Leseprobe Lady Helens wildes Herz

Heiratsabsichten

Helen

Der Ballsaal füllte sich, und Helen nahm das flirrende Gewimmel ringsherum mit jedem Atemzug auf. Die Whitesporns hatten sich selbst übertroffen. Hunderte Kerzen erhellten den Ballsaal und strahlten mit den Damen um die Wette. Üppige Blumenarrangements verströmten einen dezenten Duft, und in einem Nebenraum standen ein Imbiss sowie reichlich Getränke bereit. Das war Londoner Stadtleben pur, das Leben, das sie sich ausgesucht hatte und in vollen Zügen genoss.

Das Einzige, was ihr Wohlgefühl ein wenig dämpfte, war die Trennung von Phoebe und Georgina. Ihre geliebten Schwestern konnten Teegesellschaften, Konzerten und Bällen nur wenig abgewinnen und befanden sich gegenwärtig in Ägypten, um zusammen mit Georginas Mann den Tempel von Abu Simbel auszugraben. Nun, jede nach ihrer Façon.

Helen vermisste sie, doch sie war viel lieber hier, suchte einen Ehemann und genoss all die Annehmlichkeiten, die London zu bieten hatte. Einen Abend mit Tanz, Gelächter und vielleicht einem Heiratsantrag. Neugierig stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um ihren Angebeteten in der Menge zu entdecken.

»Hältst du Ausschau nach Mr Deering?« Die Frage ihrer Cousine Leonore trieb Helen die Hitze in die Wangen.

»Er sagte, er hätte etwas mit mir zu besprechen.« Das Brennen in ihrem Gesicht verstärkte sich, und sie suchte Leonores Blick. Verstand die jüngere Cousine Mr Deerings Worte genauso wie sie? Grahams, rief sie sich zurecht. Bei ihrem letzten Treffen hatte er sie dazu aufgefordert, ihn Graham zu nennen.

»Etwas mit dir zu besprechen?« Leonores aufgeregte Frage bestärkte Helens Hoffnung auf einen Antrag. Er konnte gar nichts anderes meinen.

Sie lächelte ihre Cousine an. Leonore war ihr im letzten Jahr eine gute Freundin geworden. Von ihrer Zwillingsschwester Phoebe getrennt zu sein und sich andere Bezugspersonen zu suchen, fiel Helen schwerer, als sie erwartet hatte, denn Phoebe und sie waren immer eine Einheit gewesen.

»Du meinst doch nicht etwa …« Leonore wedelte sich mit dem Fächer Luft zu. »Wird er dich bitten, seine Frau zu werden?«

Helens Mundwinkel hoben sich. »Das denke ich, ja. Vermutlich möchte er zuerst mit mir sprechen, bevor er bei Onkel Jonathan um meine Hand anhält.«

Leonore klatschte enthusiastisch in die Hände, wurde jedoch sofort wieder ernst, weil eine missmutige Matrone ihr einen tadelnden Blick zuwarf. »Das ist fantastisch.« Sie senkte die Stimme. »Hast du ihn denn … also, hast du ihm erlaubt, dich zu küssen?«

Diese Frage ließ Helens Wangen erneut warm werden. »Das habe ich.«

»Helen! Wie äußerst ungebührlich«, rief Leonore, beugte sich jedoch sofort näher zu ihr. »Du musst mir jedes Detail erzählen.« Ihre Stimme war nur noch ein zartes Wispern. »Stimmt es, dass man bei einem leidenschaftlichen Kuss wie von Sinnen ist?«

In Helen breitete sich ein Gefühl aus, das sie kaum beschreiben konnte. Als zöge ihr Brustkorb sich zusammen und brächte so ihr Herz dazu, in wildem Takt zu schlagen. Freude, gemischt mit einem Anflug von Panik – was bei der Frage durchaus angemessen war.

»Es ist …«, begann sie, brach jedoch ab, denn beinahe hätte sie ausgeplaudert, dass sie bereits zwei Männer geküsst hatte. Eigentlich sollte eine junge Dame gar keine Ahnung von derlei Dingen haben, weshalb sie neu ansetzte.

