Leseprobe Das skandalöse Versprechen der Lady

Kapitel 1

London, 1840

An einem Mittwochabend um kurz vor acht klopfte Lady Verity Elizabeth Ayles an die Tür von Nummer 86 Eaton Square, Eaton Square Gardens. Wer sie beiläufig bemerkte, sah eine modisch gekleidete Frau mit einem raffinierten Hut, der ihr leuchtend kastanienbraunes Haar verdeckte, und einem dunklen Schleier, hinter dem sich ihr Gesicht verbarg. In einer Hand trug sie einen schwarzen Regenschirm, während sie mit der anderen zum zweiten Mal nach dem Türklopfer in Form eines Löwenkopfes griff und nachdrücklich damit gegen die große Eichentür schlug.

Eine diskrete Erkundigung hatte ergeben, dass der Mann, den sie sprechen wollte, heute Abend zu Hause war. Trotz seines Titels und der herausragenden Stellung seiner Familie war er in den meisten Salons, Ballsälen und Herrenclubs nicht gern gesehen.

So wurde zumindest gemunkelt.

Endlich öffnete sich langsam die Tür, und ein ziemlich stattlicher Mann stand auf der Schwelle. Verity musste ihren ganzen über die Jahre gewonnenen Mut zusammennehmen, um nicht vor ihm zurückzuweichen. Unter seinem Blick hüstelte sie verlegen, wie geblendet vom strahlenden Blick seiner grünen Augen. Sie war nur froh, dass der Schleier ihre errötenden Wangen verbarg. Für einen Augenblick wirkte der Mann erschrocken. Dann warf er einen Blick in beide Richtungen die Straße hinunter und bemerkte die anonyme Kutsche, die auf der anderen Straßenseite gegenüber seinem schmiedeeisernen Tor stand.

James Daniel Radcliffe, der Earl of Maschelly, wirkte auf den ersten Blick weder wie ein liederlicher Wüstling noch derart attraktiv, als hätte ihn der Teufel zum Frauenverführer bestimmt. Verity fand, dass er auf eine etwas düstere Art ganz normal, wenn auch ein wenig unordentlich aussah. Zum einen war es äußerst ungehörig, dass er die Tür selbst geöffnet hatte, und was noch empörender war, er tat es barfuß, ohne Jacke, mit bis zu den Ellbogen aufgerollten Ärmeln und einem schlampig gebundenen Halstuch! Seine wuchtigen Schultern sprengten beinahe das Hemd, und unter der Hose zeichneten sich Oberschenkel ab, die für einen Gentleman entschieden zu muskulös waren. Dieser Mann war ein Aristokrat mit dem Körperbau eines Hafenarbeiters.

Nicht nur Veritys Wangen brannten vor Hitze, sondern ebenso ihre Kehle und ihr Bauch. Sie fand es einfach unverzeihlich von ihm, dass bei seinem Anblick plötzlich Schmetterlinge in ihrem Bauch flatterten. Eine höchst ungewöhnliche Reaktion, denn normalerweise bevorzugte sie blonde Männer, die häufig lachten und in keiner Weise bedrohlich wirkten. Sichere Männer. Das genaue Gegenteil von diesem Mann, der mit seinen mehr als einen Meter achtzig Größe vor ihr aufragte und sie mit dem finstersten Blick betrachtete, den sie jemals bei einem Menschen gesehen hatte. Doch es war nun einmal dieser Mann, der laut ihrer besten Freundin, Lady Caroline Trenton, genau der Richtige war, um Verity in den sicheren Ruin zu stürzen. Allerdings war sie nicht auf Ruin aus; der war bloß eine Nebenerscheinung ihres Handelns. Doch davon durfte sie sich nicht abschrecken lassen. Sie musste tapfer sein.

Niemand durfte von ihrem tollkühnen Besuch beim Earl wissen, denn es war absolut ungehörig, ohne Anstandsdame bei einem Mann zu Hause aufzutauchen. Zwar hatte Caroline ihr empfohlen, sich mit ihm zu treffen, doch damit hatte sie bestimmt nicht gemeint, dass Verity den Mann mitten in der Nacht in seinem Junggesellenwohnsitz aufsuchen sollte! Die schlimmen Gerüchte über den Earl schossen geradezu ins Kraut. Es hieß, er sei liederlich, rücksichtslos, ein Spieler und Schläger, allen möglichen Ausschweifungen zugeneigt.

