Leseprobe Eine allzu mörderische Hochzeit

Kapitel 1

Bath, England

22. September 1891

„Ich, Lady Amy Lovell, bin eine Braut.“ Sie starrte ihr Spiegelbild an und brach in schallendes Gelächter aus.

„Ich bin eine Braut“, wiederholte sie und beugte sich vor, um ihr Gesicht näher zu betrachten und sich die Lachtränen aus den Augen zu wischen.

Sie war eine unabhängige Frau, die ihr eigenes Geld verdiente – wobei ihr Bruder all ihre Tantiemen entgegengenommen und für sie investiert hatte, da er darauf bestand, dass sie von dem Nadelgeld lebte, das sie von ihrer Familie bekam. Und nun würde sie heiraten.

Und das ausgerechnet William.

Das hieß, The Right Honourable Viscount Wethington. Himmel, so ein langer Titel. Und in nur wenigen Stunden würde sie The Right Honourable Viscountess Wethington sein. Und dann wäre da noch ihr nun nicht mehr geheimes Alter Ego E. D. Burton, berühmter Krimiautor.

„Hier ist das Armband, das Sie sich von Ihrer Tante borgen wollten, Mylady.“ Sophie, ihre neue Zofe, schlüpfte mit dem golden-silbernen Armband in der Hand in Amys Schlafzimmer. Tante Margaret hatte darauf bestanden, dass Amy dem neuen Trend folgte und bei ihrer Hochzeit als Glücksbringer etwas Altes, etwas Neues, etwas Geborgtes, etwas Blaues und einen Glückspfennig im Schuh trug.

Amy fand diesen Aberglauben lächerlich, aber um ihre Tante, die sie sehr liebte und die sie seit ihrem zehnten Lebensjahr großgezogen hatte, glücklich zu machen, hatte sie eingewilligt, das geborgte Schmuckstück zu tragen.

Das Armband war das letzte Stück, das sie benötigte, um diese alberne Tradition zu vollenden. „Danke, Sophie.“ Amy streckte ihren Arm aus, sodass die Zofe ihr das Armband anlegen konnte.

Sophie war neu in ihrem Haushalt. Genau genommen würde das nicht mehr ihr Haushalt sein, sobald sie verheiratet war. Sie würde in Williams Stadthaus ziehen. Amy hatte keine Zofe mehr gehabt, seit ihre vorherige sie verlassen hatte, um zu heiraten. Wenn sie unbedingt jemanden gebraucht hatte, hatte Tante Margarets Zofe ihr geholfen.

Da sie zu diversen Anlässen leicht zerzaust und oft mit zwei verschiedenen Schuhen erschienen war, hatte William darauf bestanden, eine Zofe für sie einzustellen. Sie hoffte, dass er ihr Nachgeben in dieser Angelegenheit nicht für ein Zeichen hielt, dass sie sich zukünftig all seinen Wünschen beugen würde. Andererseits war sie sich ziemlich sicher, dass er sie besser kannte, als dass er das erwarten würde.

„Sie sehen einfach wunderschön aus, Mylady“, sagte Sophie. „Ihr Lord Wethington wird seine Augen nicht von Ihnen lassen können.“

Amy bückte sich und raffte ihre Röcke zusammen, bereit zum Aufbruch. „Hoffen wir, dass das nicht der Fall sein wird, da ich nicht möchte, dass er den ganzen Tag gegen Wände läuft.“

Sie verließen Amys Zimmer und trafen im Flur auf Tante Margaret, die gerade aus ihrem Schlafzimmer trat. „Oh, Liebes. Du siehst traumhaft aus.“ Mit Tränen in den Augen legte ihr Tante Margaret den Finger unters Kinn. „Ich freue mich so sehr, dass du heiratest, und ich kann mir keinen anderen Mann vorstellen, der dich mehr verdient als William.“

Amy war sich nicht ganz sicher, ob das ein Kompliment oder eine leichte Beleidigung war, dennoch stiegen auch ihr die Tränen in die Augen, und sie umarmte ihre Tante. „Falls ich es noch nie gesagt habe: Ich habe dich sehr lieb, Tante, und ich danke dir für all die Liebe und Aufmerksamkeit, mit denen du mich im Laufe der Jahre überschüttet hast.“

Beide Damen tupften sich die Augen. Amy musste ein paarmal schlucken, um ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen.