»Es ist angenehm«, gab sie zu und beließ es dabei. Wrayburns Küsse im letzten Jahr hatten sie entzückt, die sanfte Berührung seiner Lippen war süß wie Honig gewesen. Graham hingegen küsste forscher, fordernder. Das hatte sie überrascht, doch sie nahm an, dass es zwischen Mann und Frau unterschiedlich sein konnte. Zusätzlich hatte Georgina ihr kurz vor ihrer Abreise verraten, dass es in einer Ehe zu geradezu schockierenden Intimitäten kommen konnte. Grahams Zunge in ihrem Mund war wohl eine dieser Überraschungen.

Dass ihre heutigen Gefühle für Mr Deering weniger intensiv waren als die damaligen für Wrayburn war in ihren Augen allerdings eine gute Sache, sorgte es doch dafür, dass sie klarer sehen konnte, wo die Vorteile dieser Verbindung lagen. Sie mochte Graham, und er bot einer jungen Frau alles, was sie sich nur wünschen konnte.

Zusätzlich war er ein stattlicher Mann, aufmerksam und humorvoll. Seit ihrer ersten Begegnung vor nunmehr acht Wochen hatte er keine Gelegenheit ausgelassen, sie zu treffen. Er schmeichelte ihr, lobte ihre Schönheit, das Blau ihrer Augen und den Goldton ihrer Haare. Ein ums andere Mal verglich er sie mit der schönen Helena und sich selbst mit Paris, weil er gedachte, sie in ein fernes Land zu bringen und dort wie eine Königin zu behandeln. Das war allerdings auch der Knackpunkt in seinem Werben.

Sie sah zu Leonore und beschloss, sich der Freundin zu öffnen. Vielleicht beruhigte das die Zweifel in ihrem Inneren, welche das Gespräch über Küsse geschürt hatte. »Ich mag Mr Deering, aber die Tatsache, dass er in Indien lebt und gedenkt, mich dorthin mitzunehmen, macht mir ein wenig Angst.« Jetzt war es raus, und Helen hätte am liebsten vor Erleichterung laut aufgeatmet.

»Das verstehe ich«, antwortete Leonore und nahm Helens Hände. »Bist du denn bereit, ihn zu begleiten?«

»Das bin ich.« Helen straffte sich und drückte die Hände ihrer Cousine dankbar, bevor sie ihre zurückzog und die Schultern straffte. »Er hat mir erzählt, dass es auch in Bombay ein kultiviertes Stadtleben mit Bällen und Empfängen gibt, genau wie in London. Und das ist es doch, was ich mir gewünscht habe: Eine Familie, und dazu das aufregende Leben in der Stadt.«

»Dann ist diese Verbindung ja geradezu perfekt.« Leonore lächelte übers ganze Gesicht.

»Nun, es ist …« Einsetzendes Gemurmel ließ Helen innehalten. Sie folgte den Blicken der Damen um sich herum und erkannte schnell, was deren Aufmerksamkeit erregt hatte. Oder viel mehr, wer.

Mister Gabriel Giddeon hatte soeben den Ballsaal betreten. Als Sohn eines Duke genoss er höchstes Ansehen. Seine Geburt verschaffte ihm überall Zugang und verleitete einige Mütter dazu, ihn als Ehekandidaten für ihre Töchter in Erwägung zu ziehen – trotz der dunklen Gerüchte, die sich um ihn rankten. Man munkelte hinter vorgehaltener Hand, er habe seine ersten beiden Frauen zu Tode gequält und dann die Leichen in der Gosse Londons entsorgt.

Helen vermochte nicht zu sagen, was an diesem Gerede der Wahrheit entsprach, doch sie wusste eines mit Sicherheit: Dieser Mann war dafür verantwortlich, dass ihre Schwester sich letztes Jahr die Haare abgeschnitten und in Männerkleidern an den Hafen geschlichen hatte, um einer drohenden Ehe mit ihm zu entkommen. Phoebe war wild entschlossen gewesen, davonzulaufen, bevor sie sich an diesen grausamen Mann binden ließ.