Der Earl of Maschelly sei eben durch und durch verdorben. Und außerdem hätte er vor niemandem Angst, erzählte man sich fasziniert.

Ein solcher Mann konnte seine Tage doch nur in sündhaftem Müßiggang verbringen und seine Nächte in den verrufensten Spelunken Londons. Angeblich konnte er keiner schönen Frau widerstehen und ging jede Nacht mit einem anderen leichten Mädchen ins Bett, und am Wochenende mit mindestens sechs von ihnen. Für Verity klang das alles wie dummes Geschwätz, und außerdem war er nun einmal der Mann, den sie brauchte, um frei zu werden und nie wieder hilflos und ängstlich zu sein. Da konnte sie auf die drohende Schande keine Rücksicht nehmen. Er war der zweite Schritt auf dem Weg, ihre Würde zurückzuerlangen und ihre Träume wahr werden zu lassen.

Sie ließ die Hand sinken, die noch immer den Türklopfer hielt. „Lord Maschelly, nehme ich an?“

Verity konnte sich nicht vorstellen, dass es der Butler war. Der wäre niemals in einem derartigen Aufzug an die Tür gekommen, denn dann hätte man ihn sofort gefeuert. Außerdem hatte der Butler wohl kaum Augen so dunkelgrün wie ein Wald nach einer Regennacht, solch rabenschwarzes Haar und sinnliche volle Lippen. Gemessen an den geschliffenen Manieren und der verfeinerten Eleganz der meisten vornehmen Männer war der Earl nicht attraktiv. Er wirkte wie ein Mensch mit Ecken und Kanten und dabei so unwiderstehlich, dass sie ihn nur hilflos anstarren konnte. Sie war bloß froh, dass er wegen ihres Schleiers nicht sah, dass sie gaffte wie ein dummes Gänschen.

Der Mann betrachtete sie fasziniert, dann atmete er tief durch und fragte: „Und wer zum Teufel sind Sie?“ Seine Worte waren knapp und scharf wie ein Peitschenhieb.

Seine Grobheit und sein Mangel an Höflichkeit stießen sie ab, aber das half alles nichts. Sie brauchte ihn nun einmal. Und seltsamerweise fand sie seine Frechheit beruhigend. „Zunächst einmal möchte ich mich dafür entschuldigen, dass ich unangemeldet und noch dazu so heimlich hier auftauche. Es ließ sich nicht vermeiden, da Sie meine Briefe mit der Bitte um ein diskretes Treffen nicht beantwortet haben. Aber ein privates Gespräch mit Ihnen ist für mich von größter Wichtigkeit, Mylord.“

„Warum?“

Zur Beruhigung atmete Verity einmal tief durch. „Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, und darüber lässt sich am besten unter vier Augen sprechen.“

Seine Miene wurde noch finsterer. „Na, zum Teufel nochmal, so direkt an der Tür hat sich mir noch nie eine angeboten.“

Angesichts dieser Beleidigung schnappte Verity empört nach Luft. Ihr war völlig klar, was er damit gemeint hatte, und sie hätte am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht. Mit so viel kaltem Zynismus hatte sie nicht gerechnet.

„Ich bin eine Lady, Mylord, und Sie werden sich entsprechend benehmen. Ich habe Ihnen nämlich ein geschäftliches Angebot zu unterbreiten“, erwiderte sie, froh darüber, dass ihre Stimme nicht vor Empörung zitterte.

Der Nebel und die Dunkelheit, die nur von wenigen Gaslaternen erleuchtet wurde, kamen ihr durchaus gelegen, trugen jedoch auch zu ihrer Nervosität und Unsicherheit bei.

„Eine Lady? Um diese Zeit an meiner Haustür, und das ohne Anstandsdame?“ Seine Stimme triefte vor Hohn.