„Kommt ihr herunter oder müssen wir hochkommen und euch holen?“, rief Michael, der Earl of Davenport, Amys einziger Bruder, aus der Eingangshalle.

„Wir kommen schon“, rief Tante Margaret. „Meine Güte, wir haben doch noch genügend Zeit.“

Am unteren Ende der Treppe standen Michael und Amys Vater, der Marquess of Winchester, und starrten Amy mit offenen Mündern an. Papa streckte die Arme nach seiner Tochter aus und nahm ihre Hände in seine großen, warmen. „Meine geliebte Tochter, du bist das Ebenbild deiner lieben Mutter. Sie wäre sehr stolz auf dich heute.“

Eine weitere Tränenflut drohte loszubrechen, und Amy blinzelte angestrengt, um die verfluchten Dinger zurückzuhalten. „Ach, Papa, ich vermisse sie so sehr. Ich wünschte, sie wäre hier.“

Michael räusperte sich. „Sollen wir den armen William in der Kirche auf Nadeln sitzen lassen in der Angst, seine Braut hätte ihre Meinung geändert? Oder sollen wir uns seiner erbarmen, weil er heute seiner Freiheit beraubt wird, und auf schnellstem Wege zur Kirche fahren?“

Amy schüttelte lächelnd den Kopf. „Michael, du schaffst es immer, das Falsche zu sagen.“ Sie gab Papa einen Kuss auf die Wange, dann nahm sie seinen Arm, und sie verließen das Haus.

In den vergangenen zwei Tagen waren fast all ihre Besitztümer zu Williams Haus gebracht worden. Sie würden dort die Nacht verbringen und am nächsten Morgen in die Flitterwochen nach Brighton Beach fahren, Amys allerliebstem Fleckchen Erde. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf drehte sie sich noch einmal um, bevor sie in die Kutsche stieg, und blickte voller Nostalgie auf das Stadthaus zurück, das für den größten Teil ihres Lebens ihr Zuhause gewesen war.

Als sie alle vier in der Kutsche saßen, klopfte Michael an die Decke als Signal für den Kutscher und der Wagen setzte sich in Bewegung. „Mein Kind, ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich bin, dich vor den Altar treten zu sehen.“ Papa lächelte sie mit einer gewissen Befriedigung an.

Natürlich war ihr Herr Papa glücklich darüber. Schließlich hatte er einen guten Teil seines Lebens mit dem Versuch verbracht, seine Halbschwester, Tante Margaret, zu verheiraten – ohne Erfolg. Und vor ein paar Jahren hatte er dann seine Bemühungen auf Amy gerichtet. Es ärgerte sie, dass Männer das Gefühl hatten, die Frauen der Familie müssten an einen Mann gefesselt sein, um ein erfülltes Leben zu führen. Nicht dass sie bei William das Gefühl haben würde, sie wäre an ihn gefesselt, versicherte sie sich hastig.

Er war anders. Er war der Grund, weshalb nun öffentlich bekannt war, dass Amy hinter dem Autor E. D. Burton steckte, anstatt dass sie zusehen musste, wie ein unbekannter Mann die ganze Anerkennung für ihre Bücher erntete. Zuvor hatte Papa darauf bestanden, dass sie ein Pseudonym verwendete und ihre Identität geheim hielt. Als William ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte, hatte sie darauf bestanden, dass er nicht von ihr verlangte, weiterhin anonym zu bleiben. Er hatte zugestimmt, dann hatte sie zugestimmt, und hier waren sie nun, auf dem Weg zu ihrer Hochzeit.

Die St. Swithin’s Church stand an der Paragon-Straße im Stadtteil Walcot von Bath. Amy war in dieser Kirche getauft worden und besuchte fast jeden Sonntag den Gottesdienst in diesem alten Gebäude. William ebenso, und sie hatten schon so manchen Sonntag Seite an Seite verbracht und sich ein Gesangbuch für die Messe geteilt.

