Leseprobe Die dunkle Begierde der Lady

1. Kapitel

Bei Einbruch der Dunkelheit gelangte Wahrsprecher auf den Gipfel des Berges und erblickte eine mächtige Burg, schwarz wie die Nacht …

Aus „Der Wahrsprecher“

Schottland, Juli 1765

Erst als die Kutsche um die letzte Wegbiegung rumpelte und die verfallene Burg sich in der Abenddämmerung auf der Anhöhe erhob, wurde Helen Fitzwilliam bewusst – und das reichlich spät –, dass diese Reise ein schrecklicher Fehler gewesen sein könnte.

„Ist sie das?“ Jamie, ihr fünfjähriger Sohn, kniete auf dem muffigen Sitzpolster der Kutsche und starrte angestrengt aus dem Fenster. „Ich dachte, es wäre eine Burg.“

„Es ist doch auch eine Burg, du Dummerchen“, erwiderte seine neunjährige Schwester Abigail. „Siehst du denn nicht, dass sie einen Turm hat?“

„Nur weil es einen Turm gibt, muss es ja keine Burg sein“, gab Jamie zurück und musterte das seltsame Gemäuer mit gerunzelter Stirn. „Es hat keinen Wassergraben. Eine Burg hat immer einen Wassergraben. Also kann es gar keine richtige Burg sein!“

„Kinder!“, fuhr Helen etwas zu scharf dazwischen, aber seit vierzehn Tagen saßen sie nun fast ununterbrochen auf beengtem Raum beisammen. „Hört bitte auf zu streiten.“

Natürlich stellten ihre beiden Sprösslinge sich taub.

„Und rosa ist sie auch noch“, quengelte Jamie weiter und drückte sich die Nase am kleinen Kutschenfenster platt, das von seinem Atem beschlug. Dann drehte er sich um und funkelte seine Schwester an. „Meinst du vielleicht, eine richtige Burg ist rosa?“

Helen unterdrückte einen Seufzer und rieb sich die Schläfen. Seit einigen Meilen schon pochte leise ein Kopfschmerz über ihrem rechten Auge, und sie wusste, dass er genau dann unerträglich werden würde, wenn sie all ihre Sinne beisammenhaben musste. Sie hatte das Ganze nicht gründlich genug durchdacht. Aber wann war dies je der Fall gewesen? Impulsivität zog sich wie ein roter Faden durch ihr Leben, unbedachtes Handeln, das sie später in aller Ruhe bereuen durfte. Nur so konnte es kommen, dass sie im reifen Alter von einunddreißig Jahren durch diesen fernen unwirtlichen Landstrich fuhr, um sich und ihre Kinder der Barmherzigkeit eines Fremden auszuliefern.

Wie töricht sie doch war!

Doch bei aller Torheit sollte sie sich nun zusammenreißen und ganz genau überlegen, was sie gleich sagen würde, denn schon rollte die Kutsche aus und hielt vor dem mächtigen Burgtor.

„Kinder!“, herrschte sie die beiden an.

Beide fuhren bei ihrem Tonfall überrascht herum. Jamie hatte die braunen Augen weit aufgerissen, während Abigails Miene eher angespannt als furchtsam war. Ihre Tochter bemerkte mehr, als für ein kleines Mädchen gut war; sie war sehr empfänglich für die Stimmungen anderer, und kein Erwachsener konnte ihr etwas vormachen.

Helen versuchte es dennoch. Sie atmete tief durch und lächelte zuversichtlich. „So, meine Lieben, das wird ein richtig spannendes Abenteuer. Aber ihr müsst daran denken, was ich euch gesagt habe.“ Hier schaute sie Jamie an. „Wie heißen wir?“

„Halifax!“, rief Jamie wie aus der Pistole geschossen. „Aber ich heiße immer noch Jamie, und Abigail ist auch noch Abigail.“

„Sehr gut, mein Schatz.“

So hatten sie es kurz hinter London beschlossen, als Helen ziemlich rasch begriffen hatte, dass Jamie schlichtweg außerstande war, seine Schwester nicht bei ihrem richtigen Namen zu nennen. Helen seufzte. Es blieb zu hoffen, dass beider Vornamen zu gebräuchlich waren, als dass sie sie verraten würden.

„Wir haben in London gelebt“, sagte Abigail ernst.

„Das ist doch leicht!“, rief Jamie dazwischen. „Wir haben ja in London gelebt.“

Abigail brachte ihren Bruder mit einem tadelnden Blick zum Schweigen und setzte ihre Aufzählung fort. „Mama war im Haushalt der Dowager Viscountess Vale in Stellung.“

„Und unser Vater ist tot und kein …“ Entsetzt riss Jamie die Augen auf und schlug sich die Hand vor den Mund.

„Müssen wir wirklich sagen, dass er tot ist?“, fragte Abigail in die Stille hinein.

„Ja, mein Schatz, denn er soll ja nicht nach uns suchen kommen.“ Helen schluckte; dann beugte sie sich vor und legte ihrer Tochter die Hand aufs Knie. „Es wird alles gut. Wenn wir nur …“

Just in diesem Augenblick wurde der Schlag aufgerissen, und der Kutscher schaute mit finsterer Miene herein. „Woll’n Sie jetzt aussteigen oder was? Sieht aus, als würd’s gleich regnen, und ich will zurück in der warmen Stube sein, wenn’s losgeht.“

„Natürlich.“ Helen nickte ihm hoheitsvoll zu. Der Mann war mit Abstand der griesgrämigste Kutscher, den sie auf dieser ohnehin unerfreulichen Reise gehabt hatten. „Wenn Sie bitte unser Gepäck abladen würden.“

Da schnaubte er bloß. „Schon erledigt. War ja nicht viel.“

„Kommt, Kinder!“, sagte Helen und hoffte, vor dem grässlichen Mann nicht auch noch zu erröten. Tatsächlich bestand ihr Gepäck nur aus zwei leichten Reisetaschen – eine für sie und eine für die Kinder. Dem Kutscher mussten sie erbärmlich vorkommen. Und hatte er damit nicht recht, in gewisser Weise?

Doch nun war nicht die Zeit für derlei entmutigende Gedanken. Nun galt es, ihre Sinne beisammenzuhaben und all ihre Überzeugungskünste zum Einsatz zu bringen.

Sie stieg aus und sah sich um. Hoch ragte das alte Gemäuer vor ihnen auf, wehrhaft und abweisend. Und sehr still – um nicht zu sagen: verlassen. Wieder ein Gedanke, den sie rasch verdrängen musste. Das Hauptgebäude war ein rechteckiger, gedrungener Bau aus rötlich schimmerndem, von Wind und Wetter verwittertem Gestein. An den Seiten ragten runde Türme empor. Eine Auffahrt führte hoch zur Burg. In besseren Zeiten mochte sie gekiest gewesen sein, doch Unkraut und Morast hatten sie längst zurückerobert. Vereinzelte Bäume, windschief und verwachsen, säumten den Weg und versuchten der unwirtlichen Witterung zu trotzen. In der Ferne zog sich Hügelland bis zum dunkler werdenden Horizont.

„Alles in Ordnung?“ Der Kutscher schwang sich auf den Bock, ohne sich noch einmal umzusehen. „Ich bin weg.“

„Lassen Sie uns wenigstens eine Laterne da!“, rief Helen, doch ihr Rufen ging im Lärm der davonrumpelnden Kutsche unter. Ungläubig starrte sie dem Wagen hinterher.

„Alles ist dunkel“, bemerkte Jamie mit Blick auf die Burg.

„Mama, da brennt nirgends Licht!“, meinte nun auch Abigail.

Sie klang verängstigt, und auch Helen ahnte nichts Gutes. Was, wenn niemand zu Hause war? Was sollten sie dann tun?

Darüber mache ich mir Gedanken, wenn es so weit ist. Sie war hier die Erwachsene. Eine Mutter sollte ihren Kindern ein Gefühl der Sicherheit geben.

Leichter gesagt als getan. Helen reckte das Kinn und lächelte Abigail zuliebe. „Wahrscheinlich brennt nur im hinteren Teil des Gebäudes Licht. Deshalb können wir es von hier aus nicht sehen.“

Sonderlich überzeugend wirkte diese Vermutung nicht auf Abigail, doch sie nickte tapfer. Helen nahm die beiden Taschen und stieg die ausgetretenen Steinstufen hinauf zu der riesigen zweiflügeligen Holztür, die in einen Spitzbogen eingelassen war. Die Scharniere und Beschläge aus dunklem Eisen muteten mittelalterlich an. Helen hob den eisernen Ring.

Fast verzweifelt hallte ihr Klopfen in der Stille der Burg wider.

