift hatte. Schon zog er sie am Arm mit sich die Treppe hinunter, und sie folgte ihm lachend. Wieder war es früher Abend, graue Dämmerung und graue Wolken aus Kohlerauch hingen dicht über den nasskalten Straßen. Sie war nicht die Einzige, die Arno aus der Wohnung gelockt hatte, sah Mimi jetzt. Da waren Willy und Lone, und auch einige andere junge Leute aus den benachbarten Häusern. Sie alle folgten Arno bereitwillig. Willy trug ein Brecheisen, andere hatten Hämmer und Sägen bei sich. Wollten sie etwas bauen? Was hatte Arno nur vor? Der Ort, an den er sie führte, war ein baufälliger Bretterzaun an der Ecke zwischen Prinsessegade und Refshalevej, der das verlassene Gelände der alten Kasernen von der Wohnsiedlung Christianshavn trennte. Mimi erinnerte sich, dass sie schon früher einmal bei einem Abendspaziergang vor dem Zaun gestanden und durch die Ritzen zwischen den Brettern gespäht hatten. Viel hatten sie nicht sehen können – nur einen Haufen alten, rostigen Gerümpels inmitten von hohem Gras. Aber immerhin, wo sonst gab es hier mitten in der Stadt schon etwas Grünes? Dass die Stadtverwaltung ein derartig großes Areal einfach mit Betreten-Verboten-Schildern absperrte und dem Verfall überließ, während bezahlbare Wohnungen überall bitternötig waren, erhitzte die Gemüter unter den jüngeren Kopenhagenern seit Monaten, nachdem feststand, dass die Armee sich aus dem alten Kasernengelände zurückziehen würde. Schon mehrmals war der Zaun umgestoßen worden, hatte Arno Mimi erzählt, aber bisher hatte man ihn immer wieder erneuert. Doch die jungen Leute wollten nicht aufgeben. Vor dem Zaun hatte sich bereits eine Menschentraube gebildet, und Menschen hatten begonnen, mit Hämmern und Brechstangen auf den Bretterzaun loszugehen.

„Wartet! Hat jemand einen Spaten? Los, packt mit an!“ Ehe Mimi ihn zurückhalten konnte, hatte Arno sich auch schon mitten ins Getümmel gestürzt. Es erstaunte sie kaum, dass er nach wenigen Minuten die Rolle des Anführers übernommen hatte. Mimi selbst hingegen sah sich immer wieder nervös nach allen Seiten um. Halb rechnete sie damit, jeden Moment eine Polizeisirene zu hören, aber niemand kam. Während unter Arnos Anleitung ein eiserner Zaunpfahl ausgegraben und als Rammbock benutzt wurde, liefen ein paar Kinder zwischen den jungen Erwachsenen hin und her, scheinbar unberührt von den lauten Stimmen und dem Krachen splitternden Holzes. In der Ferne thronte die charakteristische Silhouette des Spiralturmes der Erlöserkirche wie ein mahnend erhobener Zeigefinger, doch außer Mimi schenkte ihm niemand Beachtung. Als schließlich der Holzzaun unter dem Jubelgeschrei der Besetzer nachgab, ließ auch sie sich von der euphorischen Stimmung anstecken. Sie nahm ein Kind an jede Hand und stürmte hinter den anderen her auf das Gelände, erfüllt von jenem wilden Triumphgefühl, das sie nicht mehr verspürt hatte, seit sie zu alt geworden war, um mit den Jungen aus ihrer Schulklasse Cowboys und Indianer zu spielen.

„Jetzt bauen wir einen Spielplatz!“, hörte sie Arno rufen, und die Kinder jubelten. Mimi jedoch zog es wie von Zauberhand zu der kleinen Reihe niedriger Backsteinhäuschen, die sie weiter hinten auf einem niedrigen Erdwall ausmachen konnte. Der Wall musste einst zur mittelalterlichen Befestigungsanlage der Stadt gehört haben, und die Häuschen glichen altertümlichen Bauernkaten, wie sie sich so windschief aneinander lehnten. Mimi war es, als habe sie hier, mitten in der Großstadt, plötzlich das Tor zum Märchenland durchquert. Andächtig blieb sie stehen und konnte den Blick nicht von den Häusern losreißen. Im Hintergrund konnte sie in der Dämmerung das Wasser eines Kanals ausmachen.

„Schön ist es hier, nicht wahr?“ Wieder hatte Mimi Arno nicht näherkommen gehört. Sie spürte einen Kloß im Hals und konnte nur nicken, als er ihr sanft den Arm um die Schultern legte.

***

In den nächsten Tagen verbrachten Mimi, Arno und ihre Freunde jede freie Minute auf dem alten Festungsgelände. Eifrig wurden Schrotthaufen nach brauchbarem Material durchsucht, um für die Kinder Schaukeln und Klettergerüste zu bauen. Sogar ein altes hölzernes Boot entdeckten sie. Irgendwann war der Bretterzaun wieder da, doch er wurde erneut niedergerissen. Auch von anderen Straßenecken kamen nach und nach Menschen auf das Gelände, und mit jedem Tag schienen es mehr zu werden. An die Reste des Bretterzauns klebte Arno ein Plakat mit einer Fotomontage, einem Bild von zwei kleinen, zerlumpten Mädchen in einem düsteren Hinterhof. Darunter prangten mit roter Schrift die Worte: „Freiheit für unsere Kinder!“