Obwohl es ein warmer frühherbstlicher Tag war, lief ihr ein Schauer über den Rücken, als sie mit Papas Hilfe aus der Kutsche stieg. Die Kirche hatte noch nie so einschüchternd und groß ausgesehen. Eloise Spencer, Amys beste Freundin – sehr zu Papas Leidwesen, da er sie für einen Wildfang hielt, was sie auch war –, war ihre Trauzeugin. Amy hatte zuerst Tante Margaret gefragt, doch diese hatte abgelehnt mit der Begründung, sie sei mit ihren einundvierzig Jahren viel zu alt für solch eine Aufgabe.

Gemeinsam stiegen sie die Stufen empor und betraten die Vorhalle der Kirche, wo sie von all den vertrauten Anblicken, Gerüchen und Klängen begrüßt wurden – so auch von den schiefen Tönen der Organistin, Mrs Edith Newton, einer reizenden, teilweise erblindeten Frau, die jeden Sonntag spielte und dazu neigte, sich bei jedem Lied mehrmals zu vergreifen. Aber Amy hatte es nicht übers Herz gebracht, für ihre Hochzeit um einen anderen Organisten zu bitten, denn das hätte die Gefühle der alten Dame verletzt.

Tante Margaret küsste Amy auf die Wange, dann hängte sie sich bei Michael ein, und gemeinsam gingen sie hinein, um in der Kirchenbank Platz zu nehmen, die für ihre Familie reserviert war.

Eloise umarmte Amy. „Ich freue mich so für dich. Du und William seid das perfekte Paar.“

Die Kirchentore öffneten sich, und Amy hatte das plötzliche Bedürfnis, zu Papa zu sagen: „Tut mir leid, das ist alles ein Irrtum. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen – ich werde es schon allein nach Hause schaffen.“

Dann schaute sie den Gang hinunter und erblickte William, der neben Mr Colbert, ihrem gemeinsamen Freund und jetzigen Ehemann von Williams Mutter, stand, und all ihre Ängste waren wie weggeblasen.

Dies war kein Fremder, den sie heiratete. Sie und William waren schon seit Ewigkeiten Mitglieder desselben Buchclubs, seit Jahren Tanzpartner auf dem wöchentlichen Ball in den Assembly Rooms und Mitglieder derselben Kirchengemeinde sowie seit zwei Jahren Partner bei der Aufklärung der Morde an Amys ehemaligem Verlobten und Williams Vermögensverwalter.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, beugte sich Papa zu ihr. „Hab keine Angst, mein Kind; das ist die beste Entscheidung deines Lebens.“

Amy atmete tief ein und lächelte. „Ja, Papa. Ich weiß.“

***

William, Viscount Wethington, fuhr mit dem Finger innen an seinem Kragen entlang und räusperte sich. Nun, da Amy endlich eingetroffen war, war ein Teil seiner Nervosität verflogen, aber er wusste, er würde sich nicht vollkommen entspannen, bis die Zeremonie vorüber war.

Mr Colbert – wie William ihn immer noch nannte, obwohl er seit drei Monaten sein Stiefvater war – klopfte ihm auf die Schulter. „Deine Braut ist hier. Jetzt kannst du dich entspannen, mein Sohn.“

Er hatte Mr Colbert jahrelang als den Leiter der Treffen des Krimi-Buchclubs von Bath gekannt. Anfang des Jahres war Williams Mutter, Lady Wethington, aus London angereist, um sich bei ihrem Sohn niederzulassen.

Sobald sie sich eingelebt hatte, hatte sie beschlossen, an einem Buchclubtreffen teilzunehmen. Und da sie immer noch eine schöne Frau war, hatte die Witwe Mr Colbert, kaum hatte er sie erblickt, in ihren Bann gezogen. William war darüber nicht glücklich gewesen, denn er fühlte sich unwohl dabei, dass ein Mann seine Mutter begehrte, aber es hatte sich herausgestellt, dass Mr Colberts Absichten ehrenhaft waren, und er und Williams Mutter hatten sich ein paar Tage, bevor Amy und William ihre eigene Verlobung bekannt gegeben hatten, ebenfalls verlobt.

Um der Hochzeit des jüngeren Paares nicht die Schau zu stehlen, waren sie drei Monate zuvor durchgebrannt und hatten im Geheimen geheiratet – William konnte es immer noch nicht glauben, dass seine Mutter tatsächlich durchgebrannt war.