Da standen sie nun, und Helen wollte einfach nicht glauben, dass ihnen niemand öffnen würde. Kalt fuhr ihr der Wind unter die Röcke, sodass sie sich bauschten. Sie strich sie wieder glatt. Jamie stieß mit den Stiefelspitzen gegen die Stufen, und Abigail seufzte so leise, dass es fast keiner mitbekam. Fast.

Helen presste die Lippen zusammen. „Nun, vielleicht hören sie uns nicht, weil sie sich in einem der Türme aufhalten.“

Sie klopfte erneut.

Mittlerweile war es tiefdunkel. Die Sonne war untergegangen und hatte alle Wärme des Tages mit sich genommen, soweit man überhaupt von Wärme sprechen konnte. Sie hatten Hochsommer, und in London war es zu dieser Jahreszeit ziemlich heiß, doch auf ihrer Reise hatte Helen feststellen müssen, dass es in Schottland auch in den Sommernächten empfindlich kalt werden konnte. Weit hinten am Horizont zuckte ein Blitz. Welch ein unwirtlicher Ort das doch war! Wie man freiwillig hier leben konnte, war ihr unerklärlich.

„Da kommt keiner“, sagte Abigail, als fern der Donner grollte. „Sieht so aus, als wäre niemand da.“

Helen schluckte, als sie die ersten Regentropfen in ihrem Gesicht spürte. Das letzte Dorf, das sie unterwegs passiert hatten, lag gut zehn Meilen zurück. Sie musste irgendeine Unterkunft für die Nacht finden. Denn Abigail hatte recht: Es war niemand da. Sie hatte sich verrannt – mal wieder –, hatte die Kinder mitgenommen auf diese aberwitzige Reise, ohne die möglichen Folgen zu bedenken.

Wieder mal hatte sie die beiden im Stich gelassen.

Helens Lippen begannen zu zittern. Nein, nur nicht vor den Kindern weinen.

„Vielleicht gibt es ja eine Scheune, in der wir …“, begann sie, als eine der beiden Türen so unvermittelt aufgerissen wurde, dass Helen erschrocken zusammenfuhr.

Sie wich zurück und wäre fast die Treppe hinuntergefallen. Erst war nichts zu sehen im undurchdringlichen Dunkel – als wäre die Tür von Geisterhand geöffnet worden. Doch dann bewegte sich etwas, und Helen meinte, eine schemenhafte Gestalt auszumachen. Ein Mann stand vor ihnen, groß, schlank und sehr, sehr einschüchternd. In der Hand hielt er eine Kerze, deren spärliches Licht kaum die Finsternis durchdrang. An seiner Seite stand ein vierbeiniges struppiges Ungetüm, vermutlich ein Hund, doch so groß, wie sie noch keinen je gesehen hatte.

„Was wollen Sie?“, fragte er. Seine Stimme war heiser, vielleicht vor Anstrengung, vielleicht, weil er so lange mit niemandem mehr gesprochen hatte. Seine Aussprache klang kultiviert, sein Ton jedoch alles andere als einladend.

Helen rang nach Worten. Er war keineswegs so, wie sie erwartet hatte. Und dieses Untier an seiner Seite, was war das nur?

In diesem Augenblick fuhr abermals ein Blitz vom Himmel herab. Mann und Tier wurden in grelles Licht getaucht, als stünden sie auf einer Bühne. Es war tatsächlich ein Hund, groß wie ein Kalb, mit grauem Zottelfell und dunkelbraunen Augen. Schlimmer jedoch war der Mann. Strähniges schwarzes Haar hing ihm wirr und zerzaust bis auf die Schultern. Zu abgetragenen Breeches, den typischen Reithosen, und Gamaschen trug er einen derben Jagdrock, der allenfalls noch für den Lumpensammler taugte. Dunkle Bartstoppeln überzogen Kinn und Wangen in einem Gesicht, dessen linke Seite von schrecklichen roten Narben überzogen war. Ein hellbraunes Auge blitzte im Schein des Wetterleuchtens auf und ließ ihn wirken wie den Teufel in Menschengestalt.

Das Schlimmste jedoch: Wo das linke Auge hätte sein sollen, war nur eine tief eingesunkene Höhle.

Abigail schrie.

Schreien. Immer mussten sie schreien!

Sir Alistair Munroe starrte die Frau und die Kinder an, die sich vor seine Tür verirrt hatten. Plötzlich begann es sintflutartig zu schütten, und die Kinder drängten sich an die Röcke ihrer Mutter. Kinder, vor allem kleine Kinder, fingen fast immer an zu schreien und rannten weg, wenn sie ihn sahen. Manchmal auch erwachsene Frauen. Gerade letztes Jahr erst war in Edinburgh eine junge Dame recht melodramatisch in Ohnmacht gesunken, als sie auf der Straße in sein Gesicht gesehen hatte.

Am liebsten hätte Alistair dem dummen Luder eine Backpfeife verpasst.

Stattdessen war er wie eine räudige Ratte davongehuscht und hatte die versehrte Hälfte seines Gesichtes so gut wie möglich hinter gesenktem Dreispitz und hochgeschlagenem Rockkragen verborgen. Er war solche Reaktionen gewohnt. Deshalb mied er Menschen. Und jetzt stand auf einmal dieses Gör vor der Tür und schrie wie am Spieß.

„Hör auf damit!“, herrschte er es an. Im Nu war Ruhe.

Zwei Kinder waren es, ein Junge und ein Mädchen. Der Junge war ein kleiner, dürrer Hänfling mit hellbraunen Locken. Schwer zu sagen, wie alt er war. Irgendwas zwischen drei und acht. Alistair konnte das schlecht beurteilen, da er Kindern nach Möglichkeit aus dem Weg ging und kaum welche kannte. Das blonde Mädchen war auf jeden Fall älter als der Junge. Blass starrte es ihn aus riesigen blauen Augen an, die viel zu groß waren für sein schmales Gesicht. Vielleicht war die Kleine nicht ganz richtig im Kopf, irgendeine Erbkrankheit – derlei Anomalien des Leibes gingen oft mit Defiziten des Geistes einher.

Die Augen der Mutter, so stellte er fest, als er sie schließlich widerstrebend ansah, hatten genau dieselbe Farbe. Sie war schön. Natürlich, wie sollte es anders sein? Während eines Unwetters tauchte eine strahlende Schönheit vor seiner Tür auf. Ihre Augen waren von dem Blau frisch erblühter Glockenblumen, ihr Haar schimmerte golden, und dazu hatte sie einen herrlichen Busen, der wohl auf keinen Mann, auch nicht auf einen so unansehnlichen Einsiedler wie ihn, seine erregende Wirkung verfehlen dürfte. Das war nun mal das Wesen der Natur, sosehr man sich auch gegen sie sträuben mochte. Es war die übliche Reaktion des Mannes auf ein Weib von unverkennbarer Fruchtbarkeit.

„Was wollen Sie?“, fragte er noch einmal.

Vielleicht war ja die ganze Familie mit einer Form erblichen Schwachsinns geschlagen, denn noch immer starrten alle drei ihn nur stumm an. Der Blick der Frau ruhte wie gebannt auf seiner leeren Augenhöhle. Verständlich. Er trug mal wieder keine Augenklappe. Wozu auch? Hier sah ihn ja keiner, und das verdammte Ding war einfach nur lästig. Sein Anblick dürfte ihr heute Nacht Albträume bescheren.

Er seufzte. Gerade hatte er sich zum Abendessen setzen wollen, da hatte er es klopfen hören. So armselig sein Mahl auch sein mochte – es gab mal wieder Porridge und Würstchen –, kalt würde es erst recht nicht schmecken.

„Nach Carlyle Manor sind es noch zwei Meilen in diese Richtung.“ Alistair deutete mit dem Kopf gen Westen. Vermutlich waren die drei Gäste seines Nachbarn und vom Weg abgekommen. Nachdem das geklärt war, schloss er die Tür.

Oder vielmehr, er versuchte die Tür zu schließen.

Blitzschnell hatte die Frau ihren Fuß in den Türspalt geschoben. Kurz erwog er, ihr einfach den Fuß einzuklemmen, doch ein letzter Rest guter Manieren ließ ihn innehalten. Fragend sah er die Frau an und wartete auf eine Erklärung.

Sie reckte ihr Kinn vor und sagte: „Ich bin Ihre Haushälterin.“

Eindeutig ein Fall von Schwachsinn! Vermutlich das Resultat aristokratischer Inzucht, denn ihren geistigen Mängeln zum Trotz waren Frau und Kinder doch ausgesprochen vornehm gekleidet.

Was ihre Äußerung noch abwegiger erscheinen ließ.