Am Ende war alles gut ausgegangen, da ihre andere Schwester Georgina den Earl of Chadwick geheiratet hatte. Dieser hatte die Vormundschaft für die Zwillinge übernommen und Mr Giddeon abgewiesen.

In dieser Saison war Helen ihm noch nicht begegnet und hatte auch keinen Gedanken an ihn verschwendet. Jetzt erinnerte sie sich an die Abscheu, die ihre Zwillingsschwester ihm entgegengebracht hatte. Laut Phoebe ergötzte er sich am Leid von Tieren und war ein ganz und gar unhöflicher und grober Mann. Selbst Chadwick hatte angedeutet, dass Giddeon mit Vorsicht zu genießen sei, weil er sich in Kreisen herumtrieb, von denen feine Damen nichts wissen sollten.

Nun war dieser Mann offensichtlich auch Gast der Whitesporns, und Helen hoffte inständig, dass sie ihm nicht von Angesicht zu Angesicht begegnen musste.

Er schien das aufkommende Geflüster nicht wahrzunehmen oder zu ignorieren. Langsam schaute er durch den Ballsaal, schien nicht zu finden, was er suchte, und verließ den Raum wieder.

Was für ein merkwürdiges Verhalten.

»Er sah aus, als ob er nach jemandem Ausschau hielt«, sagte Leonore, die ihn ebenfalls beobachtet hatte, und schüttelte sich leicht. »Phoebe war so tapfer letztes Jahr, als er ihr den Hof gemacht hat. Ich bin nicht sicher, ob ich eine Kutschfahrt oder einen Ausflug mit ihm durchgestanden hätte.«

»Wir sind zu vielen Dingen in der Lage, wenn uns keine Wahl bleibt.« Helen löste ihren Blick von der Tür, fest entschlossen, die unangenehmen Gedanken abzuschütteln, die Mr Giddeons Auftreten hervorgerufen hatte. Er war nicht ihr Problem.

Ein wundervoller Abend erwartete sie, mit einem Heiratsantrag und der Aussicht auf eine glückliche Zukunft – sobald Graham sich bequemte, aufzutauchen. Es war noch früh, und er würde sicher bald erscheinen. Helen überlegte gerade, ob sie sich ein Glas Fruchtpunsch holen sollte, als ein Diener neben ihr erschien und einen gefalteten Brief auf einem silbernen Tablett in ihre Richtung hielt. Freudige Erwartung ließ ihren Körper prickeln. Sie nahm das Schreiben entgegen und öffnete es. In einer ordentlichen Männerhandschrift stand dort:

Hochverehrte Miss Helen,

würdet Ihr mir die Ehre erweisen, mich in zehn Minuten in der Bibliothek des Hauses zu treffen? Zweiter Stock, die zweite Tür links. Ich muss mit Euch sprechen.

Hochachtungsvoll

G.

Helens Herz schlug bis zum Hals, und vorsichtig ließ sie den Zettel sinken. Das war er! Der Moment, auf den sie gewartet hatte. Warum nur verspürte sie dann eher Angst als Freude? Oder waren sich diese Gefühle zu ähnlich, um sie zu unterscheiden?

»Ist der von ihm?« Leonore verrenkte den Kopf, um zu sehen, was auf dem Papier geschrieben stand.

»Ja, ist er«, antwortete Helen atemlos und sah sich verstohlen um, ob jemand ihre Aufregung bemerkte. Doch sie erregten keinerlei Aufsehen. »Er möchte mich in der Bibliothek treffen. Es ist so weit. Ich werde gleich einen Heiratsantrag bekommen.« Es konnte nur diesen Grund für seine Bitte geben.

»In der Bibliothek? Die befindet sich im oberen Stock. Ich glaube nicht, dass es sich schickt, ohne Begleitung dorthin zu gehen, um sich mit einem Mann zu treffen.« Leonore musterte sie mit skeptischem Blick.

»Ich nehme an, dass er bei dem Antrag ungestört sein möchte. Wir werden heiraten, liebe Cousine. Da kann man über so etwas schonmal hinwegsehen«, wiegelte Helen die Bedenken ihrer Cousine ab, doch in ihr meldete sich eine Stimme, die zur Vorsicht riet.