„Jawohl“, antwortete sie geziert. „Ich möchte behaupten, dass ich alt genug bin, um alleine auszugehen, ohne meinen guten Ruf zu gefährden.“ Das war natürlich lächerlich, denn wenn sie jemand erkannte, wäre nicht nur ihr Ruf, sondern ihr ganzes Leben ruiniert. Doch in ihrer Angst und Verzweiflung konnte nur er ihr helfen, selbst wenn er selbst es nicht wusste. „Und für einen Gentleman würde es sich gehören, mich hereinzubitten und mich nicht länger der Kälte und etwaigen Blicken auszusetzen.“

Mit seinen schönen Augen schaute er ihr so prüfend ins Gesicht, als wollte er ihre Züge hinter dem Schleier erkennen. Nervös zupfte sie an einer Ecke des Spitzenstoffs, der ihr Kinn streifte. Und dann, zu ihrer Verwunderung und Erleichterung, trat er beiseite und ließ sie eintreten.

Verity erschrak, weil es drinnen so dunkel war. Obwohl in der Eingangshalle keine Lampe brannte, konnte sie genug erkennen, um dem Earl zu einem großen, geschmackvoll eingerichteten Salon zu folgen, in dem ein munteres Kaminfeuer brannte. Als der Earl ihr einen Platz anbot, ließ sie sich auf einem Plüschsofa nieder. Mit einem gewissen Unbehagen stellte sie fest, dass er stehenblieb.

„Möchten Sie sich nicht auch setzen, Mylord?“

Als der Earl spöttisch eine Braue hochzog, bemerkte sie die leichte Verfärbung auf seiner linken Wange. Dann kam er näher, und Verity stieg ein leichter Schweißgeruch in die Nase. Außerdem fiel ihr auf, dass er ein wenig nach links geneigt ging, so als hätte er Schmerzen. Sein wuchtiger Körper wirkte geradezu überwältigend. Er war groß und viel breiter als sie. Sie verspürte kurz den Impuls zurückzuweichen, doch jetzt, nachdem sie so weit gekommen war, durfte sie den Mut nicht verlieren. Auf eine unerklärliche Weise empfand sie in seiner Gegenwart Bedrohung und Sicherheit zugleich. Das mit der Sicherheit war albern, denn schließlich kannte sie den Mann ja gar nicht. Sie hatte lediglich Gerüchte über ihn gehört, und plötzlich kam sie sich töricht vor, weil ihr ganzer Plan auf vagem Hörensagen ruhte.

„Brauchen Sie eine Erfrischung?“, fragte er auf seine furchtbar schroffe Art.

„Seien Sie doch nicht so ungehobelt“, entgegnete sie verschnupft.

„Ich habe Sie ja nicht eingeladen.“

Verity wurde rot. „Das stimmt, und ich möchte mich für meine Aufdringlichkeit entschuldigen. Aber das ist immer noch kein Grund, unhöflich zu sein.“

„Möchten Sie etwas trinken?“

„Nein“, antwortete sie steif.

Auf dem Eichentisch vor ihr standen eine Karaffe mit einer goldgelben Flüssigkeit und ein leeres Glas. Daneben lag ein weißes Taschentuch mit einem verdächtigen roten Fleck. Sie hatte ihn beim Trinken gestört. Er goss etwas aus der Karaffe in sein Glas und ließ sich auf dem Sofa ihr gegenüber nieder.

„Also, was ist das für ein Angebot?“, fragte er ungeduldig.

Sie räusperte sich diskret und überlegte, wie sie ihre unerhörte Bitte formulieren sollte. „In der feinen Gesellschaft erzählt man sich, dass ein Tanz mit Ihnen den Ruf jeder jungen Dame ruiniert. Und das ist vielleicht auch der Grund dafür, dass Sie noch nie eine zum Tanzen aufgefordert haben.“

„Und Sie sehnen sich nach dem Ruin, was?“ Seine leise Stimme klang sündhaft und geheimnisvoll, und ein unergründliches Gefühl schwang darin mit, das sie nicht recht verstand. Es war beinahe so etwas wie Zorn, der ihr einen unbehaglichen Schauer über den Rücken jagte.