Wieder seufzte er. „Ich habe keine Haushälterin. Hören Sie zu, Ma’am, Carlyle Manor liegt gleich hinter diesem Hügel …“

Da erdreistete sie sich doch tatsächlich, ihm ins Wort zu fallen! „Nein, Sie haben mich nicht richtig verstanden. Ich bin Ihre neue Haushälterin.“

„Dann sage ich es noch einmal: Ich – habe – keine – Haushälterin.“ Er sprach ganz langsam und betonte jede Silbe mit großer Deutlichkeit, damit seine Worte zu ihrem verwirrten Verstand durchdringen konnten. „Und ich brauche auch keine Haushälterin. Ich …“

„Das ist doch Castle Greaves?“

„Ja.“

„Und Sie sind Sir Alistair Munroe?“

Argwöhnisch sah er sie an. „Der bin ich, aber …“

Doch sie hatte sich derweil gebückt und kramte in einer der beiden Taschen herum, die auf dem Boden zu ihren Füßen standen. Irritiert und ratlos, und ehrlich gesagt auch ein wenig erregt, blickte er auf sie hinab, denn von hier oben bot sich ihm ein eindrucksvoller Blick in ihr Dekolleté. Wäre er ein religiöser Mensch, würde er an eine Eingebung glauben.

Mit einem Ausdruck der Genugtuung richtete sie sich wieder auf und sah ihn geradezu atemberaubend lächelnd an. „Hier, eine Referenz der Viscountess Vale. Sie hat mich als Haushälterin zu Ihnen geschickt.“

Sie reichte ihm ein ziemlich zerknittertes Stück Papier.

Ungläubig starrte er darauf, dann riss er es ihr förmlich aus der Hand und hob die Kerze ein wenig höher, um das Gekritzel entziffern zu können. Lady Grey, seine treue Wolfshündin, war mittlerweile zu dem Schluss gelangt, dass es so bald keine Würstchen geben würde. Mit einem tiefen Seufzer ließ sie sich neben ihm auf dem kalten Steinboden nieder.

Alistair las; nichts war zu hören außer dem stetigen Prasseln des Regens. Als er fertig war, blickte er auf. Er war Lady Vale nur ein Mal begegnet. Sie und ihr Gatte – Jasper Renshaw, Viscount Vale – waren hier vor ungefähr einem Monat ungebeten aufgetaucht. Die Viscountess hatte ihm bei der Gelegenheit nicht den Eindruck gemacht, eine jener Frauen zu sein, die sich immerzu in alles einmischten, aber in diesem Brief stand tatsächlich, dass sie ihm eine Haushälterin schicke. Verrückt! Was hatte Vales Gemahlin sich nur dabei gedacht? Doch es war müßig, den weiblichen Verstand ergründen zu wollen. Wozu auch? Er würde seine allzu schöne, allzu vornehme Haushälterin samt ihren beiden Sprösslingen gleich morgen früh wieder fortschicken. Damit würde die Sache erledigt sein. Kämen sie nicht auf das Geheiß von Lady Vale, hätte er sie jetzt gleich davongejagt.

Alistair sah die Frau an und schaute in ihre unglaublich blauen Augen. „Was sagten Sie noch mal, wie Sie heißen?“

Sie errötete so lieblich wie das erste Morgenrot eines Frühlingstages auf der Heide. „Oh, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Helen Halifax. Mrs Halifax. Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf – es ist ziemlich nass hier draußen.“

Ihr spitzer Ton ließ ihn fast schmunzeln. Also doch nicht schwachsinnig. „Nun, dann sollten Sie und die Kinder besser hereinkommen.“

Die Andeutung eines Lächelns, das um Sir Alistairs Mundwinkel spielte, brachte Helen ein wenig aus der Fassung, lenkte es ihre Aufmerksamkeit doch auf seine Lippen, die schön geschwungen, sinnlich und weich und doch ausgesprochen männlich waren. Das Lächeln ließ vermuten, dass er nicht das Ungeheuer war, für das sie ihn gehalten hatte, sondern ganz einfach nur … ein Mann.

Natürlich war es gleich verschwunden, dieses Lächeln, kaum dass er bemerkt hatte, wie sie ihn ansah. Im Nu war seine Miene wieder wie versteinert, bekam sogar einen zynischen Zug. „Kommen Sie jetzt herein, oder wollen Sie weiter nass werden?“

„Natürlich, danke.“ Sie schluckte und trat in die schummerige Halle. „Das ist wirklich ausgesprochen gütig von Ihnen, Sir Alistair.“

Er tat dies mit einem Achselzucken ab und wandte sich um. „Wenn Sie meinen.“

Was für ein grässlicher Mann! Und er hatte ihr nicht mal angeboten, ihre Taschen zu tragen. Gut, die meisten Gentlemen würden wohl kaum die Habseligkeiten ihrer Haushälterinnen tragen, aber trotzdem. Es wäre eine nette Geste gewesen, es zumindest anzubieten.

Helen packte mit jeder Hand eine Tasche. „Kommt, Kinder!“

Sie mussten sich sehr beeilen, fast rennen, um mit Sir Alistair Schritt zu halten und den flackernden Schein der Kerze, die weit und breit das einzige Licht zu sein schien, nicht aus den Augen zu verlieren. Das Riesentier trabte gemächlich neben ihm her. In gewisser Weise war es seinem Herrn nicht unähnlich – groß, schlank, düster. Von der Eingangshalle gelangten sie in einen schmalen, dunklen Korridor. Vor ihnen hüpfte die Kerzenflamme auf und ab, warf unheimliche Schatten an fleckige Wände und eine hohe, von Spinnweben überzogene Decke.

„Es ist furchtbar schmutzig hier, nicht wahr?“, flüsterte Abigail.

Bei ihren Worten drehte Sir Alistair sich um, und Helen fürchtete schon, er könne es gehört haben, doch er fragte nur: „Haben Sie schon gegessen?“

So unvermittelt blieb er stehen, dass Helen ihm fast auf die Füße getreten wäre. Doch nur fast. Stattdessen stand sie nun so dicht vor ihm, dass sie den Kopf weit in den Nacken legen musste, um ihn ansehen zu können. Im Kerzenschein wirkte sein Gesicht diabolisch.

„Wir haben unterwegs eine Kleinigkeit zu uns genommen, aber …“ Sie war ganz außer Atem.

„Gut“, fiel er ihr ins Wort und wandte sich ab. Über die Schulter hinweg meinte er noch, während er bereits um eine Ecke verschwand: „Sie können in einem der Gästezimmer übernachten. Morgen früh besorge ich Ihnen eine Kutsche, und Sie fahren zurück nach London.“

Helen drückte beide Taschen fest an sich und folgte ihm eilig. „Ich möchte aber nicht …“

Er war derweil schon auf halber Höhe einer schmalen Treppe. „Um die Kosten brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.“

Einen Moment blieb Helen am Fuß der Treppe stehen und schickte dem nach oben entschwindenden Hausherrn böse Blicke hinterher. Dummerweise schwand mit ihm auch das Licht.

„Mama, beeil dich!“, drängte Abigail. Sie hatte ihren Bruder an die Hand genommen, wie es sich für eine gute große Schwester gehörte, und erklomm mit Jamie bereits die ersten Stufen.

Auf dem Treppenabsatz blieb der abscheuliche Mann stehen und sah sich kurz um. „Kommen Sie, Mrs Halifax?“

„Gewiss, Sir Alistair“, stieß Helen zwischen den Zähnen hervor. „Ich überlegte gerade, ob Sie Lady Vales Vorschlag nicht zumindest erwägen wollen …“

„Ich will keine Haushälterin“, kam es barsch von oben. Und schon ging er weiter.

„Das zu glauben fällt mir schwer“, Helen keuchte hinter ihm, „nach allem, was ich bislang hier zu sehen bekommen habe.“

„Mir gefällt es so.“

Helen traute ihren Ohren nicht. Niemand konnte ihr weismachen, nicht einmal dieser rohe Mensch, dass er gern im Dreck lebte. „Lady Vale hat mich ausdrücklich gebeten …“

„Lady Vale täuscht sich, wenn sie meint, ich wolle eine Haushälterin.“

Endlich am Ende der Treppe angelangt, blieb er vor einer schmalen Tür stehen, trat in das Zimmer und zündete eine Kerze an.

Helen blieb draußen stehen und beobachtete ihn. Als er wieder herauskam, sah sie ihn entschlossen an. „Mag sein, dass Sie keine Haushälterin wollen, aber es dürfte mehr als klar und deutlich sein, dass Sie eine brauchen.“

Wieder zuckte es um seine Mundwinkel. „Wir wollen uns doch nicht um Worte streiten, Madam. Tatsache bleibt, dass ich Sie weder brauche noch hier haben will.“

Er wies mit dem Arm ins Zimmer. Die Kinder rannten schon voraus, doch da er noch immer in der Tür stand und keine Anstalten machte, zur Seite zu treten, musste Helen sich dicht an ihm vorbeidrängen, wobei ihre Brust fast die seine gestreift hätte.