Nun begann Mrs Newton zu spielen, und Amy schritt am Arm von Lord Winchester den Gang herunter. Sie sah ein wenig blass aus, aber William vermutete, dass bei ihrer hellen Gesichtsfarbe das Tragen von Weiß diese Wirkung haben konnte.

Er hatte seine Braut schon immer für schön gehalten, aber heute war sie absolut atemberaubend.

Ihr weißes Satinkleid umschmeichelte ihre Taille, und im Rücken war der Stoff zusammengerafft, sodass er an ihrem Bauch eng anlag. Sie trug einen weißen Schleier, der beinahe so lang war wie das Kleid und mit einem Kranz aus kleinen Rosen auf ihrem Kopf befestigt war.

Lord Winchester küsste seine Tochter auf die Wange, schüttelte William die Hand und übergab Amy an ihn. Mit verschränkten Händen grinsten sie sich an, und er wusste, dass alles gut werden würde.

Die Zeremonie dauerte lange, und William musste sich mehrmals bewusst aus seinen Tagträumereien reißen. Seine Gedanken schweiften immer wieder zu den bevorstehenden Flitterwochen und dem charmanten Cottage ab, das er für ihren zweiwöchigen Aufenthalt in Brighton Beach gemietet hatte.

Schließlich kamen sie zu der Stelle, an der sie ihre Gelübde ablegen sollten. Auf Anweisung des Pastors hin drehte sich William zu Amy, sodass sie sich Händchen haltend gegenüberstanden. Amys Hände waren eiskalt.

Sie sprach ihr Gelübde klar und deutlich. Er nahm den Ring von Mr Colbert und steckte Amy das diamantbesetzte Goldband an den Finger:

„Mit diesem Ring nehme ich dich als meine Frau. Ich werde dich lieben, achten und ehren, in guten wie in schlechten Tagen, in Gesundheit und Krankheit, in Reichtum und Armut, bis dass der Tod uns scheidet. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“

Es war vollbracht. Er hatte eine Ehefrau. Und er hatte nicht einmal weiche Knie. Ihre Hände blieben ineinander verschränkt, als sie sich wieder dem Pastor zuwandten und sich für den Schlusssegen niederknieten, der Williams Meinung nach viel zu lang dauerte.

Als die Zeremonie zu Ende war, gingen sie zusammen mit Eloise und Mr Colbert in die Sakristei, wo sie sich in das Heiratsbuch eintrugen, und gesellten sich anschließend zu den Gästen in den hinteren Teil der Kirche.

Amys Großtante, Lady Priscilla Granville, hatte freundlicherweise angeboten, das Hochzeitsessen in ihrem Haus am Rande von Bath, dem Derby Manor House, auszurichten. Der Zeremonie selbst wohnten zwar nur enge Angehörige bei, aber an der anschließenden Feier würden auch Freunde und andere Familienmitglieder teilnehmen. Laut der letzten Zählung, die William im Kopf hatte, würden es siebenundvierzig Gäste sein, von denen einige von auswärts angereist waren und daher bereits die Nacht zuvor im Herrenhaus verbracht hatten.

Nachdem sie sich kurz mit den Kirchenbesuchern unterhalten hatten, gingen er und Amy zu seiner Kutsche. Als sie eingestiegen waren und die Kutsche sich in Bewegung gesetzt hatte, beugte er sich vor, nahm ihre Hände in seine und sagte: „Was hältst du davon, wenn wir das Hochzeitsessen ausfallen lassen und direkt nach Brighton Beach fahren?“

Seine frischgebackene Gattin schnalzte mit der Zunge. „Sei nicht albern, William. Lady Granville hat sich sehr viel Mühe gegeben, dieses Ereignis auszurichten.“

Seufzend lehnte er sich zurück und blickte aus dem Fenster. „Ich weiß. Ich habe es nicht wirklich in Betracht gezogen.“

Amy lachte und betrachtete ihn mit einem Lächeln. „Oh doch, ich glaube, das hast du sehr wohl, liebster Gatte.“

Gatte. An diesen Titel musste er sich erst noch gewöhnen.

Kapitel 2

Noch vor einem Jahr wäre William ein eiskalter Schauer den Rücken heruntergelaufen, und allein bei dem Gedanken, so angesprochen zu werden, wäre er so schnell wie nur möglich davongerannt.