Ohne auf seine Frage einzugehen, blickte sie ihm gerade in die Augen, atmete einmal tief durch und sagte: „Es heißt, Sie seien der ungekrönte König in der geheimen Welt der Faustkämpfer Londons. Und dass Ihr Vermögen auf dem Blut und den gebrochenen Knochen anderer gegründet sei. Viele Männer, Lords und einfache Leute gleichermaßen, bewundern, ja, verehren Sie sogar. Ihre Nase war dreimal gebrochen, Ihre Rippen noch viel öfter, und Sie haben noch nie einen Kampf verloren. Sie verstehen sich auf ehrenhaftes Kämpfen ebenso sehr wie auf unehrenhaftes. Sie sind fair, können aber auch gefährlich werden, wenn man Sie reizt. Seit sieben Jahren sind Sie jetzt der elfte Earl of Maschelly, und es wird gemunkelt, Sie seien auf der Suche nach einer Ehefrau, vorzugsweise einer reichen Erbin, deren Vater über politische Verbindungen verfügt und Ihnen zu einem Parlamentssitz für Ihre Grafschaft verhelfen kann.“

Er schwieg lange, dann nahm er sein Glas zur Hand und tat einen tiefen Zug, ohne den Blick von ihrem verschleierten Gesicht zu wenden. Verity blickte sich unruhig um, als sie ein scharrendes Geräusch vernahm.

„Sie kennen also meinen Ruf … und doch sind Sie hier … alleine mit mir. Sehr merkwürdig. Wer sind Sie?“

Sie leckte sich über die Lippen. „Das kann ich Ihnen jetzt noch nicht verraten. Erst wenn wir unsere Vereinbarung getroffen haben.“

Der eindringliche Blick seiner intelligenten Augen machte sie ganz nervös. „Was wollen Sie?“

Die Worte trafen sie wie ein Schlag, und sie erstarrte. „Ich möchte … Sie bitten, mir das Boxen beizubringen, Mylord.“

Es war totenstill im Zimmer, während er sie fixierte, als wollte er ihre Seele ergründen. Sie fühlte sich entblößt und verletzlich angesichts seiner unausgesprochenen Antwort auf ihre einfache und doch so unerhörte Bitte. War es ein Fehler gewesen, hierher zu kommen? War ihr Streben nach Freiheit zu Ende, noch bevor es richtig begonnen hatte?

Kapitel 2

„Sie wollen boxen lernen?“, fragte der Earl schließlich ungläubig.

Wieder errötete Verity, und ihr Herz begann, heftig zu schlagen. „Ja. Um mich selbst verteidigen zu können.“

Als Lord Maschelly sie zu ihrem Ärger mit belustigtem Interesse betrachtete, setzte sie hinzu: „Und im Gegenzug bringe ich Ihnen bei, wie sich ein Gentleman benimmt.“ Dann wartete sie mit klopfendem Herzen auf seine Antwort.

„Ich bin der Earl of Maschelly“, erwiderte er gelassen. „Und mir ist schleierhaft, wie Sie darauf kommen, dass ich etwas zu lernen hätte und ausgerechnet Sie es mir beibringen könnten.“ Trotz seines gleichgültigen Tons spürte Verity eine eisige Warnung in seiner Stimme und dahinter so etwas wie Verletzlichkeit.

Sie war erstaunt, dass ein so selbstbewusster und energischer Mann verletzlich sein könnte. „Es heißt …“, bemerkte sie mit diskretem Hüsteln, „Lady Susanna, Lord Nelsons geliebte Tochter, habe Ihren Heiratsantrag abgelehnt, weil … weil …“

„Er ist ein grober Klotz! Keine Manieren, kein Zartgefühl und dann noch diese scheußlichen Schwielen an den Händen. Wie könnte ich so einen Mann heiraten?“ Das waren die Worte, die Susanna hervorstieß, als sie Verity eine Woche zuvor besucht hatte. Dabei hatte sie anmutig in ihr Spitzentaschentuch geweint.