Im Vorbeigehen warf sie ihm einen drohenden Blick zu. „Seien Sie gewarnt, Sir Alistair. Ich werde alles daransetzen, Ihre Meinung zu ändern.“

Er neigte leicht spöttisch den Kopf, sein Auge funkelte im Kerzenschein. „Gute Nacht, Mrs Halifax.“

Dann schloss er leise die Tür hinter sich.

Einen Moment noch starrte Helen auf die Tür, dann wandte sie sich ab und sah sich um. Das sogenannte Gästezimmer war eine riesige Rumpelkammer. An den Mauern hingen unaussprechlich hässliche Wandteppiche, mitten im Raum stand ein großes Bett mit wuchtigen, gedrechselten Holzpfosten, die einen heillos verstaubten Baldachin trugen. In der Ecke gab es einen Kamin – sehr bescheiden im Verhältnis zur Größe des Zimmers. Weiter hinten hatte man allerlei Mobiliar eng zusammengepfercht. Wahrscheinlich wurde hier gelagert, was andernorts nicht gebraucht wurde. Abigail und Jamie waren völlig erschöpft aufs Bett gefallen. Vor zwei Wochen noch hätte Helen niemals zugelassen, dass sie etwas derart Schmutziges, Verstaubtes auch nur anrührten, geschweige denn darin schliefen.

Aber vor zwei Wochen war sie auch noch die Mätresse des Duke of Lister gewesen.

2. Kapitel

Wahrsprecher blieb stehen und sah an dem düsteren Gemäuer empor. Trutzige Türme ragten in allen vier Himmelsrichtungen bedrohlich in den Nachthimmel. Gerade wollte er sich abwenden und weiter seines Weges ziehen, als das Tor knarrend aufschwang. Ein schöner junger Mann stand da, in weiße und goldene Gewänder gehüllt. Am Finger trug er einen goldenen Ring mit einem milchig weißen Stein.

„Guten Abend, Wanderer“, sagte er. „Kommt herein aus Nacht und Wind und wärmt Euch ein wenig auf.“

Die Burg war recht unheimlich, doch der Wind blies kalt, und es schneite kräftig, sodass Wahrsprecher nichts gegen ein anheimelndes Feuer einzuwenden hatte. Er nickte stumm und trat durch das schwarze Tor …

Aus „Der Wahrsprecher“

Es war sehr dunkel. Sehr, sehr dunkel.

Abigail lag in dem großen fremden Bett und lauschte in die Finsternis der Burg. Neben ihr schnarchte Jamie leise vor sich hin. Er hatte sich ganz dicht an sie geschmiegt, den Kopf fest an ihre Schulter gedrückt, und sein warmer Atem streifte ihren Hals. Sie selbst lag so nah an der Bettkante, dass sie fast hinausfiel. Auf der anderen Seite hörte sie Mama ruhig und gleichmäßig atmen. Es hatte aufgehört zu regnen, aber vom Dach tropfte es noch leise. Es klang, als würde ein kleines Männchen übers Gemäuer laufen und mit jedem Schritt näherkommen. Abigail erschauerte.

Sie musste mal.

Vielleicht würde sie ja, wenn sie ganz, ganz stilllag, wieder einschlafen. Aber sie hatte Angst, ins Bett zu machen. Das letzte Mal, dass ihr das passiert war, war schon eine ganze Weile her, doch sie erinnerte sich noch gut daran, wie sehr sie sich geschämt hatte. Miss Cummings, ihr Kindermädchen, hatte sie gezwungen, es Mama zu erzählen. Abigail hätte beinahe ihr Frühstück erbrochen, ehe sie ihre Beichte ablegen konnte. Am Ende war Mama dann gar nicht böse geworden. Sie hatte sie nur mitleidig und irgendwie besorgt angeschaut, und das war fast noch schlimmer gewesen.

Abigail hasste es, Mama zu enttäuschen.

Manchmal schaute Mama sie mit ganz trauriger Miene an, und dann wusste Abigail: Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Sie lachte nicht wie andere Mädchen, sie spielte nicht mit Puppen und sie hatte keine Freunde. Sie war gern allein und hing ihren Gedanken nach. Und manchmal beunruhigte sie das, worüber sie nachdachte. Aber so war sie eben. Da konnte Mama noch so enttäuscht sein.

Seufzend gab sie es auf. Sie würde den Nachttopf benutzen müssen. Vorsichtig spähte sie über die Bettkante, aber es war zu dunkel, um den Boden zu sehen. Langsam zog sie ihren Fuß unter der Bettdecke hervor und streckte ihn aus, bis sie mit dem großen Zeh den Boden berührte.

Nichts geschah.

Die Holzdielen waren kalt, aber es huschten wenigstens keine Spinnen oder Mäuse herum. Zumindest nicht in ihrer Nähe. Abigail holte tief Luft und glitt aus dem Bett. Ihr Nachthemd rutschte hoch über ihre nackten Beine und ließ sie frösteln. Jamie murmelte etwas im Schlaf und drehte sich zu Mama um.

Abigail stand auf, strich ihr Nachthemd hinunter, kauerte sich hin und zog den Nachttopf unter dem Bett hervor. Dann raffte sie ihr Nachthemd zusammen und hockte sich auf den Topf. Laut traf ihr Strahl auf den blechernen Boden und übertönte sogar das Tröpfeln auf dem Dach.

Sie seufzte vor Erleichterung.

Da knarrte es draußen auf dem Korridor. Abigail erstarrte. Flackerndes Licht war unter dem Türspalt zu sehen. Draußen war jemand! Sie musste an Sir Alistairs entsetzliches Gesicht denken. Und wie groß er war! Größer noch als der Duke. Was, wenn er gekommen war, um sie davonzujagen?

Oder Schlimmeres?

Abigail hielt die Luft an und wartete. Die Schenkel taten ihr weh, weil sie so lange reglos über dem Nachttopf hockte, und ihr Po fing an, kalt zu werden. Vor der Tür hustete jemand und spuckte aus, ein raues, widerlich gurgelndes Geräusch, bei dem es Abigail den Magen umdrehte. Dann knarrten die Dielen unter den sich langsam entfernenden Schritten.

Sie wartete noch, bis es wieder ganz still war, dann stand sie vom Nachttopf auf, krabbelte zurück ins Bett und zog sich und Jamie die Decke über den Kopf.

„Was ist?“, murmelte Jamie und drängte sich wieder an sie.

„Schsch!“, zischte Abigail.

Sie hielt den Atem an und lauschte, doch nichts war zu hören außer dem leisen Schmatzen von Jamie, der am Daumen lutschte. Das sollte er eigentlich längst nicht mehr, aber Miss Cummings war ja nicht hier, um zu schimpfen. Abigail schlang die Arme um ihren kleinen Bruder.

Mama hatte gesagt, sie müssten London verlassen. Sie könnten nicht länger in dem schönen großen Haus bleiben, bei Miss Cummings und all den anderen Dienstboten, die sie schon ihr Leben lang kannte. Sie könnten ihre hübschen Kleider und die Bilderbücher nicht mitnehmen, und, nein, auch keine Kuchen mit Zitronencreme. Kurzum: Alles, was Abigail lieb und ihr vertraut war, musste zurückbleiben. Aber gewiss hatte Mama keine Ahnung gehabt, wie schrecklich es hier sein würde. Oder? Wie düster und dreckig die Burg war, wie Furcht einflößend der Burgherr! Wenn der Duke dies alles wüsste, würde er bestimmt kommen und sie wieder nach Hause holen.

Oder?

Abigail lauschte dem kleinen Männchen, das im Dunkel ums Gemäuer strich, und wünschte, sie wäre sicher und wohlbehalten zu Hause in London.

Als der Morgen heraufdämmerte, wachte Helen auf. Vor dem Schlafengehen hatte sie sich vergewissert, dass die Vorhänge aufgezogen waren, denn sie wollte beim ersten Licht des Tages aufstehen. Auch wenn man das, was sich hier durch die trübe Scheibe mühte, kaum Licht nennen konnte. Helen seufzte und wischte mit einem Vorhangzipfel über das Glas, verschmierte es aber nur noch mehr.

„So ein schmutziges Haus habe ich noch nie gesehen“, bemerkte Abigail und sah ihrem Bruder zu, der schon hellwach herumtobte.