Gatte.

Als er nun zu seiner Ehefrau hinüberblickte, wurde ihm ganz warm ums Herz. Amy – die neue Viscountess Wethington – war mehr als nur seine Ehefrau. Sie war seine beste Freundin, Krimi-Buchclub-Kollegin, Gefährtin und die perfekte Partnerin, um gemeinsam in Schwierigkeiten zu geraten.

Ja. Er war sich sicher, dass dies die richtige Entscheidung gewesen war und dass sie eine gute Ehe führen würden. Vielleicht eines Tages sogar Kinder haben würden, denen er seinen Titel und seine irdischen Besitztümer vermachen würde.

„Es war eine schöne Zeremonie, nicht wahr?“, fragte Amy, als die Kutsche sich von der Kirche entfernte.

Da es ihm zu peinlich war, zuzugeben, dass er die meiste Zeit des Gottesdienstes mit Grübeleien über die Frage, wie lange es wohl noch dauern und ob es jemals enden würde, verbracht hatte, nickte er. „Ja, sehr schön.“

Sie lachte. „Mein liebster Gatte, ich glaube, du lügst. Du warst während der gesamten Messe in Tagträume versunken.“

Er zuckte mit den Schultern und stimmte in ihr Lachen mit ein. „Nicht während der gesamten Messe. Ich erinnere mich deutlich daran, mein Gelübde gesprochen zu haben.“

„Ja, daran erinnere ich mich auch.“

Er griff nach ihrer Hand und zog Amy neben sich auf die Sitzbank. „Ich glaube, jetzt ist es Zeit für einen richtigen Kuss. Findest du nicht auch?“

„Ähm, ja, das finde ich auch.“

Es war seltsam, immerhin hatte er Amy in den letzten Monaten oft geküsst, aber seine Ehefrau zu küssen, war etwas ganz anderes. Etwas sehr Angenehmes. Ein Gefühl der Zugehörigkeit, der Besitzergreifung und der Fürsorglichkeit machte sich in ihm breit, zusammen mit dem erneuten Wunsch danach, dass die Feierlichkeiten bereits vorbei wären, damit sie sich in sein Stadthaus begeben und sich in ihr Schlafgemach zurückziehen könnten. Schließlich war er ein frisch verheirateter Mann.

Sie verfielen in ein angenehmes Schweigen, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, bis die Kutsche eine Viertelstunde später vor dem Derby Manor House vorfuhr.

„Es ist wirklich sehr großzügig von Lady Granville, das Hochzeitsessen auszurichten“, sagte William und rutschte auf dem Sitz nach vorne, als die Kutschentür von einem Lakaien in der Granville-Livree geöffnet wurde. Beim Aussteigen warf er ihr einen Blick zu und fügte widerstrebend hinzu: „Ich verspreche, dich nicht zum baldigen Aufbruch zu drängen.“

„Danke.“ Sie begann, ihre Röcke und ihren Schleier zusammenzuraffen. „So schön dieses Brautkleid auch ist, ich bin solch sperrige Kleider nicht gewohnt und freue mich schon darauf, wenn ich alles ausziehen und gegen bequeme Kleidung für unsere morgige Reise nach Brighton Beach eintauschen kann.“

William schluckte und versuchte sein Bestes als Gentleman, nicht auf ihre Aussage bezüglich des Ausziehens all ihrer Kleider zu reagieren. Bis dorthin lagen noch viele Stunden vor ihnen.

Nachdem er ausgestiegen war, drehte er sich um, nahm Amys Hand und mit ineinander verschlungenen Fingern stiegen sie die Stufen hinauf zu den massiven Holztüren, die von zwei Lakaien offen gehalten wurden. Der Eingangsbereich war bereits voll mit wartenden Gästen, die nicht dem Gottesdienst beigewohnt hatten.

William und Amy nahmen direkt ihren Platz neben Amys Vater und der neuen Mrs Colbert mit Ehemann in der Eingangshalle ein. William unterdrückte den Schauer, der ihn jedes Mal bei diesem Namen überkam. Doch so, wie Mr Colbert und seine Mutter einander ansahen, konnte William ihre Beziehung nicht missbilligen. Seine Mutter war glücklich. Glücklicher, als er sie seit dem Tod seines Vaters je gesehen hatte.