„Sie hat Ihren Antrag zurückgewiesen, weil Sie anscheinend nicht ganz so kultiviert sind wie andere vornehme Gentlemen. Es wird auch gemunkelt, sie hätte Ihnen einige, nun ja, Bedingungen gestellt, unter denen sie bereit wäre, Sie zu heiraten. Dazu gehörte wohl, dass Sie lernen zu tanzen und Gedichte zu schreiben.“

Beim Anblick seiner finsteren Miene musste Verity beinahe lächeln. Dabei fielen ihr die Bartstoppeln an seinem Kinn auf. „Und ihr Vater schien mit diesen Bedingungen einverstanden zu sein. Daher dachte ich, wir könnten … einander helfen“, schloss sie mit zitternder Stimme. Sie ärgerte sich selbst über den flehenden Unterton in ihrer Stimme.

„Glauben Sie wirklich, ich würde auch nur einen Pfifferling darum geben, was Lady Susanna und die ganze übrige verdammte Gesellschaft von mir denkt?“

„Mylord, bitte mäßigen Sie Ihre Ausdrucksweise!“, rief Verity schockiert aus.

Er schaute sie erstaunt an. „Ich tanze nicht nach der Pfeife von Leuten, die sich für was Besseres halten. Und wenn Ihnen meine Sprache nicht gefällt, können Sie jederzeit gehen.“

Die leise Verachtung in seiner Stimme brachte sie ebenso sehr aus der Fassung wie sein drohender Blick, der auf ihr verschleiertes Gesicht gerichtet war.

Er trank einen Schluck und musterte sie über den Rand seines Glases hinweg. Dann sagte er: „Es ist mir egal, was für einen Klatsch Sie über mich in Ihren Salons und Ballsälen gehört haben. Und ich habe keine Ahnung, wie Sie darauf kommen, ich würde Ihnen tatsächlich das Boxen beibringen. Ich bin, verdammt noch mal, nicht einmal sicher, ob ich kapiere, was Sie eigentlich wollen. Ich mag mich ja nicht lange in Ihren Kreisen bewegt haben, aber dass es bei Ihresgleichen immer wohlanständig und pingelig zugeht, weiß ich schon.“

Als er sich erhob, stand auch Verity auf und faltete unwillkürlich die Hände vor der Taille, als müsste sie sich vor ihm schützen.

„Ich kann Ihnen nicht helfen. Und jetzt möchte ich Sie bitten zu gehen.“

„Mylord …“ Anfangs war Verity ihr eigener Plan albern und aussichtslos erschienen. Doch je länger sie darüber nachdachte, desto fester wurde ihr Entschluss. Immerhin hatte sie fünf lange Tage und Nächte Zeit, ihre nächsten Schritte zu planen. Darauf, dass ihr Bruder, der Earl of Sutcliffe, sie beschützen und verteidigen würde, konnte sie sich nicht verlassen. Früher einmal hatte sie ihn geliebt, wie eine Schwester ihren Bruder lieben sollte. Doch er hatte in ihr nur eine lästige Pflicht gesehen, die man sich am besten so schnell wie möglich vom Hals schaffte. Je reicher der Heiratskandidat war, desto besser, dachte er sich. Er hatte ihr auch nicht geglaubt oder ihre Ehre verteidigt, als sie ihn so dringend brauchte. Stattdessen hatte er sie in eine Nervenheilanstalt einweisen lassen.

Ach, wäre es doch nur möglich, zum Earl hinüberzugehen, seine Fingerspitzen an ihre Schläfen zu legen und so ihre Gedanken auf ihn zu übertragen. Vor vier Jahren, als sie eine alberne, verträumte Debütantin von achtzehn Jahren war, war ein widerlicher Lüstling über sie hergefallen. Die Erinnerung an seine grapschenden Hände, die aufgezwungenen Küsse, die Finger, die sich grob in ihre Schenkel krallten und ihr die Kleider zerrissen, ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Und jedes Mal, wenn sie daran dachte, wurde ihr speiübel und sie musste sich beherrschen, um sich nichts anmerken zu lassen.

Diesem Mann, dem Marquess Durham, war es nicht gelungen, sie zu vergewaltigen, doch die Verletzungen, Demütigungen und Ängste, die er ihr zugefügt hatte, waren schrecklich. Sehr zur Erleichterung ihrer Mutter und ihres Bruders hatte Verity sich daraufhin vier Jahre lang in Bedfordshire vergraben, um den Erinnerungen und der Schande zu entfliehen. Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass es für ihre Gesundung unerlässlich war, kämpfen zu lernen. Es war eine haarsträubende, geradezu verrückte Idee, aber sie musste einfach etwas unternehmen.