Was, wenn Graham die Gelegenheit nutzte, um nicht nur Küsse von ihr zu verlangen? War es nicht besser, den Antrag an einem öffentlicheren Ort entgegenzunehmen? Einem Ort, der näher am Ballsaal lag? Die Terrasse der Whitesporns bot Abgeschiedenheit und trotzdem waren genug Menschen in der Nähe, um einen Skandal zu verhindern.

Andererseits würde es ohnehin keinen Skandal geben, wenn Graham ihr einen Antrag machte, egal, wo er das tat, und welche kleinen Freiheiten er sich dabei erlaubte.

»Ich werde gehen«, entschied sie mit fester Stimme.

»Wenn du dir vollkommen sicher bist.« Zweifel klangen aus jeder Silbe und Leonore knetet unruhig ihre Hände. »Sollten wir nicht Mama und Großmutter …«

»Tante Victoria weiß Bescheid«, beruhigte Helen ihre Cousine. Das war ein wenig geflunkert, aber Helen wollte auf keinen Fall, dass Leonore ihr durch überfürsorgliches Verhalten den Augenblick verdarb. »Ich muss den richtigen Moment abwarten, um unbemerkt nach oben zu kommen, und mache mich am besten gleich auf den Weg.« Sanft legte sie eine Hand auf den Arm ihrer Cousine. »Wenn ich zurückkomme, werde ich verlobt sein.« Ihr Lächeln zitterte leicht, weshalb sich Helen schnell abwandte, bevor ihre Cousine es bemerkte. Nervosität war normal. Man stahl sich nicht alle Tage für einen Heiratsantrag aus einem vollbesetzten Ballsaal.

Aber Helen war bereit dazu. Immerhin ging es um nichts weniger als ihren großen Traum. Endlich das Leben zu führen, das sie sich von klein auf gewünscht hatte. Genau wie ihre Schwestern war sie fest entschlossen, dafür ein Risiko einzugehen. Ihre Vorstellungen, wie dieses Leben aussehen sollte, mochten unterschiedlich sein, doch waren sie alle drei bereit, bis zum Äußersten zu gehen, um es zu bekommen.

Im Vorbeigehen grüßte Helen eine Bekannte und hielt noch einmal bei den Whitesporns an, um unauffällig zu plaudern. Lady Whitesporn lobte ihr Ballkleid, welches hervorragend mit ihren Augen harmoniere. Auch ihr Ehegatte bestätigte das, und Helen dankte lächelnd. Die beiden liebten opulente Bälle, das war allgemein bekannt. Lady Whitesporn war zudem eine große Förderin der Kultur. Ihr Gatte hielt solcherlei Dinge für überflüssig, erfüllte seiner Angetrauten jedoch jeden Wunsch. Das war es zumindest, was Helen von Chadwick, dem Mann ihrer Schwester Georgina gehört hatte. Dessen Verhältnis zu Lord Whitesporn war getrübt, da die beiden Männer recht unterschiedliche Auffassungen hatten, was den Wert von Chadwicks Ausgrabungen in Ägypten anging. Helen hatte weder Ahnung davon noch interessierte es sie sonderlich. Die Whitesporns galten als respektable Gastgeber, und Einladungen zu ihren Veranstaltungen waren bei den jungen Damen der Londoner Gesellschaft äußerst begehrt. Deshalb wechselte Helen geduldig Belanglosigkeiten mit den beiden. Sie würde sich die Gunst ihrer Gastgeber nicht durch Unhöflichkeit verscherzen, nur weil sie ungeduldig an ihr Ziel kommen wollte.

Endlich gelang es ihr, sich loszueisen und über die Treppe nach oben zu verschwinden. Soweit sie beurteilen konnte, hatte sie niemand dabei beobachtet. Die zweite Tür links, stand auf dem Zettel. Helen hielt davor an, legte eine Hand auf die Klinke und zögerte. Sollte sie wirklich? Vor ihrem Auge sah sie Grahams ebenmäßige Gesichtszüge, sein warmes Lächeln und hörte ihn davon sprechen, wie sehr er sie bewunderte. Er war ein echter Gentleman.