Und um ehrlich zu sein, war er ziemlich erleichtert, dass Mutter und Amy nicht um die Position der „Hausherrin“ im Wethington Townhouse konkurrieren würden.

Schon bald war er vollauf damit beschäftigt, die Gäste zu begrüßen, viel zu feste Händedrücke über sich ergehen zu lassen, alte, faltige Wangen zu küssen und Glückwünsche entgegenzunehmen, begleitet von anzüglichem Gezwinker und Kommentaren, von denen er hoffte, dass Amy sie nicht hörte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit blickte er in Richtung der Eingangstür. „So langsam ist ein Ende der Schlange in Sicht, Liebling. Bald werden wir uns zu den anderen in den Salon gesellen können.“ William ließ die Schultern kreisen, um seine verkrampften Muskeln zu lockern. „Ich fühle mich mehr als bereit für eine Verschnaufpause.“

Amy zupfte an seinem Ärmel und sagte mit gesenkter Stimme: „William, ich muss unbedingt meine Schuhe wechseln. Tante Margaret hat auf diesen zierlichen Schuhen mit höheren Absätzen, als ich es gewohnt bin, bestanden. Sie sind ziemlich schmerzhaft.“

Seine arme Frau sah tatsächlich so aus, als müsste sie sich dringend setzen. „Nun, das können wir nicht zulassen.“ William sah sich um und winkte einen Lakaien heran. „Suchen Sie bitte Lady Wethingtons Zofe und bitten Sie sie, zu uns zu kommen.“

Nachdem zehn Minuten verstrichen waren, ohne dass Sophie oder ein anderes Dienstmädchen aufgetaucht war, und endlich die letzten Gäste begrüßt waren, begaben sich seine Eltern und Lord Winchester zu den anderen in den Salon, die dort ihre Drinks genossen.

William neigte sich zu Amy. „Zieh deine Schuhe aus.“

Sie wich zurück und starrte ihn mit großen Augen an. „Wie bitte?“

„Zieh sie aus. Dein Kleid ist lang genug, es verdeckt deine Füße. Keiner wird es bemerken.“

Amy hielt sich an seinem Arm fest, während sie die Schuhe abstreifte, und stellte diese anschließend hinter die steinerne Büste eines Dichters, der sie die ganze Zeit über stumm beobachtet hatte. „Habe ich dir heute schon gesagt, wie glücklich ich mich schätzen kann, dich geheiratet zu haben?“

William küsste sie auf die Stirn. „Jetzt schon. Aber ich höre es gern noch öfter.“

Amy, nun ohne Schuhe, hängte sich bei ihm ein, und gemeinsam machten sie sich auf in den Salon wie ein normales, anständiges Brautpaar – nur eben zur Hälfte barfuß.

***

Erleichtert wackelte Amy mit den Zehen, nun da sie diese schmerzhaften Schuhe los war. Solch eine unschickliche Idee konnte nur von William stammen. Aber anstatt empört zu sein, wie es wahrscheinlich viele Bräute wären, hielt sie es für eine fabelhafte Idee.

„Ach, meine Lieben, ich freue mich so sehr für Sie beide.“ Miss Gertrude O’Neill und ihre Schwester, Miss Penelope, kamen auf sie zu, tupften sich mit Spitzentaschentüchern die Augen und umarmten die Frischvermählten.

Die Misses O’Neill waren wie üblich identisch gekleidet, als wären sie Zwillinge, was sie nicht waren. Die zwei Damen mittleren Alters waren Mitglieder des Krimi-Buchclubs von Bath sowie der Kirchengemeinde von St. Swithin’s. Anfang des Jahres war Miss Gertrude des Mordes an Williams Vermögensverwalter verdächtigt worden. Sie war von dem Schuft erpresst worden, aber nachdem William und Amy sie von ihrer Verdächtigenliste gestrichen hatten, hatte sie Amy ihr dunkles Geheimnis anvertraut, was Amys Zuneigung zu ihr nur noch vertieft hatte.