Lord Maschelly stellte sein Glas mit leisem Klirren auf den Tisch und wollte hinausgehen.

„Ich traue es mich, weil ich keine Angst mehr haben will“, sagte Verity leise.

Denn sie würde dem Ungeheuer, das über sie hergefallen war, bei gesellschaftlichen Anlässen begegnen, weil ihr Bruder mit dem Kerl befreundet war. Als Erbe eines reichen und mächtigen Herzogtums war dieser Lump in der High Society beliebt und geachtet. Bei dem bloßen Gedanken daran hätte Verity speien können.

Unvermittelt blieb der Earl stehen und blickte sie eindringlich an. „Und wovor haben Sie Angst?“

Davor, noch einmal hilflos zu sein und niemanden zu haben, der mir glaubt und für meinen Stolz und meine Ehre eintritt. Als sie mit zerrissenen Kleidern, Blutergüssen an den Wangen und blutigen Lippen zu ihrem Bruder gelaufen war, hatte Albert nicht einmal nach dem Namen des Angreifers gefragt, um ihn für sein Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Er hatte nur eine einzige Frage gestellt, während ihre Mutter mit Tränen in den Augen dabeistand.

„Können wir ihn zwingen, dich zu heiraten?“

Als wäre der Vorfall nichts weiter gewesen als eine kompromittierende Situation.

Allein die Vorstellung, ihn zu heiraten, hatte sie angeekelt, und sie hatte die Frage wahrheitsgemäß verneint, denn Durham war bereits verheiratet. Weder ihre Mutter noch ihr Bruder hatten nach dem Namen des Angreifers gefragt, und Verity hatte Angst gehabt, ihn zu verraten, weil sie sich die Schuld an dem Vorfall gab. Früher einmal hatte sie davon geträumt, dass ein attraktiver junger Mann sich Hals über Kopf in sie verliebte und ihr stürmisch den Hof machte, bevor er um ihre Hand anhielt. Es war ihr Herzenswunsch und ihre Hoffnung gewesen, doch diese Träume hatten sich auf einen Schlag in Luft aufgelöst, und zurück blieben nur Scham, Zweifel und Furcht.

Mit seinem Angriff war es dem Marquess gelungen, ihr Selbstvertrauen und ihre Träume zu zerstören und Schuldgefühle auf ihre Seele zu laden. Es machte Verity wütend, dass sie nun schon seit vier langen Jahren damit lebte. Obwohl ihr Bruder sie gerne losgeworden wäre, passte es ihrer Familie ganz gut, dass Verity auf dem Land blieb und sich um die Pflege von Tante Imogen kümmerte, die seit einiger Zeit bei schwacher Gesundheit war. Doch das war jetzt vorbei. Und der erste Schritt, um wieder sie selbst zu werden, war es, Selbstverteidigung zu lernen. Selbst wenn sie diese Kenntnisse nie anwenden musste, würde das Wissen, dass sie es konnte, ihr vielleicht helfen, sich nicht mehr vor ihrem eigenen Schatten zu fürchten.

„Wovor haben Sie Angst?“, fragte er noch einmal mit leiser, interessierter Stimme.

„Jemand … hat mir wehgetan.“ Das Eingeständnis fiel ihr schwer, nachdem ihre Familie ihr die Schuld daran gegeben hatte. „Das kommt vom jugendlichen Leichtsinn!“, hatte ihre Mutter einmal geschrien.

Verity atmete tief durch und wiederholte ihre Worte, diesmal ein wenig lauter: „Jemand hat mir wehgetan.“

Da wurde der Earl ganz still, und ein finsterer Ausdruck zog über seine Züge, bevor sein Blick wieder verschlossen wurde.

In gespanntem Schweigen wartete sie auf seine Erwiderung.