Der hintere Teil des Zimmers war mit etlichen Polsterstühlen vollgestopft, so, als hätte man sie vor langer Zeit dort abgestellt und dann vergessen. Jamie sprang von Stuhl zu Stuhl, und bei jeder Landung stob eine Staubwolke auf. Mittlerweile war sein Gesicht von einer grauen Schmutzschicht überzogen.

Du lieber Himmel, wie sollte sie das nur schaffen? Die Burg starrte vor Dreck, der Burgherr war ein widerwärtiger, roher Mensch ohne Manieren und sie wusste beim besten Willen nicht, wo sie anfangen sollte.

Doch blieb ihr kaum eine andere Wahl. Helen hatte den Duke of Lister nicht ohne Grund verlassen. Sie wusste, was für ein Mann er war. Einer, der nicht so einfach ziehen ließ, was in seinen Augen ihm gehörte. Er mochte sie seit Jahren nicht mehr begehrt und sich längst andere Mätressen genommen haben, betrachtete sie aber immer noch als sein Eigentum. Seine Mätresse, sein Besitz. Ebenso seine Kinder. Da bedeutete es gar nichts, dass er sein Lebtag kaum je ein Wort mit ihnen gewechselt und sie auch niemals anerkannt hatte. Er hatte sie gezeugt, und sie waren sein.

Lister hielt seine Habe zusammen. Er verlor nicht gern, was ihm gehörte. Hätte er nur den geringsten Verdacht geschöpft, dass sie mit Abigail und Jamie fliehen wollte, hätte er ihr die Kinder weggenommen, dessen war sie sich sicher. Einmal, vor bald acht Jahren, als Abigail noch sehr klein gewesen war, hatte Helen ihm gegenüber erwähnt, dass sie ihn verlassen wolle. Als sie dann am Nachmittag vom Einkaufen nach Hause gekommen war, war Abigail verschwunden und die Amme in Tränen aufgelöst gewesen. Lister hatte das Kind bis zum Morgen behalten; jene Nacht verfolgte Helen noch immer bis in ihre Träume. Als er dann am nächsten Tag zu ihr gekommen war, war Helen ganz krank gewesen vor Sorge. Und Lister? Kam sorglos hereingeschlendert, das Kind auf dem Arm, und gab ihr deutlich zu verstehen, dass sie sich in ihre Beziehung zu fügen habe, wenn sie ihre Tochter behalten wolle. Sie war sein, und nichts und niemand könne daran etwas ändern.

Als sie ihn dann doch verlassen hatte, hatte sie gewusst, dass sie alle Brücken hinter sich abbrechen musste. Um das Wohl der Kinder willen durfte Lister sie niemals finden. Mit Lady Vales Hilfe war es ihr gelungen, London in einer geliehenen Kutsche zu verlassen. Bei der erstbesten Gelegenheit hatte sie die Kutsche gewechselt und eine andere gemietet; so hatte sie es während der ganzen Reise gehandhabt. Sie hatte die viel befahrenen Hauptstraßen gemieden und versucht, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu erregen.

Es war Lady Vales Idee gewesen, dass Helen sich als Sir Alistairs neue Haushälterin ausgeben solle. Castle Greaves lag abgeschieden und fernab aller vornehmen Gesellschaft. Lady Vale war sich sicher gewesen, dass Lister niemals auf die Idee käme, Helen dort zu suchen. So gesehen war Sir Alistairs Burg das perfekte Versteck. Nur fragte sie sich, ob Lady Vale überhaupt ahnte, wie heruntergekommen hier alles war.

Oder wie stur der Burgherr sich stellen würde.

Immer schön ein Schritt nach dem anderen. Ihr blieb keine andere Wahl. Woanders konnte sie nicht hin. Sie hatte sich entschieden hierherzukommen, jetzt musste sie es durchstehen. Kaum auszudenken, was geschehen würde, wenn ihr Vorhaben scheiterte.

Jamie sprang, rutschte ab und landete in einer riesigen Staubwolke auf dem Boden.

„Hör jetzt bitte auf damit!“, fuhr Helen ihn an.

Beide Kinder machten große Augen. Es kam nicht oft vor, dass sie ihnen gegenüber die Stimme erhob. Bislang war das auch nicht nötig gewesen, hatte es doch bis vorige Woche ein Kindermädchen gegeben, das sich darum kümmerte. Helen hatte die Kinder nur gesehen, wenn sie es wollte: beim Zubettgehen, nachmittags zum Tee, bei Spaziergängen im Park. Anlässe, bei denen sie alle drei gut gelaunt waren. Wenn Abigail und Jamie müde wurden oder zu quengeln anfingen, hatte sie jederzeit die Möglichkeit gehabt, die beiden wieder Miss Cummings zu überlassen. Leider musste auch Miss Cummings in London zurückbleiben.

Helen atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen. „Es wird Zeit, dass wir uns an die Arbeit machen.“

„Was denn für Arbeit?“, wollte Jamie wissen. Er stand auf und trat nach einem Kissen, das beim Spiel auf den Boden gefallen war.

„Sir Alistair hat doch gesagt, dass wir gleich heute früh wieder gehen müssen“, erinnerte Abigail sie.

„Ja, aber wir werden ihn vom Gegenteil überzeugen.“

„Ich will nach Hause!“

„Wir können nicht nach Hause, Schatz. Das habe ich euch doch schon erklärt.“ Helen lächelte aufmunternd. Natürlich hatte sie den beiden nicht gesagt, was Lister tun würde, wenn er sie fände. Sie wollte den Kindern ja keine Angst machen. „Sir Alistair braucht jemanden, der hier mal gründlich putzt und alles in Ordnung bringt, meint ihr nicht auch?“

„Hmmm“, machte Abigail. „Aber er hat doch gesagt, es würde ihm so gefallen.“

„Unsinn! Niemandem gefällt es, so zu leben. Wahrscheinlich traut er sich nur nicht, um Hilfe zu bitten. Außerdem verlangt es unsere Christenpflicht, dass wir den Bedürftigen helfen, und mir scheint, Sir Alistair ist sehr bedürftig.“

Abigail sah sie skeptisch an.

Munter klatschte Helen in die Hände, ehe ihre allzu aufmerksame Tochter noch weitere Einwände anbringen konnte. „Wir gehen jetzt nach unten und lassen für Sir Alistair ein ordentliches Frühstück bereiten, und bestimmt findet sich auch eine Kleinigkeit für uns. Danach sehen wir weiter.“

Bei der Aussicht auf Frühstück hellte Jamies Miene sich wieder auf. Helen öffnete die Tür und scheuchte die beiden energisch hinaus – doch dann standen sie etwas ratlos in dem schmalen Korridor und wussten nicht so recht, wohin.

„Ich glaube, wir sind gestern aus dieser Richtung gekommen“, sagte sie und marschierte forsch nach rechts.

Wie sich zeigen sollte, war es der falsche Weg, aber nachdem sie eine Weile herumgeirrt waren, gelangten sie schließlich doch ins Erdgeschoss, wo irgendwo auch die Küche sein musste.

Plötzlich Abigail blieb stehen. „Muss ich ihn begrüßen?“

„Wen meinst du?“, fragte Helen, obwohl sie es nur zu gut wusste.

„Sir Alistair.“

„Abigail hat Angst vor Sir Alistair!“, johlte Jamie.

„Hab ich nicht“, entgegnete seine Schwester heftig. „Zumindest nicht sehr. Es ist nur …“

„Dass er dir einen Schreck eingejagt hat und du geschrien hast“, schloss Helen. Sie ließ ihren Blick über die fleckigen Wände schweifen und überlegte, was sie ihrer Tochter sagen sollte. Abigail konnte so empfindlich sein! Bei der leisesten Kritik zog sie sich für Tage brütend in ihr Schneckenhaus zurück. „Ich weiß, wie dir zumute ist, mein Schatz, aber du musst auch an Sir Alistairs Gefühle denken. Es ist gewiss nicht schön, wenn jemand bei deinem Anblick wie am Spieß schreit.“

„Wahrscheinlich ist er furchtbar böse auf mich“, flüsterte Abigail.

Und da wurde Helen mit einem Mal ganz weh ums Herz. Wie schwer es doch bisweilen sein konnte, Mutter zu sein! Einerseits wollte man seine Kinder schützen, vor der Welt ebenso wie vor ihren eigenen Schwächen, und zugleich musste man ihnen Anstand und gute Manieren beibringen.

„Das glaube ich nicht“, beschwichtigte Helen. „Aber ich finde, du solltest dich bei ihm entschuldigen, meinst du nicht auch?“

Abigail schwieg, nickte aber kurz und heftig; ihr schmales Gesicht war noch blasser und besorgter als sonst.

Helen seufzte still und ging weiter in Richtung Küche. Ihrer Erfahrung nach sah die Welt nach einem guten Frühstück gleich viel besser aus.