„Sie sind so eine schöne Braut, Lady Amy.“ Miss Penelope kicherte hinter vorgehaltener Hand. „Oh, Verzeihung, meine Liebe. Ich meinte natürlich: Sie sind so eine schöne Braut, Lady Wethington.“

Amys Wangen wurden heiß. Obwohl sie die Anrede beim Empfang der Gäste bereits oft gehört hatte, war sie noch immer nicht ganz immun dagegen. Es würde wohl einige Zeit dauern, sich daran zu gewöhnen. Es war zu schade, dass die Frau bei der Heirat den Namen des Mannes annehmen musste. Wie schön wäre es doch, wenn sie die Wahl hätte, ihren eigenen Namen zu behalten – oder noch besser, wenn der Mann den Namen der Frau annehmen würde. Ja, das wäre was.

Nur wäre der Name, den die Frauen behalten würden, der Name ihres Vaters, also würden sie so oder so den Namen eines Mannes tragen. Amy seufzte. Vielleicht würde sie dieses Problem in einem ihrer Bücher thematisieren. Sie grinste. Daran würde ihr Verleger mal schwer zu schlucken haben.

Ein Lakai mit einem Tablett kam an ihnen vorbei. William nahm zwei Gläser Wein und reichte ihr eines. Amy nahm einen Schluck und schloss genussvoll die Augen, als das wunderbare Getränk ihre trockene Kehle hinunterfloss. Sofort nahm sie einen weiteren großen Schluck.

„Vorsicht, Liebling“, meinte William. „Du solltest nicht zu schnell trinken.“

Amy nickte zustimmend. Das wäre nicht gut, bei ihrem eigenen Hochzeitsessen weinselig zu werden. „Könntest du mir dann vielleicht ein Glas Wasser holen? Ich bin ziemlich durstig, und du hast recht. Das hier ist kein guter Ersatz, wenn ich bei klarem Verstand bleiben möchte.“

William entfernte sich, gerade als Mr und Mrs Colbert an sie herantraten. Ihre neue Schwiegermutter nahm ihre Hände. „Dieses Haus ist einfach traumhaft, Amy. Es war sehr freundlich von deiner Tante, es euch zur Verfügung zu stellen.“

Amy schaute sich um, fast so, als sähe sie den Raum zum ersten Mal, obwohl sie Tante Priscilla schon oft besucht hatte. Es war wirklich ein wunderschöner Raum. Der Salon war groß genug, um ihre circa fünfzig Gäste bequem unterzubringen. Der obere Teil der Wände war mit gemusterter, blassgrüner Moiré-Seide verkleidet, der untere Teil mit einer cremefarbenen Vertäfelung. Die dunkelgrünen und rosafarbenen Vorhänge waren von den Fenstern zurückgezogen worden, um das Sonnenlicht hereinzulassen.

Normalerweise standen mehrere Sitzgruppen, bestehend aus bequemen gemusterten und gestreiften Sesseln, um kleine Couchtische im Raum verteilt herum. Heute jedoch waren alle Möbel entfernt worden, um Platz für die Gäste zu schaffen.

Und nicht zuletzt schätzte sie den dunkelrosa Axminster-Teppich, in dem ihre nackten Füße wohlig versanken.

„Ja, es war sehr großzügig von Lady Granville, diese Aufgabe zu übernehmen.“

„Über welche Seite der Familie seid ihr verwandt?“, fragte Mrs Colbert.

„Sie ist die Tante meiner verstorbenen Mutter. Lord und Lady Granville boten an, mich aufzunehmen, als Mama starb, aber Papa hielt es für besser, wenn ich bei Tante Margaret blieb, in deren Haus ich mein ganzes Leben verbracht hatte. Aber Tante Priscilla war immer präsent in meinem Leben.“

„Und nun ist sie verwitwet?“

„Ja. Zu ihrem Glück war dieses Anwesen nicht an die Erbfolge gebunden, sodass sie es nach dem Tod von Lord Granville behalten konnte.“

„Es ist wunderschön.“ Mrs Colbert wandte sich ihrem Mann zu. „Nicht wahr, Liebster?“

Den Blick auf sie gerichtet, sagte er: „Ja, in der Tat wunderschön.“

Da allen in ihrer kleinen Runde klar war, dass er von seiner Frau sprach und nicht vom Raum, errötete Mrs Colbert wie eine junge Debütantin. Amy schmunzelte. Wer hätte je gedacht, dass diese beiden ein Paar werden würden?