Entschlossen öffnete sie die Tür und fand sich in einer schwach erleuchteten Bibliothek wieder. Der Raum war kleiner als vermutet. Wenige Schritte würden reichen, um ihn zu durchqueren und sich zu dem Mann zu gesellen, der am Fenster mit dem Rücken zu ihr wartete.

War es klug, die Tür zu schließen? Eine verschlossene Tür fiel weniger auf. Sie verursachte dabei bewusst ein Geräusch, um Graham auf ihre Ankunft aufmerksam zu machen. Ihn ansprechen wollte sie nicht, aus Angst, ihr könnte die Stimme versagen.

»Ah, Miss Helen«, sagte der Mann und sah zu ihr. »Es freut mich, dass Ihr meiner Aufforderung gefolgt seid. Bitte entschuldigt mein Vorgehen, aber ich …«

Ein Schauder durchfuhr Helen. »Ihr seid nicht Graham!«, sprach sie das Offensichtliche aus. Alarmiert drehte sie sich zur Tür, doch der Mann bewegte sich mit außergewöhnlicher Geschwindigkeit und fasste sie am Arm. Sein Griff war nicht schmerzhaft, aber unerbittlich.

»Der bin ich in der Tat nicht, und ich bitte nochmals um Entschuldigung.« Er deutet eine Verbeugung an und Helen erkannte nun, wem sie sich gegenübersah: Gabriel Giddeon.

»Ich muss dringend mit Euch sprechen, Miss Helen, und dies erschien mir der leichteste Weg …«

»Wir haben nichts miteinander zu besprechen.« Sie versuchte sich zu befreien, doch er hielt sie weiterhin fest. Zu ihrer eigenen Überraschung spürte sie keine Tränen in ihren Augen, kein Zittern ihrer Stimme. Äußerlich blieb sie vollkommen ruhig. Genau wie letztes Jahr, als sie zusammen mit Georgina in dieser Kaschemme am Hafen versucht hatte, Phoebe aus den Händen eines Pressers zu befreien. Sie neigte wohl dazu, in brenzligen Situationen Ruhe zu bewahren.

Vielleicht hatte sie Glück und Mr Giddeon war besonnen vorgebrachten Argumenten gegenüber zugänglich. Die wenigsten Gentlemen schätzten in Tränen aufgelöste Damen.

»Wir sind nicht vertraut genug, um uns unter vier Augen zu treffen. Es wäre ein Skandal, wenn man uns hier zusammen sehen würde. Bitte lasst mich gehen.«

»Ich fürchte, das kann ich nicht.« Bedauernd schüttelte er den Kopf. »Hört mich an. Es geht um …« Erneut wurde er unterbrochen, diesmal von Stimmen auf dem Flur. Sehr lauten, aufgebrachten Stimmen. Helen erkannte die ihrer Tante und eine männliche, die sie als Lord Whitesporn zu identifizieren glaubte. Suchte Tante Victoria sie, weil Leonore ihr von Helens heimlichem Treffen erzählt hatte?

Jetzt breitete sich doch Panik in Helens Brust aus. Was, wenn Tante Victoria hereinkam, schlimmstenfalls in Begleitung von Lord Whitesporn, und sie hier mit Mister Giddeon vorfand? Der Skandal war nicht auszudenken. Schnell sah sie sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Tatsächlich befand sich rechts von ihr ein Ausgang. Sie suchte Mr Giddeons Blick.

»Die Tür«, sagte sie ruhig. »Ich werde gehen, und Ihr bleibt. Ein Mann, der sich vom Ball zurückgezogen hat, um ein wenig zu lesen, wird kein Aufsehen erregen. Ich versuche derweil, mich nach unten zu schleichen. Ihr müsst mir nur Zeit verschaffen.«

»Nein«, sagte er ruhig und schüttelte den Kopf. Seine Hand umklammerte immer noch ihren Arm, inzwischen mit mehr Druck. »Das würde nicht helfen.«

»Wobei?« Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, doch es war hoffnungslos. Mr Giddeon war größer – und stärker. »Wenn sie uns hier erwischen …« Weiter kam sie nicht, da die Tür mit einem lauten Krachen aufgestoßen wurde.