Doch es sollte sich zeigen, dass die Vorräte auf Castle Greaves weniger als bescheiden waren. Die Küche war ein riesiges, furchtbar altertümliches Gewölbe. Wände und Decke waren einst weiß gewesen, nun jedoch von schmuddeligem Grau. Eine Wand wurde von einer mannshohen Feuerstelle eingenommen, die dringend ausgekehrt gehörte. Der dicken Staubschicht auf den im Schrank gestapelten Töpfen nach zu urteilen, war es mit der Kochkunst in diesem Haus nicht weit her.

Missmutig schaute Helen sich um. Auf dem Tisch stand ein schmutziger Teller – der Beweis, dass hier jemand kürzlich gegessen haben musste. Dann gab es doch gewiss auch eine Vorratskammer! Sie begann Türen und Schubladen zu öffnen, und ihre anfängliche Ungläubigkeit steigerte sich langsam zu leiser Panik. Eine Viertelstunde später begutachtete sie ihre Ausbeute: ein fast leerer Sack muffiges Mehl, ein kleiner Rest Haferflocken, Tee, Zucker und eine Handvoll Salz. Außerdem fand sie eine getrocknete Speckschwarte, die einsam und allein in der Speisekammer gehangen hatte. Etwas ratlos stand Helen da. Was für ein Frühstück sollte sie daraus zaubern? Plötzlich wurde ihr das wahre Ausmaß dieser furchtbaren Situation bewusst.

Es gab keine Köchin!

Tatsächlich war sie heute früh noch keinem einzigen Dienstboten begegnet. Keiner Scheuermagd und keinem Lakaien, keinem Stiefelputzjungen und keinem Hausmädchen. Niemandem. Hatte Sir Alistair denn gar keine Dienstboten?

„Mama, ich hab Hunger“, maulte Jamie.

Einen Augenblick starrte sie ihn völlig verständnislos an, noch immer wie vor den Kopf gestoßen von der ungeahnten Größenordnung der Aufgabe, die vor ihr lag. Eine kleine Stimme in ihrem Kopf schrie: Ich schaffe das nicht! Ich schaffe das nicht!

Aber ihr blieb ja keine andere Wahl. Sie musste es schaffen!

Sie schluckte, schob ihre Bedenken beiseite und krempelte die Ärmel hoch. „Nun, dann sollten wir uns mal besser an die Arbeit machen, was?“

Mit einem alten Küchenmesser brach Sir Alistair das Siegel des Briefes, der just heute Morgen eingetroffen war. Sein Name darauf war in einer schwungvoll verschnörkelten, kaum leserlichen Schrift geschrieben, die er sofort erkannt hatte. Vale würde ihn vermutlich wieder versuchen zu überreden, nach London zu kommen oder derlei Unsinn mehr. Der Viscount konnte ein sehr beharrlicher Mann sein, auch wenn seine Bemühungen bei Sir Alistair auf wenig Gegenliebe stießen.

Er saß im größten der Burgtürme. Vier hohe Fenster ließen an allen Seiten viel Licht herein und machten den Turm zu einem perfekten Arbeitszimmer. Drei große Tische nahmen den meisten Platz ein. Auf ihnen herrschte ein Durcheinander aus aufgeschlagenen Büchern und Landkarten, Tier- und Insektenpräparaten, Vergrößerungsgläsern, Farben, Pinseln, Trockenpressen, Gesteinsproben und Mineralien, Baumrinden, Vogelnestern und natürlich seinen Skizzenblättern, die überall herumlagen. Entlang der Wände standen zwischen den Fenstern Glasvitrinen und Regale, die noch mehr Bücher, Karten, Zeitschriftenstapel und wissenschaftliche Abhandlungen bargen.

Neben der Tür befand sich ein schmaler Kamin, in dem trotz des milden Sommertags ein kleines Feuer brannte. Lady Grey war nicht mehr die Jüngste, und sie lag gern vor dem Feuer und wärmte ihre müden Knochen. Lang auf ihrer Decke ausgestreckt, machte sie ihr Morgennickerchen, während Sir Alistair am größten der Tische, der ihm zugleich als Schreibtisch diente, seiner Arbeit nachging. Zuvor hatten sie beide ihren Morgenspaziergang gemacht, der jedoch mit jedem Tag kürzer ausfiel. Seit einigen Wochen hatte Lady Grey Schwierigkeiten, mit ihrem Herrn Schritt zu halten. Bald würde er ganz ohne das alte Mädchen auskommen müssen.

Doch darüber würde er sich bei anderer Gelegenheit Gedanken machen. Jetzt faltete Alistair erst einmal den Brief auseinander und las ihn in aller Ruhe. Das Kaminfeuer knisterte behaglich. Es war früh am Morgen, und er vermutete, dass seine unerwarteten Gäste noch schliefen. Trotz ihrer Behauptung, eine Haushälterin zu sein, machte Mrs Halifax auf ihn doch eher den Eindruck einer Dame der Gesellschaft. Vielleicht hatte sie ja eine Wette verloren, hatte sich von einer ihrer aristokratischen Freundinnen herausfordern lassen, sich in die Höhle des unheimlichen Sir Alistair zu wagen. Ein entsetzlicher Gedanke, der ihn beschämte und zugleich wütend machte. Doch dann erinnerte er sich, wie ehrlich erschüttert sie von seinem Anblick gewesen war. Das zumindest war nicht gespielt gewesen. Und dann der Brief von Lady Vale; er konnte sich nicht vorstellen, dass diese bei einem derart frivolen Treiben mitmachen würde.

Alistair seufzte und warf den Brief auf den Tisch. Kein Wort davon, dass Vales Frau ihm eine Haushälterin zu schicken gedachte. Stattdessen berichtete Vale, was es Neues über den Verrat von Spinner’s Falls gab und vom Tod Matthew Horns – eine falsche Spur, die jäh gekappt worden war.

Gedankenverloren strich er über seine Augenklappe und blickte aus dem Turmfenster. Sechs Jahre war es her, dass das 28. Infanterieregiment bei Spinner’s Falls, tief in den Wäldern der amerikanischen Kolonien, in einen Hinterhalt geraten war. Fast das gesamte Regiment war von den Wyandot, indianischen Verbündeten der Franzosen, hingemetzelt worden. Die wenigen Überlebenden – darunter Alistair – hatte man gefangen genommen und in einem langen Marsch durch die Wälder Neuenglands getrieben. Und als sie im Indianerlager angelangt waren …

Er ließ die Hand sinken und strich sacht über den Brief, der vor ihm auf dem Tisch lag. Er hatte dem Regiment nicht einmal angehört, hatte es nur als Zivilist begleitet. Sein Auftrag lautete, die Flora und Fauna Neuenglands zu erkunden und zu katalogisieren. Nur drei Monate waren es noch bis zu seiner Rückkehr nach England gewesen, als Alistair das Pech hatte, in das Massaker von Spinner’s Falls zu geraten. Nur drei Monate! Wäre er wie ursprünglich geplant mit dem Rest der britischen Armee in Quebec geblieben, wäre er nie nach Spinner’s Falls gelangt.

Bedächtig faltete Alistair den Brief wieder zusammen. Vale und ein weiterer Überlebender, ein Amerikaner namens Samuel Hartley, meinten Beweise zu haben, dass man das Regiment verraten hatte. Ein Verräter aus den eigenen Reihen sollte den Franzosen und ihren indianischen Verbündeten die Marschroute mitgeteilt haben, den genauen Tag, wann sie Spinner’s Falls passieren würden. Vale und Hartley waren allem Anschein nach überzeugt davon, den Verräter auffinden, ihn entlarven und seiner gerechten Strafe zuführen zu können. Nachdenklich klopfte Alistair mit dem zusammengefalteten Brief auf den Schreibtisch. Seit Vales Besuch wollte ihn der Gedanke an diesen Verräter nicht mehr loslassen. Dass ein solcher Mann noch frei herumlief – dass er noch lebte, während so viele gute, anständige Männer gestorben waren –, war ihm unerträglich.

Vor drei Wochen hatte er schließlich etwas unternommen. Wenn es einen Verräter geben sollte, musste er gute Kontakte zu den Franzosen gehabt haben. Was also lag näher, als bei einem Franzosen Erkundigungen einzuholen? Alistair kannte einen Kollegen, der in Frankreich lebte, einen Mann namens Etienne LeFabvre; ihm hatte er vor drei Wochen geschrieben und sich erkundigt, ob ihm irgendwelche Gerüchte über Spinner’s Falls zu Ohren gekommen seien. Seitdem wartete er voller Ungeduld auf eine Antwort. Er runzelte die Stirn. Die Beziehungen zu Frankreich lagen wie üblich im Argen, aber gewiss …

Er wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als die Tür zum Turmzimmer geöffnet wurde. Mrs Halifax kam mit einem Tablett herein.