William kehrte an ihre Seite zurück und reichte ihr ein Glas Wasser. „Lady Granville hat soeben dem Butler mitgeteilt, dass wir uns gleich in den Speisesaal begeben werden.“

Kaum hatten die Worte seinen Mund verlassen, verkündete der Butler ebendies. Amy stellte ihr halb volles Weinglas ab und nahm nur das Wasser mit. Im Moment benötigte sie eher etwas gegen den Durst als Alkohol.

William zog den Stuhl für sie zurück. Amy, William, Eloise und Mr und Mrs Colbert saßen am Haupttisch, der so stand, dass sie in Richtung der Gäste schauten.

Lakaien schenkten Champagner in die Gläser ein, die an jedem Platz standen, während die Gäste weiter plauderten und umherwanderten. Amy leerte ihr Wasser und fühlte sich augenblicklich erfrischt.

„Besser?“, fragte William.

„Ja, viel besser. Keine wunden Füße und keine trockene Kehle mehr. Was könnte das noch übertreffen?“

Er beugte sich dicht an ihr Ohr heran. „Flitterwochen?“

Die Röte, die ihr daraufhin ins Gesicht schoss, hinkte jener von Mrs Colbert vorhin sicherlich in nichts nach. „William, benimm dich“, murmelte sie und blickte sich schnell um.

Ihr Mann grinste bloß und trank seinen Wein in einem Zug aus.

Ein paar Minuten später, als die Gäste endlich ihre zugewiesenen Plätze gefunden und die Lakaien den Champagner fertig ausgeschenkt hatten, klopfte Mr Colbert mit dem Messer leicht gegen sein Glas, um die Aufmerksamkeit aller Anwesenden zu erlangen. „Ladys und Gentlemen, es ist mir eine Ehre, einen Toast auf meinen Stiefsohn und seine reizende neue Ehefrau ausbringen zu dürfen.“

Er räusperte sich und hob seine Champagnerflöte. „Ich kenne diese beiden wunderbaren jungen Menschen bereits seit Jahren durch unseren Buchclub.“ Er sah William an. „Ich habe immer gewusst, dass mein Stiefsohn seine wahre Liebe in einer so wundervollen Frau wie der neuen Lady Wethington finden würde.“ Er wandte sich wieder den Gästen zu und hob sein Glas. „Auf die Gesundheit und das Glück der Braut und des Bräutigams, Lord und Lady Wethington.“ Er drehte sich noch einmal zu Amy und William. „Und mögen eure guten wie schlechten Zeiten mehr gut als schlecht sein.“

Gelächter und Rufe von „Hört, hört“, „Auf Ihr Glück“ und „Zum Wohl“ ertönten, gefolgt von Stille, als die Gäste einen Schluck des Piper-Heidsiecks, des angeblichen Lieblingschampagners von Marie Antoinette, nahmen.

Die Unterhaltungen flammten wieder auf, als die leeren Gläser zurück auf den Tisch gestellt wurden und die Lakaien begannen, die Speisen des Menüs zu servieren, das Amy und ihre Großtante ausgearbeitet hatten. Ei mit Speck, Niere, Aufschnitt sowie Räucherhering und Kedgeree. Zudem hatten sie sich auf ein leicht würziges Gericht aus den indischen Kolonien geeinigt, bestehend aus Reis, geräuchertem Fisch und gekochten Eiern.

Amy hatte gar nicht bemerkt, wie hungrig sie war, bis sie den ersten Bissen des indischen Reisgerichts nahm. Sie schloss die Augen und genoss das Geschmackserlebnis des brennenden Currys auf ihrer Zunge. Das war definitiv eine gute Wahl gewesen.

Sie riss die Augen auf, als von einem der Tische ein allgemeines Aufkeuchen ertönte, gefolgt von einem weiblichen Schrei.

Alle Gespräche verstummten, und alle Augen richteten sich auf Amys angeheirateten Cousin Albert. Dieser starrte entsetzt auf seine Frau Alice, die neben ihm saß und deren Gesicht bewegungslos in einem Teller voller Eier und Speck ruhte.

Den starren Blick weiterhin auf ihren Hinterkopf gerichtet, leckte er sich die Lippen und krächzte: „Ich glaube, sie ist tot.“