Schließlich fragte er: „Soll ich einen Arzt rufen?“

„Nein“, antwortete sie und räusperte sich leise. „Es ist schon ein paar Jahre her.“

Als er sie weiterhin neugierig ansah, wurde ihr langsam unbehaglich zumute. „Dann geht es mich nichts an, Lady“, sagte er schließlich.

Wie gleichgültig er sich anhörte. Dass er ihr helfen würde, wäre ebenso wahrscheinlich wie die Chance, einem Drachen zu begegnen. Dennoch lastete die Enttäuschung wie ein schwerer Stein in ihrem Magen und drückte sie beinahe zu Boden.

„Ich … ich habe gehört, Sie hätten Lady Morton bei einem heiklen Problem geholfen und Miss Cecily Bateman auch. Sie haben Lady Mortons Mann den Arm gebrochen, nachdem er sie heftig verprügelt hat, und Sie konnten den Mann, der Miss Cecily erpresste, davon überzeugen, seine Schandtaten anderswo zu verüben. Aus Ihrer Miene schließe ich, dass an diesen Geschichten etwas Wahres ist, und ich bitte Sie inständig, auch mir zu helfen!“ Es hatte sich auch herumgesprochen, dass Maschelly sich eingemischt hatte, als ein Lord letzte Woche im Tattersall seinen Diener ohrfeigte. Es zeigte, dass der Earl trotz allem freundlich war. „Ich habe meinen guten Ruf aufs Spiel gesetzt, um hierher zu kommen“, fügte sie hinzu.

„Ich bedaure, dass Sie den unerfreulichen Schritt, so spät noch hierher zu kommen, vergeblich unternommen haben. Ich kann Ihnen nicht helfen.“

Verity spürte, wie ihr die Tränen kamen, doch sie hob entschlossen das Kinn, um ihn nicht merken zu lassen, dass sie kurz vor einem Zusammenbruch stand. Sie hatte sich so große Hoffnungen gemacht. „Darf ich Ihnen eine Geschichte erzählen, bevor ich gehe?“

Er schaute sie mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck an. „Nur zu“, sagte er leise.

„Vor vier Jahren und elf Monaten lernte eine junge Dame einen Lord kennen, der ein Freund ihres Bruders war. Sie hielt ihn für gutmütig und liebenswürdig, und da sie damals erst achtzehn war, träumte sie von einem Märchenprinzen, unsterblicher Liebe, von einer Heirat und einer eigenen Familie. Und daher gestattete sie dummerweise dem Lord, sie zu küssen.“ Obwohl sie wie von einer anderen Person sprach, nahm die Erinnerung Verity so mit, dass sie über dem Schleier eine Hand gegen ihren Mund presste, bevor sie fortfuhr.

„Die beiden unternahmen lange Spaziergänge auf dem Land und gemeinsame Fahrten in seiner Kutsche, und sie rechnete damit, dass er ihr einen Heiratsantrag machen würde. Als das nicht geschah, nahm sie ihren Mut zusammen und fragte ihn nach seinen Absichten, denn sie konnte es kaum erwarten, das Leben zu beginnen, das sie sich erträumt hatte. Da teilte er ihr mit, dass er bereits eine Frau habe, die mit seinen beiden Kindern in Schottland lebe. Er hatte seine Aufmerksamkeit der jungen Dame nicht geschenkt, weil er sie zu heiraten gedachte, sondern weil er sie zu seiner Mätresse machen wollte. Sie war bestürzt darüber, dass ein solcher Mensch ein Gentleman sein sollte. Dann wurde sie wütend und warf ihm jedes Schimpfwort an den Kopf, das ihr einfiel. Doch als sie gehen wollte, fiel er über sie her und … zerriss ihr den Schleier der Unschuld, indem er sie … an Stellen berührte, die niemand je berühren durfte. Was er ihr antat, sollte keine Frau, ob hoch oder niedrig, jemals erdulden müssen. Das plötzliche Erscheinen ihrer Tante bewahrte das junge Mädchen vor noch schlimmeren Qualen und Erniedrigungen.“

Die Hände zu Fäusten geballt stand der Earl da. „Und hat ihr Bruder ihn zum Duell gefordert und ihm eine Kugel durch sein schwarzes Herz gejagt?“

Bei der Erinnerung an die erlittene Schmach stieß Verity ein freudloses Lachen aus. „Nein. Der elende Schuft ist der Sohn eines Dukes. Und irgendwie gelang es ihm, den Bruder der jungen Dame davon zu überzeugen, dass sie die Verführerin gewesen war und ihn umgarnt hatte. Also gaben ihr Bruder und ihre Mutter ihr die Schuld und schämten sich für sie.“

Unwillkürlich stieß Lord Maschelly einen Fluch aus.