„Was zum Teufel machen Sie hier?“, raunzte er sie an, der unerwarteten Störung wegen etwas barscher als beabsichtigt.

Sie blieb stehen, und ihr hübscher Mund verzog sich in sichtlichem Unmut. „Ich bringe Ihnen Ihr Frühstück, Sir Alistair.“

Nur mit Mühe konnte er sich zurückhalten, sie zu fragen, was sie ihm denn da wohl bringen wolle. Falls sie nicht ein paar Mäuse gefangen und gebraten hatte, dürfte sich in der Küche kaum etwas Essbares gefunden haben, nachdem er die letzten Würstchen gestern Abend verspeist hatte.

Anmutig ging sie zu seinem Tisch hinüber und wollte das Tablett auf einem ziemlich wertvollen Prachtband über Insekten abstellen, den er sich aus Italien hatte kommen lassen.

„Doch nicht da!“, fuhr er sie an.

Sein Ton ließ sie mitten in der Bewegung innehalten.

„Moment.“ Hastig räumte er ein paar Papiere beiseite und stapelte sie neben seinem Stuhl auf dem Boden. „Stellen Sie es hierhin.“

Sie setzte das Tablett ab und deckte seinen Teller auf; darauf lagen zwei verbrutzelte Streifen Speck und drei winzige, steinharte Kekse. Außerdem gab es eine große Schale Porridge und eine Tasse tiefschwarzen Tee.

„Ich hätte Ihnen ja gern eine ganze Kanne gemacht“, sagte Mrs Halifax, während sie alles auf den Tisch stellte, „aber Sie scheinen keine zu haben. Eine Teekanne, meine ich. Weshalb ich mich genötigt sah, den Tee im Topf zu kochen.“

„Letzten Monat kaputtgegangen“, brummelte Alistair. Was heckte sie aus? Und erwartete sie etwa, dass er diesen Fraß hier aß?

Mit rosigen Wangen und blitzblauen Augen schaute sie auf und fragte unschuldig: „Was ist kaputtgegangen?“

Zum Teufel mit ihr.

„Die Teekanne“, knurrte er. Wenigstens hatte er heute Morgen seine Augenklappe angelegt. „Das ist … äh, ausgesprochen gütig von Ihnen, Mrs Halifax, aber es wäre wirklich nicht nötig gewesen.“

„Keine Ursache“, log sie munter, natürlich log sie. Er wusste doch genau, in welchem Zustand die Küche war.

Argwöhnisch sah er sie an. „Ich vermute, dass Sie bald aufbrechen möchten …“

„Dann kaufe ich wohl am besten eine neue, oder?“, fuhr sie fort, als wäre sie plötzlich taub geworden. „Eine Teekanne, meine ich. Im Topf gekochter Tee schmeckt einfach nicht. Ich finde ja, dass Kannen aus Keramik am besten sind.“

„Ich kümmere mich gleich um eine Kutsche, damit Sie …“

„Manche Leute bevorzugen allerdings Kannen aus Metall …“

„… zurück nach London …“

„Silber ist vielleicht etwas zu teuer, aber eine hübsche kleine Zinnkanne …“

„… damit Sie zurück nach London fahren und mich in Frieden lassen können!“

Die letzten Worte waren wohl etwas zu laut. Sogar Lady Grey hob den Kopf bei seinem Gebrüll. Mrs Halifax sah ihn stumm an mit großen, glockenblumenblauen Augen.

Dann öffnete sie ihren reizenden Mund und meinte: „Eine Teekanne aus Zinn können Sie sich doch leisten, oder?“

Mit einem tiefen Seufzer ließ Lady Grey den Kopf wieder sinken.

„Ja, ich kann mir eine Teekanne aus Zinn leisten!“ Gereizt schloss er das Auge und ärgerte sich, auf ihr Geplapper eingegangen zu sein. Dann sah er sie wieder an und holte tief Luft. „Aber sowie ich Ihnen eine Kutsche besorgt habe, werden Sie …“

„Unsinn!“

„Was haben Sie gerade gesagt?“, fragte er ungläubig.

Sie reckte unverfroren ihr Kinn. „Ich habe Unsinn! gesagt. Sie brauchen mich ganz offensichtlich. Wussten Sie, dass in der Küche praktisch nichts mehr zu essen ist? Ach, was sage ich? Natürlich wissen Sie das! Aber so kann es doch nicht weitergehen. Wie halten Sie das nur aus? Die Zustände hier sind unerträglich. Wenn ich gleich ins Dorf gehe, um die Teekanne zu besorgen, werde ich erst mal ordentlich einkaufen.“

„Ich brauche keine …“

„Oder sollen wir auch von Haferflocken und vertrocknetem Speck leben?“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah ihn herausfordernd an.

Er runzelte irritiert die Stirn. „Natürlich werde ich …“

„Und die Kinder brauchen frisches Gemüse. Ihnen könnte das auch nicht schaden.“

„Hören Sie …“

„Ich gehe heute Nachmittag ins Dorf, wenn es recht ist.“

„Mrs Halifax …“

„Und möchten Sie jetzt eine Kanne aus Keramik oder eine aus Zinn?“

„Keramik, aber …“

Er sprach ins Leere. Schon hatte sie die Tür leise hinter sich geschlossen.

Alistair starrte auf die Tür. So war er sein Lebtag noch nicht überrumpelt worden – und das von diesem, zugegebenermaßen hübschen, Weibsbild, dieser halben Portion, die er gestern Abend noch für schwachsinnig gehalten hatte. Wie man sich doch täuschen konnte!

Bei Mrs Halifax’ Abgang hatte Lady Grey abermals den Kopf gehoben. Nun ließ sie ihn wieder zwischen ihre Pfoten sinken und warf ihm einen, wie ihm schien, mitleidigen Blick zu.

„Wenigstens die Teekanne konnte ich mir aussuchen“, verteidigte sich Alistair.

Lady Grey schnaufte tief und drehte sich auf ihrer Decke um.

Helen schloss die Tür des Turmzimmers hinter sich und schmunzelte in sich hinein. Ha! Diese Runde gegen Graf Grimmig dürfte an sie gegangen sein. Ehe er sie zurückrufen konnte, eilte sie auch schon die Treppe hinunter. Die Stufen waren alt und ausgetreten, die Wände aus blankem Stein. Am Fuße der Treppe gelangte man in einen schmalen Flur, der ebenfalls düster und voller Spinnweben, aber immerhin getäfelt und mit einem Teppich versehen war.

Sie hoffte, dass Sir Alistair sein Frühstück nicht allzu kalt genießen musste, aber wenn doch, so hatte er selber Schuld. Sie hatte nämlich eine ganze Weile gebraucht, um ihn ausfindig zu machen. Jeden einzelnen der bedrückenden Räume hatte sie abgeklappert, bis ihr schließlich die Idee kam, es in den Türmen zu versuchen. Das hätte sie sich ja denken können, dass er dort oben im Turm hockte – wie das Ungeheuer in einer Schauergeschichte. Ehe sie zu ihm hineinging, hatte sie versucht sich zu entspannen, um ihn nicht abermals anzustarren. Glücklicherweise trug er heute Morgen eine Augenklappe. Doch sein schwarzes Haar hing noch immer zottelig bis auf die Schultern, und er sah aus, als hätte er sich seit mindestens einer Woche nicht mehr rasiert. Es würde sie nicht überraschen, wenn er das absichtlich machte, um noch abschreckender zu wirken.

Und dann war da seine Hand gewesen …

Die Erinnerung daran ließ Helen innehalten. Gestern war ihr das nicht aufgefallen, aber als sie heute Morgen das Turmzimmer betreten hatte, hielt er ein Blatt Papier in der Hand – zwischen dem Daumen und den beiden mittleren Fingern. Zeige- und kleiner Finger fehlten. Wie war er zu so grausamen Verstümmelungen gekommen? Ob er einen Unfall gehabt hatte? Und wenn ja, hatte ihn dieser auch das Auge geraubt und sein Gesicht entstellt? Vermutlich wüsste er weder ihr Mitgefühl, geschweige denn ihr Mitleid zu schätzen.

Sie biss sich auf die Lippe. Aber genau das hatte sein Anblick heute Morgen bei ihr geweckt. Mürrisch und verwahrlost war er, unhöflich und sarkastisch. Nichts anderes hatte sie nach dem gestrigen Empfang erwartet. Aber da war noch etwas anderes gewesen. Wie er da an seinem großen Tisch gesessen hatte, verschanzt hinter seinen Büchern und Papierstapeln und dem sonstigen Durcheinander, hatte er so …

So schrecklich einsam und verloren gewirkt.

Helen schüttelte den Kopf. Nein, jetzt war sie wirklich albern. Er würde sie mit einer bissigen Bemerkung abfertigen, wenn sie ihm sagen würde, welchen Eindruck er auf sie machte. Nie war sie einem Mann begegnet, der sich so sehr gegen die Sorge und das Wohlwollen seiner Mitmenschen sträubte. Doch es ließ sich nicht ändern: Er war ihr furchtbar einsam vorgekommen. Und er hatte ihr leidgetan, wie er hier so allein lebte, fernab der Zivilisation, in diesem elend heruntergekommenen Gemäuer, wo nur ein alter Hund ihm Gesellschaft leistete. Konnte man, selbst wenn man den Menschen nicht sehr zugetan war, unter diesen Umständen überhaupt jemals glücklich sein?

Nachdenklich kehrte sie in die Küche zurück. Im Augenblick war in ihrem Leben kein Platz für derart sentimentale Gedanken. Sie durfte sich nicht von ihren Gefühlen, und seien sie noch so harmlos, hinreißen lassen. Einmal war ihr das passiert – und nun sah man ja, was sie davon hatte. Nein, sie würde die Sache ganz vernünftig angehen. Schließlich musste sie auch an Abigail und Jamie denken.

Als Helen um die Ecke bog, hörte sie schon lautes Geschrei aus der Küche. Gütiger Gott! Was, wenn ein Landstreicher oder anderes Lumpengesindel ins Haus eingedrungen war? Abigail und Jamie waren ganz allein in der Küche! Helen raffte die Röcke und rannte so schnell, dass sie völlig außer Atem in die Küche stürzte.

Der Anblick, der sich ihr dort bot, war wenig angetan, ihre Befürchtungen zu zerstreuen. Ein komischer Kauz von einem Mann stand in der Küche, fuchtelte wild mit den Armen und schrie ihre Kinder an. Abigail hielt eine gusseiserne Pfanne in beiden Händen und schien zu allem entschlossen, wenngleich kreidebleich im Gesicht; Jamie hüpfte hinter seiner Schwester von einem Bein aufs andere, die Augen riesengroß vor Aufregung.

„… allesamt! Mörder und Diebe, treib’n sich überall rum, wo sie nichts verlor’n hab’n! Häng’n sollt’ man euch, allesamt!“

„Raus!“, brüllte Helen. Drohend ging sie auf den garstigen Kerl zu, der es wagte, sich hier hereinzuschleichen und ihre Kinder zu belästigen. „Raus, aber sofort!“

Der kleine Mann fuhr zusammen und wirbelte herum. Er trug eine speckige Weste, unförmige Hosen und geflickte Strümpfe. Sein ehemals rotes, doch inzwischen fast ergrautes Haar stand ihm zu beiden Seiten des Kopfes struppig ab.

Mit seinen Glupschaugen, die er nun schmal zusammenkniff, musterte er Helen argwöhnisch. „Wer sin’ denn Sie?“

Helen straffte die Schultern. „Helen Halifax, Sir Alistairs Haushälterin. Wenn Sie nicht sofort diese Küche verlassen, werde ich Sir Alistair rufen müssen.“

Der kleine Mann starrte sie entgeistert an. „Red doch kein’n Blödsinn, Weib! Sir Alistair hat keine Haushälterin. Ich bin sein Diener. Würd’ ich wohl wiss’n, wenn er eine hätt!“

Nun war es an Helen, diesen abstoßenden Wicht ungläubig anzustarren. Und da hatte sie gedacht, Sir Alistair hätte keine Bediensteten! Was keine erfreuliche Vorstellung gewesen, aber dem widerlichen Diener fast noch vorzuziehen war.

„Wie heißen Sie?“, fragte sie schließlich.

Das Männchen blähte die Brust. „Wiggins.“

Helen nickte und verschränkte die Arme. Eines hatte sie während ihrer Jahre in London gelernt: sich nicht von unverschämten Dienstboten einschüchtern zu lassen. „Nun, Mr Wiggins. Sir Alistair mag bislang keine Haushälterin gehabt haben, aber jetzt hat er eine, und zwar mich.“

„Ach, nee!“

„Ich versichere Ihnen, dass es so ist. Sie sollten sich also besser mit dem Gedanken anfreunden.“

Nachdenklich kratzte Wiggins sich am Hintern. „Na, und wenn schon. Da dürft’n Sie ja allerhand zu tun hab’n.“

„So ist es.“ Helen bemühte sich um einen sanfteren Ton. Wahrscheinlich hatte der arme Mann sich fast zu Tode erschreckt, auf einmal fremde Leute in der Burgküche vorzufinden. „Ich hoffe, auf Ihre Unterstützung zählen zu können, Mr Wiggins.“

„Pah!“, grunzte er.

Sie ließ es ihm vorerst durchgehen. „Möchten Sie ein Frühstück?“

„Nee.“ Wiggins schlurfte hinaus. „Könnt’ ja jeder komm’n und mir sagen, was ich mach’n soll.“

Und weg war er.

Abigail stellte die Pfanne vorsichtig auf dem Tisch ab. „Puh, hat der gestunken!“

„Allerdings“, pflichtete Helen ihr bei und fügte eilig hinzu: „Aber deswegen sollten wir ihn nicht verurteilen. Dennoch: Haltet euch bitte von ihm fern, wenn ich nicht dabei bin.“

Jamie nickte heftig, während Abigail nur besorgt aussah.

„Gut, vergessen wir das jetzt!“, meinte Helen munter. „Ab an die Arbeit. Erst machen wir den Abwasch, dann fangen wir mit der Küche an.“

„Sollen wir etwa die Küche putzen?“ Jamie starrte zu den Spinnweben hinauf, die unter der Decke hingen.

„Aber natürlich“, sagte Helen, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. Dabei wusste sie kaum, wo sie anfangen sollte. Die Küche war nicht nur schmutzig, sie war wirklich dreckig! „Also“, machte sie sich Mut, „dann wollen wir zuerst mal wieder Wasser holen.“

Heute früh hatte sie eine alte Wasserpumpe im Hof entdeckt und einen ganzen Eimer Wasser gepumpt, aber das war bei der Zubereitung des Frühstücks alles verbraucht worden. Jamie trug den Blecheimer, als sie jetzt alle zusammen in den Hof traten. Helen lächelte die Kinder aufmunternd an, griff dann beherzt nach dem Schwengel und zog ihn mit beiden Armen nach oben. Leider war die Pumpe ziemlich eingerostet, was die Arbeit nicht gerade leichter machte.

Zehn Minuten später strich Helen sich das schweißnasse Haar aus der Stirn und warf einen missmutigen Blick in den Eimer – nicht einmal halb voll.

„Das ist aber nicht viel“, meinte Abigail und runzelte die Stirn.

„Stimmt, aber es reicht erst mal“, stieß Helen atemlos hervor, nahm den Eimer und kehrte in die Küche zurück. Die Kinder trotteten hinterher.

Sie stellte den Eimer ab und stand schon vor dem nächsten Problem. Um den Abwasch zu machen, brauchten sie heißes Wasser, aber sie hatte das Feuer nach dem Frühstück ausgehen lassen. Nur eine schwache Glut schwelte noch unter der Asche.

Wie sie da so stand und in die Feuerstelle starrte, kam Mr Wiggins wieder in die Küche. Er warf einen Blick in den Wassereimer und schnaubte verächtlich. „Alles im Griff, was? Und oh! ist das sauber hier! Da is’ man ja glatt geblendet. Keine Sorge, is’ eh bald vorbei. Der Herr hat mich grade losgeschickt, im Dorf ’ne Kutsche zu hol’n.“

Entrüstet richtete Helen sich auf. „Das wird nicht nötig sein, Mr Wiggins.“

Der schnaubte noch einmal und war schon verschwunden.

„Aber Mama“, sagte Abigail eindringlich, „wenn Sir Alistair uns eine Kutsche holen lässt, können wir doch einfach wieder nach Hause fahren und brauchen die Küche nicht zu putzen.“

Mit einem Mal verspürte Helen eine große Müdigkeit. Sie war keine Haushälterin, und sie würde nie eine sein. Sie hatte keine Ahnung, wie man einen Großputz bewerkstelligte, ja, sie schaffte es nicht mal, ein Feuer am Brennen zu halten. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, hierherzukommen und sich auf diese unüberwindbare Aufgabe einzulassen? Vielleicht hatte Sir Alistair ja recht.

Vielleicht sollte sie sich einfach geschlagen geben und den Weg gehen, den sie gekommen war.