„Sie war nicht länger die strahlende, rosige Debütantin“, fuhr Verity fort. „All ihre Hoffnungen waren dahin, und stattdessen verfolgten sie von jener Nacht an ständige Albträume. Sie begann, die Gesellschaft anderer Menschen zu meiden und versteckte sich auf dem Land, in Bedfordshire um genau zu sein. Sie war wie ein verschrecktes Mäuslein, das sich vor seinem eigenen Schatten fürchtete. Und so ging es vier Jahre, sechs Monate und elf Tage lang.“

Ihre Stimme brach, und sie atmete ein paarmal tief durch, um ihre Fassung wiederzuerlangen. „Diese junge Dame, Lord Maschelly, bin ich. Und vor fünf Monaten, nachdem meine Albträume schließlich aufgehört hatten, begann ich unter meiner Einsamkeit zu leiden. Ich stellte fest, dass ich noch immer von den gleichen Dingen träumte wie früher. Von einem liebenden Ehemann, Kindern, die ich umsorgen konnte, gemeinnützigen Aufgaben, die ich unterstützen wollte. Ich vermisste auch meine Freundinnen, Bälle, Opern- und Theaterbesuche, ja sogar den Lärm und Geruch der Großstadt. Also wagte ich mich wieder unter Menschen, doch als ich gleich auf dem ersten Ball meinem Angreifer wieder begegnete, musste ich mich übergeben. Ich dachte, ich hätte es überwunden, aber ich habe immer noch Angst.“

„Und warum glauben Sie, Sie könnten Ihre Angst besiegen, wenn Sie boxen lernen?“, fragte er brüsk und musterte eingehend ihre verschleierten Züge.

„An dem Abend, als ich ihn wiedersah, es war letzten Freitag, hat er mich berührt. Zwar nur ganz flüchtig, aber trotzdem war ich wie erstarrt und begann zu zittern. Die Leute wissen nicht, was für eine Natter sich hinter seiner charmanten Maske verbirgt.“

Als sie seine wutentbrannte Miene sah, trat Verity unwillkürlich einen Schritt zurück. Sie war verwundert und konnte nur hoffen, dass ihre offenen Worte ihn doch noch überzeugen würden.

„Ich zuckte vor ihm zurück“, fuhr sie fort. „Und er hat nur gelacht.“ Bei der Erinnerung daran schloss sie für einen Moment die Augen. „In der folgenden Nacht begannen meine Albträume von Neuem, nachdem ich geglaubt hatte, ich hätte sie in Bedfordshire zurückgelassen. Ich will mich nicht länger hilflos fühlen.“

Er blickte sie mit schmalen Augen und zusammengepressten Lippen an. Dann fragte er: „Warum erzählen Sie mir das alles? Ich bin doch ein Fremder.“

„Weil ich dringend Ihre Hilfe brauche, Mylord. Bitte überlegen Sie es sich noch einmal.“ Dann wandte sie sich zum Gehen.

„Wenn Sie Ihren Plan ausführen und die feine Gesellschaft bekommt es mit, gibt es einen Skandal und Ihr guter Ruf ist dahin. Sie wünschen sich doch ein Heim und eine eigene Familie, wie Sie sagten. Sind Sie bereit, das alles aufs Spiel zu setzen?“ Es klang, als wollte er ihre Entschlossenheit auf die Probe stellen.

Verity blieb stehen, und ohne sich umzudrehen antwortete sie: „Nächte ohne Albträume verbringen, im Park spazieren gehen, ohne Angst zu haben, was hinter dem nächsten Busch lauern könnte, einen Ball besuchen, ohne zu befürchten, er könnte auch dort sein – das alles ist jedes Opfer wert, Mylord.“